Der Erfahrung Raum geben: Vorschläge zur Theoriebildung in der Kunstvermittlung und Museumspädagogik
Abstract
Aspekte wie Überraschung, Lust, Irritation, Sinnlichkeit und vieles mehr spielen im Museum eine große Rolle. Kunstvermittlung sollte daher stärker von einem Verständnis des Lernens als Erfahrung ausgehen und sich auch bildungstheoretisch verorten. Der Pragmatismus einerseits und die Phänomenologie andererseits werden als relevante Konzepte diskutiert, die den Begriff der Erfahrung in den Mittelpunkt stellen. Beide dienten und dienen in der Pädagogik oft als Weg zu mehr Lebensweltbezug und zu einer Auffassung von Lernen im Sinne einer Erfahrung. Jedoch werfen sie Fragen auf nach der Art der Erfahrung, nach ihrer Verfügbarkeit und Steuerbarkeit, nach der Rolle des Körpers bzw. Leibs, nach sozialen Prozessen und Macht.
Die Überlegungen, mit denen dieser Beitrag den Begriff der Erfahrung in den Blick nimmt, sind eine Erweiterung des von Hofmann/Preuß 2017 herausgegebenen Sammelbandes „Kunstvermittlung im Museum. Ein Erfahrungsraum“ und vereinen die darin vertretenen theoretischen, praktischen und persönlichen Perspektiven von 20 Autor*innen.
Kunstvermittlung im Museum
Jeder der Begriffe „Kunst“, „Vermittlung“ und „Museum“ befindet sich in einem Wandel, der Fragen aufwirft, und die Konjunktion „Kunstvermittlung im Museum“ ebenso: Welche Entwicklungen sind zu beobachten? Wohin gehen diese Veränderungen? Welche Herausforderungen gibt es? Welche Änderungen wären notwendig? Welche Perspektiven auf Kunstvermittlung im Museum sind zukunftsfähig?
Diese Fragen bewegen Institutionen, Verbände, Kunstvermittler*innen, Forscher*innen und Studierende. Dieser Beitrag nimmt den Begriff der Erfahrung in den Blick und ist eine Erweiterung des von uns herausgegebenen Sammelbandes „Kunstvermittlung im Museum. Ein Erfahrungsraum“ (Hofmann und Preuß 2017), der theoretische, praktische und persönliche Perspektiven von 20 Autor*innen vereint. Die folgende Auseinandersetzung mit dem Thema, gestützt von Textbeiträgen des Sammelbandes, führte uns zu der Erkenntnis, die Erfahrung im phänomenologischen oder pragmatistischen Sinn als zentralen Bezugspunkt zu sehen: Das Museum ist ein Erfahrungsraum, an dem Besucher*innen etwas erscheint bzw. für Besucher*innen etwas zum Erscheinen gebracht wird; hier werden Erfahrungen gemacht, die Bildungsprozesse initiieren. Dies bildet für die Kunstvermittlung bzw. Museumspädagogik einen entscheidenden Ansatzpunkt.
Dabei darf nicht vergessen werden: Museen sind keine machtfreien Räume. Dies gälte es dann in weiteren Schritten mitzudenken.
Mit diesem Aufsatz verfolgen wir zwei Anliegen:
- Zum einen möchten wir den Begriff Erfahrung im Diskurs stärken. Wir plädieren für eine Kunstvermittlung im Museum, die Erfahrungen in den Mittelpunkt stellt. Dieser Ansatz ist nicht völlig neu; der Begriff taucht in der museumspädagogischen Literatur immer wieder auf: „Museums and galleries are social spaces and visiting museum exhibitions is a communal, three-dimensional, whole-body-and-mind experience. (… Visitors, FH/KP) are active participants in creating their own, personalised museum experiences“ (Black 2018:13). Diese Sicht gilt es immer wieder stark zu machen.
- Zum anderen möchten wir dazu beitragen, diesen Ansatz systematisch zu fundieren. Denn natürlich darf es nicht nur bei der Behauptung bleiben, im Museum würden wichtige Erfahrungen stattfinden. Vielmehr ist es wichtig, diesen Begriff zu klären und zu verorten, damit er im Diskurs sinnvoll genutzt werden kann. Wir plädieren für eine Kunstvermittlung/ Museumspädagogik, die sich auch bildungstheoretisch verortet. Auch das ist nicht neu, sollte aus unserer Sicht aber verstärkt werden.
Erfahrungsraum
Die Autor*innen des genannten Sammelbandes, unterschiedlichste Akteur*innen aus Wissenschaft und pädagogischer Praxis, entwickeln aus ihren jeweiligen wissenschaftlichen Disziplinen oder praktischen Handlungsfeldern heraus bestimmte Vorstellungen und Ideen. Diese fügen sich in einer speziellen Hinsicht und Auffassung gut zusammen: Vermittlung im Museum wird als Erfahrungsraum verstanden.
