Theater in der Grundschule – eine performative Praxis des Spielens
Abstract
Kinder werden in unterschiedlichen Phasen des Aufwachsens in Wahrnehmung und Verhalten getragen und geprägt von Spiel-Aktivitäten. Theater in der Schule kann eine Schule des Spielens und Wahrnehmens sein, aber mehr noch: auch eine Schule des Sprechens, eine Schule des (sich) Zeigens, Befragens und Befremdens, eine Schule des sich Begegnens sowie letztlich eine Schule der Kritik und der Teilhabe. Der Beitrag untersucht, welche Bedeutung das Spiel für das Fach Theater in der Grundschule hat? Dazu sind unterschiedliche Formen und Bedeutungsebenen von Spiel zu unterscheiden: das kindliche Spiel als implizites Wissen von Kindern, das darstellende Spiel als inszenierte fiktionale Spielhandlung im Theatervorgang sowie das Spiel als szenisches oder choreografisches Arbeitsverfahren im Theaterprozess oder als Haltung im forschungs- und Lernprozess. Eine zentrale Untersuchungsperspektive wird dabei die Kategorie des Performativen sein.
Theater als Unterrichtsfach in der Grundschule ist nur in wenigen Bundesländern verbindlich eingeführt. In Hamburg gibt es Theater als verbindliches Fach in der Grundschule seit 2011; zeitnah soll Theater auch als Lehramtsstudiengang für Grundschule und Sekundarstufe in Hamburg etabliert werden. Dabei kann Theater als künstlerisches Fach über und durch seine spielerisch-künstlerischen, performativen und theaterfachlichen Lern- und Bildungsaspekte bereits in der Grundschule einen elementaren Beitrag zur ästhetischen Bildung leisten. Kinder im Grundschulalter sind Expert*innen des Spiels und Grundschule ist der Ort, wo alle sozialen Milieus miteinander und voneinander lernen. Das sind beste Voraussetzungen für das Fach Theater bzw. Darstellendes Spiel, eine differenzierte Fachkultur zu entwickeln, zu erproben und zu vermitteln. Der Beitrag thematisiert, wie Theater als künstlerisches Fach über seine projektorientierte ästhetische Praxis Wahrnehmungs- und Ausdrucksschulung, szenisches Spiel und offene, forschende Lern- und Bildungsprozesse zugleich anregen kann.
I. Spiel als Weltaneignung und vorästhetische Praxis
Johan Huizinga definiert in „Homo ludens“ Spiel als einen zentralen und prägenden Kulturfaktor: „Spiel ist eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewusstsein des ‚Andersseins‘ als das ‚gewöhnliche Leben‘ (Huizinga 1991: 37)“. Für die Theaterarbeit in der Grundschule ist Spiel ein spannendes Thema, zum einen, weil im Spiel vielfältige Theaterelemente enthalten sind und zum andern, weil Kinder im und durch das Spiel differenzierte
Zum Verhältnis von Spielen und Lernen lassen sich nach Weltzien fünf zentrale Merkmale des kindlichen Spiels zusammenfassend herausstellen (vgl. für die folgenden Ausführungen: Weltzien 2013, 2016; auf die Unterschiede einzelner Spielformen wie Funktions-, Lern-, Wettkampf-, Rollen- oder Illusionsspiel kann hier nicht näher eingegangen werden
1. Das Spiel als Selbst-Zweck oder die Zielbezogenheit des Spiels: Jedes Spiel hat einen individuellen Sinn für die Spielenden, einen Selbstzweck und ein Ziel, die vorab oder während des Spiels festgelegt werden, aber auch verändert werden können und für Außenstehende nicht unbedingt ersichtlich sein müssen.
2. Die Freiwilligkeit oder die Selbst-Tätigkeit des Spiels: Spiel heißt, sich freiwillig und intrinsisch motiviert auf die Spielsituation einzulassen. Deshalb kann Spielen als Selbsttätigkeit nicht unter Zwang ablaufen.
3. Die Handlungsbezogenheit oder Handlungsdynamik des Spiels: Spielen bedeutet Handeln. Unterschiedliche Handlungsformen (ausprobieren, bauen, darstellen, zeigen, forschen, wetteifern), Dynamiken und Verläufe (laut, leise, bewegt, schnell, konzentriert, suchend) sind beobachtbar.
