Gegenstände Kultureller Bildung. Der Blick auf die Phänomene und ästhetischen Erfahrungen
Einleitung: Wovon die Rede sein soll
Dass über Kulturelle Bildung und ihre Voraussetzungen seit etwa fünfzehn Jahren (wieder) intensiv diskutiert wird, ist erst einmal sehr erfreulich. Man müsste weit ausholen, um die inzwischen erreichte diskursive Situation hinsichtlich der ausdifferenzierten Felder der Kulturellen Bildung angemessen zu beschreiben. Das gilt auch für die Breite der Themen, die behandelt werden. Kennzeichnend für die Situation ist zudem ein intensiver Metadiskurs, nicht erstaunlich angesichts komplexer und auch widersprüchlicher Traditionslinien. Will man sich allerdings den Gegenständen Kultureller Bildung nähern, entsteht der Eindruck, dass sie in den Debatten nur eine recht untergeordnete Rolle spielen. Diese Entwicklung zu einer häufig unspezifischen Auseinandersetzung mit der Bildungsbedeutung konkreter Gegenstände, die sich auch in den künstlerischen Fächern und Bereichen der Schule beobachten lässt, wird im Zuge der Unterrichtsreformen nach PISA seit einiger Zeit zunehmend kritisch gesehen (Klein/Kissling 2012:390). Vor diesem Hintergrund haben sich in Bezug auf die Kompetenzorientierung intensive Kontroversen entwickelt: So ist der Erwerb von Kompetenzen zwar nicht ohne konkrete Gegenstände zu denken; dennoch haben die Reformen zu der interessanten Folge geführt, dass konkrete Gegenstände aufgrund testmethodischer Notwendigkeiten zunehmend aus den Curricula verschwinden (Brenner 2012:29). Das ist umso erstaunlicher, als es weder bildungstheoretisch noch praktisch gleichgültig ist, was im Unterricht oder den non-formalen Angeboten genau gelesen, gehört, gestaltet, gespielt oder erlebt wird (Rat für Kulturelle Bildung 2015); schließlich ist der Gegenstand in jedem Bildungsprozess ein eigenständiges Gegenüber für den sich Bildenden, gewissermaßen ein eigener Vermittler. Dabei kann der Gegenstand Kultureller Bildung die unterschiedlichsten kulturellen und natürlichen Erscheinungen umfassen, also alle geistigen, materiellen oder ideellen Formen, die durch menschliche Praktiken in Erscheinung treten bzw. historisch in Erscheinung getreten sind. Weiterhin kann sich der Gegenstand als Äußerung des Subjekts sowohl in Objektform, als Idee sowie als Prozess vergegenwärtigen; zumal der Gegenstand eines Bildungsprozesses immer mehr ist als der Gegenstand in Form eines sichtbaren Objekts. Letztlich bleibt die Begegnung mit den Gegenständen immer auch abhängig vom Kontext und der biografischen Passung; jeder sich Bildende hat es in diesem Sinn mit einem je eigenen, besonderen Gegenstand zu tun. Rezeptiv entstehen das Bild, der Ton, die Bewegung in den subjektiven Wahrnehmungen; produktiv in den subjektiven Bewegungen und Handlungen.
Was bedeutet das nun in Bezug auf Kulturelle Bildung?