In der aktuellen Kunstvermittlung/ Museumspädagogik zeichnet sich eine Abkehr von traditionellen kunst- bzw. museumspädagogischen Perspektiven ab (Lernort, auratischer Ort, Wissensvermittlung, Besucherorientierung; zur Übersicht: vgl. Hofmann 2016). Die Praxis der klassischen Führung im frontalen Setting ist längst nicht mehr das einzige Format an Museen, es wird von dialogischen Formen und interaktiven Formaten abgelöst.
Zunehmend werden instruktive Vorstellungen von Pädagogik (d.h. Pädagog*innen vermitteln abgesichertes und autorisiertes Wissen an Teilnehmer*innen) durch konstruktivistische Lerntheorien abgelöst, nach deren Vorstellung Teilnehmer*innen aktiv Wissen konstruieren (Hooper-Greenhill 1992; Falk und Dierking 2000; Black 2005). Auch diese Vorstellung greift nach unserer Auffassung zu kurz. Denn der psychologisch-konstruktivistische Lernbegriff wird in der Regel mit Wissensaneignung verbunden (vgl. Hofmann 2016:47 ff.), vernachlässigt also Aspekte wie Überraschung, Lust, Irritation, Sinnlichkeit und vieles mehr. Gerade solche Aspekte spielen jedoch im Museum eine große Rolle (z.B. Hofmann 2015). Sinnvoller erscheint uns, Kunstvermittlung auf dem Begriff der Erfahrung zu konzipieren bzw. von einem Verständnis des Lernens als Erfahrung auszugehen (Meyer-Drawe 2008).
Zum Begriff der Erfahrung
Das deutsche Wort „lernen“ leitet sich etymologisch vom gotischen „lais“ ab, was so viel bedeutet wie „ich habe erwandert“, „ich habe erfahren“, „ich weiß“ (Koch 2008:365). Das Lernen durch Erfahrung berührt uns unmittelbar, denn es widerfährt uns, das macht es so authentisch und evident. Wir haben dieses Lernen nicht von anderen Menschen oder aus Büchern, sondern selbst erkannt, selbst erfahren (ebd.). Bereits für Rousseau, dem ersten Theoretiker der pädagogischen Erfahrung, sind die wahren Lehrmeister Erfahrung und Gefühl (Rousseau 1762/1970:378).
Der Erfahrungsbegriff ist schwer zu fassen, da er in unterschiedlichen Zusammenhängen und mit unterschiedlichen Lernbegriffen einhergeht. Schon Gadamer hat den Erfahrungsbegriff zu den „unaufgeklärtesten Begriffen“ gezählt (Gadamer 1965 zit. nach Koch 2008:329). Zu unterscheiden sind die verschiedenen Bedeutungen des Erfahrungslernens: die Erfahrung selbst als Lernen, Lernen aus und durch Erfahrung, Erfahrung als Anlass/ Anfang von Lernen und Erfahrungen mit dem Lernen (Koch 2008:366).
Kant war davon überzeugt „dass alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange“ (Kant 1787/1967). Erfahrung ist ein „Produkt der Sinne und des Verstandes“ (Kant 1783/2017 § 20). Erfahrung trägt und macht jedes Individuum auf eigene Art und Weise. Wessen Erfahrung, von welchem Standpunkt aus hat welchen Hintergrund? Kultur- und altersbedingte Unterschiede spielen eine Rolle beim Machen, beim Rezipieren, beim Weitergeben und Vermitteln von Erfahrungen. Im Zeitalter der neuen Medien hat der Austausch von Erfahrungen einen neuen Stellenwert bekommen. Die aktuellen und zukünftigen Besucher*innen von Kulturinstitutionen sind Menschen, die sich Wissen aus verschiedensten Kontexten ziehen, nicht mehr nur institutionelles Wissen wird rezipiert. Und die zukünftige Kunst wird sich weiter entwickeln: „Sie sprengt ihre hochkulturellen Fesseln und verlässt das Gefängnis ihrer Autonomie. Sie wird sich neue Orte, neue Zeiten und ein neues Publikum suchen. Sie wird mit Formaten experimentieren, in der die gewohnten Institutionen zu Variablen werden.“ (Baecker 2012).