4. Die Wirklichkeit oder die Wirklichkeitsebenen im Spiel: Im Spiel entsteht für die Spielenden eine jeweils eigene und spezifische Spielwirklichkeit. Im Spiel als Erlebnis- und Möglichkeitsraum kann man Erlebtes und Rollen (-verhalten) nachspielen, „reinszenieren“ oder Imaginiertes und Wunschvorstellungen ausprobieren.
5. Die Lust im und am Spiel oder das lustvolle Erleben: Spielen wird getragen von der Lust zu spielen, vom emotionalen und situativen Sein, von Spannungs- und Entspannungsmomenten, vom Erleben der eigenen Fähigkeiten. Spiel endet meist, wenn die Spiellust vorbei ist. Kinder
Das kindliche Spiel wird mit dem Älterwerden zunehmend komplexer und differenzierter, vom sensomotorischen über das Symbol- bis zum interaktiven Rollenspiel im Vor- und Grundschulalter. Im Spiel werden so Eindrücke aus der Umwelt verarbeitet, wiederholt, variiert, antizipiert, aber auch neue Verhaltensweisen oder etwa Regelverstöße wie Schummeln und Ausflippen oder alltagsferne Rollen wie Prinzessin und Superman ausprobiert. In der großen Vielfalt des kindlichen Spiels findet Lernen und Weltaneignung statt. Im Spiel werden alters- und entwicklungsbezogene Interessen und soziale wie motorische Kompetenzen, aber auch interkulturelle und interpersonale Heterogenität, Geschlechterrollen, Gruppendynamiken sowie innerseelische Zustände gelernt und verhandelt.
Die aufgezeigten Merkmale des Spiels sind wichtige Orientierungspunkte für die Ausrichtung des Theaterspiels in der Grundschule. Hierbei muss natürlich berücksichtigt werden, dass schulischer Fachunterricht einer curricularen Rahmung bedarf und Lernziele formuliert werden. Somit kann der Theaterunterricht nicht nur auf Freiwilligkeit und Selbstzweck basieren. Aber die handlungs-, erlebnisorientierten und wirklichkeitskonstituierenden Momente des Spiel
II. Kunst für Kinder und Theater als Kunstform
„Ist das Kunst oder was für Kinder?“ überschrieb der bekannte Zeichner, Autor und Dramatiker Friedrich Karl Waechter vor 25 Jahren eine Stellungnahme. Er bezog sich dabei auf die Frage eines Journalisten, als er ein neues Kindertheaterstück vorstellte. Und er kritisierte die damit verbundene Einstellung heftig. Denn für ihn war es eine doppelte Beleidigung: zum einen für ihn als Künstler, der für Kinder schreibt und nicht wertgeschätzt wird, zum anderen für Kinder, die als Kunstrezipient*innen nicht ernstgenommen werden. Dieser Ausspruch polarisiert und artikuliert einen vermeintlich unauflösbaren Widerspruch. Kinder und Kunst – geht das zusammen? Wir denken viel zu oft in Gegensätzen oder Hierarchien: entweder Kunst oder was für Kinder. Kunst für Kinder wird in unserer Kulturlandschaft immer noch als zweitrangig angesehen. Dies trifft auch für die künstlerischen Fächer zu, die in der Schule oft als Beiwerk angesehen und dann auch beiläufig unterrichtet werden. Hier gilt es, das neue Fach Theater als vollwertiges Fach zu etablieren, damit auch Kinder Teilhabe und Praxis mit dieser Kunstform erfahren können
Sicherlich kann man sich trefflich darüber streiten, ob Theaterprojekte oder -aufführungen in der Schule als Kunst anzusehen sind. Aber wichtig ist hier zweierlei: 1. Theater ist als künstlerisches Fach angelegt, das eine theoretische und praktische Auseinandersetzung mit der Kunstform Theater vermittelt und dabei künstlerische Gestaltung übt und inszeniert. 2. Kinder und Kunst sollten heute kein Gegensatz mehr sein. Kunst ist keine Domäne und kein Wissensfeld der Erwachsenenwelt. Kinder haben das Recht, sowohl als Rezipient*innen wie auch als Akteur*innen ernstgenommen werden. Theater in der Schule als eine Kunstform und -praxis verbindet ästhetische, soziale und bildende Aspekte. Und in diesem Verständnis werden die Kinder zu Akteur*innen, die sich mit ihren spezifischen Sicht- und Ausdrucksweisen künstlerisch in Szene setzen, ohne den Kunstbetrieb zu imitieren.
