Die Videografische Rahmenanalyse (VRA) – eine Methode zur Erforschung (kultur)pädagogischer Praxis
Die Videografische Rahmenanalyse (VRA) ist eine innovative Forschungsmethode, die es erlaubt, pädagogische Praxis systematisch zu erforschen. Durch die Arbeit mit audiovisuellem Material kann sie nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Qualitätsbestimmung und Qualitätssicherung Kultureller Bildungspraxis leisten, sondern auch die Bildungsmöglichkeiten konkreter Projekte beschreiben. Die sehr hohe Datendichte audiovisuellen Materials stellt allerdings eine große Herausforderung dar, die theoretisch und methodisch bearbeitet werden muss. Die VRA bietet dafür mit Rückgriff auf ethnomethodologische Theoriebestände und die Rahmentheorie Erving Goffmans sowie durch den Einbezug des Begriffs der Lernkultur ertragreiche theoretische Grundlegungen, die eine differenzierte Bestimmung der Methoden der Datenerhebung, der Datendokumentation, der Datenanalyse und der Datendarstellung ermöglichen.
In diesem Artikel wird zunächst in einem ersten Teil die Bedeutung von Praxisforschung für das Feld der Kulturellen Bildung beschrieben. Im zweiten Teil wird die Videografische Rahmenanalyse als eine Methode vorgestellt, die es erlaubt, mit der hohen Komplexität menschlichen Handelns systematisch umzugehen. Möglich wird dies, weil die VRA mit dem Bezug auf die Ethnomethodologie, die Rahmentheorie Erving Goffmans und einen deskriptiven Begriff von Lernkultur ein solides theoretisches Gerüst bietet, um Praxisanalysen zu betreiben. Nach der Vorstellung der theoretischen Grundlagen werden kurz die Methoden der Datenerhebung, der Datendokumentation, der Datenanalyse und der Datendokumentation erörtert. Ein kleines Beispiel aus der Analyse der Lernkultur eines Tanz- und Theaterprojektes veranschaulicht den Ertrag des Einsatzes der Methode. Zum Abschluss werden die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen der VRA diskutiert.
Prozessorientierte Forschung in der Kulturellen Bildung
In den letzten 15 Jahren sind in Deutschland etliche Forschungsarbeiten im Feld der Kulturellen Bildung veröffentlicht worden. Eine umfassende Systematisierung und Auswertung dieser Forschungsansätze steht noch aus, es gibt allerdings verschiedene Versuche, Formen der Forschung voneinander zu unterscheiden (siehe hierzu das Einleitungskapitel dieses Buches). Die Videografische Rahmenanalyse, die Gegenstand dieses Artikels ist, ist eine Forschungsmethode, die ihren Einsatz in der Prozessorientierten Forschung findet. Prozessorientierte Forschung interessiert sich – wie der Name schon deutlich macht – für pädagogische Prozesse und nicht, zumindest nicht in erster Linie, für Voraussetzungen oder Ergebnisse pädagogischer Interventionen. Mit dieser Hinwendung zur Praxis Kultureller Bildung verbinden sich zwei Zielsetzungen:
Differenzierung von Praxis – Qualitätsbestimmungen Kultureller Bildung: Die in den letzten Jahren zu beobachtende Wertschätzung für Kulturelle Bildung hat den Nachteil, dass die Nutzung des Begriffes „Kulturelle Bildung“ inflationär geworden ist. Alle, die mit ihrer Arbeit Fördermittel einwerben wollen, können unter der Flagge der Kulturellen Bildung segeln, solange das Projekt nur irgendetwas mit „Kunst oder Kultur“ zu tun hat. Dabei muss nicht näher bestimmt werden, nach welchen künstlerischen und pädagogischen Grundsätzen gearbeitet wird. Die Hinwendung zur Praxis Kultureller Bildung kann dabei helfen, künstlerische und pädagogische Grundprinzipien verschiedener Angebote Kultureller Bildung präzise zu beschreiben und deutlich voneinander abzugrenzen. So wird ein wichtiger Beitrag dazu geleistet, die Qualitätsdebatte in der Kulturellen Bildung weiter voranzutreiben (eine interessante Auflistung von Qualitätsaspekten findet sich bei Bamford 2006:85–101, mittlerweile auch auf Deutsch erschienen: Bamford 2010).
