Normativität der Kulturellen Bildung
Abstract
Normativität, im Lateinischen Norm, Richtschnur, Maßstab, Regel bzw. Vorschrift, kann als deskriptiv-beschreibend oder als präskriptiv-vorschreibend verstanden werden. Innerhalb der geisteswissenschaftlichen Fachdisziplinen werden unterschiedliche Fragestellungen untersucht. In der Philosophie geht es um Ethik und Moralphilosophie: Was sollte die Norm sein? Was ist gut, was ist verwerflich? In der Soziologie geht es um gesellschaftliche Normen, hier vor allem um Fragen der Abgrenzung und Identitätsbildung von sozialen Gruppen. Innerhalb der Erziehungswissenschaften ist die Auseinandersetzung mit Normativität und Normen seit der Moderne umstritten. Denn in der Moderne richtet sich das Handeln vor allem an technokratischen Richtschnüren, messbaren Erkenntnissen und dem technologischen Fortschritt aus. Natürlich kann dieser Spagat zwischen Normativität und Technokratie für die Erziehungswissenschaft beispielsweise aufgelöst werden, wenn, wie Rudolf Lassahn umschreibt, die normative Aufgabe der Pädagogik als Befähigung, das eigene „Handeln und Beurteilen an freigewählte Grundsätze zu binden“ und „moralische Begründungen für sein Tun angeben [zu] können“, angesehen wird (Lassahn 1974:100). Pädagogik stellt so den Anspruch an sich, einzelnen Menschen Instrumente an die Hand zu geben, eigene Normen für sich zu definieren. In dieser Praxis ergibt sich eine deutliche Nähe zur Kulturellen Bildung, die selbst ein Konstrukt der Moderne ist. Denn auch die Kulturelle Bildung besitzt ein ambivalentes Verhältnis zur Normativität. Dies gilt auch für das Medium der Kulturellen Bildung, die Künste, und ist doch der Regelbruch ein ästhetisches Prinzip (vgl. Balke/Maye/Scholz 2009) der Kunst. Im Folgenden werden in einer retroperspektivischen Betrachtung von der Entstehungszeit bis heute normative Diskurse innerhalb der Kulturellen Bildung in Deutschland dargelegt. Es folgt der Versuch einer globalen Betrachtung zur Norm(-ativität) der Kulturellen Bildung. Anhand dieser Grundlagen werden Widersprüche und Spannungsfelder zur Normativität der Kulturellen Bildung aufgezeichnet und künftige Chancen und Herausforderungen diskutiert.
Zur Entstehung des Konzepts der Kulturellen Bildung
Der Begriff Kulturelle Bildung etablierte sich im Zuge der sogenannten 1968er-Bewegung, mit der – nach Vertreter*innen der quantitativen Werteforschung – ein gesellschaftlicher Wertewandel eingeläutet wurde (vgl. Wengst 2009). Nach Ronald Inglehart stand dabei die materielle Bewegung der Nachkriegsgeneration, konservativ bewahrend, traditionell und am kulturellen Erbe orientiert, einer postmateriellen Bewegung der Wohlstandsgeneration gegenüber, die Bestehendes infrage stellt, teils politisch in Form von Bürgerrechtsbewegungen, teils auch hedonistisch orientiert (vgl. Inglehart 1989). Der bisherige Begriff der musisch-ästhetischen Erziehung stand demnach für die materielle Bewegung, die nach Eckart Liebau und Jörg Zirfas als „alte Kulturpädagogik“ hin „zu einer Kultur erziehe“. Die Kulturelle Bildung, die in diesem Sinne für die postmaterielle Bewegung stand, wollte eine „neue Kulturpädagogik“ etablieren, die den Anspruch formulierte, „Bildung solle sich in Kultur vollziehen“ (Liebau/Zirfas 2004:579).
Bemerkenswert ist bis heute, dass es keine eindeutige Definition von Kultureller Bildung gibt. Vielmehr definiert sich diese, wie auch die postmaterielle Bewegung, vorrangig durch ihren Gegensatz zum Bestehenden. Es ist daher hilfreich, hier „Bewegungen wie auch Gegenbewegungen in den Blick zu nehmen“ (Dietz/Neumaier/Rödder 2013:37). So formierte sich die Bewegung der Kulturellen Bildung aus einem außerschulischen Handlungsfeld heraus und distanzierte sich gegenüber der damaligen Praxis der künstlerischen Fächer in der Schule, insbesondere in ihrer Separierung in Einzeldisziplinen (vgl. Zacharias 1997:12). Kulturelle Bildung übernahm dabei normative Grundprinzipien der non-formalen Bildung wie Freiwilligkeit oder Partizipation. Mit der Kritik gegenüber der „kunstspartenspezifischen Segmentierung“ (ebd.) wurde zugleich die Geburtsstunde der Jugendkunstschulen, die „alle Künste unter einem Dach“ (Kamp/Nierstheimer2012) bündelte, eingeläutet.
