Intermedialität als performatives Entgrenzungsphänomen und Potential für soziale Entwicklungs- und Veränderungsprozesse

Artikel-Metadaten

von Mariel Renz

Erscheinungsjahr: 2023

Peer Reviewed

Abstract

Der Beitrag behandelt Intermedialität als performatives und transformatives Entgrenzungsphänomen und sein Potential für die künstlerische soziale Entwicklungs- und Veränderungsarbeit. Dabei geht er in zwei Schritten vor: In einem ersten Schritt wird Intermedialität aus einer medien- und kunstgeschichtlichen Perspektive skizziert. Im Fokus stehen hierbei künstlerische Praktiken, die durch Grenzgänge zwischen Kunst und Leben Zwischenräume konstituieren, die gewohnte Denk- und Wahrnehmungsmuster irritieren, neue Handlungsstrategien und veränderte Sichtweisen auf Bestehendes hervorbringen. In einem zweiten Schritt wird anhand des Workshops „Die Kunst der Veränderung“, der im Rahmen eines Organisationsentwicklungsprozesses einer kommunalen Verwaltungsbehörde stattfand, veranschaulicht, wie intermediale (tanz-)künstlerische Praktiken in kunstfernen Kontexten temporäre Begegnungs- und Möglichkeitsräume eröffnen, in denen mittels künstlerischen Handelns und Denkens neues Wissen für soziale Entwicklungs- und Veränderungsprozesse generiert wird.

Hinführung

Durch eine Vielzahl von gesellschaftlichen, politischen, technischen und künstlerischen Entwicklungen rückte das Phänomen der Intermedialität seit den 1990er Jahren verstärkt in den Fokus der Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaften. Seither wird die Überschreitung herkömmlicher Kunst- und Mediengrenzen diskutiert, jedoch kann die Intermedialitätsforschung nach zwei Jahrzehnten intensiver Bemühung einer Systematisierung und Kategorisierung von Intermedialität (Isekenmeier/Böhn/Schrey 2021; Jörg 2014; Rajewsky 2002; Müller 1998) keine allgemein anerkannte Theoriebildung vorweisen. Bestehende Konzepte zur Intermedialität haben sich in unterschiedlichen Disziplinen, wie zum Beispiel der Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaft, nahezu zeitgleich entwickelt – jedoch relativ unabhängig voneinander. Dies führte zur Herausbildung verschiedener Diskursstränge, die Intermedialität entweder aus dem Konzept der Intertextualität oder aus neueren Denkansätzen der Medien- und Kunstwissenschaft, wie zum Beispiel den Interart Studies, herleiten (Isekenmeier/Böhn/Schrey 2021). Obwohl Intermedialität inzwischen „eine Art interdisziplinäre Schnittmenge“ darstellt, auf deren Terrain sich Literatur-, Kunst-, Film- und Medienwissenschaft begegnen, „lässt sich die Intermedialitätsdebatte zu einem gewissen Grad auch als Streit um die Deutungshoheit über kulturelle Phänomene verstehen“ (Isekenmeier/Böhn/Schrey 2021:108), in welchem unterschiedliche Theorieansätze und Positionen in einem Widerspruch zueinander stehen und kontroverse Denkbewegungen auslösen. Mit Blick auf die Heterogenität des Forschungsfeldes ist Intermedialität nach wie vor als Oberbegriff zu verstehen (Rajewsky 2002:6), der verschiedene Konzepte und Theorieentwürfe subsumiert, die grob gesagt, sich mit den Beziehungen zwischen Medien und ihren wechselseitigen Wirkungen beschäftigen.