Die „Next Art Education“, so Torsten Meyer „[...] weiß: Die nächste Kunst bleibt nicht unbeeindruckt von der Welt, in der sie entsteht. Sie befasst sich mit aktuellen Gegenständen des aktuellen Lebens, sie nutzt dafür aktuelle Darstellungstechnologien und sie operiert auf dem Boden alltagskultureller Tatsachen“ (Kolb und Meyer 2015). Die Kunstvermittlung muss also in die Zukunft gedacht werden, sie sollte sich an den nächsten Generationen von Museumsbesucher*innen und den nächsten Kunstschaffenden orientieren. Die „Erfahrung“ scheint uns in diesem Zusammenhang einen Möglichkeitsraum zu öffnen, der zukünftigen Entwicklungen und Perspektiven einen Platz einräumt.
Der Begriff „Erfahrung“ wird in unterschiedlichen Disziplinen und Theorierahmen verwendet, insbesondere in der Phänomenologie, dem Pragmatismus, der Ökopsychologie und der (strukturalen) Psychoanalyse. In den Erziehungswissenschaften und der Kunstpädagogik wird häufig auf Phänomenologie oder Pragmatismus Bezug genommen (für die ästhetische bzw. die Kulturelle Bildung: Mollenhauer 1987, 1990; Meyer-Drawe 1984; Westphal 1997; Westphal und Brinkmann 2015; Hallmann 2016). Wir möchten daher im Folgenden ausloten, inwiefern diese Theorierahmen sinnvolle Bezugspunkte für die Kunstvermittlung/ Museumspädagogik sein können.
Der Erfahrungsbegriff in der Philosophie
Standen sich in der Philosophie mit Bacon und Descartes noch zwei gegensätzliche Zugänge zur Welt gegenüber, nämlich die experimentelle Erfahrung jenseits von theoretischen Begriffen (Empirismus) und die Disziplinierung des Verstandes, d.h. Objektivierung von Sinneswahrnehmungen, ändert sich dies mit Hume und Kant. Nach Hume wird die Sinneswahrnehmung als innere Erfahrung repräsentiert (Schenk und Tompson 2012). Nach Kant ist menschliche Erkenntnis an Erfahrung gebunden (Schenk und Tompson 2012), das heißt, Erfahrung steht zwischen reiner Sinnes- und reiner Verstandestätigkeit. Zunächst wurden jedoch die Gegensätze weiter betont, und es standen sich im 18., im 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert der empiristische Erfahrungsbegriff (Erfahrung ist gegeben) und der idealistische Erfahrungsbegriff (Erfahrung wird durch Begriffe gemacht) gegenüber (Dieckmann 1993:404). Offen blieben damit „die großen Fragen nach den Grenzen der Vernunft, der Bedeutung des Ästhetisch-Leiblichen sowie von Authentizität“ (ebd.:325) bzw. nach dem Verhältnis von Wissen und Bedeutung/ Sinn.
Zwei philosophische Konzepte greifen in der Moderne diese Fragen auf und bieten Lösungsansätze für diese Probleme, indem sie den Begriff der Erfahrung neu fassen: Der Pragmatismus einerseits und die Phänomenologie andererseits.
In den folgenden Abschnitten sollen daher die beiden Perspektiven auf den Erfahrungsbegriff umrissen werden und danach befragt werden, inwiefern sie eine sinnvolle Grundlage für die Kunstvermittlung sein können. Beide dienten und dienen in der Pädagogik oft als Weg zu mehr Lebensweltbezug und zu einer Auffassung von Lernen im Sinne einer authentischen, verbindlichen, verlässlichen Erfahrung (Schenk und Tompson 2012:326). Jedoch werfen sie Fragen auf nach der Art der Erfahrung, nach ihrer Verfügbarkeit und Steuerbarkeit, nach der Rolle des Körpers bzw. Leibs, nach sozialen Prozessen und Macht. In den folgenden Abschnitten sollen daher die beiden Perspektiven auf den Erfahrungsbegriff umrissen werden und danach befragt werden, inwiefern sie eine sinnvolle Grundlage für die Kunstvermittlung sein können.