Auch wurde ein emanzipatorischer Anspruch mit der Kulturellen Bildung verknüpft, sich hier „frei zu machen von einer hierarchisierend-dominanten Hochkulturorientierung“ (Zacharias 2001:219) und damit eine Hinwendung zur kritisch-emanzipatorischen Pädagogik, welche die Mündigkeit des Individuums stärken und bestehende kulturelle Machtverhältnisse entlarven sollte. Im Zuge einer kritischen Distanz zu einer hierarchisierend-dominanten Hochkultur und dem kulturellen Kapital einer Elite (vgl. Bourdieu 1982) stellte die Kulturelle Bildung bewusst jugendkulturelle Ausdrucksformen, eine Ästhetisierung der Alltagskultur und damit eine Lebensweltorientierung an ihre Zielgruppen in den Mittelpunkt ihrer künstlerischen Auseinandersetzung. Dabei stellten sich auch Fragen nach gerechter Teilhabe, wie die Pierre Bourdieus nach dem kulturellen Kapital, das den „feinen Unterschied“ (ebd.) bei Klassenzugehörigkeiten ausmache. Entsprechend forderte Hilmar Hoffmann 1979 „Kultur für alle“ und hier, dass „eine demokratische Kulturpolitik […] nicht nur von dem formalen Angebot für alle ausgehen [sollte], sondern kulturelle Entwicklung selbst als einen demokratischen Prozess begreifen“ (Hoffmann 1984:12) sollte. Dies war die Geburtsstunde der Soziokultur. Mit der Forderung „Kultur für alle“ wurde in der Bundesrepublik Deutschland jedoch nicht, wie in der DDR, der Anspruch erhoben, alle Bürger*innen mit allen kulturellen Angeboten, beispielsweise auch klassischer Kultur, vertraut zu machen (vgl. Mandel/Wolf 2021). Vielmehr sollten neue Orte der kulturellen Auseinandersetzung geschaffen werden, die sich mit der Ästhetisierung des Alltäglichen auseinandersetzen. Hermann Glaser umschreibt Soziokultur verkürzt auch als Kultur von allen, für alle (vgl. Glaser/Stahl 1983). Innerhalb der Kulturellen Bildung wird entsprechend der „Anspruch nach Aktualität des Ästhetischen“ (Bohrer 1992:o.S.) und der „Lebensweltorientierung“ (Braun/Schorn 2012:132) in den Vordergrund gestellt wie auch jugendkulturelle und mediale Ausdrucksformen.
Mit dem Fokus auf Bildung statt Erziehung wird zugleich das humanistisch geprägte Prinzip der „Selbstbildung der eigenen Menschlichkeit“ im Sinne der „Vorstellungen einer Selbstbestimmung des Menschen“ (Assis/Chen 2015:118) in der Kulturellen Bildung betont. Daraus ergeben sich weitere Grundprinzipien wie die der Prozessorientierung, der Ganzheitlichkeit von Bildungsprozessen und der Subjektorientierung. Bildung steht hier eher für den pädagogischen Eigenwert, während die Erwartungen an die Gesellschaftsfähigkeit des Subjekts stärker dem Erziehungsbegriff zugerechnet werden (vgl. Benner 2015).
Entwicklungen innerhalb der Kulturellen Bildung
Seit der Entstehungszeit können verschiedene Entwicklungen innerhalb der Kulturellen Bildung beobachtet werden, die Einfluss auf Fragen der Normativität nehmen. Im Folgenden wird dabei der Fokus auf Einflüsse der Ökonomisierung, der Erweiterung auf weitere gesellschaftliche Handlungsfelder, ressortübergreifende Aufgaben sowie auf aktuelle gesellschaftliche Querschnittsthemen gelegt.
Einfluss der Ökonomisierung und (Neo-)Liberalisierung
Infolge des vorausgehend skizzierten Wertewandels und der Infragestellung des Kulturkanons entwickelte sich eine zunehmende Pluralisierung bzw. Ästhetisierung von Lebensstilen. Dies führte zu einer Vielzahl an neuen Kultur- und kulturellen Bildungsangeboten, hier auch von privatwirtschaftlichen Anbietern wie Musicalhäusern, Rundfunk, Musik- oder Tanzschulen. Dieses Wachstum sowie eine schwierige finanzielle Situation kommunaler Haushalte begünstigten in den 1990er Jahren Prozesse der Ökonomisierung im Kultur- und Bildungsbereich und in anderen gesellschaftlichen Handlungsfeldern wie die Übernahme wirtschaftlicher Steuerungsprinzipien in nicht wirtschaftliche Bereiche (vgl. Keuchel 2013). Dies hatte Auswirkungen auf normative Argumentationslinien in der Kulturellen Bildung, die sich seitdem wesentlich stärker, wie auch in anderen Bildungsbereichen, an einer „Output-Orientierung“ ausrichtet. Denn wie in den 1968er Jahren der Kulturkanon infrage gestellt wurde, wird mit der Ökonomisierung auch der bestehende Bildungskanon zunehmend hinterfragt. Bildungsinhalte und Schulfächer, beispielsweise Latein, müssen sich zunehmend in ihrer Existenz mit Blick auf ihr Potenzial für das sogenannte Humankapital (vgl. Becker 1993) und ihre Relevanz für den Arbeitsmarkt rechtfertigen.