Trotz bestehender Begriffsunschärfe ist es nicht die Absicht dieses Beitrages einen eigenen Definitionsvorschlag von Intermedialität zu erarbeiten. Ausgehend von der Annahme, dass durch Medien Realitäten wahrgenommen und gleichzeitigt konstituiert werden, wird Intermedialität als performatives und transformatives Entgrenzungsphänomen beschrieben und sein Potential für die soziale Entwicklungs- und Veränderungsarbeit herausgestellt. Grundlegend für diese Betrachtung ist, dass die Intermedialitätsdefinition auf der Tatsache der Unterscheidbarkeit beruht, dass zwei oder mehrere mediale Ausdrucks- und Kommunikationsformen in einem Kontext verwendet werden (Isekenmeier/Böhn/Schrey 2021; Rajewsky 2002). Intermedialität setzt damit Grenzen zwischen Medien voraus, die überschritten, verschoben, verschmolzen und aufgebrochen werden. Dies impliziert das Überschreitungen, Verschiebungen, Auflösungen und damit einhergehende Neudefinitionen von Grenzen zentrale Merkmale von Intermedialität sind. Relevant ist hierbei, dass nicht nur die Differenz in den Beziehungen der Medien, sondern auch ihre Indifferenz, Interferenzen und damit entstehende Brüche, Lücken und Zwischenräume verhandelt werden (Isekenmeier/Böhn/Schrey 2021:88ff; Jörg 2014:16ff).

Intermedialität als Ereignis zwischen Grenzen

Intermedialität steht immer in Abhängigkeit zur Mediendefintion, die gesellschaftlichen Entwicklungen und Veränderungen unterworfen ist. In den 1960iger Jahren führten technische Innovationen und die Integration neuer Medien zu einer Erweiterung der Grenzen der bislang anerkannten Mediengattungen. In Abhängigkeit und direkter Wechselwirkung mit dem medialen Wandel erfuhren auch Körper und Raum in künstlerischen Darstellungen und Handlungen eine neue Bedeutung (Meyer 2006:36). Dies trug zu grundlegenden Veränderungen künstlerischen Produktions-, Präsentations- und Rezeptionsweisen bei, die die Theaterwissenschaftler*innen Freda Chapple/Chiel Kattenbelt (2006) wie folgt beschreiben:

„(…) the incorporation of digital technologies and the presence of other media within the theaterical and performance space is creating new modes of representation; new dramaturgical strategies; new ways of structring and staging words; images and sound; new ways of positioning bodies in time and space, new ways of creating temporal and spatial interrelations. These new modes of representing are leading to new perceptions about theatre and performance and to generating new cultural, social and psychological meanings in performance.” (Chapple/Kattenbelt 2006:19)

Durch Interferenzen und Synthetisierungen von „Neuen Medien“ und „Alten Medien“ wurden in allen Kunstsparten neue Erfahrungsräume intendiert und inszeniert. Dadurch verflüssigten, kollidierten und kollabierten gewohnte Wahrnehmungs- und Bedeutungsmuster. Folglich wurde Intermedialität charakterisiert „as space where the boundaries soften and we are in-between and within a mixing of space, media and realities, (…) and intermediality leads us into an arena and mental space that may best be describend as in-between realities“ (Chapple/Kattenbelt 2006:19).

Intermedialität als ein ästhetisches Verfahren, dass zwischen konventionellen Medien und Künsten angesiedelt ist, stellt ein Ereignis dar, das sich in einem Raum „Da-Zwischen“ ereignet (Sinapius 2017:126ff). Die intermediale Praxis besteht darin, Praktiken anderer künstlerischen Disziplinen in die eigene künstlerische Arbeit zu integrieren oder die künstlerische Arbeit – wie zum Beispiel bei Beuys – zwischen den Disziplinen anzusiedeln. Intermedialität stellt somit auch eine Entgrenzung zwischen Kunst und Leben dar. Diese Grenzüberschreitung wurde zu Beginn des medien- und kunsttheoretischen Diskurs mit dem Terminus der Synthetischen Intermedialität (Schröter 1998) diskutiert. Grob gesagt, handelt es sich hierbei um künstlerische Praktiken, in welchen durch Verschmelzung verschiedener Mediengattungen zu einem Intermedium auch eine Aufhebung des Unterschiedes zwischen Kunst und Leben angestrebt wird. Das Ziel einer Synthese von Kunst und Leben brachte verschiedene performative Kunstpraktiken hervor, wie z.B. Wiener Aktionismus, Fluxus und Happenings. Diese wurden zu handlungsleitenden Bezugspunkten einer sozialen Kunstpraxis. In Anbetracht dessen, wird nachstehend Intermedialität als ein Ereignis an den Grenzen von Kunst und Leben (Nicht-Kunst) gesonderte Aufmerksamkeit geschenkt.