Zwei Aspekte scheinen für die Frage nach den Gegenständen Kultureller Bildung besonders bedeutsam zu sein: Der erste Aspekt bezieht sich auf die Auseinandersetzung mit den Gegenständen Kultureller Bildung. Im Diskurs über Kulturelle Bildung besteht weitgehend Konsens darüber, dass es notwendig ist, eine differenzierte Analyse der je spezifischen produktions- und rezeptionsästhetischen Prozesse der verschiedenen Kunstsparten und ästhetischen Praxen (Braun 2015:299) vorzunehmen. Auch seien die einzelnen Künste je für sich zu betrachten und zu erforschen, wenn man mehr über die Erfahrungs- und Bildungspotenziale erfahren wolle (siehe Lisa Unterberg „Qualitäten der Künste in der Kulturellen Bildung“). Mit der formalen Bestimmung erwünschter Kompetenzen lassen sich die pädagogischen und inhaltlichen Auswahlprobleme nicht lösen. Denn weder Vermittlung noch Pädagogik sind ohne Gegenstände zu denken. Dies gilt in der Kulturellen Bildung umso mehr, als der ästhetisch wahrgenommene Gegenstand geradezu danach verlangt, das Gesehene, Gehörte und Gefühlte einzuordnen, sei es zur persönlichen Orientierung, zur Einordnung in die individuellen Lebenszusammenhänge oder zur Geschmacksbildung (Rat für Kulturelle Bildung 2015:8).
Es ist selbstverständlich, dass es bei der Frage nach den Gegenständen Kultureller Bildung nicht darum gehen kann, einen abschließenden und erschöpfenden Kanon der Gegenstände Kultureller Bildung anzulegen; dies verbietet sich schon aufgrund der Vielzahl der Gegenstände, aber auch der Akteure im bunten Feld der Kulturellen Bildung, die wiederum differenzierte Vorstellungen von diesen haben (vgl. Rat für Kulturelle Bildung 2015). Vielmehr sollen ein paar beispielhafte Überlegungen verdeutlichen, wie notwendig die genaue Auseinandersetzung mit den Gegenständen Kultureller Bildung ist.
Erstens: Für die Entwicklung Kultureller Bildung stellt sich inhaltlich eine Qualitätsfrage. Wenn die Gegenstände Ausgangspunkt von bildender und vermittelnder Aktivität sowie pädagogischem Handeln sind, muss danach gefragt werden, welches bildende Potenzial ihnen innewohnt und wie geeignet sie sind, die spezifischen Praktiken und das jeweilige Feld der unterschiedlichen Adressaten zu repräsentieren. Dies wird umso wichtiger, je mehr eine gewisse Skepsis gegenüber der inhaltlichen Qualität Kultureller Bildung sich zu verbreiten scheint, sei es in der Klage, dass in den unterschiedlichen pädagogischen Vermittlungsformen die ursprünglich künstlerischen Gestaltungsmittel oft bis zur Unkenntlichkeit entstellt werden (Hentschel 2010:18) oder dass missionarische Kunstvermittler die Gegenstände gnadenlos banalisieren (Ullrich 2015).
Zweitens: Angesichts der gesellschaftlichen Transformationsprozesse, die sich aus der Globalisierung, gravierenden weltweiten politischen Konflikten, der rasant voranschreitenden Digitalisierung, einer sich dramatisch zuspitzenden Flüchtlingssituation und dem demografischen Wandel bei wachsender sozialer Ungleichheit ergeben, verändern sich auch die Voraussetzungen Kultureller Bildung grundlegend. Auch wenn diese Tendenzen zur Pluralisierung und Individualisierung nicht immer in eine eindeutige Richtung weisen, ist doch erkennbar, dass die Gesellschaft nicht mehr einfach auf Tradierung und Leitkultur setzen kann. Von immerwährendem Beharrungsvermögen von Traditionen auszugehen, war schon immer fragwürdig (Assmann/Assmann 1987:9).
Drittens: Kulturelle Bildung kann sich nicht den gängigen Herrschaftsansprüchen und Dogmen der Künste und der Kunst-Diskurse entziehen, die sich weiterhin hartnäckig halten. Nicht selten finden sich hier autoritäre Formen von Behauptungskunst (Rauterberg 2007:176), die auch für die Kulturelle Bildung herangezogen werden, weil sie irgendwann einmal als Kunstwerk deklariert oder in einem Museum aufgenommen wurden. Um Macht- und Deutungshoheiten infrage zu stellen oder aber auch bestätigen zu können, ist eine genauere Betrachtung der Gegenstände unverzichtbar.