Theater und Schule
Warum ist Theater wichtig in der Schule? Warum sollen wir in der Schule Theaterspielen fördern, ja sogar das Fach einführen, auch in der Grundschule? Die Fragen sind nicht neu. Bereits 1990 wurden diese Fragen mit der damals fortschrittlichen Kunstkonzeption des Landes Baden-Württemberg auch zum Schultheater so beantwortet:
„Theater kann wie keine andere Kunstform viele Bereiche vereinigen. Es dient der ganzheitlichen Persönlichkeitsentwicklung des Schülers, indem es gleichermaßen seine rationalen wie emotionalen, intellektuellen wie kreativen, physischen wie musischen, individuellen wie sozialen Fähigkeiten fördert. Schultheater hat auch eine enge Beziehung zur Literatur, trägt zur kulturellen Entwicklung des Schülers bei und bereichert zugleich das kulturelle Angebot der Schule. In einer von raschem technologischen Wandel und von elektronischen Medien geprägten Welt gewinnt das Schultheater zunehmend Bedeutung. Es kann junge Menschen erlebnisfähiger machen, was sich positiv auf die gesamte Schulleistung und das Freizeitverhalten auswirkt. Der Schüler lernt, mit anderen auf ein gemeinsames Ziel hinzuarbeiten und selbstbewusst vor die Öffentlichkeit zu treten.“ (Rettich1990: 34)
Dabei lassen sich folgende, die personalen und sozialen Kompetenzen betonende Argumentationsfiguren unterscheiden:
- anthropologisch und bildungstheoretisch: Theaterspielen ist ein menschliches Grundanliegen und im Spiel mit anderen bildet sich der Mensch ganzheitlich als Persönlichkeit.
- lerntheoretisch und didaktisch: Theater ist eine Lernmaschine, Theater vermittelt individuelle oder fachliche Fähigkeiten und Kompetenzen.
- Gesellschaftspolitisch-soziologisch: Im Theater wird soziales Handeln (Teamwork) und Leistungsbereitschaft gelernt, das fördert den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft.
Dies ist alles richtig, aber noch nicht hinreichend, um Theater als Schulfach in seiner Fachlichkeit zu begreifen und zu begründen. Deshalb ist eine andersartige und ergänzende Begründung notwendig. Nicht von den Lern- und Bildungseffekten, der sozialen Nützlichkeit und den zu erwerbenden Kompetenzen her, sondern von der Theater-Kunst und seiner ästhetischen Praxis aus ist das Fach zu begründen.
Eine solche künstlerisch-ästhetische, fachliche Argumentation begreift Theater als ein künstlerisches Fach und sieht seine Bedeutung darin, diese Kunstform in allen ihren Facetten über rezeptive und produktive Zugänge zu vermitteln. Wie arbeitet Theater und was sind die verschiedenen Aktivitäten und Abläufe dieser ästhetischen Praxis? Theaterspiel vermittelt dann primär Wahrnehmung, Ausdruck und Gestaltung. Deshalb ist festzuhalten: „Theaterpädagogik ist eine Kunst“ (Sting 1997) und Theater in der Grundschule ist eine künstlerische und ästhetische Praxis.
Theater-Spiel wird Kunst
Im Theater wird Spiel zu Kunst, indem das Spiel zum szenischen und inszenierten Spiel vor Publikum wird. Theater als Aufführung bedeutet das Spielen oder Darstellen eines*r Spielers*in vor Zuschauenden. Diese Verkörperung oder dieses Rollenspiel eines*r Akteurs*in vor Publikum hat Eric Bentley auf die bekannte und prägnante Theaterformel gebracht: „A spielt B, während C zuschaut“ (Bentley 1966: 150). Bentleys Definition zeigt, dass Theater Interaktion ist und Schauspiel erst mit und in der Wahrnehmung des Zuschauenden entsteht, indem zeitgleich Verkörpern/Spiel und Zuschauen stattfindet. Dabei ist es erst einmal unerheblich, wer oder was dargestellt wird, ob ein*e professionelle*r oder nichtprofessionelle*r Schauspieler*in agiert und ob ein komplexes Drama oder eine einfache Improvisation gezeigt wird. Da Theater in diesem Aufführungscharakter immer in Gemeinschaft rezipiert wird und so gut wie immer im Kollektiv als Ensembleleistung inszeniert, produziert und jeden Abend live hergestellt wird, bezeichnet man Theater auch als die soziale Kunst. Ein weiteres Merkmal dieser gegenwärtige
- Was seht ihr da? (Als Wahrnehmungsschulung und genaues Beschreiben.)
