Tanzen im Sportunterricht: Eine Wahlverwandtschaft mit begrenztem Mehrwert - Konsequenzen für die Lehrer*innenbildung
Abstract
Die hier vorgestellte letzte Teilstudie im Forschungsprojekt Kulturelle Bildung - Bildung zur kulturellen Teilhabe durch Tanzunterricht an Schulen?! prüft die Realisierung von Tanzen im Sportunterricht. Mittels teilstrukturierter, problemzentrierter Online-Interviews (n = 23) und einem Pool aus Einzelbewertungen von Sportlehrkräften wurden Daten zu dem administrierten Bewegungsfeld Tanzen, Gestalten, Darstellen im Mehrperspektivischen Sportunterricht generiert und Handlungserfahrungen von Befragten über differenzanalytisches Vorgehen angezeigt. Die Datenauswertung stellt nach qualitativer Inhaltsanalyse (Mayring 2016) mittels der Darstellung von Einzelfällen resultierende Kategorien zusammen:
- Sportlehrkräfte wählen zur Durchführung von Sportunterricht nur sehr selten das Bewegungsfeld Tanzen, Gestalten, Darstellen.
- Wird dieses Bewegungsfeld indes gewählt, kommt es zu Fehlinterpretationen, die vornehmlich auf Unkenntnis der Sportlehrkräfte gegenüber körperlich-ästhetischen Verwirklichungen beruhen.
- Sportlehrkräfte können dem Bewegungsfeld theoretisch passende Förderabsichten zuordnen, bemerken aber ihre tanzpraktischen Vermittlungsschwächen.
- Sportlehrkräfte sind mit überhöhten Anforderungen an das Tanzen, Gestalten, Darstellen im Sportunterricht konfrontiert. Differenzen zeigen sich zwischen der ungenügenden tänzerischen Ausbildungspraxis von Sportlehrer*innen und den tanzdidaktischen Ansprüchen.
Empfehlungen für verbesserte tanzunterrichtliche Ausbildungsprozesse schließen das Projekt mit dem Vorschlag eines Erweiterungsstudiengangs Kulturelle Bildung/Tanz ab.
Qualitativ-empirische Einblicke in Realisierungen sportunterrichtlicher Tanzpraxis an Schulen
Im Forschungsprojekt Kulturelle Bildung - Bildung zur kulturellen Teilhabe durch Tanzunterricht an Schulen?! untersucht die dritte und letzte Teilstudie die Handlungserfahrung von Sportlehrkräften mit Tanzunterricht. Die Ergebnisse sind aus eng begleiteten Examensarbeiten mittels teilstrukturierter, problemzentrierter Online-Interviews (n = 23; 5 Sportreferendar*innen, 8 gymnasiale Sportlehrkräfte, 4 Grundschulsportlehrerinnen und 6 Tanzpädagoginnen) gewonnen und nach qualitativer Inhaltsanalyse (Mayring 2016) neu in resultierenden Kategorien zusammengefasst (MAXQDA).
Ergebnis 1: Sportlehrkräfte marginalisieren das Bewegungsfeld „Tanzen, Gestalten, Darstellen“
Tanzen im Sportunterricht wird von Sportlehrkräften als Förderquelle für die Entfaltung der pädagogischen Sinndimension sich körperlich ausdrücken und Bewegungen gestalten im Rahmen des Mehrperspektivischen Sportunterrichts wahrgenommen. Die Umsetzung in der Praxis ist allerdings stark von der persönlichen Befähigung und der meist skeptischen Einstellung gegenüber dem Ästhetischen im Sportunterricht geprägt.
Sportreferendar*innen zeigen sich inhaltlich einfallsreich und nennen, neben dem Tanz, etwa das Turnen, die Akrobatik oder die Trendsportart Parkour, um die körperästhetische Perspektive bei Schüler*innen zu entfalten. Auch halten sie es für möglich, die Sportspiele oder die Bewegungsfelder Fahren, Rollen, Gleiten und Fitness entwickeln im Sportunterricht unter einer Gestaltungs- und Ausdrucksperspektive zu verwirklichen. Sie gestehen, dass sie die pädagogische Perspektive sich körperlich ausdrücken und Bewegungen gestalten im Vergleich zu anderen Sinnperspektiven kaum berücksichtigen. „In Anbetracht einer Lehrprobe würde dies, sowohl in Planung als auch Durchführung, den gewohnten Rahmen sprengen“. Zur Frage nach Bewegungsfeldern, mit denen diese Perspektive realisiert werden kann, räumen auch Gymnasiallehrer*innen dem Tanzen, Gestalten, Darstellen keine Alleinstellung ein. Sie berücksichtigen ausdrücklich das Bewegungsfeld Bewegen an Geräten.