Viertens: Ein allzu allgemeiner Kulturbegriff hilft im Blick auf die Bestimmung des Bildungspotenzials spezifischer Gegenstände nicht weiter. Wenn alles gleich gilt, weil alles Kultur ist, wird an der Einzigartigkeit des Besonderen schnell vorbeigesehen. Wenn die in den Gegenständen liegende Aufforderung, sie zu verstehen und zu unterscheiden, nicht eingelöst wird, werden Fragen nach der Qualität und den Möglichkeiten Kultureller Bildung aber überflüssig. Dann kann man zwar alles mit allen machen – es bleibt dann aber reiner Zufall, ob dabei auch Kulturelle Bildung herauskommt.
Fünftens: Zudem ist es bei der Frage nach den Gegenständen Kultureller Bildung bedeutsam, sich verstärkt mit den subjektiven ästhetischen Erfahrungen auseinander zu setzen. Betrachtet man diese als besondere Modalität der Weltzuwendung, wären diese neben den Gegenständen, die sie evozieren, näher in den Blick zu nehmen. So liegt es zwar im Wesen der Kulturellen Bildung, an den unterschiedlichsten Gegenständen ästhetische Erfahrungen möglich machen zu können, aber umgekehrt ermöglicht nicht jeder beliebige Gegenstand ästhetische Erfahrungen (vgl. Seel 2003:46). Wenn das richtig ist, dann kommt insbesondere der Kulturellen Bildung die Aufgabe zu, sowohl die ästhetischen Erfahrungen als auch die Bildungspotenziale im Umgang mit spezifischen Gegenständen zu thematisieren.
Es ist also notwendig, die Gegenstände dahingehend zu untersuchen, inwiefern sie aufgrund ihres je spezifischen Potenzials in besonderem Maße ästhetische Erfahrungen ermöglichen können. Dafür aber ist die Frage entscheidend, wann und wie ein Gegenstand überhaupt ästhetisch wahrgenommen wird und welche spezifischen Erfahrungen initiiert werden können.
Ästhetische Erfahrungen
Ausgehend von den Diskursen in der philosophischen Ästhetik (Seel/Liptow/Deines 2012) sind in der Kulturellen Bildung Fragen nach dem Begriff, nach den Voraussetzungen und den Spezifika ästhetischer Erfahrungen zu klären. Richtet sich die Aufmerksamkeit im Zuge ästhetischer Erfahrungen auf die Künste, auf das Naturschöne oder auf das Alltägliche? Und: Kann man überhaupt von einem einheitlichen Begriff ästhetischer Erfahrung sprechen? Was eine ästhetische Erfahrung kennzeichnet, ist nicht einfach zu bestimmen. Nicht nur, weil sie sich jederzeit und überall vollziehen kann, sondern auch, weil bei der Definition viel davon abhängt, welche Begriffe und Diskurse im Hintergrund stehen. Der Versuch, die Eigenart ästhetischer Erfahrungen aufzuklären, hat in den letzten Jahrhunderten zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter der Philosophie wie auch der Erziehungswissenschaft beschäftigt (siehe Christian Rittelmeyer „Kulturelle Bildung ohne Künste?“).