- Oder: Welche Büroklammer ist die Zauberin oder der Bösewicht? Welche Geschichte könnte man erzählen, in der Büroklammern die Hauptfiguren sind? Eine improvisierte Fortsetzungsgeschichte kann sich ergeben, bei der jede*r einen Satz hinzufügt – das schult Fantasie, Spontaneität und Sprachvermögen.
- Oder als Aufgabe zu zweit: Schafft das Unmögliche und spielt, wie ihr alle Klammern in einer Minute zählen könnt. (Szene erfinden und Behauptung spielen.)
- Oder: Bewegt euch wie eine Büroklammer. (Bewegung in Raum und Zeit finden.)
Theaterunterricht ist zum einen Wahrnehmungs- und Ausdrucksschulung, das heißt, Grundlagen des körperlichen, stimmlichen, darstellerischen Ausdrucks müssen geübt und wiederholt werden. Aber zum anderen ist Theater gemeinsames Spiel, Erfinden, Probieren und Ausgestalten von Szenen. Dazu muss die Lehrkraft ein aufeinander aufbauendes Programm von Übungen, Spielaufgaben und Materialien sowie einen Rhythmus entwickeln, wie sich Spiel und Reflexion und Kritik immer wieder produktiv ergänzen und durchdringen – bis hin zu einer Aufführung.
Theaterunterricht kann also ganz unterschiedliche Themen, Texte, Materialien und Fragen als Ausgangspunkt für seine kreativen Aufgaben und Prozesse sowie ganz unterschiedliche ästhetische Verfahren und Spiel- und Inszenierungsformen wählen. Dass Theaterunterricht heute so vielfältige Spielanlässe und szenische Formate einbinden kann, also weniger am Dramentext orientiert ist und vor allem mit Kindern keine psychologische Spielweise sucht, hat mit einem seit den 1990er-Jahren erweiterten postdramatischen und performativen Theaterverständnis zu tun.
Theater in der Schule als performative Kunst
Mit der Erweiterung von Theaterverständnis und Theaterpraxis durch den „performative turn“ in den Kultur- und Theaterwissenschaften seit den 1990er-Jahren haben sich das zeitgenössische Theater ebenso wie die Theaterpädagogik und das Theater in der Schule nachhaltig verändert. So ergaben sich vielfältige neue, radikale und experimentelle Spiel-, Inszenierungs- und Produktionsformen und -formate. Diese Entwicklungen haben das Theater in der Schule und allgemein die Theaterprojektarbeit mit nicht-professionellen Akteur*innen künstlerisch-ästhetisch, aber auch methodisch-didaktisch immens geprägt. Mit dem Stichwort „Einbruch des Realen“ hat Hans-Thies Lehmann (1999) herausgestellt, dass Themen, Fragen und Ästhetiken des Alltags, des Sozialen, des Populären und des Urbanen, verbunden mit biografischen Bezügen und dem Spiel des Nicht-Perfekten, Eingang ins Theater gefunden haben. Die hochkulturelle Geschlossenheit des dramatischen Schauspielertheaters wird aufgebrochen. Der freie Umgang mit szenischen und theatralen Gestaltungselementen wie Text, Sprache, Stimme, aber auch Raum, Zeit, Körper und Medien ist kennzeichnend für ein postdramatisches und performatives Theaterverständnis. Genau hier, natürlich bezogen auf das Spielvermögen der Kinder, kann das Theater in der Grundschule zahlreiche Impulse finden. Der offene und forschende Umgang mit Texten, kindorientierte Spielanlässe und Alltagsthemen, wie auch ein Verständnis von Probenprozessen als kollektiven Suchprozessen können den Theaterunterricht in der Grundschule nachhaltig verändern. Besonders in der Grundschule bieten performative Aktionen, wo es um das Ausführen von Handlungen oder Bewegungen auf der Bühne geht, eine Bandbreite von Spielformaten, ohne dass eine Rollendarstellung mit Text gefordert wird. Ästhetische Praxis im Fach Theater meint alle Aktivitäten im kreativ-künstlerischen Schaffensprozess: Spielen, Improvisieren, Recherchieren, Forschen, Proben, Gestalten, Inszenieren bis zum Präsentieren eines Produkts in der Aufführung.