Bestimmung von Bildungsmöglichkeiten aus der Analyse der Praxis: Das zweite Forschungsanliegen der Prozessorientierten Forschung richtet sich darauf, plausible Wirkungszusammenhänge zu identifizieren. Notwendig ist dies, weil Wirkungsbehauptungen, die aktuell mit Kultureller Bildung verbunden werden, meist weder empirisch gedeckt noch argumentativ begründet werden: „Eine ganzheitliche Bildung, die Musik, Bewegung und Kunst einbezieht, führt, wenn diese Komponenten im richtigen Verhältnis stehen, im Vergleich zu anderen Lernsystemen bei gleicher Informationsdichte des Unterrichts für den Lernenden zu höherer Allgemeinbildung. Gleichzeitig werden höhere Kreativität, bessere soziale Ausgeglichenheit, höhere soziale Kommunikationsfähigkeit, höhere Lernleistungen in den nichtkünstlerischen Fächern (Mathematik, Informatik), bessere Beherrschung der Muttersprache und allgemein bessere Gesundheit erreicht“ (Enquete-Kommission 2008:379). Die hier postulierten Wirkungen Kultureller Bildung sind nicht nur empirisch bisher noch nicht belegt, sondern auch terminologisch problematisch: Was genau ist z. B. eine „ganzheitliche Bildung, die Musik, Bewegung und Kunst einbezieht“? Was kennzeichnet das „richtige Verhältnis“ welcher Komponenten, und von welchen „anderen Lernsystemen“ soll hier Kulturelle Bildung abgegrenzt werden? Das Problem der fehlenden Bestimmung der konkreten Praxis Kultureller Bildung, die bestimmte positive Wirkungen haben soll, findet sich aber nicht nur im Enquete-Bericht, der keinen genuin wissenschaftlichen Anspruch hat, sondern auch in wissenschaftlichen Studien. Beispielhaft dafür ist die sogenannte „Bastian-Studie“ (Bastian et al. 2000): Sie versuchte mit einem aufwändigen Methodensetting, die Wirkungen eines „erweiterten Musikunterrichts“ auf die Schülerinnen und Schüler zu ermitteln. Im Fokus der Untersuchung stand ein umfangreicher Katalog von Kompetenzen und anderen psychologischen Parametern: „Intelligenz“, „Soziale Kompetenz“, „Konzentrationsfähigkeit“, „Angst und emotionale Labilität“, „musikalische Begabung und Leistung“, „musikalische Entwicklung“, „Selbstkonzept“, „Persönlichkeitsentwicklung“ und „Kreativität und schöpferisches Denken“. Neben allen methodischen Fragezeichen, wie etwa den fehlenden Vergleichsgruppen, erscheint als größtes Problem dieser Studie, dass die programmatische Ausgestaltung des „erweiterten Musikunterrichts“ zwar beschrieben wurde, aber in den jeweiligen untersuchten Gruppen sehr verschieden war, und zudem nicht darüber berichtet wurde, wie die Qualität dieses erweiterten Musikunterrichts gesichert wurde. Die Verschiedenartigkeit des Treatments erweist sich in der Interpretation der ermittelten Ergebnisse als problematische Lücke. Sieht man sich zum Beispiel den Befund zur „Sozialen Kompetenz“ genauer an (Bastian 2000:295–342), dann wird deutlich, dass auf Grundlage der vorhandenen Daten überhaupt nicht nachzuvollziehen ist, „wie“ bzw. „was“ am erweiterten Musikunterricht zur Steigerung der sozialen Kompetenz beigetragen haben könnte. Unbefriedigend ist das vor allem deshalb, weil so völlig unklar bleibt, ob der Effekt gesteigerter sozialer Kompetenzen nicht auf „außermusikalische“ Faktoren zurückzuführen ist (also zum Beispiel auf das Gemeinschaftserleben bei gemeinsamen Aufführungen, das nicht als genuin musikalisch beschrieben werden kann, sondern vielleicht auch bei Theateraufführungen oder Fußballspielen zu beobachten wäre).
Die Untersuchung konkreter Bildungspraxis im Rahmen von Prozessorientierter Forschung erlaubt es im Unterschied dazu, „Bildungsmöglichkeiten“ der jeweiligen untersuchten Bildungspraxis sehr genau zu beschreiben und plausible Wirkungshypothesen zu entwickeln.
Die Videographische Rahmenanalyse (VRA)
Die VRA ist eine Forschungsmethode, die die pädagogische Praxis mittels videographischen Materials analysiert. Nicht selten wird beim Umgang mit Videomaterial der Fehler gemacht, dass zunächst einmal „einfach“ aufgenommen wird. Dies scheint auf den ersten Blick auch naheliegend zu sein, da kein großes theoretisches Problem vorzuliegen scheint: Da man sich für die pädagogische Praxis interessiert, „nimmt man diese Praxis eben auf“. Sieht man sich aber solche Videos „natürlicher Interaktionen“, also solcher Interaktionen, die nicht extra für die Kamera stattfanden, genauer an, wird schnell deutlich, dass es keine Analyse ohne bestimmte theoretische Vorannahmen geben kann. Die Frage ist nämlich, was auf den Videobändern zu sehen ist. Welche Bedeutung haben die unzähligen sichtbaren Handlungen? Welche Rolle spielen die Räume, in denen Interaktionen stattfinden? Was ist wichtig und was ist unwichtig? Sieht man die „entscheidenden“ Dinge oder spielen sich diese in den Köpfen der Leute ab und man sieht nur eine relativ uninteressante Oberfläche? Oder anders gefragt: Wie kann ich als Forscher davon ausgehen, dass das, was ich da sehe, denke, interpretiere, auch von den Handelnden ähnlich gesehen bzw. interpretiert wird? Oder ist das gar nicht entscheidend, weil sowieso alle unterschiedlich interpretieren?
Die Arbeit mit Videomaterial macht Antworten auf diese Fragen erforderlich, wenn die Aufnahme, Analyse und Darstellung des Videomaterials „wissenschaftlich“, also theoretisch begründet und nicht zufällig erfolgen soll.