Im Zuge der Verwertbarkeit von Bildung für den Arbeitsmarkt erlebt die Kulturelle Bildung eine Verdrängung gegenüber den MINT- und Sprachfächern in der formalen Bildung. Um dieser Verdrängung entgegenzuwirken, ändert sich die Argumentationslogik innerhalb des Handlungsfelds: Kulturelle Bildung ist nicht per se wichtig, sondern weil sie die Intelligenz, Sozialkompetenzen, Disziplin etc. fördert (vgl. Winner/Goldstein/Vincent-Lancrin 2013). Slogans, wie „You can change your life in a dance class“ (Grube/Sánchez Lansch 2004:o.S.) oder „Lebenskunst als Lernziel“ (vgl. Zürner 2015) sind ebenso Ausdruck dieser veränderten normativen Argumentationslogik wie Transferwirkungsstudien (vgl. Bastian/Kormann/Hafen 2000), die nachweisen sollen, dass Musizieren oder Theaterspielen Intelligenz, Sozialkompetenzen oder Konzentration fördern. Konkrete Nachweise gelingen jedoch nach Metastudien, die diese Studien systematisch untersuchten, bisher kaum (vgl. auch BMBF 2006). Die Argumentationslinie der Verwertbarkeit spiegelt sich auch in der Namensgebung von Förderprogrammen der Kulturellen Bildung wider wie in dem des Bundesprogramms „Kultur macht stark“ (vgl. ebd. o.J.). Auch findet der Kompetenzbegriff Eingang in die Kulturelle Bildung, beispielsweise im Rahmen des „Kompetenznachweises Kultur“. Das Kompetenzmodell wird innerhalb des erziehungswissenschaftlichen Fachdiskurses durchaus kontrovers diskutiert (vgl. Dörpinghaus 2014; Hepp 2014) und von einzelnen Vertreter*innen als ein Ergebnis der Ökonomisierung von Bildung bewertet (vgl. Vonken 2001:514), hier als eine „neue Philosophie der Output-Steuerung“, die den gesamten schulischen und akademischen Bildungsprozess als ein „zweckgebundenes Ergebnis“ (Hepp 2013:38) vom Ende her denkt.
Fühlen sich die künstlerischen Fächer in der Schule zunehmend marginalisiert, rückt die non-formale Bildung im Zuge ihrer Subjektorientierung (vgl. Braun/Schorn 2012) vermehrt in den Fokus der Bildungspolitik: So korrespondiert diese mit den gesellschaftlichen Individualisierungsprozessen, hier einzelne Menschen in ihrer Handlungsfähigkeit zu stärken, wie dies auch Ulrich Beck in seinem Modell der „Risikogesellschaft“ (Beck 1986) skizziert. In einer individualisierten und liberalen Gesellschaft ohne feste Normvorgaben ist letztlich jede*r frei, sein Leben zu gestalten, zugleich aber auch dafür verantwortlich. Mit dem Fokus auf Subjektstärkung erfährt non-formale Kulturelle Bildung eine politische Aufwertung durch die Einführung von flächendeckenden Bundes- und Landesprogrammen wie beispielsweise das bereits erwähnte Programm „Kultur macht stark“, das sich explizit an Bildungsbenachteiligte, die in einer Risikogesellschaft besonders gefordert sind, richtet. Dabei stellen sich durchaus kritische Fragen wie beispielsweise: Warum werden neben der kulturellen Bildungsförderung junger sozial benachteiligter Menschen nicht zugleich auch die schlechteren sozialen Rahmenbedingungen in den Blick genommen und verbessert?
Die Subjektorientierung der Kulturellen Bildung mit ihrer Korrespondenz zu Individualisierungsprozessen begünstigt damit indirekt auch Ökonomisierungsprozesse. Denn Liberalisierung und Individualisierung bilden eine Grundlage dafür, den einzelnen Menschen dazu zu ermutigen, „seinen Präferenzen zu folgen und […] seinen persönlichen Nutzen zu maximieren“ (Bartel 2007:23). In eine ähnliche Richtung argumentiert Andreas Reckwitz in seinem Modell der Gesellschaft der Singularitäten: So geht er davon aus, dass das „kreative Milieu“ und die Ästhetisierung von Alltagskulturen als „kultureller Inkubator [des] singularistischen Lebensstil[s]“ (Reckwitz 2017:274f.) dient und so der urbane Lebensstil des Kosmopoliten mit bewusst ausgesuchten, authentischen Konsumgütern, die „Ästhetisierung des Berufs […], des Essens, Wohnens, Reisens und des Körpers“ (ebd. 2018:84) eine wesentliche Grundlage für den globalen Kulturkapitalismus (vgl. ebd.:87) bildet.
Mit der Ökonomisierung wurde innerhalb der Kulturellen Bildung zugleich eine Qualitätsdebatte angestoßen (vgl. Bamford 2006). Denn mit der Liberalisierung von Förderzugängen, vor allem Infrastrukturförderung durch Projektförderung zu ersetzen, entwickelten sich Konkurrenzkämpfe um Fördermittel. Die Qualitätsdebatte innerhalb der Kulturellen Bildung wird vor allem konfrontativ zwischen den unterschiedlichen Handlungsfeldern und Ressorts geführt, hier der non-formalen Bildung und der formalen Bildung sowie den Akteuren aus Kultur, Jugend und Schule, die letztlich unterschiedliche Ziele und damit Qualitätskriterien innerhalb der Kulturellen Bildung verfolgen (vgl. Keuchel 2010). Dies veranschaulichte eine Studie (vgl. Keuchel/Aescht 2007) zur Kulturellen Bildung, die die Qualitätskriterien von 60 Best-Practice-Projekten und ihre Beziehung zueinander untersuchte.
Einfluss neuer Handlungsfelder und ressortübergreifender Aufgaben
Ökonomisierung und Globalisierung führen zu einer nationalen wie internationalen Spaltung der Gesellschaft in sogenannte Globalisierungsgewinner*innen und -verlierer*innen (vgl. BPB 2015). Studien zur sozialen Lage (vgl. Spannagel 2018) belegen dabei wachsende Schieflagen bei der gesellschaftlichen und kulturellen Teilhabe. So hat sich nach aktuellen Studien Bildungschancengleichheit nicht verbessert, sondern sogar verschlechtert (vgl. OECD 2021) und korrespondiert mit dem formalen Bildungsstatus des Elternhauses (vgl. ebd. 2014). Dies gilt laut Studien auch für die Kulturelle Bildung (vgl. Keuchel/Wiesand 2006; Keuchel/Larue 2012). So konnte hier festgestellt werden, dass Eltern mit niedriger formaler Schulbildung ihren Kindern deutlich seltener Zugänge zu Kultur- und kulturellen Bildungseinrichtungen ermöglichen.