Der Erfahrungsbegriff im Pragmatismus
Der Pragmatismus ist als philosophische Theorie zunächst 1871 in einem Club um Charles Sanders Peirce an der Harvard University entstanden, erhielt große Aufmerksamkeit und Bedeutung aber vor allem durch die pädagogische Theorie und Praxis von John Dewey (Oelkers 2009), der die Bedeutung des Pragmatismus für die ästhetische Bildung erörtert (Dietrich et al. 2013:58ff.). Ein wichtiges Merkmal des Pragmatismus ist die Kritik am Wahrheitsbegriff (Metzler 2001) und der Bezug auf konkrete menschliche Praxis (Reichenbach 2007). Der Herausforderung schnell wachsender Städte zu Beginn des 20. Jahrhunderts (insb. in Chicago) konnte nur mit einer integrativen Erziehung begegnet werden, mit einem Umbau des Bildungssystems. John Dewey (1859 – 1952), amerikanischer Philosoph, Pädagoge und Psychologe, stellte Erfahrung und Demokratie gegen Idealismus und Tradition in den Mittelpunkt seiner Theorie (Oelkers 2009). In der Erfahrung sei eine Verbindung von Subjekt und Objekt gegeben (das Subjekt macht eine Erfahrung mit einem Objekt); der althergebrachte Dualismus zwischen Lernendem und Lerninhalt quasi aufgehoben. Auch müsste nicht mehr zwischen Lerninhalt und Lernen unterschieden werden – Erfahrung bezeichne den Gegenstand der Erfahrung genauso wie das Erlebnis selbst (Metzler 2001). In seinem Buch „Kunst als Erfahrung“ setzt sich Dewey mit alltäglicher Erfahrung und ästhetischem Bewusstsein auseinander. „Erfahrungen werden ständig gemacht, denn die Interaktion von lebendigem Geschöpf und Umwelt ist Teil des eigentlichen Lebensprozesses“ (Dewey 1958/1980:47).
Pädagogik ist dann nicht mehr Wissensvermittlung oder Organisation eines Lernprozesses, sondern Wachstum. Laut Dewey „resultiert das Ideal des Wachstums in der Auffassung, dass Erziehung und Bildung (englisch „education“) ein fortlaufendes Reorganisieren oder Rekonstruieren von Erfahrung ist. Erziehung und Bildung haben die ganze Zeit ein unmittelbares Ziel, und soweit die damit verbundene Aktivität erzieherisch ist, wird dieses Ziel auch erreicht – die direkte Umformung der Erfahrungsqualität“ (Dewey 1916/1985:82). Dewey geht davon aus, dass ein Mensch immer schon über soziale Erfahrung verfüge, weshalb es keine ‚tabula rasa‘ der Erfahrung gibt, so wie es keinen Nullpunkt der Entwicklung gibt. „Erziehung kann die Erfahrung aber reorganisieren, also den vorhandenen Bedeutungen etwas hinzufügen oder die Fähigkeit verbessern, nachfolgende Erfahrungen zu gestalten“ (Oelkers 2009:97).
Dewey konzeptualisierte Lernen also als Erfahrungsprozess; nicht die Bereicherung des Subjekts, sondern das Reorganisieren des Handlungszusammenhangs von Umwelt und Organismus sind dabei von Bedeutung (Horn 2011). Die Vorstellung, dass ein Erziehender (ein*e Museumspädagoge*in, ein Audioguide, eine Ausstellung) einem Educanden (einem Kind, einem*r Besucher*in) etwas beibringt, ist damit überholt. Sie wird abgelöst durch die Vorstellung, dass Menschen in bestimmten Situationen mit Dingen und Menschen Erfahrungen machen, die sie wachsen lassen.
Der Erfahrungsbegriff in der Phänomenologie
Erkenntnistheoretische Dimension
Der Begriff der Erfahrung wird in der Phänomenologie zentral, weil sie eine neue Perspektive auf die Welt einnimmt: Die Welt (und damit auch wir selbst) tritt uns als Phänomen entgegen; die Welt wird von uns erfahren. Die Phänomenologie interessiert sich also nicht für die ‚Faktizitäten‘ der Welt (ein Auto, ein Sonnenuntergang), sondern dafür, wie wir sie erfahren bzw. wie sie uns erscheinen (Deibl 2012). Dies hängt dabei sowohl vom Gegenstand als auch von den Betrachter*innen ab: Ein Auto kann für den stolzen Führerscheinneuling eine ganz andere Erfahrung sein als für Umweltschützer*innen, und ein Sonnenuntergang kann für Verliebte eine ganz andere Erfahrung sein als für Obdachlose.
Der Begründer der Phänomenologie, der Philosoph Edmund Husserl, hebt dabei den Unterschied von Welt und Bewusstsein als eine Komplementarität auf: Mit dem Begriff der „Lebenswelt“ (Husserl 1954) verbindet er beides in der Vorstellung, dass dieses Phänomen sowohl durch die Welt als auch durch das eigene Bewusstsein konstituiert wird. Die Lebensweltanalyse von Alfred Schütz ist später „eine der entscheidenden Grundlagen für qualitative Forschungsmethoden“ (Gudjons 2012:44). Durch 'naive Weltansicht' (Helmut Plessner) und unmittelbare Wesensschau versucht man, „ein Phänomen an sich und für sich zu erfassen und zu einer Wesenseinsicht zu gelangen, den Sinn, von dem aus ein Gegenstand (bzw. menschliches Verhalten, FH) erst verstanden werden kann“ (Gudjons 2012:44). Welche Einsicht damit gemeint ist, wird am folgenden Beispiel klar: „Wer Orange als Farbe sieht und die Farbqualität phänomenologisch beschreiben will, muss von einer einheitlichen Tatsache handeln; wer erklärt, dass Orange aus Rot und Gelb gemischt ist, analysiert, er betreibt nicht Phänomenologie, sondern Physik“ (Hoffmann 1980:82) und verfehlt ihr Wesen.