Theoretische Wegweiser: Ethnomethodologie, Rahmentheorie, Lernkultur
Die Ethnomethodologie ist ein Forschungsprogramm, das vom amerikanischen Soziologen Harold Garfinkel in den 1960er Jahren in den USA auf den Weg gebracht wurde. Zentrales Thema Garfinkels war die Frage, wie es Menschen gelingt, Soziale Ordnungen herzustellen. Er interessierte sich dabei für die Ordnungsstrukturen alltäglicher Interaktionen und konnte überzeugend zeigen, dass die Annahme seines Lehrers, Talcott Parsons, dass die Verständigung in alltäglichen Situationen aufgrund internalisierter Normen geschieht, falsch ist (zum Verhältnis von Garfinkel und Parsons vgl. Heritage 1984:7–36).
Die Brüchigkeit unserer Vereinbarungen hat Garfinkel mit seinen berühmt gewordenen „breaching experiments“ (Garfinkel 1963, dt.: Garfinkel 1973, Garfinkel 1967) gezeigt. Bei diesen Krisenexperimenten verhielten sich seine Studierenden auf seinen Auftrag hin in Alltagssituationen so, als ob sie nicht verstünden, was vor sich geht bzw. führten sie Handlungen durch, die von den anderen AkteurInnen – die ja nicht eingeweiht waren – nicht verstanden werden konnten. Dies führte zu höchst konfliktreichen Szenen. Das größte Problem dabei war, dass die unfreiwilligen Versuchspersonen keine Deutungsmöglichkeiten mehr für das Verhalten der ExperimentatorInnen hatten.
„Case 6.
The victim waved his hand cheerily.
(S) ‘How are you?’
(E) ‘How am I in regard to what? My health, my finance, my school work, my peace of mind, my …’
(S) (Red in the face and suddenly out of control.) ‘Look! I was just trying to be polite. Frankly, I don’t give a damn how you are.’” (Garfinkel 1963: 221 f., dt. Garfinkel 1973:206 f.)
Die Krisenexperimente zeigen, dass wir in unserem Alltag nicht nur einfach „etwas“ sagen, sondern immer auch anzeigen, wie es gemeint ist – Garfinkel nennt das „display“ oder „account“. Im geraden zitierten „breaching experiment“ zeigt S an, dass sie mit der Frage „How are you?“ sich als höfliche Person darstellen wollte, die sich für den anderen interessiert. Sie erwartet dabei, wie die spätere Entgegnung zeigt, dass E dies auch versteht und entsprechend antwortet. Das Zitat zeigt auch, dass wir normalerweise nicht zwischen der Wahrnehmung einer Situation und ihrer Interpretation unterscheiden: Wir hören nicht die Worte „Wie geht es Dir?“ und denken dann: „Ah, der will höflich sein, das ist ja nett, dann bin ich auch mal höflich“, sondern wir antworten – sozusagen „sofort“ – mit: „Danke, und Dir?“ Dieses Ineinsfallen von Wahrnehmung und Interpretation nennt Garfinkel unter Übernahme einer Begrifflichkeit von Karl Mannheim Documentary Method of Interpretation (DMI) (Garfinkel 1967:76 ff.) und erläutert sie als etwas, das „seen, but unnoticed“ (Garfinkel 1967:118) abläuft. Dies ist die Einsicht der Ethnomethodologie, die für die Analyse videographischen Materials zentral ist, da so deutlich wird, dass sich die handelnden Akteurinnen und Akteure in natürlichen Interaktionen wechselseitig anzeigen, wie sie ihre Handlungen verstanden wissen wollen. Dies bedeutet, dass diese Hinweise grundsätzlich auch auf Videomaterial sichtbar bzw. hörbar sind und durch die Möglichkeiten der Verlangsamung und des wiederholten Abspielens auch wahrnehmbar gemacht werden können. Das Videomaterial bietet die Möglichkeit, das „seen, but unnoticed“ in ein „seen, noticed and explained“ zu überführen.
Die Ethnomethodologie ist also die handlungstheoretische Grundlage, die dabei hilft, Leitlinien für die Analyse des Videomaterials zu entwickeln:
Es ist plausibel, davon auszugehen, dass im Handeln der jeweiligen Personen auch zu sehen ist, wie sie ihr Handeln verstanden wissen wollen. Jede Handlung ist dabei grundsätzlich eine sinnvolle Handlung – schwer verstehbare Handlungen können nicht „einfach“ aus der Analyse ausgeschlossen werden.
Zudem ist aufgrund der grundsätzlichen Uneindeutigkeiten von Interpretationen davon auszugehen, dass es zu „Reparatursequenzen“ kommt, in denen über die jeweiligen Interpretationen verhandelt wird. Diese Sequenzen sind von besonderem Interesse, da hier Deutungen von Situationen explizit formuliert werden.