Im Hinblick auf die Diskurse der philosophischen Ästhetik werden hier ästhetische Erfahrungen unter der Frage untersucht, warum diese Erfahrungsform einen Weltzugang eigener Art darstellt und warum es überhaupt einen Sinn hat, über ästhetische Phänomene zu diskutieren. Denn die ästhetische Beurteilung von Kunstwerken oder ästhetischen Phänomenen ist zwar subjektiv, aber nicht ausschließlich subjektiv. Wäre sie dies, könnte man nicht plausibel machen, warum wir sinnvollerweise einen ästhetischen Streit (Rolle/Wallbaum 2011) haben können. Man kann in diesem Zusammenhang von der subjektiven Allgemeinheit (Kant 2009:61ff.) ästhetischer Urteile sprechen, also einer gesellschaftlich-kulturellen Konvention, die ihre Kraft nicht allein aus der Sache selbst, sondern insbesondere aus der gesellschaftlichen Beurteilung bezieht (Liebau 2010). Um den Begriff der ästhetischen Erfahrung genauer zu bestimmen, scheint es nützlich, in einem ersten Schritt zwischen nichtästhetischer und ästhetischer Wahrnehmung zu differenzieren.
In den Diskursen der Kunstphilosophie wird vor allem bestimmt, was nicht unter ästhetischer Erfahrung zu verstehen ist, nämlich identifizierende, verstehende, evaluative und existenzielle Wahrnehmung (Schmücker 2014:49f.). So spielt beispielsweise bei der identifizierenden Wahrnehmung lediglich das Wahrnehmen von etwas Bestimmbaren oder begrifflich Bestimmtem, also etwas als etwas wahrzunehmen, eine wichtige Rolle. Die ästhetische Erfahrung hingegen geht nicht in dieser Bestimmung auf, auch wenn das vorbegriffliche Erfassen Bestandteil davon sein kann. Sie fokussiert vielmehr die Eigenart der Gegenstände. Insofern kann man die Aufmerksamkeit für Besonderheiten, die die sinnliche und/oder sinnhafte Präsenz und Prägnanz ihrer Gegenstände (Seel 1996a:236) ausmachen, als erstes allgemeines Merkmal ästhetischer Erfahrung festhalten. Dieses Spezifikum wird im Fachdiskurs um ein zweites Merkmal erweitert. Die ästhetische Erfahrung bezieht sich nicht ausschließlich auf einen instrumentalisierten Umgang mit dem sinnlich Gegebenen, sondern weist darüber hinaus. Die allgemein konstitutiven Merkmale verweisen beide auf ein drittes Merkmal ästhetischer Erfahrungen: die besondere Akzentuierung in der Art der Wahrnehmung. Stets scheint die ästhetische Erfahrung davon abhängig zu sein, auf welche Weise der geistigen wie seelischen Gestimmtheit wir etwas als etwas wahrnehmen. So wird vielfach der unbestimmte Status des ästhetischen Erlebens beziehungsweise des Objekts betont. Das Spezifische einer solchen Art der Wahrnehmung sollte jedoch noch genauer herausgearbeitet werden. Daher sind in einem zweiten Schritt drei Grundtypen zu untersuchen: die ästhetische Alltags-, Natur- und Kunsterfahrung.
- Ästhetische Alltagserfahrungen
Ästhetische Alltagserfahrungen sind von Bedeutung, da „das Individuum […] eine Vielzahl an Eigenleistungen vollbringt, die nicht auf die rein sinnliche oder rationale Wahrnehmung reduziert werden können“ (Reinwand-Weiss 2011:88). Obwohl sie auf die eigenen Lebenszusammenhänge rekurrieren, werden sie in der Regel selten bewusst beachtet. Im Zentrum stehen hier habituelle Fragen des Geschmacks, also die Unterscheidungen zwischen schön und hässlich, angenehm und unangenehm, die für die wahrgenommene Lebensqualität wesentliche Bedeutung haben und zugleich distinktiv hoch wirksam sind (Bourdieu 1982). Die Eigenart dieser Erfahrung wird zugleich zur größten Hürde dafür, diese zu erkennen, da Alltag eher mit praktischem Wissen und Nützlichkeit in Verbindung gebracht wird. Das ist interessant, weil es auf ein Spannungsverhältnis verweist: Wird man ästhetischen Alltagserfahrungen überhaupt gerecht, wenn man sie zu sehr mit außeralltäglichen Erfahrungen gleichsetzt? Im gegenwärtigen Diskurs kommt es darauf an, Trennschärfe herzustellen, da „Alltagserfahrung mehr ist als Nichtkunsterfahrung“ (Liebsch 2008:9).
