Reden ist Silber, Handeln ist Gold. Partizipative Kunst für ehrenamtliches Engagement in ländlichen Räumen
Abstract
Wie kann Transformation in ländlichen Räumen bürgerzentriert gestaltet werden? Die Antwort des Kulturlandbüros im südöstlichen Mecklenburg-Vorpommern ist: mit partizipativen Kunstformaten. Denn Reden und Zuhören sind zwar wichtige Bausteine seiner Arbeit, die sonst wenige Stellen übernehmen. Am wirkungsvollsten ist aber, Menschen gemeinsam ins Tun zu bringen. Dafür bietet Kunst einen sehr guten Anlass, der über längere Zeiträume Großes bewirken kann. Im Beitrag reflektiere ich meine Erfahrungen mit beteiligungsorientierten Kunstformaten als Leiter des Kulturlandbüros seit 2020. Das Kulturlandbüro ist eines der sechs Bundesmodellprojekte, das in der zweiten Runde von TRAFO – Modelle für Kultur im Wandel gefördert wird. Die partizipativen Formate Dorfresidenz und Kulturlandschau werden vorgestellt und die vielen, vermeintlich kleinen Transformationserfolge bei deren Durchführungen näher beleuchtet. Dabei geht es um die besondere Rolle der Kunstschaffenden als Vertrauenspersonen, handlungsorientierte Fremde in ländlichen Gemeinschaften, um Empowerment der Akteur*innen sowie die Wiederentdeckung und Akzeptanz bestehender Potentiale im Ort. In diesem Zusammenhang wird der Begriff der Sozialen Improvisation eingeführt. Analog zu musikalischen Improvisationen haben partizipative Kunstformate potential- und gemeinschaftsstärkende Wirkungen, erfordern Zuhören und Aktion. Werden die Akteur*innen nach Abschluss der Projekte nicht allein gelassen und von öffentlicher Seite geeignete Rahmenbedingungen geschaffen, können auf dieser Basis sozialer Zusammenhalt nachhaltig gestärkt und neue Soziale Orte geschaffen werden.
Verlusterzählungen und der Wunsch nach mehr Gemeinschaft
In vielen ländlichen Räumen, nicht nur in Ostdeutschland, haben sich in den letzten 30 Jahren große Veränderungen vollzogen. Infrastruktur wurde abgebaut, medizinische Versorgung, Schulen und Arbeitsplätze haben sich in größere Orte verlagert. Soziale Orte, Dorfläden, Gaststätten und Jugendclubs sind geschlossen worden. Ein Großteil der Einwohner*innen – Berufstätige und Schüler*innen – sind viel mehr auswärts sowie auf der Fahrt als zu Hause. Viele sind dieser Widrigkeiten wegen weggezogen. Die, die Arbeit haben, haben kaum Zeit für ein Sozialleben im Ort und für regelmäßiges ehrenamtliches Engagement. Neuzugezogene sind gekommen, können sich aber unter den genannten Umständen schwer in die Gemeinschaft integrieren. Engagement gibt es trotzdem weiterhin genug (ENKOR 2024:26). Nur hat es sich teilweise in weniger dauerhafte, sondern auf die Zukunft gerichtete Formen des „Gestaltungsengagements“ verlagert (Willisch 2021), das mit den herkömmlich institutionalisierten Ausprägungen Engagementkonstellationen bildet (ENKOR 2024:9). Die Klagen über den Mitgliederrückgang und das Vereinssterben sind deshalb nur die verschleierte Bestürzung angesichts der Einsicht, dass sich einerseits vielerorts zu sehr auf das ehrenamtliche Engagement als Lückenbüßer für zurückgebaute Infrastrukturen verlassen wurde. Doch eine von den Einwohner*innen liebevoll gestaltete Mitfahrbank ersetzt nicht den bürgerzentriert konzipierten ÖPNV. Andererseits reichen Strukturdaten gemäß des Zentrale-Orte-Konzepts zur Bewertung des dörflichen Zusammenhalts allein nicht aus (Das Soziale-Orte-Konzept 2020:39 f.). Nach dem Soziale-Orte-Konzept geben darüber neben der dörflichen Infrastruktur und der naheliegenden größeren Gemeinden (mit Ober-, Mittel- und Grundzentren) die Intensität und der Grad des bürgerschaftlichen Engagements Aufschluss. Wo dieses gering ausgeprägt ist, sind Gemeinschaften gefährdet. Das heißt, dass auch trotz hoher Wahlbeteiligung und guter Infrastruktur der Zusammenhalt vor Ort riskant sein kann (Das Soziale-Orte-Konzept 2020:40). „Nicht mehr der Ort bestimmt den sozialen Zusammenhalt, sondern der soziale Zusammenhalt macht den Ort aus" (Kersten 2020:61).
Das Kulturlandbüro arbeitet im südöstlichen Mecklenburg-Vorpommern mit vielen Dörfern oder kleinen Städten, deren sozialer Zusammenhalt herausgefordert ist. Hier, an der Grenze zu Brandenburg und Polen, zwischen Berlin, Stettin und dem Stettiner Haff, wünschen sich alle mehr Gemeinschaft. Verpackt wird dieser Wunsch in fast allen Fällen nicht in eine positive Vision einer Gemeinschaft auf Basis der gegenwärtigen Bedingungen eines dünnbesiedelten Flächenlandes mit konkreten Handlungsrollen für die Einwohner*innen. Hier setzt das Kulturlandbüro an und hört vor Ort zu, ohne Forderungen zu stellen. Zwar wirkt auch das schon, denn oft geschieht das nicht. Doch in Gemeinderäumen, Wohnzimmern oder Feuerwehrhäusern werden uns so fast immer Defiziterzählungen mitgeteilt. Der Verlust von Gemeinschaft wird vor allem mit veränderten Rahmenbedingungen erklärt. Ohne diese kann sich niemand sozialen Zusammenhalt vorstellen. Gleichzeitig treffen wir auf die Einsicht, dass es im Dorf nie wieder eine Schule, einen Dorfladen oder einen Jugendclub geben kann. Auch gibt es Unmut über den gesteigerten Individualismus. Viele würden sich, anders als früher, nicht mehr (d.h. für sie: dauerhaft und in immer gleichen Vereinsstrukturen) für die Gemeinschaft einbringen und Jüngere gar nicht erst in Vereinen aktiv werden. Die Jugend sei erst recht orientierungs- und interesselos. Dass heute viel mehr eher punktuell und transformierend aktiv sein wollen, wird nicht gesehen oder als negativ bewertet.
Angesichts der „objektiven“ Erklärungen für den geringen sozialen Zusammenverhalt und mit einer in die Vergangenheit gerichteten Vorstellung von Gemeinschaft, versanden alle guten Vorschläge für einen Wandel. Denn lediglich die komplette Rücknahme abgebauter daseinsvorsorgender Infrastruktur, die Rückverlagerung von Arbeitsplätzen in den Ort und die Abkehr vom Individualismus kann für viele die Gemeinschaft hervorbringen, deren Bild in den Köpfen ist. Dies entspricht dem „Downloading“ oder „Runterladen“ nach C. Otto Scharmer. Dieses Wahrnehmungsmuster beruht auf Denkgewohnheiten der Vergangenheit und ist deshalb für neuartige Lösungen blind (Scharmer 2020:168 f.) Dazu kann und will das Kulturlandbüro nichts beitragen. Was soll eine Zukunftswerkstatt bewirken, die auf so tief sitzende Überzeugungen trifft?