Zugleich verdeutlichten Zeitreihenvergleiche (vgl. Hamann 2005; Keuchel 2006), dass der Besuch junger Menschen, aber auch der Elterngeneration, in klassischen Kultureinrichtungen allgemein nachlässt. Waren Kultureinrichtungen seit der Rock‘n‘Roll-Bewegung davon ausgegangen, dass Jugend ihre eigene Jugendkultur hat und sich dann im Alter wieder der sogenannten etablierten Kultur zuwenden würden, legen die Zeitreihenvergleiche (vgl. ebd.) Anfang der 2000er Jahre nahe, dass kulturelle Präferenzen doch eher generations- statt altersspezifisch geprägt werden. Diese Ergebnisse bestärkten die Kulturpolitik darin, sich neben dem Bereich des Audience Development und einer Eventisierung (vgl. u. a. Haselbach et al. 2012) zunehmend auch im Bereich der Kulturellen Bildung zu engagieren.
Mit der Erkenntnis, dass ein Teil der Bevölkerung Kultur- und kulturelle Bildungseinrichtungen nicht von sich aus aufsucht, wird die Schule für die non-formale Kulturelle Bildung ein wichtiger Partner für den Ausbau von mehr kultureller Teilhabe als Ort, an dem alle Kinder erreicht werden können. Der daraus folgende Ausbau von Schulkooperationen mit der Kulturellen Bildung wurde seit 2004 durch den Ausbau von Ganztagsschulen im Rahmen des Programms „Ideen für Mehr! Ganztägig Lernen“ begünstigt. Zahlreiche kulturelle Bildungsprogramme wurden hierzu ins Leben gerufen: Vom „Landesprogramm Kultur und Schule NRW“ über „TUSCH – Theater und Schule“ bis hin zu „Kulturagenten für kreative Schulen“, die alle das Ziel verfolgten, Schule mit Kultureller Bildung zu vernetzen. Bei alle diesen Kooperationen wurden Reibungsprozesse deutlich, die sich in Form von Qualitätsdebatten zur „Good Practice“ sowie der Erstellung zahlreicher Leitfäden (vgl. Keuchel/Aescht 2005) zum Ganztag widerspiegeln. Dahinter stehen die unterschiedlichen Logiken formaler und non-formaler Bildung: Einheitliche verbindliche Bildungsangebote, an denen möglichst alle/viele Kinder partizipieren können versus Angebote, die individuelle Interessen und Begabungen auf Basis von Freiwilligkeit in kleinen Gruppen fördern. Für die non-formale Kulturelle Bildung stellt der Ganztag daher eine besondere Herausforderung dar, da die Koordination und Verantwortung des Ganztags bei den Schulen liegen. Somit erhalten formale Interessen oftmals den Vorzug gegenüber denen der non-formalen Bildung. Dies führt zu einer veränderten kulturellen Bildungspraxis im Ganztag aufgrund anderer qualitativer Rahmenbedingungen wie größere Betreuungsschlüssel oder fehlende finanzielle Ressourcen für kulturpädagogische Fachkräfte im Ganztag.
Um kulturelle Teilhabe zu verbessern, wird sich neben Schulen auch mit weiteren Kooperationspartnern vernetzt wie kommunalen Vereinen, kulturellen Bildungseinrichtungen, Kultureinrichtungen oder Kitas im Sinne kommunaler kultureller Bildungslandschaften. Eine Schlüsselrolle spielen dabei Kommunale Gesamtkonzepte Kultureller Bildung (vgl. Keuchel 2014), in denen Kommunen Kulturelle Bildung systematisch innerhalb ihrer Strukturen ressortübergreifend verankern. Eine der Herausforderungen besteht darin, Kooperationen zwischen den Ressorts Schule, Jugend und Kultur zu ermöglichen, da diese aufgrund unterschiedlicher Ziele und Strukturen eigene Akzente setzen. Sehen jugendpolitische Akteure beispielsweise ihre Aufgabe vor allem in der (Subjekt-)Stärkung von Kindern und Jugendlichen, unter Berücksichtigung ihrer Neigungen und Interessen, setzen die kulturpolitischen Akteure ihren Fokus auf die Kulturvermittlung und hier auf das Erkennen von Exzellenz. Dies führt zu einer Verfestigung des kontroversen Diskurses um den „richtigen“ Qualitätsweg (vgl. ebd. 2010; Keuchel/Aescht 2007) innerhalb der Kulturellen Bildung und spiegelt sich in Wettbewerben der jeweiligen Ressorts wie beispielsweise „MIXED UP“ oder „Kinder zum Olymp“ wider, die jeweils für eine spezifische Zielrichtung dieses Qualitätsdiskurses stehen. Mehr Kooperationen zwischen den ressortspezifischen Politikfeldern und damit einhergehend eine konstruktive Weiterentwicklung des festgefahrenen Qualitätsdiskurses wären wünschenswert angesichts von Studien (vgl. Keuchel/Wiesand 2006; Keuchel/Larue 2012), die nahelegen, dass die Aktivitäten der unterschiedlichen Handlungsfelder verschiedene Wirkungen auf kulturelle Teilhabe erzielen und somit alle im Zusammenspiel das Fundament für kulturelle Teilhabe bilden, hier die angemessene Beteiligung informeller, non-formaler und formaler Multiplikator*innen bei den Bildungsbiografien (vgl. Keuchel 2017).