Theater als soziale und kollektive Kunst
Weil der Arbeitsprozess im Theater, anders als in den meisten Künsten und Schulfächern, durch eine intensive soziale Kommunikation und meist kollektive Kollaboration (Gruppenarbeit) geprägt ist, wird Theater als die „soziale Kunst“ bezeichnet. Theaterunterricht impliziert somit eine andere Stoffaneignung und Lernform. Als soziale Kunst qualifiziert sich ein Theaterprojekt in der Grundschule in dreifacher Weise: durch die Arbeitsform des gemeinsamen Machens (als soziales Lernen), durch die aufgegriffenen Themen, Erfahrungen und Interessen der Kinder (als sozial-politisches Engagement) und durch die soziale Ästhetik, die die beteiligten Spieler*innen zur öffentlichen Performance bringt (als ästhetische Kommunikation). Durch die künstlerische Bearbeitung werden das soziale Anliegen oder die Unterrichtsthemen geformt und durch die Aufführung kommunizierbar (vgl. Sting 2014).
Künstlerische Arbeit wie die Theaterarbeit mit Kindern, insbesondere als offen gestalteter Produktionsprozess, ist geprägt von durchaus widersprüchlichen Erfahrungen, sie umfasst Mühen, Irritationen und Krisenhaftigkeit, aber sie verspricht auch Gestaltungsfreiräume und Sinnkonstitutionen. Diese Dynamik des Kunstschaffens „zwischen Regelbindung, Regeleinhaltung und Regelverletzung, Regelauflösung und erneuter Regelfestlegung und schließlich ihrer kritischen Zustimmung durch Teile der Öffentlichkeit“ markiert nach Rainer Treptow ein „elementares Entwicklungsprinzip von Kunst“ (Treptow 2011: 138). Diese Potenziale einer erfahrungsorientierten und forschenden Lernkultur lassen sich in einen performativen Theaterunterricht einbinden.
III. Theater als Bildung – das Performative als produktives Moment in Lern- und Bildungsprozessen
Seit dem erwähnten „performative turn“ wird die Bedeutung von performativen Sprech- und Spielakten für ästhetische, soziale und pädagogische Inszenierungs- und Lernprozesse neu diskutiert (im Folgenden vgl. Gebhard et al 2018). Mit dem Verständnis eines weiten Performancebegriffs, der kulturell-soziale wie künstlerisch-ästhetische Aufführungen umfasst, wird das Performative, das sich in allen Formen der Darstellung, Aufführung und Inszenierung zeigt (vgl. Fischer-Lichte 2012), nicht nur für kultur- und theaterwissenschaftliche, sondern auch für bildungstheoretische und didaktische Fragen wichtig. Kulturelle Praktiken der Aufführung, also performative Akte, finden eben nicht nur in künstlerischen Situationen statt, sondern auch im Alltag, in der Politik, im Sport und natürlich auch im Kontext von Lern- und Bildungssituationen. Die Dimension des Performativen in schulischen Lern- und Bildungskontexten ist bislang wenig reflektiert worden. Zwar betonen Wulf und Zirfas (2007) die Bedeutung des Performativen für die differenzierte Betrachtung von Bildungsprozessen, doch das schulische und inhaltsbezogene Lernen bleibt dabei weitgehend unberührt:
„Im performativen Fokus wird der Begriff der Bildung erweitert; denn das reflexive Potential der traditionellen Bestimmung des Begriffs wird beibehalten und um die Bildungsprozesse ergänzt, die nicht nur als kognitive, sondern auch als körperliche, soziale, situative und inszenierte Prozesse verstanden werden.“ (Wulf/Zirfas 2006: 299)
Dabei können insbesondere die im Performativen zu findenden leiblich-körperlichen, sozialen und situativen Aktionsformen und (Selbst-)Inszenierungen durch ihre Erfahrungs- und Subjektorientierung auch für inhaltliche Lern- und Bildungsprozesse erschlossen werden.