Die partizipativen Kunstformate des Kulturlandbüros
Für die Behebung dieses Problems gibt es weder Patentlösungen noch ist Hilfreiches von Expert*innen zu erwarten. Stattdessen bringen wir Menschen ins Tun – durch und mit Kunstschaffenden in beteiligungsorientierten Kunstformaten. Als Nicht-Expert*innen der Regionalentwicklung gehen sie leichter ganz neue Wege. Sie sind unvorbelastet durch immer auch auf dem Boden der Vergangenheit fußende professionelle Ansätze und viel dichter an den Menschen als die Referatsleiter*innen von Ministerien, die doch überwiegend aus den Städten auf Dörfer und Kleinstädte blicken. Wir laden die Einwohner*innen ein, sich Kunstprojekte in den Ort zu holen oder Kunstschaffende auszusuchen, die bis zu sechs Monate bei ihnen im Ort leben und gemeinsam mit den Einwohner*innen Kunstprojekte umsetzen. Von 2020 bis heute haben sich im Rahmen von acht Dorfresidenzen und fünf Kulturlandschauen in 18 Gemeinden Menschen Kunstprojekte für ihren Ort ausgesucht und sie über 45 Monate hinweg gemeinsam mit den Kunstschaffenden umgesetzt.
Im Rahmen einer Dorfresidenz wählen Einwohner*innen Kunstschaffende aus, die für einige Monate bei ihnen leben. Ziel ist es, dass die Künstler*innen gemeinsam mit den lokalen Akteur*innen künstlerische Ideen entwickeln und umsetzen. Dabei gibt es keine Vorgaben und alle künstlerischen Sparten sind möglich. Die Themen speisen sich aus dem Ort mit seiner Infrastruktur, seinen Geschichten und Bedarfen. Das Kulturlandbüro vermittelt die Kunstschaffenden und begleitet die Jury- und Arbeitsprozesse. Es zahlt den Kunstschaffenden für ihren bis zu 6-monatigen Aufenthalt ein monatliches Honorar und stellt ein Projektbudget zur Verfügung. Die austragende Gemeinde sollte ihnen mindestens Wohn- und im besten Falle Arbeitsmöglichkeiten zur Verfügung stellen. Mit einem dreistufigen Auswahlprozess soll erstens sichergestellt werden, dass im Ort Motivation zur Mitwirkung besteht. Hier trifft die Lenkungsgruppe des Kulturlandbüros die Auswahl unter den Bewerbungen. Eine weitere Jury trifft eine Vorauswahl unter den Kunstschaffenden. Sie trägt dafür Sorge, dass keine Künstler*innen eingeladen werden, die nicht partizipativ arbeiten können oder wollen. Im dritten Schritt wird in den ausgewählten Gemeinden eine Ortsjury gebildet, die die finale Auswahl trifft. Damit soll sichergestellt werden, dass die Entscheidung für Künstler*innen und -projekte wirklich aus dem Ort kommt. Viel schwieriger ist es, im Laufe des Projektes echte Mitwirkung durch die Einwohner*innen zu erreichen. Die Komplexität des Juryprozesses regt an, dass sich bereits im Vorfeld möglichst viele mit dem Zusammenhang zwischen Kunst und den Angelegenheiten des Ortes auseinandersetzen. Doch oft wird trotz allem nur von wenigen verstanden, dass mit der Idee partizipativer Kunst auch eine Verantwortung im Ort liegt und das Projekt ohne Mitwirkung scheitert. Der vorherrschende Kunstbegriff und die Fehlinterpretation, als Gemeinde Auftraggeber für ein Kunstwerk zu sein, wirken im Hintergrund stark. (Das ist ein entscheidender Unterschied zum Ansatz der Neuen Auftraggeber; vgl. Mengual/ Douroux 2017). Zeit spielt hier eine wichtige Rolle. Auch die Prozessbegleitung durch das Kulturlandbüro für Kunstschaffende und Einwohner*innen ist von großer Bedeutung. Das Kulturlandbüro verhält sich dabei immer wie ein Fußballtrainer. Es bleibt am Spielfeldrand und greift nicht direkt in das Geschehen ein, erinnert jedoch die Beteiligten immer wieder an ihre selbstgesetzten Ziele, ihre Rollen oder fordert eine Rollenklärung ein. Umsetzende sind die Gemeinde und die Kunstschaffenden, nie das Kulturlandbüro. Alle aus den Dorfresidenzen hervorgehenden Veranstaltungen müssen in Verantwortung der Orte umgesetzt werden. Im Rahmen unserer Dorfresidenzen entstanden sind drei Performance-, zwei Filmprojekte, ein Literaturprojekt mit Buchveröffentlichung, ein großes Tanz- und ein Projekt im Bereich der Bildenden Kunst (vgl. Adler 2024).
Mit der Kulturlandschau unterstützt das Kulturlandbüro Dörfer dabei, Anlässe zu schaffen, gemeinsam aktiv zu werden und zu zeigen, was sie alles zu bieten haben. Hauptdarsteller*innen sind die Akteur*innen der Region. Bauernverband, Fußballverein, Schultheatergruppe, Schalmeienkapelle oder Chor finden ein Forum. Das Format ist sehr offen und erlaubt individuelle Konzepte für jede Gemeinde. Im Rahmen einer Ausschreibung können sich Gemeinden, Ortsteile oder Ortsverbünde bewerben und die Lenkungsgruppe des Kulturlandbüros wählt unter Einsendungen Bewerbungen aus. Anschließend begleitet das Kulturlandbüro den Prozess von der Idee bis zur Umsetzung, Bewerbung und Finanzierung. Anders als bei der Dorfresidenz sollte hier eine konkretere Idee vorliegen, was mit dem Projekt erreicht werden und welche Rolle Kunst dabei spielen soll. Die Künstlerpersönlichkeit ist nicht so entscheidend und die lange Phase der gemeinsamen Entwicklung eines Kunstprojektes fällt weg. Das Kulturlandbüro lädt bedarfsbezogen Künstler*innen aus dem eigenen Netzwerk zur Umsetzung ein, die einen konkreten Auftrag erhalten. Entstanden sind so unter anderem Hörgeschichten zur Heimatgeschichte eines Ortes, die auf einem Hörpfad erlebbar sind, ein Fest aller Vereine auf einer nur sporadisch genutzten Freilichtbühne, ein Kindertheaterstück zu einer regionalen Sage zweier benachbarten Dörfer in Vorpommern und in Polen am Stettiner Haff und ein Film von Kindern und Jugendlichen mit Interviews, die sie mit den Älteren des Ortes geführt haben.
Das letztgenannte Projekt hat übrigens nicht nur einen Film, sondern besonders engagierte Jugendliche hervorgebracht, die sich erfolgreich für die Neugründung eines Jugendclubs eingesetzt haben. Genau um diese Verbindung von Netzwerk- und Beratungsarbeit mit partizipativen Kunstformaten geht es dem Kulturlandbüro in seiner Prozessbegleitung. Ziel ist es, neben den künstlerischen Ergebnissen immer auch nachhaltige Anschlussprojekte der Akteur*innen vor Ort zu identifizieren und von der Ideenfindung bis zur Realisierung zu begleiten.