Sportlehrkräfte planen ihren Unterricht an Inhalten (Sportarten, Bewegungsfelder, Bewegungstechniken, etc.). Sie sprechen inhaltlich dem Tanzen, Gestalten, Darstellen keinen hohen Realisierungsgrad zu und richten ihre Auswahl selten an der Perspektive sich körperlich ausdrücken und Bewegungen gestalten aus. Von keinem der Befragten wird der Anspruch, auf eine Inhaltsfixierung zu verzichten und Sportunterricht für Perspektivität zu öffnen (Balz 2017:69), eingelöst.
Ergebnis 2: Sportlehrkräfte weisen bei der Vermittlung von „Tanzen, Gestalten, Darstellen“ mit der Perspektive „sich körperlich ausdrücken und Bewegungen gestalten“ fachpraktisches Unvermögen auf
Inszenierungen von Unterrichtsgegenständen im Bewegungsfeld Tanzen, Gestalten, Darstellen weisen kaum ästhetische, sondern gewohnt sportive Deutungen auf. Obgleich sich körperlich ausdrücken und Bewegungen gestalten als exemplarisch für Tanzunterricht gelten kann, verbinden Sportlehrkräfte mit dem sportiven Normcharakter mehr Orientierungssicherheit, etwa bei Aufgaben zur Qualitätssicherung und Beurteilung. Entsprechender Unterricht ist gekennzeichnet durch „Tänze vorgeben und üben“, „Gerätetechniken aus der Rhythmischen Gymnastik mit den Handgeräten Ball, Seil, Reifen, Band erlernen“, „gymnastische Grundformen verbinden“, „Tanzschritte nachgestalten, die die Schüler*innen durch Tanzvideos kennen“ oder „Sprünge vorgeben“. Die wenigen gymnasialen Sportlehrkräfte, die das Tanzen, Gestalten, Darstellen berücksichtigen, gestalten ihren Tanzunterricht vornehmlich mit dem Reproduzieren einfacher und interpretationsloser Tanzschritte aus. Themengebundene Aufgabenstellungen zur Bewegungsgestaltung werden gar nicht und Improvisationsaufgaben selten angesprochen.
Gleichzeitig wird Kulturelle Bildung mit der Aufgabe, Heranwachsende für interkulturelle Verhältnissen zu sensibilisieren, verwechselt und es werden Vorschläge gemacht, Schüler*innen zum Beispiel mit dem Haka-Tanz zu konfrontieren, Folkloristische Tänze zu erlernen oder den Tanzunterricht mit Musik aus fremden Kulturen zu begleiten. „Gerade im Hinblick auf die Flüchtlingsthematik hat Tanz die Möglichkeit, unterschiedliche Kinder zu integrieren, egal welche Sprache sie sprechen“. „Durch Bewegung kann man besonders gut Freude am kulturellen Austausch vermitteln“.
In keiner der Teilstudien konnten repräsentative Hinweise darauf gefunden werden, ob Sportlehrerinnen einen fachkundigeren Zugang zum körperlich-ästhetischen Sportunterricht finden als Sportlehrer und ob Alter oder Berufserfahrung die künstlerische Ausgestaltung beeinflussen.
Ergebnis 3: Sportlehrkräfte bemerken beim Unterrichten von Tanzen, Gestalten, Darstellen ihr Unvermögen
Sportlehrkräfte fühlen sich gegenüber Schüler*innen und administrativen Vorgaben verpflichtet. Sie können dem Bewegungsfeld passende Förderabsichten zuordnen, diese gehen aber mit einer unbestimmten Tanzpraxis einher. Ein Sportreferendar schätzt in tänzerischen Ausdrucksformen, sich „autonom mit dem eigenen Körper auszudrücken“ und mit der „Gesellschaft auf andere als verbale Weise kommunizieren“ zu lernen. Ein weiterer männlicher Interviewpartner bestätigt die Möglichkeit, sich im Tanzunterricht „als Gruppe selbstbewusst präsentieren zu lernen“. Eine Sportreferendarin lobt den Tanzunterricht wegen seiner Ergebnisse, „mit denen sich die Schüler*innen sehr stark identifizieren“ und zeigt sich gleichzeitig hilflos beim Auffinden entsprechender Aufgaben oder Impulse, die den Schüler*innen Raum für die eigene Kreativitätsbildung zur Verfügung stellen. Auch die befragten Gymnasiallehrer*innen sind um didaktische Begründungsargumente für Tanzunterricht verlegen. Ein Befragter betont die Wirkung von Tanz auf die Persönlichkeitsentwicklung, insbesondere der Jungen. Einzelne erkennen den Tanz als Mittel der Verständigung („nonverbale Kommunikation“) und der Stärkung des Selbstbewusstseins durch „Präsentationen“. Es wird angemerkt, dass beim Tanzen „Emotionen und Gefühle in Bewegungen umgewandelt und so dem Gegenüber zugänglich gemacht werden“. Gleichzeitig fehlt den Teilnehmer*innen sowohl die Phantasie als auch die fachdidaktische Planungsbefähigung, um passende Unterrichtsaufgaben zu finden.