Doch die „Sachen selbst, um die es dabei geht, liegen uns nicht unverdeckt vor Augen“ (Waldenfels 1992:17). Mit Maurice Merlau-Ponty spielt die Leiblichkeit darin eine zentrale Rolle, denn der Leib steht als ‚dritte Dimension' diesseits von reinem Bewusstsein und reiner Natur, von Aktivität und Passivität, von Autonomie und Dependenz, diesseits auch von reflexivem und positivem Wissen“ (ebd.:59). Auch Intentionalität, Zeitlichkeit und Intersubjektivität prägen die Erfahrung eines Phänomens (Brinkmann 2015:35). Das Phänomen, das sich zeigt, ist also durch verschiedene Prozesse ‚verschattet‘.
Daraus ergibt sich eine doppelte Bestimmung des Phänomens, nämlich einerseits durch das Ding und andererseits durch die Verschattungen, durch den Horizont, vor dem es erfahren wird. „Der Horizont und die Dinge gehören zwei unterschiedlichen epistemologischen Ordnungen an. Das Ding ist einzeln und gegeben, der Horizont ist fließend unterbrochen und potenziell – ein Möglichkeitsraum dessen, was konkret erscheinen kann“ (Brinkmann 2015:36). Gleiches gilt für die Analyse des Phänomens, denn „das, worüber gesprochen wird, (ist) nicht von dem zu trennen, wie darüber gesprochen wird“ (ebd.:34).
Phänomenologische Erziehungswissenschaft
In den Erziehungswissenschaften nahm die Phänomenologie im 20. Jahrhundert eine herausragende Rolle ein (Schenk und Tompson 2012). Für die ästhetische bzw. Kulturelle Bildung spielt der Philosoph Bernhard Waldenfels eine bedeutende Rolle, der die Aspekte Sinnlichkeit, Synästhesie, Ästhetik thematisiert sowie die Bedeutung der Künste (Waldenfels 1992). Für ihn ist „das Fremde“ zentral (Waldenfels 1997), das uns begegnet, entgegenkommt, einen Anspruch an uns hat. „Das Fremde zeigt sich, indem es sich uns entzieht. Es sucht uns heim und versetzt uns in Unruhe, noch bevor wir es einlassen oder uns seiner zu erwehren trachten“ (Waldenfels 1997:42). Kunst kann in diesem Sinne als Fremdes fungieren und Bildungsprozesse auslösen (Koller 2016). So bildet für viele Vertreter der ästhetischen bzw. Kulturellen Bildung die Phänomenologie einen wichtigen Theorierahmen. Durch die zunehmend empirische Ausrichtung der Erziehungswissenschaften geriet die (als geisteswissenschaftlich verstandene) phänomenologische Erziehungswissenschaft in den letzten Jahren in den Hintergrund. Aktuell reformuliert Malte Brinkmann die phänomenologische Erziehungswissenschaft als empirische Phänomenologie; allerdings nicht speziell auf die Kulturelle Bildung bezogen (Brinkmann 2010; Brinkmann et al. 2015).
Traditionell argumentiert die phänomenologische Erziehungswissenschaft mit Husserl, Gadamer und Buck, dass „die Erfahrung im Lernen zum einen durch ihre Intentionalität, ihre Horizonthaftigkeit und durch Negativität (bzw. in anderen Worten: Passivität, FH) gekennzeichnet ist“ (Brinkmann 2015:43) und Temporalität eine große Rolle spielt (ebd.). Lernen als Erfahrung ist demnach „Lernen von etwas durch jemand Bestimmtes oder durch etwas Bestimmtes“ (Meyer-Drawe 2008:18).
Brinkmann erweitert diese Sicht in systematischer und machttheoretischer Weise (Brinkmann 2015:44f.): Er weist auf den Unterschied zwischen Lernen (als subjektivem Erfahren) und erzieherischer Praxis, die eine Praxis der Macht (Ricken 2006) ist, hin. Lernen ist dadurch auch „negative Erfahrung“, also eine zugemutete, dem Subjekt zu-kommende Erfahrung. Diese ambivalente Praxis, die nach Foucault durch Begrenzungen und Öffnungen konstituiert ist, bildet die Voraussetzung für Freiheitsspielräume und ermöglicht, dass „sich darin performativ neue Ordnungen bilden“ (Brinkmann 2015:45). Der Bildungssinn der Erfahrung besteht darin, dass sie sich „aus der Wiederholung des Bestehenden und Beständigen, aus Gewohnheit und Habitualisierung, zu etwas Anderem, zu Neuem hin öffnet“ (ebd.).