Intermedialität als Entgrenzung von Kunst und Leben

Die Definition von Kunst und damit die Fragen nach ihrer gesellschaftlichen Aufgabe und Funktion durchzieht seit Jahrzehnten den kunstphilosophischen Diskurs (Seidel 2019/Wenzel 2011). Die Grenze zwischen dem Bereich der Kunst und Nicht-Kunst scheint sich desto stärker einer Bestimmung zu entziehen, je mehr man sie zu fassen versucht. Nichtsdestotrotz wird innerhalb der Kunstwissenschaften zwischen Kunst und Nicht-Kunst unterschieden, beruht doch die Festlegung des Gegenstandes aller kunstwissenschaftlichen Disziplinen gerade eben auf dieser Grenzziehung. Was jenseits des Grenzgebietes von Kunst liegt, wird im Gegensatz zur „high art“ nicht selten als „low culture“ betitelt. Jedoch Dichotomien, wie z. B „low“ und „high“, sind immer auch gesellschaftlichen Veränderungs- und Aushandlungsprozessen unterworfen.

Wenn Künstler*innen wie Roy Lichtenstein oder Andy Warhol in den 1950/60er Jahren Elemente der Comics und der Werbegrafik, also Bezüge zur „low culture“ herstellten und in ihre Werke einfließen ließen, fand nicht nur eine Entgrenzung der tradierten Kunstgattungen, sondern auch eine Verschiebung der Grenze zwischen „high“ and „low“ statt. Wenn als „low cultur“ Wahrgenommes in die „high cultur“ bzw. „high art“ überführt wird, dann hat dies in umgekehrter Weise auch zur Folge, dass Gegenstände des Alltagslebens ästhetisiert erfahren werden, wie es sich z.B. in den objet trouvés und Ready-Mades zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits manifestierte.

Die Entgrenzung zwischen Alltag und Kunst erfuhr mit der Aktionskunst der 1960er einen weiteren Höhepunkt. Hierbei nimmt das Happening eine besondere Stellung ein, da in ihm die Verschmelzung von Kunst und Leben intendiert, und die Unterscheidung zwischen Werk und Prozess, Akteur*innen und Zuschauer*innen, Produzent*innen und Rezipient*innen aufgehoben wird. Der Terminus wurde von Alan Kaprow geprägt, als er im Herbst 1959 in der Reuben Gallery in New York mit seinen 18 Happenings in 6 Parts dem objekthaften Werkbegriff der Kunst negierte und die Besucher*innen der Galerie durch Kärtchen mit Handlungsanweisungen aufforderte, im Rahmen seiner Installation in Aktion zu treten. Auf diese Weise wurden sie zum Teil des Kunstwerks.

Weitere grenzauflösende Bestrebungen fanden ihren Ausdruck in künstlerischen Interventionen im öffentlichen Raum. Beispielhaft hierfür ist die Aktion Aus der Mappe der Hundigkeit von Valerie Export, die das Happening in den 1970er Jahren einsetzte, um das gesellschaftlich konnotierte Geschlechterverhältnis zu hinterfragen. Hier wird die Emanzipation der Frau mit Sinn für publikumswirksamen Aktionen spielerisch provokativ bis zum Extrem getrieben. So führte Valerie Export ihren Partner Peter Weibel wie einen Hund an der Leine durch die Straßen der Wiener Innenstadt. Indem sich Peter Weibel als Mann und Valerie Export als Frau im gegenseitigen Einvernehmen selbst erhöhten bzw. erniedrigten, wurde das tradierte Geschlechterverhältnis in aller Öffentlichkeit ausgestellt und ins Gegenteil verkehrt. Derartige Grenzgänge zwischen Privat und Öffentlich, Kunst und Nicht-Kunst konstituieren Zwischenräume, die gewohnte Denk- und Handlungsmuster unterbrechen und vorgegebene Ordnungen in Bewegung versetzen.