Den Befragten fallen ihre tanzpraktischen Vermittlungsschwächen auf. Sie bemerken auf Lehrenden- wie Lernendenseite ein „Gefühl von Befremden und Verunsicherung“. Sich in Ausbildung und unter Begutachtung befindende Lehramtsanwärter*innen richten ihr Referendariat am absehbar besten Notenresultat aus und umgehen so ihre tanzpädagogischen Unsicherheiten. Nahezu alle Befragten erkennen an, dass der Tanzunterricht „natürlich auch eine umfassende Ausbildung der Lehrkräfte voraussetzt“. Differenzen zwischen verordneten Aufgaben und hervorzubringender Handlungsfähigkeit werden beklagt und Unvermögen, Schüler*innen angemessen durch Tanzunterricht zu fördern, eingeräumt. Daher vernachlässigen die meisten Lehrkräfte entweder das Bewegungsfeld oder die körperlich-ästhetische Perspektive oder beides. Insbesondere die Grundschullehrerinnen beklagen die zum Tanzen, Gestalten, Darstellen ungenügende Ausbildung im Studium. „Nicht jede Lehrkraft ist gut im Tanzen, Gestalten, Darstellen und nicht jede Lehrkraft ist motiviert, dieses Feld zu unterrichten“. „Schwierigkeiten können dann entstehen, wenn Lehrpersonen sich selbst nicht wohlfühlen im Bewegungsfeld und zu wenig Erfahrungen in ihrer Ausbildung gemacht haben.“ „Tanzunterricht befördert Unsicherheit, weshalb Tanz in der Schule oft zu wenig Berücksichtigung findet“.
Ergebnis 4: Im Studium erworbene Tanz-Vermittlungskompetenzen von Sportlehrkräften reichen nicht aus, um die zugehörigen Sportbildungsplanforderungen zu erfüllen
In einer Forschungsarbeit wurden Tanzpädagoginnen, die über Kooperationsprojekte an Schulen tätig sind, mit dem Bewegungsbereich Tanzen, Gestalten, Darstellen des Baden-Württembergischen Sportbildungsplans für die Grundschule konfrontiert. Diese schreiben dem Tanzunterricht in der Schule einen geringeren Stellenwert gegenüber dem Kunst- und Musikunterricht zu. Damit bestätigen sie das hohe Ansehen des kulturellen Bildungsgehalts der etablierten Schulfächer und das geringe gesellschaftliche Interesse am Tanz.
Der Bildungsplan erfüllt zwar die Erwartungen der Tanzpädagoginnen, Tanzen als Medium für Körper-, Explorations- und Gestaltungserfahrung zu begreifen und sie zeigen sich erstaunt über die umfangreichen körperlich-ästhetischen Kompetenzansprüche. Sie sehen in den Bildungsplanansprüchen die durch Tanzunterricht zu fördernde Bewegungskreativität mit Selbstwirksamkeits-, Experimentier- und Problemlöseaufgaben erfüllt. Gleichzeitig äußern sie ihr Misstrauen gegenüber Sportlehrkräften und bezweifeln, dass diese einen entsprechenden Nährboden schaffen können. Sie bezweifeln, dass Sportlehrkräfte die nötigen tänzerischen, tanzdidaktischen und künstlerischen Kompetenzen besitzen und sehen Schwierigkeiten bei der Vermittlung der Bildungsplanangaben voraus. Sie empfehlen zur Sicherung der amtlich verordneten tänzerischen Grundlagenbildung, das Tanzen im Sportunterricht an Tanzpädagog*innen abzugeben oder von Sportlehrkräften Zusatzqualifikationen einzufordern. Tanzpädagoginnen meinen, dass Sportlehrkräfte das Tanzen nicht immer aus körperlich-ästhetischer Perspektive beleuchten, sondern seine sportliche Seite in den Vordergrund rücken. Sie schlagen ein gleichwertig zu den Fächern Kunst und Musik zu taxierendes Tanz- oder übergreifendes Kulturfach vor.