Kunstvermittlung im Wandel
Eine Abkehr von traditionellen kunst- bzw. museumspädagogischen Perspektiven lässt sich daran erkennen, was gerade nicht im Mittelpunkt der Text-Beiträge des Sammelbandes „Kunstvermittlung im Museum. Ein Erfahrungsraum“ steht: Zum Beispiel das (Kunst-)Objekt, das noch in den 1990er Jahren im Mittelpunkt der Kunstpädagogik stand. Auch nicht das Subjekt bzw. das Biografische, das über Konzepte wie die künstlerische Feldforschung (Lili Fischer) oder die ästhetische Forschung (Helga Kämpf-Jansen) und künstlerische Vorgehensweisen wie z.B. die von Cindy Sherman, Louise Bourgeois, Peter Feldmann und vielen mehr in die museumspädagogische Praxis Einzug hielten. Auch Gesellschaftliches, das im Zusammenhang mit Feminismus und Gesellschaftskritik die Museumspädagogik lange Zeit beschäftigte, scheint aktuell weniger Thema zu sein; diese Aspekte werden allenfalls im Zusammenhang mit Partizipation (Gesser et al. 2019) oder postkolonialen Debatten (z.B. Kunstsammlung NRW: Wem gehört das Museum?) verhandelt. Die Besucherorientierung – ein wichtiges Thema der letzten fünf bis zehn Jahre – wird ebenfalls kaum angesprochen. Dies mag daran liegen, dass sie letztlich auf ein lineares Vermittlungsmodell aufbaut (vgl. die Kritik daran in Vom Lehn 2017). Die Beiträge im genannten Sammelband fokussieren weniger lineare Vermittlungsprozesse. Die Vorstellung einer Wissensvermittlung, von der die Besucher*innen-Forschung seit dem 19. Jahrhundert dominiert ist, ist weniger Thema. Damit lässt sich eine Abgrenzung vom Museum als Lernort (ursprünglich: Spickernagel und Walbe 1976) beobachten. Dies bedeutet jedoch nicht, dass im Museum nichts gelernt wird. Doch wird Lernen im größeren Zusammenhang betrachtet: Vielen Akteur*innen geht es darum, Kunstvermittlung mit Sinnhaftigkeit zu betreiben und einen Museumsbesuch unter der Prämisse des „Nutzens“, des „Mehrwerts“ zu betrachten. Solch ein „Nutzen“ kann Lernen sein, aber auch z.B. ästhetische oder soziale Erfahrungen. Daher nehmen viele der ausgewählten Beiträge nicht Lernprozesse, sondern Handlungen oder Interaktionen in den Blick. Auch das Museum als auratischer Ort steht nicht im Vordergrund der Beiträge in diesem Sammelband, dennoch wird in fast allen Beiträgen die Besonderheit der Erfahrungen im Museum betont, die Sinnlichkeit, die Präsentationsform, das Erscheinen. In dieser Auffassung treffen sich traditionelle und jüngere, geisteswissenschaftliche, aber auch psychologische und soziologische Erkenntnisse zur Museumspädagogik.
Was lässt sich also schließen? Welches Verständnis von Kunstvermittlung im Museum besteht aktuell und wie wird es gerade weiter entwickelt?
- Sichtbar wird der „performative turn“ bzw. „interactive turn“, das heißt, die Handlungsorientierung, die sich in den Kultur- und Sozialwissenschaften abzeichnet (Kade 1997, Prange 2012): Pädagogik wird nicht mehr im Sinne von Zielerreichung auf einer bestimmten Basis gedacht (wie es im Grunde bis zu Herbarts Konzeption der Erziehungswissenschaften zurückzuführen ist). Vielmehr steht das spezifisch pädagogische Handeln im Mittelpunkt. Im Museum handeln Besucher*innen wie Pädagog*innen in einer spezifischen Weise und diese Handlungsweise ist möglicherweise ein sinnvollerer Bezugspunkt für pädagogische Überlegungen.