Einfluss gesellschaftlicher Herausforderungen und Querschnittsthemen
Wurde als eine zentrale gesellschaftliche Herausforderung in den 1968er Jahren die Hinterfragung bestehender gesellschaftlicher Normen und die Stärkung individueller Freiheit und des Individuums gesehen, zeichnet sich jetzt ein Paradigmenwechsel ab: Die zunehmende Individualisierung und Fragilität der Gesellschaft rücken die Sorge um den gesellschaftlichen Zusammenhalt sowie Fragen der Nachhaltigkeit und den damit verbunden Reflexionen zur gesellschaftlichen Transformation in den Vordergrund.
Aktuelle gesellschaftliche Querschnittsthemen wie Diversität, Inklusion oder Nachhaltigkeit lenken den Blick vom Individuum auf die Gesellschaft und zu Fragen der Gemeinwohlorientierung. Dies hat erneut Einfluss auf normative Argumentationslogiken und Wertschöpfungsfragen innerhalb der Kulturellen Bildung: Diese wird nun als Kitt der Gesellschaft, als ihr kreativer Motor und als Grundlage für die Entwicklung neuer kultureller Narrative gehandelt und soll somit die wesentliche Grundlage für die gesellschaftliche Transformation bilden. Ein Teil der Multiplikator*innen in der Kulturellen Bildung sieht diese Entwicklungen auch kritisch und spricht sich gegen solche Zielsetzungen bzw. „Vereinnahmungen“ der Kulturellen Bildung für normative Bildungsaufgaben aus (vgl. Fuchs 2009a, b; Huntington 1996). Kunst dürfe nicht aufgrund ihrer emotional ästhetischen Kraft eingebunden werden für „ideologische“ Botschaften. Zugleich wird argumentiert, dass die non-formale, jugendpolitisch ausgerichtete Kulturelle Bildung Raum schaffen sollte für die eigenen Interessen, Positionierungen und Haltungen Jugendlicher.
Gesellschaftlicher Zusammenhalt: Divers, global, lokal …
Zentrale Fragen des gesellschaftlichen Zusammenhalts setzen sich mit der Spaltung der Gesellschaft in Verlierer*innen und Gewinner*innen der Globalisierung (vgl. Neckel 2008), ungleich verteilte gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe, Polarisierungen, hier auch links- und rechtspopulistische Tendenzen innerhalb der Gesellschaft, auseinander. Weitere Herausforderungen stellen Fragen zur Diversität in einer Einwanderungsgesellschaft und ungleiche Lebensbedingungen in ländlichen und städtischen Räumen dar.
Die Perspektive auf den Umgang mit Diversität in einer Einwanderungsgesellschaft hat sich in der Kulturellen Bildung bis heute kontinuierlich gewandelt. Schon in den 1968er Jahren wurde der Anspruch nach kultureller Vielfalt formuliert. Hintergrund hierfür war jedoch weniger die kulturelle Vielfalt einer Einwanderungsgesellschaft, vielmehr bildeten die Ästhetisierung des Alltags, jugendkulturelle Praktiken und „Lebensweltorientierung“ (Braun/Schorn 2012:132) die Grundlagen für eine kulturelle Bildungspraxis. Politisch gesehen etablierte sich seit den 1970er Jahren, mit Zuzug der sogenannten Gastarbeiter*innen und Zuwanderer*innen in Westdeutschland, zunächst das Konzept der Multikulturalität zugunsten einer Vielfalt von nebeneinander existierenden Teilkulturen als Leitbild, sogenannter Parallelwelten, die inhaltlich kulturell kaum Berührungen aufwiesen. Mit der Erkenntnis – „Multikulti ist gescheitert“ (Spiegel Online 2010:o.S.) – gewann in der Folge das Konzept der Interkulturalität, dass die Interaktion zwischen den Kulturen sowie die Selbstdefinition der jeweils anderen hervorhebt, an Bedeutung. In der Kulturellen Bildung führte das Konzept der Interkulturalität in einem ersten Schritt zur Wahrnehmung unterschiedlicher Zielgruppen, ihrer Bedürfnisse (vgl. Keuchel 2012) und zu einer stärkeren zielgruppenspezifischen Ausrichtung kultureller Bildungsangebote für migrantische Zielgruppen, im Sinne einer Lebensweltorientierung an kulturellen Hintergründen der Herkunftsländer.
Das nachfolgende Konzept der Transkulturalität, das sich „vom klassischen Konzept der Einzelkulturen […] ab[hebt]“ (Welsch 1995:39) und die Verschmelzungs- und Neuausprägungsprozesse unterschiedlicher Kulturen (Hybridisierung) hervorhebt, führte in der Kulturellen Bildung zu einer kritischen Reflexion von Stereotypen im Kontext ethnisch-kultureller Zugehörigkeit, bot jedoch wenig Grundlagen für programmatische oder strukturelle Änderungen (vgl. Keuchel/Czerwonka 2019).