Sie äußern sich außerdem skeptisch, Tanzen zur Pflicht zu machen, da Tanzen auf Freiwilligkeit angewiesen sein sollte, die den „körperlichen Ausdruck als intime und sensible Angelegenheit respektiert, deren Hervorbringung nicht erzwungen werden kann“. Um insbesondere die Jungen vor Beschämung beim Tanzen zu schützen, sind laut Tanzpädagoginnen die Tanzaufgaben in besonderem Maße mit der Bereitschaft und Befähigung zur Ergebnisoffenheit und der Befähigung, eine kompetente Vorbildfunktion einzunehmen, verbunden. Eine Befragte schlägt vor, den Tanz in Bildungsplänen als Wahl-, statt als Pflichtfach zu verorten, das von qualifizierten Expert*innen unterrichtet werden sollte.
Die überwiegende Mehrheit aller befragten Sportlehrkräfte gibt ihre im Verhältnis zu den Anforderungen mangelhafte Fachkompetenz zu. „Trotz des Studiums haben viele Lehrkräfte wenig Erfahrung in diesem Bereich“, sie sind für Tanzunterricht „nicht geschult“ und haben Tanz „kaum unterrichtet“. Sportlehrkräfte fühlen sich durch überhöhte Anforderungen an das Tanzen, Gestalten, Darstellen überfordert.
Gesamtreflexion aller Teilstudien mit zentralen Ergebnissen für die Kulturelle Bildung durch Tanzen im Sportunterricht
Im ersten Forschungsschritt haben empirisch quantitative Befragungen von 172 Sportlehramtsstudierenden äußerst geringe Prädispositionen für produktive wie rezeptive (Bewegungs-)kulturelle Bildung aufgezeigt. Studierende in Sportlehramtsstudiengängen weisen umfangreiche, für ihr Sportstudium relevante, sportive Bewegungserfahrung auf, die mit einer sehr geringen Aufmerksamkeit für produktive und rezeptive künstlerische Tätigkeiten korrespondiert. Künstlerische Aktivitäten sowie Engagement und Interesse für Artefakte liegen unter dem Mittelmaß von 146 erfassten Lehramtsstudierenden, die andere Fächer als Sport studieren. Sportlehramtsstudierende treffen unvorbereitet und größtenteils mit einer arbiträr erworbenen kulturellen Identität auf das für sie fremde, aber ausbildungsobligate Bewegungsfeld Tanzen, Gestalten, Darstellen (siehe: Sabine Hafner „Empirische Studie zur (tanz)künstlerischen Produktion und Rezeption von angehenden (Sport)Lehrkräften“).
Die zweite Studie hat Art und Wirkung der Tanzausbildung im Sportlehramtsstudium innerhalb einer Tanzlehrveranstaltung im Prüfungsformat (44 Sportlehramtsstudierende; 66% weiblich und 34% männlich) evaluiert. Es zeigt sich, dass die allermeisten Teilnehmer*innen dem Tanzen interessiert begegnen. Die gebotenen Aufgaben provozieren Irritationen, denen auch lernförderliche Persönlichkeitswirkungen zugesprochen werden (siehe: Mechthild Bereswill & Verena Freytag „ZU_MUTUNGEN: ästhetische Zugänge in einem interdisziplinären universitären Seminar als Chance“). Für den sportunterrichtlichen Gebrauch dienliche tanztechnische, Tanzvermittlungs- und Gestaltungskompetenzen sind durch den Besuch einer einzigen Tanzlehrveranstaltung jedoch nur in geringem Maße erwerbbar. Vor allem führen die in der eigenen Ausbildung als bedeutsam wahrgenommenen Erfahrungen nicht automatisch zu ausreichendem Zutrauen in das eigene Tanzvermögen und zu hinreichender Befähigung für die Tanzvermittlung. Die Ursache dafür sehen sie in den Ausbildungsstrukturen, und sie fordern eine bessere Ressourcenlage ein.
Die Analyse des Baden-Württembergischen Bildungsplans von Tanz im Fach Sport (Primarstufe bis gymnasiale Oberstufe) zeigen, dass wesentliche tanzpädagogische Aufgaben zur Körperwahrnehmung und Körperinterpretation, zu Musik und Rhythmus, zum Entfalten von Bewegungsausdruck und Bewegungsstil und zur choreografischen Gestaltung zwar intendiert sind, aber das Ausbildungsmaß von Sportlehramtsstudierenden bei weitem übersteigen.