- Ebenso eine neue Perspektive ist im Blick der Autor*innen auf das Museum zu erkennen: Hier geht es weder um den neutralen „whitecube“ (O’Doherty 1976), in dem ästhetischer Genuss stattfindet, noch um den lehrreichen „Lernort“ (Spickernagel und Walbe 1976), an dem Wissen vermittelt wird. Vielmehr wird das Museum als Erfahrungsraum verstanden. Es ist also nicht mehr länger nur als physischer Ort zu verstehen, als Gebäude. Und es genügt auch nicht, die institutionellen Aspekte der Organisation Museum zu betrachten. Vielmehr muss das Museum als sozialer Raum verstanden werden, als „espace“ (Michel de Certeau, vgl. Röttele 2017), als Praxis. Diese gewandelte Perspektive ist zentral: Das Museum ist somit keine Gegebenheit, sondern situativ, sozial, performativ. Es ist ein Raum, der sowohl durch äußere Vorgaben und physische Gestaltung als auch durch das Wahrnehmen und Handeln der unterschiedlichen Menschen darin gebildet wird. In diesem Sinne ist auch nachrangig, ob es sich um ein Museum oder einen Kunstverein handelt, um eine archäologische Sammlung oder eine Kunstausstellung. Das Museum wird weniger in seiner institutionalisierten Form betrachtet (zum Institutionenbegriff in der Pädagogik vgl. Göhlich 2011), sondern in seiner Handlungspraxis. Im Anschluss an phänomenologische Überlegungen zum (Museums-)Objekt, das sozusagen im Kontakt zwischen einem Gegenstand und einem Betrachter erst als „Ding“ (Meyer-Drawe 2015) hervorgebracht wird bzw. präsent wird (weiterführend zum Konzept der Präsenz vgl. Lethen 2015), wäre das Museum ein Ort, an dem ein Raum entstehen kann, in dem Dinge und Menschen wechselseitig zum Erscheinen gebracht werden.
- Damit wird auch ein Wandel im Hinblick auf die pädagogischen Begriffe eingeleitet. Im museumspädagogischen Diskurs herrscht das Konzept des „Lernens“ im psychologischen Sinne vor. Lernen wird tendenziell positivistisch im Sinne von Wissenszuwachs verstanden, ist eher kognitiv orientiert und auf die Vernunft bezogen (vgl. Hofmann 2016:47 ff.). Uns scheint das Konzept der „Erfahrung“ bzw. des „Lernens als Erfahrung“ sinnvoller. Erfahrung hat mit sinnlicher Wahrnehmung zu tun und mit einer Seins-Wahrnehmung und Vergegenwärtigung (vgl. Dieckmann 1993). Käthe Meyer-Drawe versteht entsprechend Lernen als Erfahrung. Sie beschreibt den Anfang des Lernens als „eine Art Erwachen, das von einem fremden Anspruch ausgelöst wird.“ (Meyer-Drawe 2008:505) Durch etwas, durch ein Ereignis beginnt man die Dinge in einem anderen Licht zu sehen. „Erwachen“ anstatt „verstehen“ ist im Bereich der Vermittlung daher die treffendere Dimension. „Lernen wird […] als Wissenserwerb ohne feststellbare Herkunft aufgefasst“ (Meyer-Drawe 2008:506). Im Lernen stecke die Geschichte des Lernenden selbst drin, der konflikthafte Prozess seiner selbst, so die Autorin (Meyer-Drawe 2008).
Aus kulturwissenschaftlicher Sicht ist von der „Sehnsucht nach Evidenz“ (Harrasser et al. 2009) die Rede, einem Wechselspiel aus Begehren nach Erkenntnis und dem Lustaufschub aus Skepsis, „dass die Dinge nur in ihren Vermittlungen zu haben sind“ (ebd.). Dennoch ist Erfahrung kein ‚Gegenbegriff‘ zur Vernunft: Seit der Aufklärung lässt sich immer wieder ein Ringen um das Verhältnis zwischen den beiden Begriffen beobachten; Erfahrung ist Grundlage der Erkenntnis, gleichzeitig geht Erfahrung nicht ohne Vernunft. Insofern scheint uns der Begriff geeigneter für die Kunstvermittlung im Museum. Zudem ist Erfahrung ideengeschichtlich ein zentraler Begriff der ästhetischen Bildung (Dietrich et al. 2013). Und in seiner philosophisch-geisteswissenschaftlichen Tradition ist er der Kunst- und Museumspädagogik sicherlich näher als der eher psychologisch geprägte Begriff des Lernens.
Übrigens taucht in einigen Text-Beiträgen des genannten Sammelbandes ein Thema auf, das bislang in der Museumspädagogik nur eine kleine Rolle spielte: der Körper. In den bisher dominierenden Lernkonzepten hat der Körper wenig Beachtung gefunden; phänomenologische Konzepte dagegen machen den Körper (oder präziser: den Leib) zentral und ermöglichen der Kunst- und Museumspädagogik, diesen Aspekt konzeptuell zu berücksichtigen.