Schließlich gibt die Ethnomethodologie auch Hinweise darauf, wie Interpretationen des Forschers auf ihre Plausbilität hin geprüft werden können. Eine Deutung von Handlungen muss sich an den Folgehandlungen der Akteure des Feldes beweisen: Handeln diese so, dass die Deutung der Ausgangshandlung mit diesem Handeln vereinbar ist, hat sich die Deutung bewährt und kann als plausibel betrachtet werden.
Diese Leitlinien für die Analyse natürlicher Interaktionen sind sehr hilfreich, um einzelne Ausschnitte von Aufnahmen zu analysieren. Ähnliche Überlegungen finden sich auch in den Arbeiten von Knoblauch und Schnettler, die sich mit der Entwicklung der Videointeraktionsanalyse (VIA) ebenfalls für die Analyse videographischen Materials interessieren, auch für die Analyse nicht-natürlicher Aufnahmen (vgl. unter anderem: Knoblauch 2004, Knoblauch et al. 2006). Da (kultur)pädagogische Praxis aber außergewöhnlich komplex ist (je mehr Personen in unterschiedlichen Interaktionen beteiligt sind, desto komplexer gestalten sich Videoanalysen), ist die Auswahl der zu analysierenden Ausschnitte ein Problem, das auch theoretisch bearbeitet werden muss.
Unter Rückgriff auf die Rahmen-Analyse von Erving Goffman (Goffman 1977) schlage ich vor, den oft normativ gebrauchten Begriff der Lernkultur als deskriptiven Begriff ernstzunehmen und die pädagogische Praxis einer Lerngruppe als „Lernkultur“ zu begreifen. Diese „Lernkultur“ wiederum will ich als Summe der in ihr verwirklichten Rahmen verstehen. Den Begriff des Rahmens übernehme ich von Goffman, der davon ausgeht, dass alle Interaktionen von Menschen in bestimmten sozialen Ordnungen ablaufen, die sich voneinander unterscheiden lassen und als „Rahmen“ bezeichnet werden können:
„Ich gehe davon aus, dass wir gemäß gewissen Organisationsprinzipien für Ereignisse – zumindest für soziale – und für unsere persönliche Anteilnahme an ihnen Definitionen einer Situation aufstellen; diese Elemente, soweit mir ihre Herausarbeitung gelingt, nenne ich ,Rahmen‘. Das ist meine Definition von ,Rahmen‘. Mein Ausdruck ,Rahmen-Analyse‘ ist eine Kurzformel für die entsprechende Analyse der Organisation von Erfahrung.“ (Goffman 1977:19)
Goffman geht davon aus, dass die alltägliche Verständigung zwischen Menschen dadurch möglich wird, dass alle Interaktionen in „Rahmen“ stattfinden, die den jeweiligen Handlungen ihren Sinn verleihen. Die von der Ethnomethodologie entwickelte Annahme, dass Menschen anzeigen, wie sie ihre Handlungen verstanden wissen wollen, wird durch Goffman in der Hinsicht ergänzt, dass er davon ausgeht, dass die jeweilige Interpretation sich nicht nur an den Handlungen selbst, sondern auch an der aktuellen Situationsdefinition – dem „Rahmen“ – orientiert. An einem Beispiel lässt sich gut zeigen, was Goffman meint: Streckt eine Person einen Finger in die Luft, wird das nur als ein „Melden“ verstanden werden, wenn die Handlung innerhalb eines Rahmens vollzogen wird, in dem diese Art, seinen Redewunsch anzuzeigen, gebräuchlich ist, also zum Beispiel im Unterricht – dann aber im Modus der DMI: Die beteiligten Akteure sehen sofort ein Melden und nicht ein „Ah, da streckt einer wohl seinen Finger in die Luft, der will bestimmt anzeigen, dass er sprechen will.“ Goffman geht dabei nicht von starren Rahmen aus, deren Regeln klar fixiert sind, sondern davon, dass die jeweils gültigen Rahmen ebenfalls durch die Handlungen der Personen aufgebaut werden und beständig – von ihm „Modulationen“ genannte – Veränderungen erfahren können. Goffman widmet in der Rahmen-Analyse den Modulationen ein eigenes Kapitel (Goffman 1977:52–97). Aus diesen Überlegungen heraus lassen sich die folgenden Hinweise für die Analyse von Videomaterial gewinnen: Es ist davon auszugehen, dass in jeder beobachteten pädagogischen Praxis verschiedene Rahmen aufgebaut, durchgeführt und beendet werden. Eine Analyse all dieser Rahmen kann als eine Analyse der Lernkultur der untersuchten Lerngruppe verstanden werden. Die Auswahl der zu analysierenden Videoausschnitte orientiert sich am jeweiligen Rahmen des Ausschnittes. So ist es möglich, einen Datenkorpus zusammenzustellen, der die chronologische Ordnung aufbricht und die Videoausschnitte nach ihrer jeweiligen Rahmenzugehörigkeit ordnet. Eine ausführlichere Darstellung der theoretischen Grundlagen der VRA findet sich in Fink 2012:39–69.
Die Forschungsmethoden der VRA
Die folgende, sehr knappe Übersicht über die verwendeten Forschungsmethoden unterscheidet Methoden der Datenaufnahme von denen der Datendokumentation/Datenanalyse und der Datendarstellung (ausführlich in Fink 2012:105–134).