- Ästhetische Naturerfahrungen
Im Nicht-gemacht-sein der Natur ist die ästhetische Naturerfahrung die „Gegenerfahrung zur Sphäre des kulturellen Sinns“ (Seel 1996a:115). So ist die ästhetische Naturerfahrung als ein eigener Typ von Erfahrung zu sehen. Bei der nicht-ästhetischen Betrachtung der Natur werden wir zwar vor eine Reflexionszumutung im Sinne einer Erhabenheit, die „nur im Gemüte des Urteilenden, nicht in dem Naturobjekte, dessen Beurteilung diese Stimmung veranlasst“ (Kant 2009:121) liegt, gestellt, aber nicht vor eine Verstehenszumutung. Eine Ästhetisierung ist allerdings möglich; denn durch einen „ästhetisch eingestellten Blick“ (Schmücker 1998:56) auf die Naturphänomene kann die Natur als Bild, als Klang, als Bewegung wahrgenommen werden und auch diese Wahrnehmung selbst thematisch und damit reflexiv gewendet werden.
- Ästhetische Kunsterfahrungen
Im Gegensatz zur Natur ist Kunst nie einfach nur da. Sobald sie in den Blick gerät, regiert der Zwang, das, was man sieht, hört oder mit dem Leib fühlt, auch einzuordnen. Auch wenn auf den Schauplätzen der Künste häufig das Spiel aus Geld, Macht und Mythos dominiert, verweisen die Gegenstände, an denen wir ästhetische Kunsterfahrungen machen, auf etwas entscheidend Eigenes: „Ästhetische Kunsterfahrung kann und will in ein Verstehen einmünden, die ästhetische Erfahrung anderer Gegenstände kann und muss dies nicht“ (Schmücker 1998:59). Ästhetische Kunsterfahrung kann einerseits nur gelingen, „wenn sie sich nicht von den außerkünstlerischen Phänomenen des Ästhetischen abwendet – von der Natur, der Dekoration und dem Design, der Mode und dem Sport“(Seel 2003:10), sie aber andererseits gleichzeitig die Besonderheiten ihrer Objekte zur Sprache bringt, nämlich „wie sich ihre Objekte nicht nur von beliebigen Dingen, sondern von beliebigen ästhetischen Objekten und Ereignissen unterscheiden“ (Seel 2003:11).
Diese Differenzierung kann helfen, das Spezifische der ästhetischen Erfahrung genauer zu benennen. Klar ist aber auch: Ästhetische Erfahrungen gehen nicht in nur einem Bereich auf. Viele weitere Bestimmungen finden sich wahrscheinlich in der Schwebe der unterschiedlichen Bezugspunkte von ästhetischer Alltags-, Natur- und Kunsterfahrung. Und insbesondere im Kunstdiskurs ist eine angemessene Betrachtung der Phänomene seit Duchamps Ready-Mades keine einfache Aufgabe, denn sie ist nicht mehr von den vor-ästhetischen Erfahrungen zu lösen. Thematisiert wird das sowohl in Theorien zur Leiblichkeit, in denen beispielsweise das „eigenleibliche Spüren“ (Schmitz 1992:141) einen zentralen Stellenwert einnimmt, als auch in erweiterten Wahrnehmungstheorien, bei denen der Begriff der Atmosphäre (Böhme 1994) den Ausgangspunkt bildet.