Gesellschaftliche Mitgestaltung und Kokreation in der Kunst
Das Kulturlandbüro versteht sich als Servicestelle für Kunst, Kultur und darüber hinaus im ländlichen Raum des südlichen Vorpommerns. Seine Besonderheit ist, dass es die klassischen Aufgaben eines Servicebüros wie Netzwerkarbeit, Beratung und Öffentlichkeitsarbeit mit der Umsetzung beteiligungsorientierter Kunstprojekte verbindet. Diese fungieren als Mittel für Regionalentwicklung. Warum arbeiten wir als Regionalentwickler im Feld der Kunst? Es ist im Unterschied zu den vielen, oft ungeliebten pflichtigen Aufgaben vor allem ehrenamtlich geführter Gemeinden, nur gering „vorbelastet“ und wird, anders als etwa ein „Workshop“, als „leicht“ wahrgenommen. Angesichts ubiquitärer Kämpfe gegen Einsparungen im Kulturbereich werden verständlicher Weise die vielfältigen nicht-kunstimmanenten Auswirkungen von Kultur und Kultureller Bildung hervorgehoben. Doch scheint es hier gerade ein Vorteil zu sein, dass die Wirkungen von Kunst unterschätzt werden. Die Einwohner*innen agieren im Selbstverständnis: Wenn schon alles andere schwierig ist, ein Kunstprojekt kann nicht schaden. Das ändert sich für alle Beteiligten – Menschen im Ort, Kunstschaffende und das prozessbegleitende Kulturlandbüro – auch oft nach Abschluss der Vorhaben nicht. Denn alle durch beteiligungsorientierte Kunstprojekte erzielten Wirkungen sind eher indirekter Natur (Impact). Sie sind den Kunstprojekten nicht direkt (als Outcome) zuzuordnen und deshalb auch nur schwer zu evaluieren (Perrot/ Wodiung 2014:44). Ihre transformatorische Kraft geht auch weniger von der konkreten Beschreibung der Zukunft aus, sondern vielmehr von der Öffnung von Möglichkeitsräumen sowie dem Aufbrechen vermeintlich unveränderlicher Selbstverständnisse (Mulgan 2022:231) und der körperlichen Erfahrung von Selbstwirksamkeit – wie unten beschrieben. Wir wissen, dass wir durch unsere partizipativen Formate an mehreren Orten Menschen in ihrem Engagement bestärkt haben. In einem Dorf lässt sich eine Beteiligte derzeit für den Gemeinderat aufstellen, in einer Kleinstadt organisiert eine Altenpflegerin seither mit viel Herzblut eine Erzählcafé-Reihe und die genannten Jugendlichen waren vor der Teilnahme am Projekt nicht für die Gründung eines Jugendclubs aktiv. Im Sinne einer Evaluation belegbar ist das aber nicht.
Dass Kunst hier den sozialen Zusammenhalt stark verändern kann, liegt auch daran, dass in ländlichen Räumen ein erweiterter Kulturbegriff gelebt wird. Auf dem Dorf ist Kunst nie trennbar vom Gemeinwesen und überwiegend ehrenamtlich getragen. Professionelle Kunstschaffende sind häufig Inseln für auswärtige Besucher*innen und kein integraler Teil lokaler Gemeinschaften. Im Unterschied zur Stadt-Kultur gehören der Sportverein, das Dorffest oder die Arbeit der Jugendfeuerwehr selbstverständlich mit dazu (Krüger 2023). Damit bildet potentiell die gesamte Einwohnerschaft die Zielgruppe des Kulturlandbüros. In ländlichen Räumen sind sowohl bei Kulturprojekten als auch bei anderen Aktivitäten alle involviert, von „einfachen“ Bürger*innen bis zu ehrenamtlichen Bürgermeister*innen. Diese sind wiederum mehr als nur oder sogar das Gegenteil von Verwaltungschef*innen, sondern auch Freund*innen, Verwandte, Nachbar*innen und Mitglied in mehreren Vereinen. Und sie alle sind für die Kultur auf dem Land wichtig. Denn um ein Dorffest auf der leeren Wiese auf die Beine zu stellen, muss alles inklusive der gesamten Infrastruktur organisiert werden. Dafür braucht es den Einsatz aller, nicht nur spezialisierter Kunstschaffender – vom Laienchor bis zu dem, der den Chef des Toiletten-Mietservice gut kennt und diesen organisiert. (Sruti Bala diskutiert, inwiefern auch involvierte Dienstleister*innen im Auftrag des*r Künstlers*in Partizipant*innen sind, weil sie ebenfalls Verantwortung für das Werk übernehmen [Bala 2018:37]). Hier werden dann auch passender Weise einheitsstiftende Feste gefeiert – bzw. solche, die als einheitsstiftend gesehen werden –, keine Vernissagen zur Feier gesellschaftlicher Unterschiede. Entsprechend Claire Bishops Definition partizipativer Kunst bilden für die Arbeit des Kulturlandbüros die Menschen das Zentrum und zentrale Medium, nicht Werke oder Kunst und Kultur als Selbstzweck (Bishop 2012:2). Wir finden, dass gerade dieser Ansatz Kunst stärkt, weil ihre Bedeutung für das Gemeinwesen praktisch aufgezeigt wird. Das Problem, dass Menschen in den Gemeinden die partizipativen Kunstprojekte für irrelevant halten, haben wir nicht. Eher fällt es manchmal schwer, uns angesichts harter Auseinandersetzungen in den partizipativen Prozessen an der regen Anteilnahme an Kunst zu erfreuen.
Das aber könnte nicht ohne direkte Beteiligung der Menschen aus dem Ort geschehen. Partizipation in Kunstprojekten kann in unterschiedlicher Stärke und zu unterschiedlichen Zeitpunkten des Prozesses stattfinden (Bala 2018:20). Anders als etwa bei den Neuen Auftraggebern findet die Partizipation in Dorfresidenzen und Kulturlandschauen auf allen Ebenen statt: bei der Auswahl des Themas und der Ziele, bei der Wahl der Kunstschaffenden und vor allem bei der Umsetzung der Projekte. Dorfresidenz und Kulturlandschau des Kulturlandbüros sind somit kokreative Formate. Die Einladung zur umfassenden Mitwirkung ist jedoch – wie oben beschrieben – nicht leicht durchzusetzen. Ein traditioneller Kunstbegriff, die Scheu zur Übernahme von Verantwortung und die Vorstellung, Auftraggeber*in zu sein, stehen im Weg. Dennoch glauben wir, mit unseren Angeboten und viel Zeit auf den empfundenen Mangel an Beteiligungsmöglichkeiten und den Wunsch nach Mitwirkung an der gesellschaftspolitischen Transformation zu reagieren. Mehr Zeit als üblich mitzubringen „is a sign of care, of true inclusion, of not being afraid to get involved with humans“ (Haselmayer 2023:7). Das fehlt vor allem in ländlichen Räumen, die viele Einwohner*innen von arrogant Unkundigen aus den Zentren aus regiert sehen, und noch mehr in Ostdeutschland. Dirk Neubauer, Landrat des Landkreises Mittelsachsen und ehemaliger Bürgermeister der Kleinstadt Augustusburg, beschreibt eindrücklich, wie schwer es ist, hier angesichts jahrzehntelanger Bevormundung durch allgegenwärtige „Kümmerer“ Bürger*innenbeteiligung zu erreichen (Neubauer 2019:18). Das ist in Mecklenburg-Vorpommern nicht anders. Partizipative Kunst ist historisch oft in Zeiten entstanden, in denen generell Mitwirkungsmöglichkeiten vermisst worden sind (Bala 2018:9) oder wie 1917, 1968 sowie seit 1990 grundlegende soziale Transformationen stattfanden (Bishop 2012:3). Deshalb wurden Programme wie TRAFO und Aller.Land geschaffen und werden Modellprojekte wie das Kulturlandbüro umgesetzt. Seine Formate Dorfresidenz und Kulturlandschau im Besonderen und partizipative Kunst im Allgemeinen sind fokussiert auf sozialen Wandel, nehmen anstelle des Werks den Prozess stärker in den Fokus und sind, wenn sie auch keine Lösungen liefern, dennoch in der Lage, mehr Mitglieder der Gesellschaft als vollwertige Mitwirkende am Wandel zu beteiligen (Bishop 2012:13-14).