In dieser Hinsicht korreliert Intermedialität mit dem Begriff der Heterotopie poststrukturalistischer Denkansätze (Ella-Becker/Schellow/Schimmel/Wodlanka 2013). Der Philosoph Michael Foucault verwendet diesen Terminus für Räume bzw. Orte, die gesellschaftliche Normen zu einer bestimmten Zeit nicht vollständig umgesetzt haben oder die nach eigenen Regeln funktionieren. Er nimmt an, dass es Räume als „Andere Orte“ gibt, die in besonderer Weise gesellschaftliche Verhältnisse reflektieren, indem sie sie repräsentieren, negieren oder umkehren und somit im Widerspruch zu uns vertrauten räumlichen Ordnungen stehen. Diese „anderen“ Räume - auch als „Gegen-Orte“ bezeichnet - beziehen sich zwar auf den uns umgebenden gesellschaftlichen „Normalraum“, durchbrechen diesen aber, indem sie in ihrer Verschiebung der Grenzen, ein Verhalten ermöglichen, das sich bestehenden Normen teilweise widersetzt oder gar negiert. So entstehen Begegnungs- und Möglichkeitsräume, in denen es jenseits vom Gewohntem, Anerkanntem, Erlaubtem zur Konfrontation mit dem Unbekannten, Anderen, Ausgeschlossenen und damit zu einer Erfahrung von Differenz kommt. Der Blick auf das „Andere“ ebenso wie der Blick auf das „Eigene“ wird dabei geschärft. Gleichzeitigt wird ein potenzieller Raum geschaffen, der sich mit konventionellen Interpretationsschemata nicht erschließen lässt. Damit entstehen gedankliche Leerstellen, die Reflexionsprozesse über gängige Wahrnehmungs- und Ordnungsstrukturen ermöglichen.

Bedeutung von Intermedialität für soziale Entwicklungs- und Veränderungsprozesse

Wie skizziert, liegt ein spezifisches Potential intermedialer Praktiken in der Konstitution von Zwischenräumen, in denen gesellschaftliche Ordnungen, soziale Praktiken, Rollenfixierungen hinterfragt, verhandelt und transformiert werden (können). Derartige Prozesse werden in der künstlerischen sozialen Entwicklungs- und Veränderungsarbeit bewusst intendiert und inszeniert. Allerdings treffen hierbei nicht nur „high culture“ und „low culture“ – sondern horizontal betrachtet verschiedene soziale Systeme mit unterschiedlichen Denk-Traditionen und kulturellen Praktiken aufeinander.

So zeichnet sich zum Beispiel der sozial künstlerische Ansatz in den Studiengängen Kunstanaloges Coaching, Intermediale Kunsttherapie und Expressive Arts in Social Transformation an der Medical School Hamburg (MSH) durch eine Verzahnung der Bereiche von Kunst-Gesellschaft-Gesundheit aus. In diesem interdisziplinären Cross-over geht es jedoch nicht darum, die Grenzen der jeweiligen Sphären aufzulösen oder gar zu nivellieren, sondern an ihren Rändern mittels künstlerischen Denkens und Handelns neues Wissen für soziale Entwicklungs- und Veränderungsprozesse zu generieren. Hierbei wird intermedialen künstlerischen Verfahrensweisen eine besondere Bedeutung beigemessen (Jahn/Sinapius 2015), die unter anderem im Konzept der sogenannten Künstlerischen Dezentrierung ihre theoretische, methodische sowie praktische Verankerung erfahren. Sehr verkürzt gesagt, stellen Künstlerische Dezentrierungen jene künstlerischen Aktionsphasen bzw. Einheiten im Rahmen eines Beratungs- bzw. Veränderungsprozesses dar, die Begegnungs- und Möglichkeitsräume konstituieren, in denen gewohnte Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster irritiert, neue Strategien erprobt und ein Perspektivwechsel vollzogen werden kann (Jahn 2015:135). Die sinnlich handlungsorientierten Erfahrungen aus der künstlerischen Praxis können auf kunstferne Kontexte transferiert werden und auch dort Lern- und Umwandlungsprozesse anstoßen und unterstützen. Nach Jahn (2015) sind Künstlerische Dezentrierungen im Kanon konstruktivistischer Denkansätze betrachtet mit Aspekten von Autopoiese und Pertubation zu fassen und als systemisches Strukturelement eines Beratungsprozesses zu begründen. So wird auch in der systemischen Beratungsarbeit durch eine Intervention ein irritierender Impuls in ein bestehendes System, in eine verhärtete Struktur oder ein routiniertes Denk- oder Verhaltensmuster eingespeist, um die Selbstregulation des ganzen Systems bzw. Prozesses dadurch (wieder) neu anzuregen (Jahn 2015:139ff).