Bildungspotenziale ästhetischer Erfahrungen in den Künsten
Es geht aber nicht nur um das Sinnhafte und um die Sinne, sondern auch um die Art und Weise, wie ein Phänomen erscheint. Denn möchte „man die wirkliche Beschaffenheit eines Gegenstandes erfassen, sollte man die Weise, auf die er erscheint oder sich manifestiert, ins Auge fassen – sei es nun in der Sinneserfahrung oder in der wissenschaftlichen Analyse. Die eigentliche Wesensart des Gegenstandes ist also nicht irgendwo hinter den Phänomenen verborgen, sondern entfaltet sich gerade in ihnen“ (Zahavi 2007:15) (Beispielhaft hierzu Christian Rittelmeyer „Werke und Prozesse künstlerischer Bildung im Blick der Forschung: Über den methodologisch organisierten Verlust der „Objekte“ – und ihre Wiederentdeckung am Beispiel der Musik“. Damit die Bildungspotenziale für ästhetische Erfahrungen eingelöst werden können, müssen die Phänomene selbst in den Blick genommen werden. In diesem Zusammenhang gibt es eine Reihe neuerer Vorschläge (siehe Ursula Brandstätter „Ästhetische Erfahrung“), die die Unterschiede und Gemeinsamkeiten in den ästhetischen Erfahrungen im Bereich Kultureller Bildung herausarbeiten. Dass ästhetische Erfahrungen neben der Alltags- und Naturerfahrung auch in den Künsten einen Weltzugang und Bildungspotenziale eigener Art darstellen, zeigt der folgende Katalog aus der aktuellen Denkschrift des Rates für Kulturelle Bildung.
- Leiblichkeit und Ambiguität
Wie in Bildungsprozessen allgemein, bildet auch für die ästhetischen Erfahrungen Leiblichkeit den Ausgangs- und Bezugspunkt für den Zugang zur Welt (Liebau 2007). Insbesondere in den Künsten lernt man seinen Leib als Werkzeugleib, mit dem man arbeitet, als Sinnenleib, mit dem man wahrnimmt, als Erscheinungsleib (Bittner 1990:63ff.), mit dem man sich darstellt, als Sozialleib, mit dem man Beziehungen zu anderen aufnimmt, und als Symbolleib, mit dem man Zeichen geben kann (Funke-Wieneke 1995:91ff.), kennen. Spezifische Bildungspotenziale versprechen darüber hinaus die performativen Künste im Modus von Ambiguitätserfahrungen (Hentschel 2010:238) – das gleichzeitige Erfahren sich widersprechender Zustände und Situationen. Das Aushalten von Uneindeutigkeiten, als „Fähigkeit, unterschiedliche Wirklichkeiten zu konstruieren und nebeneinander bestehen zu lassen“(ebd.), zeigt sich beispielsweise im Theater und während des Theaterspielens.
- Zeiterleben
Ästhetische Erfahrungen können uns die Dimensionen der Zeitlichkeit vor Augen führen. Sie können erfahrbar machen, dass sehr verschiedene räumliche und zeitliche Strukturen in einem Moment ineinandergreifen oder im gleichzeitigen Nebeneinander existieren. Denn ästhetische Erfahrungen ereignen sich im Modus des Verweilens (Seel 1996a:50) oder erzeugen eine Sensibilität des Augenblicks (Mersch 2001:279), also eine Art des Erlebens, in der Gegenwart und Augenblick eine zentrale Rolle zukommen. Weitere Formen des spezifischen Zeiterlebens beschreiben eine Fokussierung auf die inneren Momente. Sie reichen von einer punktuellen Selbstvergessenheit bis zu einer langanhaltenden Zeitvergessenheit im Sinne von Flow-Erfahrungen. Angesprochen ist hier die Fähigkeit, sich in kulturellen Bildungsprozessen immer wieder neu auf das Erleben des Momentes einzulassen und gleichzeitig den Blick auf das Zukünftige zu behalten.