Aufgrund der Eindimensionalität der Konzepte – Multi-, Inter- und Transkulturalität – gewinnt der Begriff Diversität innerhalb des gesellschaftlichen Diskurses und auch der Kulturellen Bildung an Bedeutung, ergänzt um weitere Konzepte. Beispielhaft ist das Konzept des dritten Raums von Homi K. Bhabha in dem Unterschied von (in sich selbst wieder hybriden) Kulturen bewusst zur Bereicherung von prozessualen Neukonstruktionen genutzt und ausgehandelt werden können (vgl. Bhabha 1994). Dabei thematisiert Bhabha auch Hierarchisierung und Macht bezüglich des Aushandelns von kulturellen Differenzen (vgl. ebd.). Fragen der Machtrepräsentanz und eine Sensibilisierung für antirassistische Haltungen im Zuge diverser ethnisch-kultureller Hintergründe gewinnen auch innerhalb des kulturellen Bildungsdiskurses an Bedeutung. Identitätspolitische und Jugendbewegungen wie die sogenannte Woke-Generation (vgl. von Trotha 2021), die mit ihrer Kritik zu Rassismus die Gesellschaft „bottom up“ – von innen heraus – verändern möchten und dabei moralische Protestkritik an jede Person richten, die in ihren Äußerungen und Taten nicht „woke“ ist, werfen zugleich kritische Fragen für die Kulturelle Bildung auf. Denn damit wird ein Grundprinzip des „Individualismus“, jeder Mensch lebt nach der eigenen Fasson, aufgebrochen und damit indirekt auch die Subjektorientierung der Kulturellen Bildung infrage gestellt. Dies berührt auch Fragen der Kunstfreiheit wie beispielsweise das Entfernen des Gomringer-Gedichts von den Wänden einer Berliner Universität, aufgrund des Sexismus-Vorwurfs oder die Kündigung des Übersetzerauftrags an die niederländische Übersetzerin Marieke Lucas Rijneveld für ein Gedicht von Amanda Gorman, aufgrund ihrer nicht ethnisch identischen Herkunft.
Herausforderungen ergeben sich für die Kulturelle Bildung auch im Zuge postkolonialistischer Diskurse, so Fragen nach der Interpretation von Kulturgeschichte und die Rekonstruktion von Wissensbeständen, hier auch die Frage der Internationalisierung von Kultureller Bildung im Kontext nicht europäischer Perspektiven auf Angebote, Inhalte und Künstler*innen (vgl. Keuchel 2015).
Ein adäquater Umgang mit Diversität in der Gesellschaft stellt sich auch durch das Erstarken rechtspopulistischer, aber auch religiös- und linksextremer Positionen. Dabei gewinnen aktuell kulturelle Fragen an Bedeutung, hier kulturelle Praktiken und Symbole zur Abgrenzung, aber auch kulturelle Aspekte medialer Kommunikationsformen. Daher entdeckt Politische Bildung zunehmend das Potenzial der Kulturellen Bildung für die politische Bildungsarbeit (vgl. Fuchs 2009a, b; Gloe/Oftering 2020). Diese „Vereinnahmung“ wird ebenfalls von Teilen der Kulturellen Bildung kritisch gesehen im Sinne der Gefahr, dass die Künste hier nur als „attraktive Verpackung“ für andere Erziehungsinhalte dienen. Auch innerhalb der Politischen Bildung gibt es zu solchen Allianzen kritische Stimmen (vgl. Detjen 2009): So könne das „Sinnliche“ innerhalb der kulturellen Bildungspraxis, das mit ästhetisch-künstlerischen Erfahrungen einhergeht, auch im Widerspruch zu dem Überwältigungsverbot der Politischen Bildung im Beutelsbacher Konsens stehen, der nicht erlaubt, im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der Gewinnung eines selbstständigen Urteils zu hindern.
Eine Brücke könnte hier der gemeinsame emanzipatorische Anspruch von Politischer und Kultureller Bildung bilden. Stellte die Kulturelle Bildung in den 1968er Jahren gesellschaftliche Normen und einen Kulturkanon infrage, wäre heute das Hinterfragen von gegenkulturellen Gruppenidentitäten denkbar, beispielsweise kulturelle Abgrenzungsmechanismen ethnischer, extremreligiöser und/oder populistischer Gruppen gegenüber dem „Establishment“ (Spier 2014:o.S.). Dies würde dann zugleich das Prinzip der Lebensweltorientierung kritisch betrachten, dass jedoch möglicherweise in einer heterogenen Gesellschaft sowieso auf den Prüfstand gestellt werden sollte, da diese auch bestehende Ungleichheiten manifestieren kann. Wurde die Soziokultur in den 1980er Jahren, als Alternative zur sogenannten Hochkultur, einer breiten Bevölkerungsgruppe erschlossen, stellt sich unter dieser Prämisse die Frage: Wäre es nicht chancengerechter gewesen, wie einst in der DDR die Bemühungen darauf zu richten, sowohl klassische Kultur als auch Soziokultur für alle Bevölkerungsgruppen zugänglich zu machen? Innerhalb der heutigen fragmentierten, polarisierten und milieuspezifischen Gesellschaft könnte es für den gesellschaftlichen Zusammenhalt unterstützend sein, alternative Lebensgestaltungsentwürfe innerhalb der Kulturellen Bildung aufzuzeigen, um dem einzelnen Menschen Gestaltungsoptionen aufzuzeigen, statt milieuspezifische Praktiken zu verstärken.
Nachhaltigkeit
Nachhaltigkeit ist ein gesellschaftliches Querschnittsthema und zugleich in Form der UN-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung (vgl. United Nations 2015) eine politische Agenda, die einen Wendepunkt zur Ökonomisierung markiert. Im Vordergrund der UN-Agenda 2030 stehen globale und Generationengerechtigkeit, die sich in 17 wertbasierte sogenannte Nachhaltigkeitsziele wie Friede, Klimaschutz, Gendergerechtigkeit, gute Bildung oder auch nachhaltige kommunale Infrastruktur ausdrücken. Um für diese gesellschaftliche Transformation Akzeptanz innerhalb der Gesellschaft zu gewinnen, wurde das UNESCO-Weltaktionsprogramm „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ (BNE) 2015 ins Leben gerufen, das die Umsetzung der UN-Agenda 2030 begleiten soll (vgl. DUK 2021). BNE soll dem einzelnen Menschen ermöglichen, „die Auswirkungen des eigenen Handelns auf die Welt zu verstehen und verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen“ (Nationale Plattform Bildung 2017:8). Im Rahmen der BNE-Initiative werden als zentrale Säulen Ökonomie, Soziales und Ökologie hervorgehoben (vgl. United Nations 2015:3), nicht jedoch Kultur. Dies ändert sich aktuell in Deutschland. Vorteile von Kultur und Kultureller Bildung für BNE werden vor allem in der Bildung von kulturellen Narrativen gesehen sowie, parallel zur Politischen Bildung, in der Chance einer emotionalen ästhetisch-sinnlichen Ansprache.