Was hier bislang auf einer theoretischen Ebene zur Sprache kam, wird nun anhand des Workshops „Die Kunst der Veränderung“ (2018), der im Rahmen eines Organisationsentwicklungsprozesses als intermediale künstlerische Intervention (sprich Künstlerische Dezentrierung) durchgeführt wurde, veranschaulicht.

Praxisbeispiel: Workshop „Die Kunst der Veränderung“

Auch die städtischen und kommunalen Verwaltungsbehörden blieben in den vergangenen Jahren vom gesamtgesellschaftlichen Wandel nicht verschont. Längst sind Führungskräfte und Mitarbeiter*innen in Ämtern, Behörden der Städte und Kommunen auf dem proklamierten Entwicklungsweg hin zu „modernen Dienstleistungsunternehmen“ von einschneidenden Umstrukturierungsmaßnahmen betroffen. Im Zuge dessen haben Beratung und Kunst - auch in Form des kunstorientierten Coachings - ihren Einzug in den Bereich von Verwaltung und Behörden gehalten, um dort Innovations- und Entwicklungsprozesse von Team- und Organisationskultur anzustoßen und zu begleiten.

Ausgehend vom Auftrag eines Landratsamts in Süddeutschland, das im Rahmen von Eingliederungsmaßnahmen einzelner, zuvor selbstständiger Behörden, ihre Mitarbeiter*innen für das Thema Veränderung „sensibilisieren“ wollte, um damit eine größere Akzeptanz für die anstehenden strukturellen und personellen Veränderungen innerhalb der Organisation zu schaffen, hat die Autorin einen Workshop zum Thema „Die Kunst der Veränderung“ konzipiert und durchgeführt.

Als Veranstaltungsort für die künstlerische Intervention fiel die Wahl auf den sogenannten Kreissaal: der zentrale Sitzungssaal für alle Akteure, die für die Belange des Stadt- und Landeskreises und damit für das politische, wirtschaftliche und soziale Leben und Geschehen zuständig sind. Diese Funktionen spiegeln sich in den architektonischen Dimensionen des Raumes sowie im Verhaltens- und Bewegungskodex seiner Nutzer*innen. In einem solchen Sitzungsraum geht man gemessenen Schrittes und entsprechend bekleidet zur Konferenz. Entsprechend ihrer Funktionen sitzen die Beamten und Angestellten in den Stuhlreihen und der Landrat hat in der vordersten Reihe einen exponierten Platz (auf welchen sich die am Workshop Beteiligten zunächst auch in seiner Abwesenheit nicht zu setzen wagten). Allein in der räumlichen Anordnung von Tischen und Stühlen und der damit einhergehenden Sitzordnung präsentiert sich die soziale Ordnung des Systems - hier die hierarchischen Strukturen und Machtverhältnisse der Behörde.

Angesicht des Auftrages und des Kontextes war es für die Autorin als Coach, Performancekünstlerin und Choreografin naheliegend, ein Interventionsformat zu konzipieren, das den Ort – hier ganz konkret den Sitzungssaal und seine darin eingelassenen Ordnungs-, Handlungs- bzw. Bewegungsmuster – ins Zentrum der künstlerischen Interaktion stellte. Die 26 Teilnehmer*innen des Workshops waren Angestellte aus verschiedenen Dezernaten und Ämtern des Landratsamts, von denen sich ein Teil aus der alltäglichen Arbeit kannten und ein anderer Teil bislang wenig oder gar keine Berührungspunkte miteinander hatte.

Künstlerische Intervention im Rahmen des Workshops „Die Kunst der Veränderung“

Der erste Schritt in der praktischen Umsetzung des Workshops bestand darin, dass die Teilnehmer*innen spontan Wörter zum Begriff „Veränderung“ aus ihren subjektiven Erfahrungen und Assoziationen notierten und aus dem gesammelten Wortmaterial einen Satz bildeten, der anschließend der Gruppe präsentiert wurde.

In einem weiteren Schritt erfolgte eine stimmliche Modulation der bisherigen Sätze durch die Teilnehmer*innen, verbunden mit dem Experiment unterschiedlicher räumlicher Positionen. Hierbei wurde sinnlich erfahrbar, wie Raum- und Körperpositionen, veränderte Stimmlagen die Wirkung und Bedeutung des Gesagten verändern und Kommunikation demzufolge immer auch ein „verkörperter Akt“ ist. Dadurch wurde auch deutlich, dass es nicht nur auf das „was“, sondern auch auf das „wie“ ankommt.