- Horizonte und Notwendigkeit von Sprache
Ästhetische Erfahrungen können den Ausgangspunkt für neue Horizonte, Perspektiven und Ausdrucksmöglichkeiten bilden. Das gilt insbesondere dann, wenn sie über das herkömmliche Verständnis von Sprache, in der die Welt nach den Mustern und nach der gelernten Logik von Sprache organisiert ist, hinausreichen. Ausdrucksmöglichkeiten auf der Grundlage von ästhetischen Erfahrungen können dann zusätzliche Teile der Welt zur Sprache bringen. Sei es im Tanz, in dem es weniger um ein begriffliches als vielmehr um ein zwischenleibliches Nach- und Mitvollziehen von Bewegung geht oder in der Musik, die auf eine unmittelbare, nicht-sprachliche und unanalytische Weise so etwas wie Alteritätstoleranz stimulieren kann.
- Über Zweckorientierung hinaus
Ästhetische Erfahrungen sind in gewissem Sinn frei. Denn ästhetische Erfahrungen weisen über einen bloß instrumentalisierenden Umgang mit dem sinnlich Gegebenen hinaus. Was einem im Alltag eher selten zu Bewusstsein kommt, wird durch ästhetische Erfahrungen deutlich: Eine Sensibilisierung für die besondere Art der Wahrnehmung, wie wir etwas wahrnehmen. Ein Bild ist mehr als Pigmente auf Stoff. Dass dabei nicht alle Phänomene, die identisch sind, auch ästhetisch gleichwertig sind, vergegenwärtigen uns insbesondere die Künstler, die vorgefundenes oder bereits gestaltetes Material inszenieren. Das herkömmliche Sehen wird somit um ein Angebot zum Sehen erweitert. Wenn es gut geht, denken wir über das Sehen selbst nach.
- Rätselcharakter und Verstehenszumutung
Die Begegnung mit dem Rätselhaften der Gegenstände stellt ein bedeutsames Bildungspotenzial ästhetischer Erfahrungen dar. Das mit dem Rätsel verbundene Staunen, Fragen und die Ungewissheit bringt nicht nur eine Faszination, innere Spannung und geistige Gestimmtheit mit sich, sondern eröffnet auch neue Ausdrucksmöglichkeiten fernab eingeschliffener Beschreibungsmuster (Engel/ Böhme 2012). Somit geht es nicht nur um Wandlungsprozesse, die jedes Individuum permanent erlebt, sondern um „die Geltungsprüfung von persönlichen Ansichten, die Infragestellung der generationalen erzieherischen Ordnung, die kritische Beschäftigung mit dem Sein und dem Sollen oder auch die Problematisierung von Werten und Normen in ihrer Selbstverständlichkeit“ (Fuchs 2011:390). Die Verstehenszumutung der Kunsterfahrung liegt weniger in der Lösung des Rätsels im Sinne einer begrifflichen Bestimmung, sondern vielmehr in dem Durchdringen der Gegenstände, die in der Regel über mehr als einen Weg erfahrbar sind und gleichzeitig unterschiedliche mögliche Deutungen hervorrufen können. Insgesamt verdeutlichen uns ästhetische Erfahrungen, dass es jenseits naturwissenschaftlicher oder ökonomischer Zugänge und Erklärungsmuster ein Mehr an Erkenntnis gibt.