Perspektive: Kunstvermittlung im Museum als Erfahrungsraum
Die Betonung der Erfahrung in der Kunstvermittlung bzw. Museumspädagogik erscheint uns daher aus mehreren Gründen sinnvoll:
- Der Körper bzw. die Leiblichkeit der Handelnden wird berücksichtig; die leibliche Erfahrung ist im Museum ein wichtiger Faktor.
- Die Erfahrung mit Dingen in ihrer Fremdheit und ihrer besonderen Erscheinungsweise wird einbezogen. Das Exponate, beispielsweise Kunstwerke auf besondere Weise wirken und pädagogische Situationen prägen, wird damit theoretisch fassbar.
- Die Erscheinungsweisen, die „Verschattungen“ und der Horizont, vor dem die Museumsdinge erscheinen, werden mitgedacht.
- Der Erfahrungsbegriff enthält auch eine Kritik am Wahrheitsbegriff. Die Vorstellung eines Museums als „Speicher von Wahrheiten“ bzw. als kanonisierender Institution wird dekonstruiert. Stattdessen wird das Museum als Ort des Aushandelns von Deutungen betrachtet.
- Damit steht die konkrete menschliche Praxis im Mittelpunkt. Subjekt und Objekt, Besucher*in und Kunstwerk, sind als Erfahrung zusammen zu denken.
- Pädagogik im Museum wäre dann ein fortlaufendes Reorganisieren oder Rekonstruieren von Erfahrung. Kunstvermittlung als Erfahrungsraum zielt nicht auf die Bereicherung des Subjekts, sondern auf das Reorganisieren des Handlungszusammenhangs von Menschen, Kunstwerken, Kontexten.
Sechs Thesen für die Museumspädagogik/ Kunstvermittlung der Zukunft
Aus unseren Überlegungen lassen sich folgende Thesen formulieren, die als Vision fungieren können – in einer Realität, in der auch Macht, Institutionen, historisch-gesellschaftliche Verhältnisse, pragmatische Aspekte und vieles mehr prägend sind.
1. Das Museum ist nicht nur als Ort zu denken, sondern als Erfahrungsraum.
Das Museum ist kein neutraler Ort und es ist kein sachlicher Ort. Es ist vielleicht ein auratischer Ort, aber nicht als Tempel verstanden, sondern als ein Ort mit Wirkung.
Das Museum ist in seiner Funktion, in seiner Aktion bedeutend. Von Bedeutung ist nicht, was ein Museum ist, sondern was ein Museum macht.
2. Zentrale kunst- bzw. museumspädagogische Bezugspunkte sind nicht Kunstwerk und Lernen, sondern Erscheinen und Erfahrung.
Aus pädagogischer Sicht geht es darum, jene Prozesse zu verstehen, die mit den beteiligten Subjekten, mit ihren Körpern, ihren Biografien, ihren Beziehungen zu tun haben. Kunstvermittlung kann auf einer Phänomenologie des Museums aufbauen.
3. Die Handlungen der Beteiligten im Museum stehen im Mittelpunkt.
Nicht nur die Pädagog*innen und Kunstvermittler*innen handeln im Museum sondern auch die Besucher*innen. Diese sind ernst zu nehmen, einschließlich der Gründe und Absichten ihrer jeweiligen Handlungen.
4. Interaktion findet in Vermittlung und Aneignung statt.
In diesem Sinne ist die pädagogische Arbeit eine interaktive und interaktivierende. Die Interaktion kann in unterschiedlichsten Formen und Medien erfolgen. Für ein solches pädagogisches Vorgehen ist eine geeignete und reflektierte Haltung nötig.
5. Ziel und Weg der Vermittlung ist das Ermöglichen bildender Erfahrungen.
Wenn es gelingt, das Erlebnis eines Erscheinens zur Erfahrung zu machen, findet Bildung statt. Aufgabe der Kunstvermittlung ist, solche Prozesse zu ermöglichen, anzuregen, aufrechtzuerhalten und zu reflektieren.
6. Vermittlung ist eine gemeinsame Erfahrung und gelingt nur in Kooperation.
Pädagogik wird damit aus einer vertikalen, hierarchischen Differenz in eine horizontale, heterogene Differenz überführt: Interessant ist das gemeinsame Handeln. Alle Beteiligten sind in bildende Erfahrungen einbezogen und arbeiten gemeinsam daran. Dazu gehört auch, dass sich alle mit ihren Erfahrungen einbringen können. Dies gilt in einem Feld, in dem die Kunstvermittler*innen ganz unterschiedliche Berufsbiografien haben, auch für die Pädagog*innen. Interprofessionalität als Bereicherung.