Künstler*innen als vertraute Fremde
„If the tools of art can be used to construct possible future options for a society, to flush out competing feelings and interests, and then to help re-synthesise in a dialectical way, they can indeed help social imagination. But this requires the artist to be a facilitator more than a prophet.“ (Mulgan 2022:241)
Auf Grundlage der ganzheitlichen Verankerung des Kulturlebens in ländlichen Räumen kann partizipative Kunst zum Raum zur Verhandlung des gesamten Gemeinwesens werden. Sie bildet einen Anlass für Austausch und das Erleben von Selbstwirksamkeit bei der Verfolgung gemeinsamer Ziele. Diese Ziele und die Beteiligten stehen vorher nicht fest und bilden sich erst im Tun heraus. Die Filmemacherin und Performerin Julia Novacek, Mitglied unserer Jury zur Vorauswahl der Dorfresidenz-Künstler*innen, sagt dazu: „Ich glaube, es ist gut, einen Plan zu haben und gleichzeitig bereit zu sein, den am zweiten Tag über den Haufen zu werfen und sich ein neues Konzept zu überlegen“ (Interview am 10.01.2023; https://vimeo.com/manage/videos/836227580). In unseren Dorfresidenzen wird über einen Zeitraum von sechs Monaten permanent die Frage verhandelt: Mit wem soll was umgesetzt werden? Aus der Diskussion rund um das Kunstprojekt wird das gemeinschaftliche Zusammenwirken recht schnell zur Verhandlung von Zukunftsfragen. Das ändert sich mit jeder*m neuen Beteiligten und entfaltet eine starke Dynamik. Mit Dorfresidenzen und Kulturlandschauen können sowohl neue, unkonventionelle Ideen oder Verfahren ausprobiert, als auch nachhaltige soziale Beziehungen geschaffen werden.
Kunst als inspirierende Sphäre wird vor allem greifbar durch die Anwesenheit von Kunstschaffenden vor Ort. Hier stehen die Menschen im Vordergrund, nicht Fähigkeiten oder Werke. Die im Rahmen partizipativer Projekte auf Wunsch der Einwohner*innen agierende Künstler*innen haben eine Doppelrolle: Sie werden als Teil der Gemeinschaft und gleichzeitig als Fremde mit dem Blick von außen gesehen. Das macht ihre besondere Bedeutung in partizipativen Projekten aus. „There is a specific skillset of the artist that is able to broker conversations between different stakeholders in a process, the art becoming a relational object by which to talk through contested issues“ (Courage 2021:220). Durch das Ankommen von Künstler*innen in den Residenzort „wird das bestehende Gefüge der lokalen Beziehungen, aber auch der eigenen Einstellungen befragt“ (Kranixfeld/ Sterzenbach 2022:100). Sie werden zum Katalysator, durch den alte und neue Konflikte aufbrechen, den Kulturlandbüro und Künstler*innen auszuhalten hatten. Durch und übersetzt in Kunst sind diese oft deutlicher spürbar als im alltäglichen Miteinander (Bishop 2012:283). Je länger die Kunstschaffenden in der Phase des Zuhörens und Kennenlernens verharrten, bevor sie etwas Konkretes mit den Einwohner*innen schufen, um so konfliktreicher waren die Prozesse.
Es war für uns überraschend, wie offen manche Einwohner*innen ihnen begegneten. Viele der Künstler*innen, mit denen wir gearbeitet haben, wussten in kurzer Zeit viel mehr über die Menschen im Ort als das Kulturlandbüro oder manchmal auch die Bürgermeister*innen. „Vertrauen zu schenken, aber auch verwehren zu können, wird dabei zum wesentlichen Mittel, um gemeinsame Handlungsfähigkeit zu erlangen.“ (Kranixfeld/ Sterzenbach 2022:107-108). Wird dieses für prozessorientierte Projekte mit offenem Ausgang so wichtige Vertrauen (ebd.:108) wechselseitig geschenkt, bildet das die Grundlage für sehr enge und aktivierende Beziehungen. Die Schriftstellerin Gertje Graef berichtete uns, wie sie im Rahmen ihrer Dorfresidenz teilweise so persönliche Geschichten der Frauen aus den Dörfern erzählt bekam, dass sie sie aus Rücksicht nicht in ihr Buch „Die Unbekannten“ (Graef 2023) aufnehmen wollte. Im Rahmen partizipativer Kunstprojekte teilen die Beteiligten über Monate hinweg nicht nur ihre Geschichten mit den Künstler*innen, sondern hören auch immer wieder von diesen, wie gut sie es doch eigentlich hier haben. Das wirkt nach, auch lange nachdem die Kunstschaffenden den Ort verlassen haben. Dieses Vertrauen ist es auch, das den Gemeinden in unserem Projektgebiet vor allem von Seiten der Verwaltung fehlt und als Desiderat die Haltung der Mitarbeitenden des Kulturlandbüros bestimmt – siehe unten.
Gleichzeitig werden die Kunstschaffenden als Fremde wahrgenommen. Als Fremde können sie schwach sein und belächelt werden, weil sie außerhalb der Gruppe stehen. Sie sind die Nicht-Zugehörigen, die Spinner. Oder sie werden als stark und bedrohlich angesehen, weil sie einer unbekannten Sphäre angehören (Gennep 1999:34-35). Dies verschafft ihrem Tun, Sprechen und ihrer Sicht auf die Gemeinde ein besonderes Gewicht. Einerseits konnten die Dorfresidenz- und Kulturlandschau-Kunstschaffenden oft mehr Grenzen als sonstige als „zugezogen“ Eingeschätzte überschreiten. Andererseits wurde jedem ihrer Handlungen mehr Wert zugemessen als anderen Dorfbewohner*innen und wurden sie stärker Gegenstand des Dorftratsches. Wichtig ist hier der Effekt, dass die Einwohner*innen sich durch deren Anwesenheit selbst reflektieren und formulieren müssen. „Die Ankunft zahlreicher Fremder löst stets Handlungen aus, die die soziale Kohäsion einer Lokalgruppe stärken (...)“ (ebd.:36). Die Kunstschaffenden und auch das Kulturlandbüro forderten zur Antwort auf die Frage „Was macht euer Dorf aus?“ auf – oft, ohne sie je gestellt zu haben. In Gemeinden, in denen keine professionellen Kunstschaffenden oder Hochkulturkonsument*innen lebten, trat dieser Effekt stärker auf. Hier gelang Beteiligung auch leichter, weil Kunst nicht einer isolierten Sphäre zugeordnet und als Raum für alle Belange des Ortes angesehen wurde. In einem Ort war der Prozess durch einen starren Kulturbegriff besonders gehemmt. Eine Einwohnerin und regelmäßige Besucherin der Opern- und Konzerthäuser in Stettin sagte mir damals, dass dort das viele Geld doch viel besser angelegt sei als in einem Kunstprojekt in ihrem Dorf, wo das gar nicht hingehört. Ohne Präsenz derart konservativer Vorstellungen entwickelten die Menschen vor Ort auf Basis eines partizipativen Ansatzes viel leichter ihren eigenen Kunstbegriff, in dem sie selbst als Ideengeber*in und Mitgestalter*in vorkamen. Dann wurde Kunstschaffenden viel stärker Gehör geschenkt und ihrem Urteil auch für nicht kunst-immanente Themen getraut. „Here we may have a loving union of the structurally damned pronouncing judgment on normative structure and providing alternative models for structure" (Turner 1982:51).