Pädagogische Rahmung
Die Unberechenbarkeit und Diskontinuität, die mit ästhetischen Erfahrungen einhergehen, beschäftigt durchweg diejenigen, die sich beruflich mit bildungsrelevanten Prozessen befassen. Weder durch vermeintlich Bewährtes noch durch Weltbekanntes oder unverbraucht Neues entsteht eine Erfolgsgarantie auf ästhetische Erfahrungen. Und selbst wenn, wie hier gefordert, sich die Aufmerksamkeit stärker auf die Gegenstände ästhetischer Erfahrung richtet, wenn die Phänomene selbst wieder verstärkt in den Blick genommen werden, geschieht das nicht voraussetzungslos: Es gibt kein Verständnis ohne Vorverständnis. Um über etwas reden zu können, bedarf es einer Einordnung und Beurteilung des Wahrgenommenen sowie der Herausbildung und Steigerung der Ausdrucksfähigkeit - sowohl bei den Akteuren als auch bei den Lernenden. Erst dadurch wird eine genauere Verständigung über das komplexe Geschehen möglich, das im Umgang mit den ästhetischen Alltags-, Natur- und Kunsterfahrungen stattfindet. Ob und in welcher Hinsicht die entsprechenden Fähigkeiten gefördert werden, ist daher eine entscheidende Frage. In diesem Sinne ist die pädagogische Rahmung neben der individuellen Selbstbildung, die die kulturellen Bildungsprozesse wesentlich mitbestimmt, essentiell. Hier ist zunächst zu fragen, wie den Gegenständen überhaupt begegnet wird, wie differenziert diese betrachtet werden und welcher Ausdruck dafür gefunden wird. Die im Juli 2015 publizierte repräsentative Studie „Jugend/Kunst/Erfahrung. Horizont 2015“ zeigt deutlich, dass hier sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht erheblicher Handlungsbedarf besteht. Denn Jugendliche aus bildungsfernen Elternhäusern haben zum Ende ihrer Pflichtschulzeit hochwahrscheinlich weniger Kenntnisse und Interessen in kulturellen Bereichen als Kinder aus Akademikerhaushalten. Die weniger gebildeten Jugendlichen besuchen zudem häufiger Schularten mit niedrigeren Abschlüssen, in denen das kulturelle Angebot im Schnitt schon rein quantitativ deutlich geringer ist als an Gymnasien. Überdies fällt der Unterricht dort in den künstlerischen Fächern häufiger aus als an Gymnasien (Rat für Kulturelle Bildung 2015a:8). Bedeutsam für die Frage nach den Gegenständen und ästhetischen Erfahrungen Kultureller Bildung sind darüber hinaus folgende Erkenntnisse der Studie:
- Der überwiegende Teil der Befragten verbindet mit Kultur auf eine überraschend konservative Weise die klassischen Kunstformen. Die eigenen kulturellen Aktivitäten und Interessen werden eher selten mit dem Begriff assoziiert.
- Obgleich die Schulen, wenn auch in unterschiedlichem Maß, Berührungspunkte mit verschiedenen Gegenstanden Kultureller Bildung innerhalb und außerhalb des Unterrichts ermöglichen und die Jugendlichen einen guten Überblick über die Angebotsstruktur haben, weichen ihre eigenen Interessen erkennbar von dieser Angebotsstruktur ab.
- Ein Großteil der Jugendlichen ist kulturell sehr oder etwas interessiert und auch aktiv, jeweils ein Drittel benennt Musik und Kunst sogar als ein Lieblingsfach – dennoch messen mehr als 50 Prozent dem Kunst- bzw. dem Musikunterricht keine große Bedeutung bei.
Welche Folgerungen ergeben sich aus der Erkenntnis, dass es insbesondere die formalen Bildungseinrichtungen häufig nicht schaffen, mehr aus den Gegenständen Kultureller Bildung zu holen? Fehlt in den Bildungseinrichtungen ein entsprechendes Bewusstsein für den Wert der ästhetischen Erfahrung? Liegt es ganz grundsätzlich daran, dass alles zu Schul-Exponaten und somit zu Schule wird, was in die Schule kommt? Oder wird vielleicht zu stark von Erklärungsmustern Gebrauch gemacht, die eher auf angeborene Kulturinteressen und -fähigkeiten rekurrieren als auf erworbene?
Auch wenn der pädagogische Umgang mit den Gegenständen Kultureller Bildung seine ganz eigenen Schwierigkeiten aufweist, zeigt sich insgesamt, wie wichtig es ist, die Aufmerksamkeit des Diskurses auf die Gegenstände zu richten. Gelingt das, geht es bestenfalls zur Sache.