Daran anknüpfend erfolgte ein Input, der den Zusammenhang von Kunst, Körper, Bewegung, Sprache und Veränderung thematisierte. Herausgehoben wurde hierbei die Bedeutung von umgangssprachlichen Bewegungs-Metaphern im Zusammenhang mit der Beschreibung von Veränderungssituationen: neue Wege gehen, sich in Bewegung setzen, Fortschritte machen, an einer Wegkreuzung stehen, ein Wagnis eingehen, einen neuen Standpunkt vertreten, eine andere Haltung einnehmen, sich auf eine Position versteifen, nicht wissen wo es langgeht, einen Schlusspunkt setzen. Der alltägliche Sprachgebrauch impliziert sowohl die Bewegung im Innern (wie wir etwas wahrnehmen, einordnen und bewerten) als auch im Außen (wie wir uns verhalten, handeln, sprechen, beziehen). In diesem Zusammenhang wurde auch deutlich, dass Veränderungen immer auch einen Umgang mit einer offenen ungewissen Situation darstellen und folglich mit der Frage gekoppelt sind, wie man mit Ungewissheit, Komplexität, Dynamik und Unsicherheit umgehen kann. Damit wurde der Schwerpunkt auf die Handlungsprinzipien des Experimentierens und Improvisierens gelenkt, die es als künstlerische und auch als alltägliche angewandte Handlungsstrategien ermöglichen, mit Ungewissheit und Unsicherheit kreativ umzugehen, in komplexen und dynamischen Situationen zu agieren und bereits Vorhandenes aktiv neu zu gestalten (Stark/Vossebrecher/Dell/Schmidhuber 2017).

Nach dieser thematischen Einstimmung erfolgte der Einstieg in die künstlerische (Inter-)Aktion über eine körperliche Wahrnehmungsübung, in der die Teilnehmenden ihre momentane Sitzposition und Platzierung im Gesamtraum bewusst wahrnehmen sollten. Daran anschließend wurden verschiedene Sitzpositionen mit den Parametern von Zeit, Kraft, Raum, Musik exploriert. Im nächsten Schritt wurden die Teilnehmenden aufgefordert, sich einen zweiten Platz im Raum zu suchen und den neuen Platz mit ihrem ersten Sitzplatz zu verbinden, in dem sie verschiedene Raumwege und Arten des Gehens ausprobierten und sich hierbei mit weiteren Akteur*innen und eines eingespielten Musikstückes in Bezug setzten.

Nach dieser Erkundungsphase und der damit verbundenen Generierung von Bewegungsmaterial wurde für die Gestaltung einer folgenden Performance ein Set an Spielregeln vereinbart: Zu Beginn der Performance sollten die Akteure an ihrem ursprünglichen Platz eine Sitzhaltung einnehmen, die einer offiziellen Amtssitzung angemessen wäre und im weiteren Verlauf ihre Sitzposition allmählich verändern, zunehmend verfremden, sich dann in den Raum hineinbewegen und dort mit Raumwegen und verschiedenen Arten des Gehens improvisieren. Eine weitere Vereinbarung bestand darin, im Verlauf der Performance an einem gemeinsamen Punkt im Raum als Gruppe zusammen zu kommen und dort eine Skulptur mit einem Sprechchor zu bilden, der Fragmente der eingangs gebildeten „Veränderungs-Sätze“ beinhalten sollte.

Für die Gestaltung der Performance gab es somit konkrete Regieanweisungen, die den Beginn der Performance und Aspekte des Bewegungsmaterials, des Textmaterials und seine räumliche Anordnung betrafen. Die Gruppe war jedoch innerhalb dieses vorgegebenen Rahmens „frei“ und damit auch herausgefordert, das „wie“ dieser künstlerischen Aufgabenstellung umzusetzen. In der Folge war die Gestaltung von einem ständigen Abstimmungs- und Aushandlungsprozess zwischen Tun, Reflektieren, Evaluieren, als auch zwischen Führen und Folgen oder künstlerischer Durchsetzung eigener Vorstellungen und Mitgehen mit den Aktionen/Ideen der Anderen geprägt.