Der Strudel der Praxis und die Kraft der Nicht-Zuständigen
„City hall has to support citizens' activities, with the community partially overtaking city government." (Landry/ Caust 2023:33)
Kunstschaffende als vertraute Fremde inspirieren neben ihrem offenen Ohr für die Bedarfe vor Ort vor allem mit dem alles entscheidenden Zug zur Praxis. Denn ihre Handlungsorientierung steht quer zur vielerorts anzutreffenden Ohnmacht und empowert die Beteiligten in der Partizipation. Damit wird en passant das Vorhandene als Potential – Akteur*innen, Orte – gewertschätzt, da es als Ausgangspunkt von kreativen Handlungen aus dem und für das Gemeinwesen heraus dient. Denn wer das Vorhandene nicht als Potential, sondern nur als unlösbares Problem begreift, kann nicht agieren, bleibt ohnmächtig. Die Handlungsorientierung und die Akzeptanz des Gegebenen macht Kunstschaffende zu Improvisateur*innen. „Wo nicht gehandelt wird, kann auch nicht improvisiert werden“ (Bertram/ Rüsenberg 2023:16). Improvisatorische Handlungen bedürfen aber einer Akzeptanz des Gegebenen: „Die Einstellung zum Improvisieren zeichnet sich dadurch aus, dass man grundsätzlich bejahen muss, was geschieht“ (Gagel 2010:53). Genauso wie für improvisierende Musiker*innen ist für partizipativ arbeitende Künstler*innen, die im Rahmen dieser Formate etwas auf die Beine stellen wollen, wichtig, wer und was da ist. Der Blick und das Ohr richten sich auf die fünf motivierten Mitstreiter*innen, nicht die 30, die nicht da sind. Sie fokussieren sich auf die 20 Bierbänke, die zur Verfügung stehen, nicht die 50, die alle gern hätten. Auf die Bedeutung der Improvisation in partizipativen Kunstformaten gehe ich noch näher ein.
Einer unserer Dorfresidenz-Künstler hat nach Jahren der Untätigkeit im Ort einen lang schon geplanten, aber nie umgesetzten Förderantrag einfach fertiggestellt und abgeschickt. Damit hat er eine Transformation bewirkt, ohne zuständig gewesen zu sein. Entscheidend ist die wahrgenommene Dringlichkeit einer Angelegenheit, die auf die Handlungsorientierung von Kunstschaffenden trifft. Die Performancekünstlerin barbara caveng hat im Rahmen ihrer Dorfresidenz in Pasewalk auf den Bedarf reagiert, einen für alle offenen Treffpunkt in der Kleinstadt zu schaffen. Dafür mieteten wir ein leerstehendes Lokal an, in dem Kunstprojekte und ein einfacher Cafébetrieb organisiert wurden. Im Anschluss hat sich daraus ein von den Mitwirkenden ehrenamtlich geführter Treffpunkt entwickelt. Auch bei Projekten der Neuen Auftraggeber kann das beobachtet werden. Hier werden mittels Mediator*innen Aufträge für Kunstwerke durch Bürger*innen initiiert, auf deren Basis anschließend Kunstschaffende mit der Umsetzung betraut werden. Daniel Knorr, einer der beauftragten Künstler*innen, beschreibt im Interview: „Dass es hier um eine ganz unmittelbare Notwendigkeit gehen sollte, hat mich vom ersten Moment an bewegt" (Gesellschaft der Neuen Auftraggeber 2022:26). Auch hier begegnet uns ein entscheidender Zug der Improvisation: die Bedeutung des Zuhörens. Bei einem weiteren Projekt der Neuen Auftraggeber in Mönchengladbach wurde mit Ruth Buchanan eine Künstlerin ohne Erfahrung in der Landschaftsgestaltung mit dem Entwerfen eines Gartens beauftragt. Weil sie aber eine „präzise Beobachterin sozialer Räume und Beziehungen" (ebd.:33) ist, war sie hier genau die Richtige.
Garant für das Gelingen und für Transformationserfolge ist die Arbeit vor Ort mit der eigentlichen Zielgruppe: den Einwohner*innen als den Expert*innen des Alltags, die einen spezifischen Mangel formulieren und daraufhin ins Tun kommen. Aus dem Blick auf soziale Beziehungen entstehen konkrete Lösungen. Als Hindernisse für den beschriebenen Förderantrag wären womöglich weiterhin technische Gründe genannt worden, aus dem Café in Pasewalk wäre vielleicht nur ein konventioneller Trinkertreff geworden und der Garten in Mönchengladbach hätte nur zur Dekoration dysfunktionaler Gemeinschaften gedient. Das soll nicht die Bedeutung von Expert*innen gänzlich in Frage stellen. Diese können aber grundsätzlich nur hilfreich sein, wenn sie in ihrer Arbeit die Menschen vor Ort ernst nehmen und ihren Erfolg nicht daran messen, inwiefern sie Laien ihre professionellen Ideen aufoktroyieren können (Haselmayer 2023:158). Regionalplanungen sollten generell gemeinsam mit den unmittelbar durch sie Betroffenen (= den Einwohner*innen) vorgenommen werden (Adler 2023:277). Denn nur sie „müssen“ mit den Lösungen vor Ort leben und nicht die Entscheider*innen in der Landkreisverwaltung, die woanders wohnen. Dieses Problem potenziert sich in ländlichen Räumen mit schwachen Infrastrukturen und geringer Wirtschaftskraft, denn dort befinden sich weder viele Expert*innen im Nahbereich noch gibt es genügend Geld für entsprechende Maßnahmen. Es entsteht eine Pattsituation: Einerseits werden verwaltungsseitig nur „professionelle“ Lösungen akzeptiert, andererseits stehen dafür keine Mittel zur Verfügung. Anders als in partizipativen Kunstprojekten werden leider zu oft kreative, improvisierte Lösungen aus der Mitte des Ortes nur als Notbehelf angesehen, die keine Wertschätzung erfahren.
Wenn hier im Rahmen partizipativer Formate Kunstschaffende einfach und unzuständig „machen“, agieren sie genauso, wie Dorfgemeinschaften in aller Regel funktionieren. Das Vorbild arbeitsteilig und hierarchisch ausdifferenzierter Städte steht damit nicht nur neuen Ansätzen im Weg, sondern ignoriert gelebte Praxis. Natürlich kann nicht jede*r Arzt oder Ärztin sein. Aber vieles geht doch, ohne dass die Akteur*innen über die entsprechende Ausbildung oder ein abgeschlossenes Studium verfügen – und ist damit auch viel ortspezifischer. Wir neigen dazu, alles von den kulturellen Leuchttürmen der Großstädte aus zu bewerten. Viele Menschen vor Ort, vor allem die Bürgermeister*innen, teilen uns ihre Erfahrung mit, dass aus den Zentren keine praktikable Lösung für ihre Gemeinde gefunden werden kann und sie sich gleichzeitig in ihrer kommunalen Selbstverwaltung entmündigt fühlen. Das Kulturlandbüro beschreitet mit partizipativen Kunstformaten und seinem nicht-normativen Kulturbegriff einen gegenläufigen Ansatz und nimmt die Expert*innen des Alltags vor Ort Ernst. So ist zum Beispiel für die lokal „Heimatstuben“ genannten Amateurmuseen der Vergleich mit einem professionell geführten Haus nicht immer sinnvoll. Amateure – im Sinne der Museologie – sind hier in je unterschiedlicher Weise kreativ, schaffen sehr persönliche Sammlungen, die Anlass für Beziehungspflege im Ort sind und sogar Ausgangspunkt von Zukunftswerkstätten sein können (Stückrad 2020:64-68). „Es empfiehlt sich, Amateurmuseen als eigenständige Form der Erkenntnisgewinnung und Weltbeschreibung zu betrachten“ (ebd.:69). Auf die Unterstützung dieser ortsspezifisch eigenständigen Qualität muss sich die Logik von Förderungen ausrichten, wohingegen die Angleichung an professionelle Museumsarbeit als Förderzweck nicht taugt (vgl. https://www.kulturlandbuero.de/netzwerk/stubengeschichten/). Im Anschluss an zwei unserer partizipativen Projekte begleiten wir derzeit eine regionale Heimatstube und eine alte Motormühle bei ihrer Entwicklung zu Sozialen Orten.