Datenaufnahme
Die Datenaufnahme audiovisuellen Materials ist im Rahmen der VRA mit einer zentralen Schwierigkeit konfrontiert: Eine Standkamera, die an einem festen Ort ohne eine/n Kameramann/frau aufgebaut wird, liefert für die VRA unbrauchbares Material: Für die Analyse von Interaktionen müssen die körperlichen und sprachlichen Feinheiten der jeweiligen Interaktionen zu sehen sein, die im Überblicksfokus einer Standkamera verlorengehen. Dementsprechend ist stattdessen eine bewegliche Kamera – die nah dran ist – erforderlich. Aus dieser Vorgabe entsteht allerdings ein neues Problem: Die sichtbare Anwesenheit einer Kamera und einer/s Kameramannes/frau hat Einfluss auf das Verhalten der Beobachteten, in der Terminologie der Rahmen-Analyse: Der Rahmen verändert sich durch die Anwesenheit der Kamera und einer zusätzlichen Person. Die Lösung für dieses Problem der „Reaktivität“ wurde von Krappmann und Oswald auf die Formel gebracht: „Unsichtbarkeit durch Sichtbarkeit“ (Krappmann/Oswald 1995). Sie schlagen vor, das Problem der Reaktivität dadurch zu bearbeiten, dass die beobachteten AkteurInnen offen und von Anfang an über die Nutzung und den Sinn der Aufnahmen informiert werden und dann – wenn die soziale Rolle der BeobachterInnen geklärt ist – die Beobachtung auch wieder „vergessen“. Die Erfahrungen aus vielen Stunden videographischer und teilnehmender Beobachtung zeigen, dass Krappmann und Oswald eine praktikable Lösung anbieten: Die Klärung und Ausführung der eigenen Rolle des stummen Dabeiseins führt nach kurzer Zeit dazu, dass die Kamera in den allermeisten Situationen nicht mehr als Akteur“ wahrgenommen wird. Dies zeigen vor allem die wenigen Situationen, in denen die AkteurInnen nach längerer Bekanntschaft auf die Kamera reagieren, indem sie mit Blicken oder Worten deutlich machen, dass sie die Kamera in diesem Moment als anwesend wahrnehmen. Es ist zu sehen, wenn die Kamera zum „Akteur“ wird, und es ist auch zu sehen, dass dies nur sehr selten geschieht.
Datendokumentation und Datenanalyse
Nach der Aufnahme des Videomaterials gilt es, die Voraussetzungen für die Datenanalyse zu schaffen. Zur einfacheren Bearbeitung des Materials hat es sich als sinnvoll erwiesen, das gesamte Material auf einen gemeinsamen Datenspeicher, zum Beispiel eine Festplatte, zu übertragen und zunächst chronologisch zu ordnen. Im nächsten Schritt findet eine vollständige Durchsicht des gesamten Materials statt, in dessen Verlauf Memos zu allen Aufnahmen entstehen, die kurze Inhaltsangaben des zu Sehenden (einschließlich der Videolaufzeiten) und erste Hypothesen über die beobachtbaren Rahmen enthalten. Im Anschluss an diesen ersten Schritt können einzelnen Sequenzen zu neuen – jetzt nach Rahmen organisierten – Korpora zusammengestellt werden.
Für die sich anschließende Feinanalyse von Sequenzen lohnt es sich, ausgewählte Sequenzen in einen Text zu überführen. Diese Überführung geschieht dadurch, dass ein Transkript des Videoausschnitts erstellt wird, indem Teile der Handlung beschrieben werden und Gesprochenes konversationsanalytisch eingefügt wird.
Für diese Überführung in Text gibt es drei Gründe: Sequenztranskripte ermöglichen 1) die Fokussierung auf bestimmte Handlungen, die auf dem Videomaterial zu sehen sind, 2) die Analyse der sequentiellen Struktur von Handlungen, 3) einen schnellen Überblick und damit den Vergleich verschiedener Sequenzen. Zur intensiv geführten Diskussion über die Übersetzung von audiovisuellem Material, die Vorzüge von Text und die besondere Form der Sequenztranskripte mit Dichten Beschreibungen und konversationsanalytischen Transkripten, vgl. Fink 2012:128 ff.
Datendarstellung
Die Datendarstellung stellt eine spezifische Schwierigkeit für videografische Forschung dar. Die übliche Form wissenschaftlicher Veröffentlichungen als Text macht eine Veröffentlichung von Videomaterial für den wissenschaftlichen Diskurs nur schwer anschlussfähig. Neben den Versuchen, andere Formen der Publikation zu finden (ein interessantes Beispiel legte Bina Mohn vor mit einer DVD vor, die Videoaufnahmen und Texterläuterungen enthält: Mohn/Wiesemann 2007), werden häufig „Stills“, also Bilder aus dem Videomaterial zur Veröffentlichung erzeugt. Neben den technischen Problemen (geringe Auflösung des Videomaterials für Printbilder) und forschungsethischen Fragen (eine Anonymisierung der beobachteten AkteurInnen ist auf Fotos kaum möglich) verzichte ich im Rahmen der VRA noch aus einem anderen Grund auf die Veröffentlichung von Bildmaterial: Der „Überreichtum“ von Bildern – insbesondere von Videobildern – erlaubt es nicht, den Aufmerksamkeitsfokus von LeserInnen bzw. ZuschauerInnen so zu fokussieren, wie es die Darstellung von Forschungsergebnissen erforderlich macht. Um aber dennoch eine Nachvollziehbarkeit der Analysen möglich zu machen, werden die für die Analysen wichtigsten Sequenztranskripte veröffentlicht.