Der Blick auf die Performativität von Lern- und Bildungsprozessen rückt die Momente der Darstellung, Inszenierung und Aufführung und damit den wirklichkeitskonstituierenden Charakter dieser Prozesse ins Zentrum. „Performativität [hebt] auf die Selbstbezüglichkeit von Handlungen und ihre wirklichkeitskonstituierende Kraft ab“ (Fischer-Lichte 2012:29). Und damit wird der Zusammenhang von körperlichem, sprachlichem und symbolischem Handeln und Lernen deutlich und fassbar. In und mit dem Zusammenspiel von Sprache, Körper, Inszenierung und Aufführung wird Bedeutung generiert – und zwar von den Lernenden als handelnden Akteur*innen, die (sich) sprechend ausprobieren, zeigen und zugleich reflektieren. Performative Akte und Performances sind nach Victor Turner als eine Praxis zu verstehen, in der sich eine Kultur – wie im Spiel – selbst konstituiert und erkennt: „[a] performance is a dialectic ›flow‹, that is, spontaneous movement in which action and awareness are one, and ›reflexivity‹, in which the central meanings, values, and goals of a culture are seen ›in action‹, as they shape and explain behavior“ (Turner zit. nach Schechner/Appel 1991:1). Damit werden das dialektische Prinzip und das didaktische Potenzial des Performativen für eine Arbeit mit Heranwachsenden deutlich: Die subjektive Darstellungs- und Handlungsebene und -lust (Spiellust) gehen einher mit einer öffentlich verkörpernden und damit ermöglichten reflektierenden und objektivierenden Sicht auf das Dargestellte.
Spiel und Lernen, und auch Reflektieren, ergänzen sich wechselseitig. Die Dimension des Performativen als Lern- und Erfahrungsraum fordert und ermöglicht beides: subjektiven Ausdruck und öffentliches Sprechen als ein sich objektivierendes Produkt. Diese performative Praxis ist als Teil einer nicht-repräsentativen Wissenskultur und -produktion zu verstehen und damit eine wichtige Ergänzung zum oft einseitigen schulischen Wissenstransfer.
Das pädagogische und didaktische Potenzial des Theaters als Lernform in der Grundschule liegt in seiner Performativität und damit im Spiel als implizitem Wissensfundus. Theater als polyästhetische Kunst bindet unterschiedliche Sprachen und Sprechformate, Texte, Szenen, Bilder, Töne, Musiken und Narrationen ein und fügt sie zusammen. So vermittelt und verlangt Theater umfassende ‚Literacy' als differenzierte Sprach-, Sprech-, Lese-, Ausdrucks- und Inszenierungsfähigkeit. Deshalb gehört Theater als ‚Kulturausdruck' in die Grundschule, weil hier ästhetische Grundbildung für alle Kinder angeboten werden sollte.
Theater als soziale Kunstform verbindet das Handeln in einer Kreativ- oder Lerngemeinschaft mit sinnvermittelnden Suchbewegungen der Subjekte, das soziale und ästhetische Gefordertsein mit dem subjektiven Angesprochensein. Diese im Theater möglichen Momente des intensiven sinnlichen Erlebens und des reflektierenden Gestaltens kennzeichnen eine künstlerisch-performative Lernkultur.
Festzuhalten bleibt, dass die angesprochenen besonderen Potenziale verschenkt werden, wenn Theater nur als methodisch-didaktischer Steinbruch und Lernmaschine verstanden wird. Denn seine „bildenden Wirkungen“ entfaltet das Theater primär dann, wenn es als künstlerisch-ästhetische Praxis ernst genommen und der kollektive Theaterprozess nicht als didaktisches Setting, sondern als Suchbewegung mit offenem Ausgang bis hin zum Scheitern verstanden wird.