Die Bildungspläne in den Fächern Musik und Kunst räumen der Rezeption von Kunst einen der Produktion gleichgestellten Rang ein. Im Fach Sport sehen die Bildungspläne den Tanzunterricht als den Ort an, an dem Bewegungserfahrungen im Vordergrund stehen. Jedoch wird neben dem körperlichen Erleben beim Wiederholen, Nachahmen, Spielen, Improvisieren oder Verfremden im Tanzunterricht simultan mit dem Können auch Wissen über den Körper reflexiv hervorgeholt. Dass sich hier Produktion und Reflexion verschränken (siehe: Antje Klinge „Vom Wissen des Körpers und seinen Bildungspotenzialen im Sport und im Tanz“), ist ein bedauerlicherweise vernachlässigtes Desiderat (siehe: Sabine Hafner „Kann man aus Sportler*innen Tänzer*innen machen?).
Die dritte Teilstudie hat bestätigt, dass Sportlehrkräfte mit Unterrichtsinszenierungen im Bewegungsfeld Tanzen, Gestalten, Darstellen überfordert sind. Einerseits zeigt sich, dass Sportlehrkräfte das auf Mehrperspektivität hin angelegte Bewegungsfeld Tanzen, Gestalten, Darstellen in der Ausrichtung sich körperlich ausdrücken und Bewegungen gestalten entweder außer Acht lassen oder geringschätzen. Wird andererseits im Sportunterricht getanzt, kommt es zu Fehlinterpretationen, die vornehmlich durch Unkenntnis der Sportlehrkräfte gegenüber künstlerisch-ästhetischen Verwirklichungen hervorgerufen wird. Sportlehrkräften sind ihre tanzpraktischen und tanzmethodischen Schwächen bewusst. Die im Studium erworbenen Tanzvermittlungskompetenzen greifen aber zu kurz und dadurch bleiben tanzbezogene Bildungsplanforderungen unerfüllt. Der Handlungsbereich Tanzen, Gestalten, Darstellen ist den befragten Sportlehrkräften vertrauter, wenn sie auf seinen künstlerischen Wert, also auf die Passung mit der pädagogischen Perspektive sich körperlich ausdrücken und Bewegungen gestalten, verzichten. Da jedoch die Ergebnisse aus einem Tanzunterricht idealtypisch aus Kreativität und dem Bedürfnis, sich mitzuteilen, kommen, sind sportive Sinnzuschreibungen dem Tanzen, Gestalten, Darstellen wesensfern.
Das im Forschungsprojekt gewonnene Datenbild könnte durch die Wahrnehmung von Schüler*innen vervollständigt werden, die von Sportlehrkräften in bildungsplanbezogene körperlich-ästhetische Bildung eingewiesen werden. Da Tanzunterricht selten von Sportlehrkräften ohne Zusatzbefähigung durchgeführt wird, können hierzu kaum aussagekräftige Daten erwartet werden. Repräsentative Studien, die Schüler*innen während Tanzinterventionen mit Tanzpädagog*innen untersuchen, bilden zwar keine realistischen Dispositionen von Sportunterricht ab, zeigen aber, dass Wirkungsanliegen zu Wirkungsversprechen umgestaltet werden können, wenn im Tanzunterricht Identität und Authentizität vorherrschen. Ein von der irritierten Haltung unbeeinträchtigter Tanzunterricht kann positiv auf Kreativitätsförderung, Selbstkonzept und emotionale Kompetenz wirken (siehe: Claudia Steinberg/Svenja Konowalczyk/Esther Pürgstaller/Yvonne Hardt/Nils Neuber/Martin Stern „Facetten Kultureller Bildung im Medium „Tanz und Bewegungstheater“ - Eine empirische Studie“). Folglich liegt eine zum Thema unverfälschte, nahezu komplette, Datenlage vor, die Zusammenhänge zwischen den personellen Aneignungs- und strukturellen Ausbildungsbedingungen für den Tanzunterricht im Sportunterricht kritisch darstellt: Wer im herkömmlichen Sportstudium erwartungs- und voraussetzungslos auf den Inhaltsbereich Tanzen, Gestalten und Darstellen trifft und mit einer nur niedrigen Lern- und Lehrverpflichtung ausgebildet wird, kann als Sportlehrkraft keine oder nur geringe Transfereffekte bei Schüler*innen erzielen. Bildung zur kulturellen Teilhabe durch Tanzunterricht an Schulen gelingt per Sportlehrer*innenbildung nur selten. Soll das in Bildungsplänen angelegte Förderpotenzial abgerufen werden, erfordert dies eine umorganisierte Ausbildungspraxis.