Die Lernkultur eines Theater- und Tanzprojektes an einer Grundschule
Die folgende Übersicht ist der Versuch, die Lernkultur einer Lerngruppe durch die Zusammenstellung aller in ihr verwirklichten Rahmen darzustellen. Es handelt sich dabei um eine Darstellung, die nach der umfassenden Analyse der Lernkultur einer einjährigen Theater- und Tanz-AG an einer Grundschule entstanden ist (die gesamte Analyse findet sich in Fink 201, dort sind auch detaillierte Beschreibungen der einzelnen Rahmen zu finden, die hier nur überblicksartig und zusammenfassend dargestellt werden können). Die folgenden Rahmen ließen sich beobachten und analysieren:
Das Anfangs- und Abschlussritual stellen die äußeren Klammern der Lernkultur dar, sie wurden jeweils zu Beginn und Abschluss eines Projekttermins durchgeführt und hatten die Funktion, die gemeinsame Arbeit beginnen und enden zu lassen (zur Bedeutung von Anfangs- und Schlussklammern für Rahmen vgl. auch Goffman 1977:278). Die hier als „Spiele“ und „Übungen“ bezeichneten Rahmen differenzieren sich in eine Vielzahl von Unterrahmen auf, die sich bei Spielen nach ihrem Spielprinzip (zur Herkunft dieser Unterscheidung vgl. Fink 2012: 164 ff. bzw. Caillois 1960) und in Übungen nach der sozialen Organisationsform (allein, in Paaren, auf ein Zentrum gerichtet oder in einer Kleingruppe organisiert) unterscheiden lassen. Zudem gilt, dass jedes Spiel und jede Übung als ein eigener Rahmen aufzufassen ist, der sich dadurch auszeichnet und von anderen abgrenzt, dass spezifische Regeln für das jeweilige Spiel/die jeweilige Übung gelten. Eine weitere Gruppe von Rahmen stellen Tanzrahmen dar, in der untersuchten Lernkultur waren HipHop-Choreographien und der „Chace Kreis“, eine Form des Kreistanzes, zentral. In die Gruppe der Gesprächsrahmen ordnen sich eine Vielzahl von Rahmen, in denen die sprachliche Verständigung im Mittelpunkt stand, es ließen sich Krisengespräche von Geschichtenentwicklungsgesprächen, Organisationsgespräche, Berichte und Feedbackgespräche voneinander unterscheiden. Eine weitere besonders komplexe Sammlung von Rahmen stellen die Gestaltungsaufgaben dar: Hier sind die Rahmen zusammengefasst, in denen die TeilnehmerInnen des Projektes eigenständig kleine Theater- oder Tanzszenen entwickeln, proben und präsentieren mussten. Besonders interessant sind diese Rahmen, weil in ihnen nicht mehr die Anleiterinnen für die Etablierung und Aufrechterhaltung von Interaktionsrahmen sorgen, sondern die TeilnehmerInnen selbst ihre Interaktionsrahmen gestalten. Ähnliches geschieht dann in den Phasen, die in der Übersicht als „Atelier“ bezeichnet werden: Gegen Ende der Projektarbeit kommt es zu multizentrierten Projektstunden, d. h., dass es nicht mehr nur eine gemeinsame Interaktion gibt, sondern an vielen Stellen des Raumes verschiedene Interaktionen durchgeführt werden: Besprechungen, Proben, Präsentationen, Pausen.
Pausen und die Rahmen, die dort von den TeilnehmerInnen realisiert wurden, wurden ebenfalls als Teil der Lernkultur verstanden, die Hauptrahmen waren dort „Essen&Trinken“, verschiedene Spiele – unter anderen „Quatsch vor der Kamera“ und „Flanieren“. Proben stellen eine weitere wichtige Gruppe von Rahmen dar, die sich in „Entwicklungsproben“, „Arbeit-an-der-Form-Proben“ und „Durchläufe“ unterteilen lassen. In der Mitte der Darstellung stehen schließlich die Abschlussaufführungen, die sich durch den Einbezug von Publikum stark von allen anderen Rahmen unterscheiden und die vor allem deshalb sehr interessant sind, weil die TeilnehmerInnen in den Abschlussaufführungen eine hohe gemeinsame Verantwortung für das Gelingen der Darstellung tragen.