Ergebnisse und Transfer der künstlerischen Intervention in den Berufsalltag

Bezüglich des Gesamtprozesses und des individuellen und kollektiven Umgangs mit den Herausforderungen in der Gestaltung der Performance soll im Folgenden eine Auswahl der Rückmeldungen der Teilnehmenden genannt werden.

  • So äußerte ein Teilnehmer, dass er nun schon über 15 Jahre im Landratsamt arbeitet, aber den „Kreissaal“ und seine Kolleg*innen noch nie so wahrgenommen hätte und somit sei der Raum für ihn nun mit etwas ganz „Neuem besetzt“. 
  • Andere Rückmeldungen bezogen sich auf die Erfahrung, dass über die körperliche Bewegungssprache eine ganz andere Art der Begegnung und des Austausches mit Kolleg*innen möglich wurde. Hierdurch sei ein richtiges Gruppengefühl entstanden.
  • Als Herausforderung wurde erlebt, sich in unterschiedlicher Art und Weise mit dem Sitzen und Fortbewegen im Raum auseinanderzusetzen und sich dabei auch über konventionelle Verhaltens- und Bewegungsgewohnheiten hinwegzusetzen. Eine besondere Überwindung kostete es die Teilnehmer*innen, sich auf den Platz und Tisch des Landrates zu setzen und zu legen. Hierbei wurden bestehende Hierarchien, Rollen- und Aufgabenverteilungen der Behörde bewusst.
  • In Bezug auf das gemeinschaftliche Handeln äußerten die Teilnehmer*innen mehrfach, dass es eine überraschend positive Erfahrung gewesen wäre, mit Spiel und Spaß ein gemeinsames Ergebnis zu erarbeiten. Mit Erstaunen wurde hierbei auch festgestellt, wie gut es gelungen sei, sich als Gruppe gemeinsam auf etwas Neues und Ungewohntes – eine Performance zu gestalten - einzulassen.
  • Auf Fragen, die den Transfer des Erlebten in den Berufsalltag betrafen, äußerten die Beteiligten, dass sie sich vorhandener Ressourcen (wie beispielweise Neugierde, Experimentier- und Spielfreude, Kooperationsbereitschaft, Mut sich auf Ungewohntes einzulassen) nun bewusster wären und sie damit neue Impulse für die zukünftige Zusammenarbeit erhalten hätten. Auf spätere Nachfrage, inwieweit sich im alltäglichen Miteinander tatsächlich etwas verändert habe, erhielt die Autorin von der Personalleiterin die Rückmeldung, dass in den Berufsalltag die gewohnte Routine zwar schnell wieder eingekehrt sei, dennoch habe sich etwas im Kontakt und in den Beziehungen nachhaltig verändert: so grüßt man sich nun beim Mittagessen in der Kantine und tauscht im Vorbeigehen im Flur auch mal ein paar Worte aus.

Hinsichtlich des Auftrages wurden damit wesentliche Zielvorgaben eingelöst, nämlich die Mitarbeiter*innen für das Thema Veränderung zu sensibilisieren und den anstehenden Eingliederungsprozess der einzelnen Behörden zu unterstützen, indem erste und vor allem positive, produktive Erfahrungen in der Zusammenarbeit gemacht wurden.

Schlussbetrachtung

Wie veranschaulicht wurde, liegt die Wirkung – die transformierende Kraft intermedialer künstlerischen Interventionen - darin, dass sie eine Unterbrechung der gewohnten Wahrnehmungs-, Handlungs- und Beziehungsmuster ermöglichen, einen (Probe-)Raum eröffnen, der neue Erfahrungen im Umgang mit sich selbst, anderen und dem jeweiligen sozial-räumlichen Umfeld ermöglicht. Indem der Sitzungsraum zeitweise in seiner wahrgenommen Bedeutung verwandelt wurde, damit zu einem temporären „Gegen-Ort“ avancierte, erfuhr er eine De-Kodierung und Neu-Einschreibung. So konnten die Teilnehmenden im Rahmen des Workshops ihr Arbeitsumfeld auf eine neue Art und Weise entdecken, sich ihm sinnlich wahrnehmend, kritisch-hinterfragend, vor allem aber auch körperlich experimentierend nähern. Die dabei gewonnenen ästhetischen Erfahrungen trugen zur Verbesserung der Kommunikationsstruktur bei, und lieferten erste Impulse zur Entwicklung und Gestaltung eines gemeinschaftlichen Miteinanders.