Konzeptionelle Abgrenzungen von Auffassungen zu einer Bildung zur kulturellen Teilhabe durch Tanzunterricht an Schulen
Tanzen im Rahmen etablierter Kunstfächer: So wie Sportlehrkräften kulturell-künstlerische Bildungsdefizite nachgewiesen werden können, besitzen Lehrkräfte der Fächer Musik, Bildende Kunst oder Theaterpädagogik keinerlei Bewegungsexpertise, um Tanzen in der Schule qualitätsvoll unterrichten zu können.
Wiederaufnahme des Musisch-Ästhetischen-Gegenstandsbereichs: In den 1980er und 1990er Jahren konnten Studierende an Baden-Württembergs Pädagogischen Hochschulen die Fächer Kunst, Musik und Sport für das Primarschullehramt nur verknüpft mit einer ästhetischen Grundbildung im sogenannten Musisch-Ästhetischen-Gegenstandsbereich studieren. Damit einhergehende Reduktionen der Studienumfänge in den einzelnen Fächern bewirkten einerseits, dass die auf spezifischen Merkmalen beruhenden Besonderheiten der Fächer nicht ausreichend geschärft werden konnten. Andererseits führten, angesichts der Voraussetzungslosigkeit der Studierenden, disponierte ästhetische Verbundprojekte häufig zu klischeehaften Ergebnissen.
Tanzpädagogische Vertiefung innerhalb der Sportlehrerbildung: In nahezu allen Bundesländern ist die Umorganisation der Lehramtsstudiengänge in voneinander unabhängige oder nur bedingt abhängige Bachelor- und Masterstudiengänge vollzogen. Nach einem Bachelorstudium mit Lehramtsbezug muss nicht zwingend ein Masterstudium an der gleichen Einrichtung folgen. Aufgrund dieser und vieler weiterer Studienoptionen kann nicht sichergestellt werden, dass alle Bewegungsfelder der Bildungspläne im Laufe eines Studiums durchlaufen werden. Die Hoffnung auf eine umfänglichere tanzpädagogische Ausbildung im Sportlehramtsstudium ist damit hinfällig. Darüber hinaus scheitert die tanzdidaktische Vertiefung an konkurrierenden Einflüssen anderer Bewegungsfelder, dem geringen Stellenwert des Tanzes und der Skepsis gegenüber künstlerischen Förderabsichten im Sportstudium. Auch schmälern reformbedingte heterogenitätssensible und diagnostische Anforderungen an die hochschulische Lehramtsbildung die Umfänge im spezifischen Kompetenzerwerb.
Entwurf einer Fakultas Tanz: Die Konsequenz, Tanz als eigenes Fach zu etablieren, provoziert Gegenargumente von Seiten der Sportdidaktik. Außerdem ist Widerstand insbesondere von Kunst- und Musiklehrkräften zu erwarten, die die Gleichwertigkeit von Tanz im Verhältnis zu ihren Künsten in Frage stellen.
Konzeptionelle Impulse für eine gelingende Bildung zur kulturellen Teilhabe durch Tanzunterricht an Schulen
Bologna-Prozesse verpflichten zu äußeren zweck- und kompetenzorientierten Studienstrukturen. Bildung ist dem European Credit Transfer and Accumulation System (ECTS) untergeordnet, einem Instrument zur Akkumulierung von Studienleistungen, Gliederung des Hochschulstudiums und Gewichtung seiner Bestandteile. Aus den in den zugrundeliegenden Studien gewonnenen bildungsplanbezogenen, tanzdidaktischen und empirischen Erkenntnissen lassen sich konzeptionelle Handlungsempfehlungen zwar ableiten. Diese treten allerdings mit einem national abgestimmten, für alle Fachbereiche verbindlichen Hochschulmanagement in Konflikt. So besteht die Gefahr, dass die für eine künstlerisch-ästhetische Bildung notwendigen persönlichen und gemeinschaftsbezogenen sinnlichen Bezüge durch gleichgesetzte Kriterien profaniert werden.