Die Haltungen der Multiplikator*innen in der Kulturellen Bildung sind bezüglich möglicher Kooperationen ähnlich disparat wie bei Kooperationen mit der Politischen Bildung. Teilbereiche sprechen sich gegen eine „Vereinnahmung“ von BNE aus und zwar aus denselben Gründen, wie dies gegenüber der Politischen Bildung geschieht. Künstlerische, sinnlich-ästhetische Erfahrungen sollten nicht „missbraucht“ werden, um normative Vorgaben zu implementieren, also zur Mülltrennung, dem Wassersparen oder zum Fair Trade zu „erziehen“. Diejenigen, die sich dafür aussprechen, argumentieren mit der Relevanz des Themas, die es für junge Bevölkerungsgruppen hat. Eine Brücke zur BNE wird in der gesellschaftlichen Transformation gesehen, da die Künste auch als kreativer Motor einer Gesellschaft (vgl. KEA European Affairs 2009) im Sinne von Perspektivwechseln und dem ästhetischen Prinzip des Regelbruchs (vgl. Balke/Maye/Scholz 2009) verstanden werden. Allerdings ist unter dieser Perspektive das Bündnis zwischen den Künsten, Kultureller Bildung und BNE möglicherweise zeitlich begrenzt.
Denn, wenn Gesellschaft in Zukunft weitgehend über das Prinzip der Nachhaltigkeit gesteuert werden würde, kann nach dem ästhetischen Prinzip des Regelbruchs davon ausgegangen werden, dass Kunst sich infolgedessen auch kritisch mit Regeln der Nachhaltigkeit auseinandersetzen wird, um neue Perspektiven zu eröffnen.
Fazit – Widersprüche, Spannungsfelder und künftige Herausforderungen zur Normativität in der Kulturellen Bildung
Die vorausgehende Betrachtung verdeutlicht, dass gesellschaftliche Entwicklungen, wie Transformationen, neue Aufgaben, Zusammensetzungen und Handlungsfelder, konkreten Einfluss auf die Normativität der Kulturellen Bildung haben, wie dies allgemein für Pädagogik als „eine normative Disziplin“ (Lederer 2015:32f.) beobachtet werden kann oder, wie es Hermann Giesecke umschreibt: „Pädagogisches Denken und Handeln [sind] kulturelle und damit geschichtliche Phänomene.“ (Giesecke 2004:39)
Jenseits des Einflusses des gesellschaftlichen Wandels auf die musisch-ästhetische oder infolgedessen auf die Kulturelle Bildung lassen sich aus der vorausgehenden retroperspektivischen Betrachtung auch einige grundsätzliche Eckpfeiler ableiten, zwischen denen sich die Normativität der Kulturellen Bildung ausbalanciert. Diese Ableitung ist auch innerhalb eines interkontinentalen Vergleichs erkennbar – und zwar immer dort, wo sich deutliche gesellschaftliche Unterschiede zeigen. So wurden innerhalb eines interkontinentalen Vergleichs im Rahmen einer Vorstudie (vgl. Keuchel 2016) zu einem internationalen Monitoring zur Kulturellen Bildung (vgl. IJdens 2017) Expert*innen aus 16 Ländern und fünf Kontinenten gebeten, eine offene Beschreibung zum Verständnis der Kulturellen Bildung zu formulieren. Dabei wurden sowohl deutliche Überschneidungen mit der Begriffseinordnung der Kulturellen Bildung in Deutschland als auch Unterschiede sichtbar. Den Begriffsdefinitionen grundsätzlich gemeinsam sind die Künste, das Medium der Kulturellen Bildung sowie die hiermit verbundenen Dimensionen der Rezeption, Produktion und Reflexion, wie dies auch aus der Abbildung 1 hervorgeht.
Unterschiede zeigen sich bei der Gewichtung formaler, non-formaler und informeller Kultureller Bildung. So gibt es Länder, in denen non-formale Bildung eine wichtige Rolle spielt, andere, in denen der Fokus auf der formalen oder auch der informellen Kulturellen Bildung liegt. Innerhalb der deutschen retroperspektiven Betrachtung wurde zudem deutlich, dass sich Gewichtungen zwischen formaler und non-formaler Kultureller Bildung stetig verändern können und mit unterschiedlichen Werten und Zielen verknüpft sind.
Weitere Unterschiede zeigen sich sowohl in der retroperspektivischen Betrachtung als auch der interkontinentalen sowie in Fragen der Wertschöpfung von (Kultureller) Bildung: Stehen ökonomische Wertschöpfungen im Fokus, werden auf normativer Ebene mit der Kulturellen Bildung Transfereffekte oder auch das Modell des „Learning through the arts“ verbunden. Letzteres bildet allerdings auch Bezüge zum Humboldtschen Bildungsideal, wie dies auch bei der Etablierung des Konzepts der Kulturellen Bildung in Deutschland betont wurde: „Bildung solle sich durch Kultur vollziehen.“ (Liebau/Zirfas 2004:579) Auch wird der Aspekt des kreativen Motors für Transformationsprozesse sowohl innerhalb der interkontinentalen Studie als auch in der retroperspektivischen Betrachtung als Wert der Kulturellen Bildung hervorgehoben, hier im Zuge der Rolle von Kultureller Bildung bei Fragen zu Nachhaltigkeit und BNE.