Der Ertrag einer so genauen Analyse einer Lernkultur – die hier nur extrem gerafft wiedergegeben werden kann – liegt darin, dass sich Bildungsmöglichkeiten dieser Lernkultur spezifisch aus den jeweiligen Rahmen heraus konkretisieren und begründen lassen. Die untersuchte Lernkultur zeichnet sich durch folgende Aspekte aus (die ausführliche Darstellung der Bildungsmöglichkeiten findet sich in Fink 2012:384–390):
1. Differenzerfahrungen zwischen Nicht-Ich und nicht Nicht-Ich: In Spielen, Übungen, Proben und Präsentationssituationen werden Rahmen geschaffen, die es den TeilnehmerInnen ermöglichen, sich in „Rollen“ zu begeben und in diesen Rollen zu interagieren. In diesen Rollen agieren sie als „Nicht-Ich“, da sie spielen, ein „anderer“ zu sein, und jederzeit „hinter der Rolle“ erscheinen können und das Gespielte als „Nicht-Ich“ bezeichnen können. Zugleich gilt aber auch, dass die, die da spielen, keine anderen sind als die Personen, die da spielen, sozusagen auch „nicht Nicht-Ich“. Diese Begrifflichkeiten wurden von Richard Schechner, einem amerikanischen Theateranthropologen, geprägt (Schechner 1990:12 ff.) (vgl. hierzu auch Hentschel 2008). Diese Kennzeichnung einer Bildungsmöglichkeit eines Theaterprojektes ist nun zunächst nicht überraschend, entscheidend ist aber, dass die VRA sehr genau zeigen kann, ob und welche Rahmen diese Differenzerfahrung auch tatsächlich ermöglichen.
2. Erfahrung der Verantwortungsübernahme: Das zweite wichtige Charakteristikum der untersuchten Lernkultur ist, dass es mehrere Rahmen gibt, die eine Verantwortungsübernahme durch die TeilnehmerInnen erforderlich machen. In den Gestaltungsaufgaben, den Atelierphasen und den Abschlussaufführungen sind es die TeilnehmerInnen selbst, die die Etablierung, Durchführung und Beendigung der durchzuführenden Rahmen gestalten müssen. Besondere Verantwortung kommt den TeilnehmerInnen in den Abschlussaufführungen zu, da die AnleiterInnen während des laufenden Stücks keine Interventionsmöglichkeit haben, die nicht die Illusion des gespielten Stücks zerstören würden.
3. Erfahrung Sozialer Anerkennung: Präsentationssituationen lassen sich als Rahmen kennzeichnen, in denen soziale Anerkennung erworben werden kann. Kennzeichen der untersuchten Lernkultur ist, dass sie vielfältige Präsentationssituationen bietet, in denen die TeilnehmerInnen den Raum geboten bekommen, sich vor den anderen TeilnehmerInnen und zum Schluss vor einem größeren Publikum zu zeigen. Die AnleiterInnen achteten dabei sehr genau darauf, dass alle TeilnehmerInnen in der Abschlussaufführung mit einer eigenen gestalteten Figur in Erscheinung traten, und nicht einige TeilnehmerInnen lediglich die Staffage für wenige HauptdarstellerInnen mimten. Spannendes Analysematerial stellen in diesem Zusammenhang auch die Feedback-Gespräche dar, in denen die Anleiterinnen versuchten, die TeilnehmerInnen im „Anerkennung formulieren“ zu bestärken und dabei gegen eine mächtige Praxis des „Kritisierens“ ankämpfen mussten (ausführlich in Fink 2012:277–288).
4. Gestalterische Selbstwirksamkeitserfahrung: Die Abschlussaufführungen, mit denen die TeilnehmerInnen große Anerkennung durch die anwesenden Familien, MitschülerInnen und LehrerInnen erfuhren, können als „Mastery Experience“ begriffen werden. In der Theorie der Selbstwirksamkeitserwartung wird einer Mastery Experience der höchste Einfluss auf eine Veränderung der eigenen Selbstwirksamkeitserwartung zugeschrieben, insbesondere dann, wenn die bewältigte Aufgabe als schwierig eingeschätzt wurde, die eingesetzte Anstrengung hoch war und das Ausmaß an Hilfe nicht zu groß war (vgl. Bandura 1997:80 ff. sowie Fink 2012:389 f.). Die Diskussion um bereichsspezifische Selbstwirksamkeitserwartungen aufgreifend, können die Abschlussaufführungen als „Darstellerische Selbstwirksamkeitserfahrungen“ verstanden werden: Die TeilnehmerInnen haben die Erfahrung gemacht, dass es ihnen gelingt, ein von ihnen entwickeltes Stück so zur Darstellung zu bringen, dass sie große Anerkennung dafür bekommen.
Möglichkeiten und Grenzen der VRA
Die VRA bietet für die Forschung insbesondere im Bereich der Kulturellen Bildung die folgenden Möglichkeiten:
1. Einordnung einer Sequenz in einen Gesamtzusammenhang: Die VRA ermöglicht es, einzelne Ausschnitte aus dem Videomaterial in ihrer Bedeutung für das Gesamtgeschehen zu beurteilen, eine begründete Auswahl der zu analysierenden Sequenzen vorzunehmen und in der Darstellung diese Bedeutung auch beschreiben zu können.