Strukturrelevant erscheint schulpraxistaugliches Tanzkönnen und Tanzwissen, mit dessen Hilfe Sportlehrkräfte in die Lage versetzt werden, Tanzunterricht an Schulen kulturell umzugestalten. Tanzunterricht aus der Perspektive sich körperlich ausdrücken und Bewegungen gestalten, soll Schüler*innen befähigen
- mit selbstentschiedener Handlungsfähigkeit Ausschnitte ihrer Lebensgestaltung mit Tanzpotenzial durchzusetzen,
- mit Kreativität körperliche Gestaltungsprozesse zu initiieren und
- über Wahrnehmungs-, Ausdrucks- und spezifische Bewegungserfahrung im Einklang mit sich, der personellen und materiellen Umgebung tanzkörperlich in Beziehung zu treten.
Die elementare Tanzdidaktik bestimmt den Weg der Schüler*innen zur Tanzbefähigung mit den Grundpfeilern Tanztechnik und Tanzgestaltung, die von zukünftigen Tanzlehrkräften um den Parameter Tanzvermittlung ergänzt werden müssen. Über die Weiterentwicklung einer bewegungskünstlerischen und tanzvermittelnden Befähigung hinaus, muss, im Sinne einer hochschulischen Qualifizierung, noch die Entwicklungsarbeit an tanzbezogener Theoriebildung und Tanzforschung veranlasst werden. Ein angemessener Ausbildungsumfang für Tanzlehrkräfte an Schulen gleicht darüber hinaus den durch die Datenlage bemerkten qualitativen Mangel an rezeptiven und reflexiven Qualifikationen aus. Entsprechende Ausbildungsinstitutionen müssen in der Lage sein, quantitative Unzulänglichkeiten (Tanzpersonal, Tanzräume, Zeit zum Tanzen) zu beheben. Geeignete Studierende sind, etwa in Eignungsfeststellungsverfahren, auszuwählen.
Zusätzlich zu den Ergebnissen der hier besprochenen Studien, sind vier etablierte Studiengänge an hochschulischen Einrichtungen zu Rate gezogen worden, um eine Konzeption zur tanzkulturellen Bildung folgerichtig und realisierbar ableiten zu können. Die Studiengänge greifen eine kulturell-ästhetische Thematik auf, und sie realisieren hochschulische Ausbildungsstrukturen von Lehramtsstudierenden in den jeweiligen Bundesländern.
Die dargestellten Ausbildungsstrukturen basieren auf dem Grundsatz, dass Lehrkräfte die fachintendierten Unterrichtsgegenstände und Vermittlungsweisen selbst durchlaufen haben müssen, bevor sie Kinder und Jugendliche unterrichten können. Mit wissenschaftlicher Gewissheit der hermeneutischen Pädagogik bedingt das „Biografische Wissen“ (Volkmann 2008; Lüsebrink 2016) das Qualifikationsmaß von Lehrkräften. Folglich ist die persönliche Entwicklung auch für die in der tanzpädagogischen Unterrichtspraxis arbeitenden Lehrenden die Bedingung für Transformationen von Kenntnissen, Fähigkeiten und Einstellungen und damit die Voraussetzung für professionelles Handeln. Ob Schüler*innen an der veranlagten tanzpädagogischen Förderung wachsen, hängt vom Umfang der tänzerischen Erfahrung und dem Vorhandensein einer professionellen Tanzhaltung der Lehrkräfte ab.
Erweiterungsfach Kulturelle Bildung/Tanz
Bildungsplanbezogene Kompetenzerwartungen an Schüler*innen bestimmen das inhaltliche Mindestmaß für die Ausbildung von Tanzlehrkräften an Schulen. Studierende müssen umfangreiche Tanzerfahrung sammeln, Merkmale, Gestaltungsmittel und Formen von traditionellen und aktuellen Tanzformen erkennen und zur Steuerung des eigenen Tanzens nutzen. Darüber hinaus sind Hochschulentwicklungsvorgaben und Anforderungen an Wissenschaft und Forschung zu bedenken. Optimal auf kulturelle Bildungsbedarfe angepasste Studienstrukturen balancieren die hochschulstrukturellen Vorgaben mit einem hinreichenden Raum für die persönliche Neugierde und Kreativität der Studierenden aus.
Zur Bearbeitung der durch die Forschungslage beanstandeten strukturellen Verknappung der Tanzausbildung im Sportlehramtsstudium wurde der exemplarische Erweiterungsstudiengang auf einen ausreichenden Umfang von 45 ECTS-Punkten geweitet. Die quantitative Ausdehnung ermöglicht einen damit einhergehenden qualitativ ausdifferenzierten Erwerb tanzspezifischer Techniken und Methoden, ästhetischer Reflexionen und künstlerischer Ausdrucks- und Schaffenskraft. Der Studiengang berücksichtigt originäre Tanzqualifikationen sowohl für das einzelne Individuum, als auch für die choreografische Entfaltung in Tanzgruppen.