Künstler*innen in partizipativen Kunstformaten wirken hier vorbildhaft, da sie auf Basis der Potentiale im Dorf (Menschen, Orte, Ausstattung etc.) aktiv werden. Ein Fliesenleger „darf“ kein Dach decken, eine Malerin aber eine Kinovorführung organisieren. Kunstschaffende sind kreativ auch in der Hinsicht, dass sie immer wieder Neues ausprobieren, sich neue Fertigkeiten, Materialien oder Prozesse erschließen. Sie sind, wie Seth Godin das für Transformationen fordert, „nützliche Hochstapler*innen“. Denn sie beginnen zu handeln ohne zu wissen, ob und wie das Ziel erreicht werden kann. Genau diese Haltung ist für den Wandel nötig (Godin 2023:167). Auch das Kulturlandbüro agiert als Unzuständiger. Denn in den partizipativen Kunstformaten stellt sich bei den Einwohner*innen recht bald die Erkenntnis ein, dass es längst nicht nur um Kunst geht. Wir sind Prozessbegleiter in einem sozialen Projekt, in dem grundlegende, ja politische Fragen des Ortes verhandelt werden. Das gefällt den Bürgermeister*innen und Gemeinderät*innen nicht immer, stellt ihre Legitimität und die Bedeutung politischer Gremienarbeit generell in Frage.
Im Rahmen partizipativer Kunstformate können die Einwohner*innen als Beteiligte von als „schwer“ empfundenen Themen abgelenkt und aus dem beschriebenen Patt herausgelockt werden. Sie geraten in einen Strudel der Praxis und widerlegen im besten Fall ihre eigene Defiziterzählung. Plötzlich geht viel ohne fremde Hilfe, was uns vorher als ungangbar berichtet wurde, werden neue Ideen zur Lösung bisher für unauflöslich gehaltener Probleme geäußert, sind vorher als unerreichbar beschriebene Förderungen realisierbar, können tragfähige Kooperationen geschaffen und fast aufgegebene Kulturorte wieder belebt werden. Für die Beteiligten fühlt sich das nicht als Widerspruch an. Die Probleme, Akteur*innen und Orte werden im Prozess aus anderen Blickwinkeln gesehen und oft genug stellt sich erst im Tun heraus, dass ganz andere Themen und Orte als anfänglich gedacht wichtig sind und überraschend viele und ganz andere Mitwirkende mit mehr Potential als erwartet aus dem Ort kommen. Die Körperlichkeit der Erfahrung macht hierbei den Unterschied, denn über das Aufstellen einer Bierbank zu reden, ist etwas anderes, als die Handlung, die das beinhaltet. Wir können Ideen nicht nur mit unserem Körper ausdrücken – wie beim Abzählen mit den Fingern „verstehen“ wir sie dadurch auch besser (Roberts 2020:271-272). Am greifbarsten sind (ehrenamtliche) Handlungspotentiale, wenn sie so körperlich selbstverständlich und gleichzeitig schwer zu verbalisieren sind wie die an sich hochkomplexen Bewegungen beim Treppensteigen oder Radfahren: „To some extent, we can call ourselves an expert in something when we don´t think about what we are doing in words – and when we have reached this level of skill, we know more than we could put into words anyway“ (ebd.:124).
Partizipative Kunst als Soziale Improvisation
Wenn Kunstschaffende so vor Ort mit ihren (oft einfachen) Entscheidungen Einwohner*innen mitreißen und damit den gordischen Knoten der Stagnation zerschlagen, ist das kein vollständiger Neubeginn. Wenn Probleme zu lange unbearbeitet brachliegen, rückt der Lösungshorizont oft in unerreichbare Ferne, der gar nichts mehr mit den gegenwärtigen Voraussetzungen zu tun hat. In einem Dorf haben wir eine Kulturlandschau zur Wiederbelebung der örtlichen Freilichtbühne umgesetzt. In den 1960er Jahren, zu Zeiten mit deutlich mehr Einwohner*innen entstanden, wurde sie traditionell von einem Verein bespielt. Alle Vereine erzählten uns, dass sie das heute nicht mehr leisten könnten, weil sie zu wenig Mitglieder besäßen. Die Idee, das gemeinsam auf die Beine zu stellen, lag zwar nahe, war jedoch nicht leicht umzusetzen. Hier stand der Blick auf die Bedingungen der Vergangenheit einem Wandel im Weg. Das Bild wirkte wie eine abgeschlossene Utopie, die die Umsetzung eher verhindert, als zur Aktion zu inspirieren (Mulgan 2022:45). Aus diesem Grund wird oft auf das Handeln anderer in ländlichen Räumen vor allem seitens der Landes- und Bundespolitik gewartet. Das ist schwer greifbar und abgekoppelt von als dringlich empfundenen Handlungsbedarfen. Problemlösungen fangen aber nicht nur mit einfachen Schritten der lokalen Akteur*innen an, sondern stehen auch auf dem Boden der wie auch immer problematischen Gegebenheiten vor Ort mit ihrer komplexen Geschichte (Haraway 2016:150). Aus diesem Grund sind für mich partizipative Kunstformate insbesondere in ländlichen Räumen Improvisationen, denn Improvisation im besten Sinn bedeutet:
a) Die gegenwärtigen Bedingungen vor Ort zu akzeptieren bzw. als Potentiale zu begreifen und
b) auf Basis dieser Bedingungen gemeinsam und kreativ ins Handeln zu kommen.
Üblicherweise ist eine positive Sicht auf Improvisation auf die Kunst beschränkt. Menschen zahlen Geld für ein Jazzkonzert oder eine Orgelimprovisation. Hier ist sie Ausdruck von Kreativität. In außerkünstlerischen Feldern wird sie eher negativ bewertet, kommt nur im Notfall ins Spiel, nämlich dann, wenn nicht ausreichend geplant wurde (Moldaschl 2015:60). Begriffe von Bricolage und Bastelei bis hin zu Flickschusterei oder gar Pfusch stehen im Raum. Zugrunde liegt die Annahme, dass, wo der Wille, die Fachkompetenz, die Zeit, das Personal und sonstige Sachressourcen vorhanden sind, alles planbar ist und sich sämtliche professionelle Tätigkeiten in klar umrissenen Prozessen standardisieren lassen. Doch wie oft ist das überhaupt nicht möglich, steht genau diese Annahme der Praxis im Wege und blockiert sogar den notwendigen Wandel? Nicht selten ist dieser Wandel (über)lebensnotwendig und bildet die Fähigkeit zum Ins-kalte-Wasser-Springen eine erforderliche Kernkompetenz von Organisationen und der Gesellschaft überhaupt (vgl. Jullien 2018). Das trifft insbesondere für die Kohäsion von Gemeinschaften in ländlichen Räumen zu, denn hier ist das Nichthandeln aufgrund unvollständigen Wissen und nicht (optimal) vorhandener Ressourcen fatal. In partizipativen Kunstformaten kann die Aktivierung gelingen, sodass gemeinsam Lösungen ausprobiert werden, die allein auf die Bedürfnisse der Beteiligten vor Ort reagieren.