2. Verschiedene Lernkulturen auf ihre Bildungsmöglichkeiten hin analysieren: Die VRA ermöglicht durch die Analyse der Rahmen einer Lernkultur einen Vergleich von Lernkulturen: Was unterscheidet zum Beispiel Theaterprojekte voneinander? Und welche Bedeutung haben diese Unterschiede? Zudem ermöglicht die VRA auch den Vergleich von Lernkulturen über die Spartengrenzen hinweg: Es lassen sich die Lernkulturen von Theaterprojekten mit den Lernkulturen von Musikprojekten oder von Projekten der Bildenden Kunst vergleichen und so auch spartenspezifische Rahmen und deren Bildungsmöglichkeiten analysieren.
3. Rahmenbedingungen vergleichen: Welche räumlichen, personellen, organisatorischen oder materialbezogenen Einflüsse lassen sich identifizieren? Die Gestaltung von Rahmen hängt von vielen Einflussfaktoren ab. Deren genaue Analyse kann dabei helfen, die räumlichen, personellen, organisatorischen und materialbezogenen Einflüsse zu unterscheiden und so die jeweiligen Voraussetzungen für bestimmte Rahmen und dadurch auch für eine gelingende Praxis zu beschreiben.
4. Anleitungsstile vergleichen: Der Einfluss von AnleiterInnen auf die Gestalt einer Lernkultur ist sehr hoch, da ihnen besondere Gestaltungsrechte bei der Etablierung und Aufrechterhaltung von Rahmen zukommen. Die VRA ermöglicht es, „Anleitungsstile“ sehr differenziert miteinander zu vergleichen.
5. Kulturpädagogische Didaktik fortentwickeln: Kulturpädagogische Praxis zeichnet sich häufig durch ein hohes praktisches Können aus, während die theoretische Beschreibung des eigenen Handelns dahingegen oft weniger ausgeprägt ist. Die VRA stellt eine Möglichkeit dar, kulturpädagogische Didaktik aus der Analyse gelingender (und auch nicht gelingender) Praxis heraus zu entwickeln.
Die Einsatzmöglichkeiten der VRA für die Forschung sind aber auch beschränkt:
Grenzen:
1. Fallzahlen sind beschränkt: Die VRA ist eine sehr zeitintensive Forschungsmethode. Die Analyse nur einer Lernkultur ist eine Aufgabe, die viele hundert Stunden in Anspruch nimmt. Die Menge der analysierbaren Lernkulturen ist daher, in Abhängigkeit von den zur Verfügung stehenden Zeitressourcen, stark eingeschränkt.
2. Reichweite der Ergebnisse schwer bestimmbar: Die Gestaltung von Rahmen verläuft nicht völlig beliebig, es wird immer auch auf vorhandene Bedeutungen bzw. bekannte Rahmenelemente zurückgegriffen (auf das Zeichen des Meldens kann beispielsweise – wenn gewünscht – mindestens ab der 3. Klasse immer zurückgegriffen werden). Dennoch ist die konkrete Rahmenausgestaltung immer eine einmalige Angelegenheit, die Modulationen sind so vielfältig, dass es schwierig ist, die Reichweite eines untersuchten Rahmens bzw. einer untersuchten Lernkultur zu bestimmen.
3. Keine Wirkungen auf psychosoziale Parameter messbar: Die VRA kann Rahmen beschreiben und Bildungsmöglichkeiten analysieren, sie erhebt jedoch keinen Anspruch, (Langzeit-)Wirkungen zu messen, wie etwa Veränderung von Intelligenz oder Selbstwirksamkeitserwartungen. Sie kann allerdings dazu eingesetzt werden, Bildungsmöglichkeiten zu identifizieren und aussichtsreiche Veränderungsmessungen anzuregen (zum Beispiel im Falle der untersuchten Lernkultur die Messung veränderter Selbstwirksamkeitserwartungen). Sie kann zudem dazu dienen, gemessene Veränderungen plausibel zu erklären.
4. Keine Antwort auf die Frage nach der biographische Bedeutung möglich: Die VRA nutzt als Analysematerial nur die Videoaufnahmen natürlicher Interaktionen und interessiert sich nicht für weiterführende individuelle/biographische Deutungen von Situationen (zum Einsatz von Videomaterial in Interviews vgl. Behrens in diesem Band). Sie erhebt daher auch keinen Anspruch, etwas über die biographische Bedeutung der Erfahrungen aussagen zu können.
Fazit:
Die VRA stellt eine ertragreiche Methode zur Erforschung (kultur-)pädagogischer Praxis dar, die vor allem zur Bestimmung künstlerischer und pädagogischer Qualitätskriterien für die kulturpädagogische Praxis in den unterschiedlichen Sparten mit unterschiedlichen Zielgruppen eingesetzt werden kann. Wer sie anwendet, kann sehr viel über die Feinheiten menschlicher Interaktionen lernen, die wir sonst – „seen and unnoticed“ – nicht bewusst wahrnehmen. In der Vorbereitung von Forschungsprojekten, in denen die VRA zum Einsatz kommen soll, ist es sinnvoll, sich die Beschränkungen der VRA bewusst zu machen und über sinnvolle Kombinationen mit anderen Forschungsmethoden nachzudenken. Dabei gilt es aber, den extrem hohen zeitlichen Aufwand der VRA in der Planung zu berücksichtigen.