Ein besonderer Wert der Kulturellen Bildung wird innerhalb des interkontinentalen Vergleichs in einigen Ländern auch in der Schaffung von mehr gesellschaftlichem Zusammenhalt und gemeinsamer kultureller Identität gesehen. In diesem Sinne betont der Kulturwissenschaftler Jan Assmann den wichtigen Stellenwert von gemeinsamen kulturellen Symbolsystemen und Werten für den Zusammenhalt einer Gesellschaft wie Sprache, Essen, Tänze, Bilder, Geschichten etc. Eine Gesellschaft bedarf nach Assmann eines „Vorrat[s] gemeinsamer Werte, Erfahrungen, Erwartungen und Deutungen“ (Assmann 2005:140). Diesen können subkulturelle oder gegenkulturelle Werte einzelner Gruppen und Individuen gegenüberstehen. Je pluralistischer eine Gesellschaft ist, desto schwieriger wird es, gemeinsame kulturelle Präferenzwerte zu definieren (vgl. Hall/Gay du 1996). Diese Schwierigkeit wird aktuell als eine der zentralen Herausforderungen in Deutschland angesehen und diskutiert. Bisher lag der Akzent der Kulturellen Bildung auf der Stärkung des Individuums. Innerhalb des interkontinentalen Vergleichs wird deutlich, dass bei der Positionierung das Selbstverständnis einer Gesellschaft eine wichtige Rolle spielt: Ist einer Gesellschaft die Freiheit der einzelnen Person oder eher das Gemeinwohl wichtig? Hier spielen auch grundsätzliche, unterschiedliche Haltungen westlich-europäischer und nicht westlicher Sichtweisen eine Rolle, die sich dann in der Normativität der Kulturellen Bildung, beispielsweise in einer eher subjektorientierten oder eher die Identität der Gesellschaft stärkenden Haltung widerspiegeln.
Die eben aufgezeigten Dimensionen sind grundsätzliche Eckpfeiler, innerhalb derer die Normativität der Kulturellen Bildung verhandelt werden kann. Der anstehende gesellschaftliche Systemwechsel in Deutschland von der Ökonomisierung zur Nachhaltigkeit oder neue Handlungsfelder wie der Ganztag, aber auch aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen wie Diversität und Bildungsgerechtigkeit, lassen vermuten, dass sich auch hier Kulturelle Bildung neu ausrichten und orientieren wird.
Bezogen auf neue Handlungsfelder wie Ganztag oder Kommunale Bildungslandschaften wird es in Deutschland entscheidend sein, formale und non-formale Bildung in ein gemeinsames Kooperationsmodell zu integrieren, das die Besonderheiten beider Bildungsbereiche bewahrt, statt diese innerhalb eines konkurrierenden Qualitätsdiskurses infrage zu stellen. Auch die Zugänge zur non-formalen Kulturellen Bildung müssen mit Blick auf Bildungsgerechtigkeit und Ganztag neu ausgehandelt und strukturiert werden.
Im Zuge von kultureller Teilhabe, gesellschaftlichem Zusammenhalt, Fragmentierung und Diversität werden sich künftig auch die Inhalte der Kulturellen Bildung neu ausrichten müssen, weg von einer Lebensweltorientierung hin zum Aufzeigen alternativer Gestaltungswege. Dies gilt besonders für (mehr) Internationalität, globale und nicht westliche Perspektiven, Künstler*innen und künstlerische Inhalte, aber auch für eine inhaltliche Mehrdimensionalität bezogen auf kommerziellen Mainstream sowie jugendkulturelle und milieuspezifische kulturelle Ausdrucksformen. Hier sollten auch nicht kommerzielle sowie lokale Praktiken und eine kritische Aufbereitung kulturgeschichtlicher Darstellungen, beispielsweise kulturelle Narrative postkolonialistischer Prägungen, in den Blick genommen werden. Wie eine ausgewogene Repräsentanz globaler westlicher, nicht westlicher, lokaler Perspektiven und kulturgeschichtlicher Interpretationen innerhalb der Kulturellen Bildung aussehen könnte, gilt es im Sinne des Dritten Raums nach Bhabha gemeinsam auszuhandeln.
Eine zentrale Herausforderung besteht für die Kulturelle Bildung in dem erneuten Ausbalancieren der Stärkung von individuellen Freiheiten und gemeinwohlorientierten Werten, wie sie im Zuge aktueller Querschnittsthemen wie Nachhaltigkeit, Diversität oder Inklusion diskutiert werden. Wurde in den 1968er Jahren eine Notwendigkeit in der Befreiung des einzelnen Menschen von gesellschaftlichen Normen gesehen, die dem Individuum zu wenig Freiraum ermöglichten, existieren heute in einer fragmentierten und milieuspezifischen Gesellschaft zu wenig gemeinschaftliche Verbindlichkeiten, die es gilt neu auszuhandeln. Diese Aushandlungsprozesse könnten selbst Teil der Normativität und des Selbstverständnisses von Kultureller Bildung werden, wenn diese im Sinne von Lassahn Einzelne dazu befähigen, sich mit ihren „freigewählten Grundsätzen“ und moralischem Handeln an diesen aktiv zu beteiligen und diese zugleich als dynamische, sich stetig verändernde kulturelle Prozesse zu verstehen.