Improvisationstechniken und -fähigkeiten sind in allen Lebensbereichen im Spiel, nicht nur in der Kunst. Georg W. Bertram und Michael Rüsenberg führen zahlreiche Beispiele aus der Medizin, der Politik, dem Fußball und dem Recht an, in denen improvisiert wird (Bertram/ Rüsenberg 2023). Manfred Moldalschl stellt fest: „Ohne Improvisation würde die moderne Welt nicht funktionieren“ (Moldaschl 2015:49). Hier wie in partizipativen Kunstformaten ist Improvisation als Technik, aber auch als Komplex an Grundfähigkeiten für ein gelingendes Zusammenleben in pluralistischen Gesellschaften im Spiel. Improvisieren ist eine zielorientierte Handlung und bildet keinen Gegensatz zu einer regelbasierten Tätigkeit. „Vielmehr liegt die Beherrschung der Improvisation in der situativen Veränderung von Regeln und einem gelingenden Antworten auf etwas, mit dem man nicht gerechnet hat“ (Bertram/ Rüsenberg 2023:17-18). Es geht um Kommunikation, um ein Rede- und Antwortspiel, weshalb Improvisieren häufig mit einem Gespräch verglichen wird (Bertram/ Rüsenberg 2023:39 f.). Auch in partizipativen Kunstformaten finden wir diese Struktur: „So sind es zum einen die Künstler*innen, die herausgefordert sind, sich in ein Verhältnis zu den Menschen, Gegebenheiten etc. vor Ort zu setzen und künstlerisch darauf zu antworten. Und umgekehrt sind es die Akteur*innen vor Ort, die herausgefordert sind, sich an den künstlerischen Prozessen in unterschiedlicher Form als Ko-Produzent*innen einzubringen bzw. auf die künstlerischen Interventionen zu antworten“ (Waburg et al. 2022:275-276). Es gilt, eigene Beiträge zu leisten, „ohne die anderen mit der eigenen Subjektivität zu erschlagen“ (Gagel 2019:68). Wer nur seine Perspektive durchsetzen möchte, nimmt sich selbst aus dem Spiel und gefährdet das Ergebnis. Für Reinhard Gagel ist improvisatorisches Zuhören „Beziehungshören“ (Gagel 2010:70). „Wer improvisierend hört, versteht nicht Botschaften (fixierte Informationen), die die anderen senden. Er will nicht eins zu eins entziffern, sondern will aufnehmen, mitdenken und dies wiederum in einem für den anderen wahrnehmbaren (...) Prozess zurücksenden“ (ebd.:71).
Das trifft auf einen konkreten Bedarf in unserer TRAFO-Projektregion. Wenn wir in den Gemeinden Defiziterzählungen über die Gemeinschaft vor Ort hören, werden neben gestiegenen Arbeits- und Schulbelastungen, längeren Fahrten zu Arbeits- und Bildungsorten sowie höheren rechtlichen Anforderungen immer auch fehlende Kommunikation und mangelnde Austauschmöglichkeiten wie Orte und Veranstaltungen beklagt. Partizipative Kunstformate bilden Anlässe, erschließen Orte und erfordern gesteigertes Zuhören. Für uns sind die entstandenen Werke vor allem dafür relevant, um ein Ziel für die Handelnden zu bilden. Viel wichtiger sind der Prozess mit der Veränderung der Akteur*innenkonstellationen und dem, was vor Ort als Gemeinschaft bezeichnet wird: Wer ist wie und mit wem für was aktiv? Deshalb ist für mich das, was in unseren Dorfresidenzen und Kulturlandschauen geschieht, Soziale Improvisation. Sie entlocken bei den Beteiligten, die bei allen Menschen vorhandene Fähigkeit zur Improvisation – hier im Feld des Sozialen. Die Soziale Improvisation bildet die Voraussetzung für die Entstehung partizipativer, künstlerischer Ergebnisse und läuft stets parallel zu den künstlerischen Prozessen.
Wer improvisieren kann und mag, sieht kleinere Änderungen im eigenen Umfeld – bei den anderen Mitwirkenden ebenso wie in den physischen Gegebenheiten und hinsichtlich sonstiger Ressourcen – nicht als Störung des Gleichgewichts, sondern als Anlass, das Zusammenleben im Sinne der gemeinsamen Vorstellung zu gestalten. „Egal was kommt, man nimmt es auf und macht etwas daraus“ (Gagel 2010:51). Ich will nicht sagen, dass alle in einem permanenten Modus der Improvisation verbleiben sollten. Es geht mir um die Etablierung einer Haltung, die aus dem Zuhören heraus Handlungsbedarfe ableitet, wenn etablierte Regeln quer zu den Bedarfen vor Ort stehen. Entscheidend ist, wie bereits mehrfach betont, das Wahrnehmen dieses Auseinanderdriftens in Verbindung mit der Entwicklung von Handlungsoptionen, die selbst ausgeführt werden können. Die Alternative ist das Jammern, dass irgendwer und nicht man selbst etwas gegen empfundene Mängel tun müsste, meistens „die da oben“ in der Kreisstadt, Landeshauptstadt oder in Berlin. Für soziale Improvisator*innen im besten Sinne sind Transformationen kein Unsicherheitsfaktor, sondern Normalität. Gefeit vor falschen Erwartungen ist ihr Umfeld in stetig mitgestaltbarer und daher – in Grenzen – von den Menschen vor Ort kontrollierbarer Bewegung. Neben einer permanenten Aufmerksamkeit für Veränderungen kann Soziale Improvisation wie in Dorfresidenzen oder Kulturlandschauen auch punktuell und projektbezogen intensiviert werden. Ton Matton nutzt Improvisation für seinen „Performativen Urbanismus“, in dem es neben der Beseitigung von offensichtlichen Mängeln auch um die Einplanung solcher Mängel geht und auf dieser Basis Stadtplanung stattfindet (Matton 2023:48).
Wirken partizipative Kunstformate als Soziale Improvisation, dann ist eine gemeinsame Aktion viel wertvoller als jede Analyse von Potentialen und Herausforderungen. Die Beteiligten verbinden den Blick auf das – für die Praxis – Vorhandene und Fehlende mit einem Erlebnis der Selbstwirksamkeit in Gemeinschaft. Sie haben gemeinsam am Entstehen mitgewirkt und erfahren, dass sie substantiell zu einem gemeinsamen Ergebnis beitragen können. Und zwar mit dem, was sie – als Nicht-Expert*innen in fast allen Bereichen – können und was sie vorher als nicht ausreichend ansahen. Mit Mitteln sowie an Orten, die sie in ihren Defiziterzählungen als ungeeignet beschrieben haben. Dadurch ist partizipatives Arbeiten in Kunstprojekten die Aktualisierung des Guten am Status quo, ein Empowerment für die, die es einfach tun, und Anlass zur körperlichen-praktischen Einsicht in die prinzipielle Gestaltbarkeit der Zukunft – zumindest im eigenen Ort. So kann die Grundlage für einen progressiven Heimatbegriff gelegt werden, der nicht eine imaginäre Vergangenheit verklärt, sondern „die Zukunft und ihre Gestaltbarkeit zum programmatischen Inhalt hat“ (Scholz 2024:77). Heimat ist dann nicht mehr das, was man erbt und dauerhaft erhält, sondern „das erst noch Herzustellende“ (Vicenzotti 2009:243). Im Gegensatz zur konservativen Heimat, die sich an unveränderlich gültigen Normen, Traditionen und dem Vor-Ort-Geborenwordensein misst, wirken an Gemeinschaft alle mit, die jeweils vor Ort für das Gemeine aktiv sind. Neuzugezogene können daran sofort – nicht erst nach 50 Jahren, wie es in unserer Region über das Herkommen heißt – mitwirken und Teil von der Gemeinschaft werden, die sie selbst mit erschaffen. Damit verändert sich Gemeinschaft auf Basis der kulturellen Ressourcen aller im permanenten Austausch ständig und ist nicht in kultureller Identität gefangen, die die Bedingungen der Entstehung aller Kultur negiert (vgl. Jullien 2018). Das entkleidet den Gemeinschaftsbegriff auch von seinen ausschließenden Konnotationen in Bezug auf Fremde. Gemeinschaft, nach Roberto Esposito, ist nämlich keine Eigenschaft – als Einheit von Blut, Ort oder Gesinnung –, sondern eine Verpflichtung zum Handeln: „Daraus ergibt sich, daß communitas die Gesamtheit von Personen ist, die nicht durch eine ,Eigenschaft', ein ,Eigentum' [proprietà], sondern eben durch eine Pflicht oder durch eine Schuld vereint sind“ (Esposito 2004:15). Diese Pflicht besteht in der Pflege des gemeinsam zu findenden „Gemeinen“ der jeweiligen Gemeinschaft.