Mit Rückschau auf das Anliegen, das performative und transformative Potential intermedialer Praktiken für die künstlerisch soziale Entwicklungs- und Veränderungsarbeit herauszustellen, sei somit abschließend bereits Gesagtes auf einen Nenner gebracht:

Intermedialität bewirkt:

  • Verschiebung von Grenzen,
  • Brüche mit dem Gewohntem,
  • Mehrdeutigkeit,
  • neue Sinneseindrücke,
  • veränderte Sichtweisen,
  • Entdeckung neuer Handlungsstrategien/Verfahrensweisen

und ermöglicht damit:

  • ein Herstellen neuer Bedeutungs- und Sinn(es)strukturen.

Verwendete Literatur

  • Chapple, Freda/Kattenbelt, Chiel (2006): Intermediality in Theatre and Performance. Key Issues in Intermediality in theatre and performance. Amsterdam/New York: IFTR (International Federation of Theater Research).
  • Ella-Becker, Nadja/Schellow, Constanze/Schimmel, Nina/Wodlanka, Bettina (2013): Heterotopien. Perspektiven der intermedialen Ästhetik. Bielefeld: transcript.
  • Isekenmeier, Guido/Böhn, Andreas/Schrey, Dominik (2021): Intertextualität und Intermedialität. Theoretische Grundlagen -Exemplarische Analysen. Stuttgart: Springer.
  • Jahn, Hannes/Sinapius, Peter (2015): Eckpunkte einer künstlerischen Arbeit in Entwicklungs- und Veränderungsprozessen. In: Transformation. Künstlerische Arbeit in Veränderungsprozessen. Hamburg Potsdam Berlin: HPB University Press.
  • Jahn, Hannes (2015): Künstlerische Dezentrierungen. Coaching als kunstanaloges Verfahren. In: Jahn, Hannes/Sinapius, Peter: Transformation. Künstlerische Arbeit in Veränderungsprozessen (135 -145). Hamburg Potsdam Berlin: HPB University Press.
  • Jörg, Robert (2014): Einführung in die Intermedialität. Darmstadt: WGB (Wissenschaftliche Buchgesellschaft).
  • Meyer, Petra Maria (2006): Performance im medialen Wandel. München: Wilhelm Fink.
  • Müller, Jürgen E. (1998): Intermedialität als poetologische und medientheoretisches Konzept. Einige Reflexionen zu dessen Geschichte. In: Helbig, Jörg: Intermedialität – Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebietes (31-40.). Berlin: Schmidt.
  • Rajewsky, Irina O. (2002): Intermedialität. Tübingen: Francke, UTB für Wissenschaft.
  • Stark, Wolfgang/Vossebrecher, David/Dell, Christopher/Schmidhuber, Holger (2017): Improvisation und Organisation. Muster zur Innnovation sozialer Systeme. Bielefeld: transcript.
  • Seidel, Martin (2019): Borderlines. Kunst-Nichtkunst-Nichtkunstkunst. Zeitschrift Kunstforum International. Bd. 262. August 2019.
  • Schröter, Jens (1998): Intermedialität: Facetten und Probleme eines aktuellen medienwissenschaftlichen Begriffes. https://www.montage-av.de/pdf/1998_7_2_MontageAV/montage_AV_7_2_1998_129-154_Schroeter_Intermedialitaet.pdf ( letzter Internetzugriff am 13.08. 2020)
  • Sinapius, Peter (2017): Intermedialität und Intermodalität in den künstlerischen Therapien. Voraussetzungen, Bedingungen, Rahmungen. In: Sinapius, Peter: Intermedialität und Performativität in den Künstlerischen Therapien (124-141). Hamburg Potsdam Berlin: HPB University Press.
  • Wenzel, Anna-Lena (2011): Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst. Ästhetische und philosophische Positionen. Bielefeld: transcript.

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Mariel Renz (2023): Intermedialität als performatives Entgrenzungsphänomen und Potential für soziale Entwicklungs- und Veränderungsprozesse. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://kubi-online.de/index.php/artikel/intermedialitaet-performatives-entgrenzungsphaenomen-potential-soziale-entwicklungs (letzter Zugriff am 16.07.2024).

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