Theater in der Grundschule ist immer mehr als nur Spiel und Theater. Denn mit und durch das Theater erleben und erfahren die Kinder sich und andere, sie lernen und bilden sich in der Auseinandersetzung mit Theater. (Anm.: Auf der Plattform »Hamburger Bildungsserver« sind zahlreiche Unterrichtsmaterialien für das Fach Theater, auch an Grundschulen, vom LI Hamburg zusammengestellt: https://bildungsserver.hamburg.de/darstellendes-spiel-grundschule-theaterspiele/.) Die Erkenntnisse aus unserer Hamburger Forscher*innengruppe „Irritation als produktives Moment im Fachunterricht“ zeigen, dass es neben dem normalen Unterrichtsalltag – meist Wissenstransfer und Kompetenzerwerb im Sitzen – gerade auch offene Lernprozesse und irritierende Lernerfahrungen geben muss, die „vom Hocker reißen“ (vgl. Bähr et al 2019). Wie der Erziehungswissenschaftler Thomas Ziehe treffend formuliert, braucht es im Unterricht, aber auch im Leben von Kindern und Jugendlichen, „Inseln der Intensität im Meer der Routine“ (Ziehe 1996:940) – sonst findet keine verbindliche Ansprache, Beteiligung und Motivation statt. Performative Theaterarbeit kann mit ihren offenen Forschungs-, Erfahrungs- und Produktionsprozessen diese Intensität vermitteln, indem sie kooperative, forschende, sinnlich-ästhetische, leiblich-körperliche und projektorientierte Lernformen anbieten kann.
- Theater begreifen (Sachkompetenz),
- Theater spielen (Gestaltungskompetenz),
- Theater reflektieren (Kommunikative Kompetenz) und
- an Theater teilhaben (Soziokulturelle Kompetenz) (vgl. ebd.).
In diesem Verständnis ermöglicht das Fach Theater eine Verknüpfung von Inhalten und Erfahrungen. Die fachlichen Themen des Theatermachens verbinden sich zwangsläufig mit individuellen ästhetischen Erfahrungen und Interessen der Schüler*innen. Im und durch das Theaterspiel ergeben und ergänzen sich – so die grundlegende Annahme des Bildungsplanes – affektive, kognitive, produktiv-praktische und kreativ-ästhetische Erfahrungs-, Handlungs- und Lernebenen. Es gibt kaum ein Fach, das kognitive, leiblich-affektive und soziale Lern- und Bildungsaspekte derart komplex vereinen kann.
Theater ist heutzutage sicher kein Leitmedium mehr und auch keine moralische Anstalt oder Ort der bürgerlichen Emanzipation im Schiller’schen oder Lessing’schen Sinne, aber immer noch und immer wieder aufs Neue ein Ort der unmittelbaren Live-Kommunikation und ein Möglichkeitsraum für intensive ästhetische und soziale Erfahrungen. Theaterarbeit, die die Lebenswelt und Fragen von Kindern und Jugendlichen ernstnimmt, sich auf einen offenen Suchprozess einlässt, in dem auch die Lehrkraft nicht immer eine Antwort weiß, ist ein Ort der intensiven Selbst- und Fremderfahrung. Und genau das ist das Zentrum von Bildung.
Theater in der Schule als Fach und Lernkultur kann also eine Schule des Spielens und Wahrnehmens sein, aber mehr noch: auch eine Schule des Sprechens, eine Schule des (sich) Zeigens, Befragens und Befremdens, eine Schule des sich Begegnens sowie letztlich eine Schule der Kritik und der Teilhabe.
„Ich war das Hinterteil vom Kamel“
Zum Abschluss noch eine kleine Episode, die klingt jetzt gut erfunden, aber ist wirklich so passiert. Bei einem Schulbesuch kommt eine Schülerin – 12 oder 13 Jahre alt – auf mich zu und fragt:
„Kennen Sie mich noch?“
„Nein, leider nicht.“
„Aber ich war doch das Hinterteil vom Kamel damals.“
Ich starre sie nur an, Hinterteil vom Kamel, ich hatte keine Erinnerung.
„Ich war doch vor 5 Jahren bei dem Theater-Zirkusprojekt mit ihren Studierenden dabei als Teil vom Kamel.“
Das muss man sich vorstellen, das war die kleinste Rolle überhaupt, das Mädchen war eigentlich unsichtbar und gebückt unter einem Kostüm. Doch für sie ist dieses Theaterspiel ein unvergessliches, nachhaltiges Erlebnis – eine Insel der Intensität im Meer der Routine.