Das Neue schaffen und erhalten
„At a certain point, art has to hand over to other institutions if social change is to be achieved: it is not enough to keep producing activist art.“ (Bishop 2012:283)
Was die Gemeinschaft aus eigener Kraft kann und wo sie Unterstützung braucht, ist mit Dorfresidenzen und Kulturlandschauen für alle (wieder) in der Praxis (körperlich) spürbar klargeworden. Veranlasst durch ein „leichtes“ Kunstprojekt wurde der Gemeinschaft mit beteiligungsorientierten Kunstprojekten Leben eingehaucht, alte Akteur*innen aktiviert und im besten Falle neue als „Gestalter“ (Willisch 2021) dazu gewonnen. Wie in improvisatorischen Gruppenprozessen in der Musik wurde die „Übernahme von Verantwortung für das gemeinsame Produkt“ eingeübt (Gagel 2010:98). Dabei ist das im Prozess geschaffene Produkt Ausgangspunkt für ein neues Gemeinschaftsgefühl, das erst im Handeln auf dieses Gemeine hin entstehen konnte, und zwar bei denen, die daran beteiligt waren. So gelingt Wandel in Gruppen – anders als bei der Fokussierung auf Einzelne in einem traditionellen Kunstbegriff oder der alleinigen Steuerung durch die Kommunalverwaltung. „We give too much credit to the solo genius inventor when what actually changes the world are groups of people connected around significant projects" (Godin 2023:90). Es können als Ergebnis von Sozialen Improvisationen nicht nur gemeinsam ein künstlerisches Werk hervorgebracht, sondern im besten Falle Ansätze einer neuen (Handlungs-)Kultur etabliert werden (Godin 2023:166), vielleicht mit mehr Fokus auf die Möglichkeiten an Stelle von Defiziten. Wir beobachten in allen Orten, dass oft Monate nach Ende der partizipativen Kunstprojekte eine andere Einstellung und mehr bzw. zielorientierteres Engagement (auch) für Kunst und Kultur zu verzeichnen ist. Weil Gemeinschaft gelebt wird, ist keine praktikable Vision mehr nötig. Diese Praxis zu fördern und zu begleiten – das bleibt nach dem Ende einer Dorfresidenz oder Kulturlandschau die Aufgabe des Kulturlandbüros. Niemals als „Kümmerer“, aber als aktivierender, aufmerksam zuhörender Begleiter.
Für Transformationen in sozial improvisierenden Gemeinden der ländlichen Räume bedarf es adäquater Umfeldgestaltung (Mulgan 2022:220). Es braucht eine vertrauensvolle, angstfreie Atmosphäre ohne Überforderungen (Gagel 2010:89), aber auch das Wissen um die Möglichkeit, die Momente einer „interaktiv hergestellten Gemeinsamkeit“ (Bertram/ Rüsenberg 2023:35) aus temporären Kunstprojekten in neue Strukturen überführen zu können. Wichtig dafür sind Servicestellen wie das Kulturlandbüro, die vertrauensvoll, gestalterisch und nicht-normativ arbeiten. Sie bilden eine Schnittstelle zur Verwaltung, vernetzen Gleichgesinnte und bilden das Sprachrohr für die Konzeption wirkungsvoller Förderprogramme. Als Unterstützungsstruktur (Das Soziale-Orte-Konzept 2020:65) stehen sie für die Aufgaben zur Verfügung, die vor allem ehrenamtliche Gemeinden oder Vereine nicht leisten können. Das Kulturlandbüro und vergleichbare Institutionen sind vor Ort und tragen entscheidend dazu bei, in zentralen Stellen auf Kreis-, Landes- und Bundesebene Wissenslücken über Voraussetzungen und Bedarfe ländlicher Räume zu schließen. Viel wichtiger ist aber, dass sie durch ihre Haltung und ihr Vor-Ort-präsent-sein das Gegenteil der Kultur des Misstrauens leben, das Verwaltung und Förderkriterien oft – und teilweise ungewollt – ausstrahlen. Gleichzeitig helfen sie, dass Einwohner*innen wieder Zugang zu diesen finden, sie – trotz allem – als das zu sehen, was sie sind: Ermöglicher.
Neben einer Unterstützungsstruktur mit der geeigneten Haltung braucht es finanzielle Mittel und Förderungen, um die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in ländlichen Räumen realisieren und dem Gefühl des Abgehängtseins begegnen zu können (Neu 2024:71). Insbesondere, wenn es wie in Dorfresidenzen und Kulturlandschauen um zeitlich begrenztes und vereinzeltes bürgerschaftliches (Gestaltungs)Engagement geht, ist die Kommunalverwaltung als Raum- und Ressourcengeber wichtig (Das Soziale-Orte-Konzept 2020:39). Das heißt, dass nicht mehr allein die Sanierung des Vereinsheims, sondern eben auch die Umsetzung neuer Ideen für den sozialen Zusammenhalt im Ort (finanziell) unterstützt werden sollte. Es gilt, funktionierende Dorfgemeinschaften in ihrem spezifischen Sosein wertzuschätzen und ihnen geeignete Rahmenbedingungen und Fördermöglichkeiten zu bieten, sich von innen heraus weiterzuentwickeln.
Für die Arbeit mit Kunst als Mittel für Regionalentwicklung braucht es einen anderen Kunstbegriff. Die spezifisch deutsche kulturpolitische Leitidee von Kulturförderung für Angebote, die es trotz ihrer künstlerischen Exzellenz schwer haben, ihr Publikum zu finden, trägt hier nicht. Verbunden ist sie mit dem „Paradigma, dass eine Nachfrageorientierung künstlerische Qualität und Autonomie beeinträchtige – im Gegensatz etwa zur Leitidee in England von ‚Fördern, was für viele attraktiv und relevant ist‘“ (Mandel 2023:67). Es ist eher die englische Sicht auf Kulturförderung, die für die Arbeit des Kulturlandbüros steht. Wir erwarten von Kunstschaffenden aktivierende Impulse und Störungen. Kunst ist für uns Impulsgeber, Brückenbauer und Anreger für eine vielstimmige, nicht nur von Expert*innen sowie ausschließlich intrasektoral getragene Auseinandersetzung über Gegenwartsfragen.