Dem auffällig gewordenen Mangel an reflexiver Auseinandersetzung mit der tanzkünstlerischen Praxis wird begegnet, indem eigene und beobachtete tanzkünstlerische Ausgangspunkte mit der Wissenschaft (Kultur-, Bildungs-, und Tanzwissenschaft), den schulunterrichtlichen Vermittlungsweisen und der Umsetzung in der tanzpädagogischen Praxis in einen Austausch eintreten.
Um auf die Forderung der mehrperspektivischen Bewegungsdidaktik einzugehen, das Tanzen in der Sinndimension sich körperlich ausdrücken und Bewegungen gestalten zu verankern, sind im Erweiterungsstudiengang tanzkörperliche Kommunikationsprozesse mit sich, Partnern und der Umwelt berücksichtigt, die von den Studierenden mit einer Ausdrucksbedeutung und mit einer für Zuschauer erkennbaren und bedeutsamen Wirkungsabsicht inszeniert werden. Die Vorlage zielt auf eine befähigte Lehrkraft, die tanzästhetische Gestaltung verinnerlicht hat und veranlassen sowie in Lehrverfahren auf Schüler*innen übertragen kann.
Die Studieninhalte versetzen Absolvent*innen in die Lage …
- Tanztechniken zu erwerben und zu zeigen,
- fundierte Kenntnisse aus einschlägigen zentralen Theorien (elementare Tanzpädagogik, motorische und ästhetische Entwicklung, rhythmische und musikalische Grundschulung, Tanzvermittlung, Forschungsmethoden und Tanzforschung) zu beschreiben, im Kontext von Schule zu bewerten und tanzunterrichtliche Zusammenhänge zu erläutern,
- tanzspezifische Methoden und Arbeitsweisen zu kennen und angeleitet mit Schüler*innen in den jeweiligen Schularten anzuwenden,
- tanzpraktische Maßnahmen zu kennen, auszuwählen, für choreografische Prozesse zu nutzen und auszuwerten,
- diagnosegestützte und heterogenitätsbezogene Potenziale des Tanzunterrichts zu erkennen,
- Wahrnehmungs- und Rezeptionsmuster aus zeitgenössischen Tanzchoreografien zu erschließen und
- Erkenntnisse aus tanzbezogenen Forschungsfragen zu generieren und für die persönliche Entwicklung einer Lern-/Lehrhaltung sowie für tanzästhetische Prozesse und Produkte zu nutzen.
Tanzen in der Schule - ein Fazit
Neben vielen weiteren Aufgaben müssen Sportlehrkräfte aufzeigen, dass das Bewegungsfeld Tanzen, Gestalten, Darstellen spezifisch bildet, sich und andere. Im Anschluss an meinen ernüchternden forschungsbasierten Einblick in die Realität der sportunterrichtlichen Tanzvermittlung auf drei Ebenen,
- die ästhetischen Startvoraussetzungen von Sportstudierenden,
- der Aneignungserwerb während einer Tanzlehrveranstaltung und
- die von Sportlehrkräften inszenierte Schultanzrealität im Sportunterricht,
suchte ich nach einer Ausbildungskonzeption für eine möglichst weitreichende Strahlkraft von Tanzen in der Schule. Über die Tanzausbildung im Sportlehramtsstudium sind Sportlehrkräfte auf Erwartungen an den Tanzunterricht in der Schule unzureichend vorbereitet. Es bleibt die unbequeme Aufgabe nicht aus, etablierte Gewohnheiten zu hinterfragen und ausgetretene Pfade zu verlassen.
Der ausgearbeitete Erweiterungsstudiengang gäbe zukünftigen Tanzlehrkräften an Schulen die Möglichkeit, umfangreiche Erfahrung zu sammeln und spezifische Vermittlungsweisen kennenzulernen: Die theoretische Beschäftigung mit dem Tanz als zeitgenössischer ästhetischer Produktion würde in der Ausbildung gleichberechtigt neben der persönlichen Entwicklung von Tanzvermögen, Ausdrucksqualität und vor allem einer authentischen Tanzhaltung stehen. Erst dadurch wären Lehrkräfte in der Lage, ihre Begeisterung für das Tanzen und die auszudrückenden Gegenstände mit den Schüler*innen zu teilen. Tanzen im Sportunterricht in der Schule sollte zukünftig Anderes besser und genauer erzählen.