Körper – Leiblichkeit
Definition
Leiblichkeit ist ein phänomenologischer Grundbegriff, der aufs Engste mit dem Begriff der Körperlichkeit des Menschen verknüpft ist. Mit dem Begriff Leiblichkeit wird die Bedingung der Möglichkeit und Wirklichkeit gegeben, Sozialität als dem Menschen inhärente Fähigkeit zu verstehen. Diese Fähigkeit ist ambiguitär; weder über Identität noch Alterität ist vollständig zu verfügen (Meyer-Drawe 1984).
Der zweifache Körper
Menschen haben einen Körper und sind Körper. Das Besondere liegt in der Bezugnahme beider Modi. Als Leib im phänomenologischen Sinn ist der Mensch Angelpunkt der Perspektiven, mit denen er die reale Welt und alle Gegenstände wahrnimmt. Ohne die leibliche Perspektive ließe sich nicht von Gegenständen sprechen. Die leibliche Perspektive ermöglicht und begrenzt zugleich unsere Erkenntnis. Als sehender oder berührender Leib ist er nicht in der Lage, selber gesehen oder berührt zu werden.
In kritischer Weiterentwicklung der Phänomenologie Edmund Husserls untersucht Maurice Merleau-Ponty die paradigmatische Ambiguität von Sinn und Sinnlichkeit des Leibes und spricht von ihm als Mittel des Zur-Welt-Seins (Merleau-Ponty 1966 und 1986). Damit knüpft er auch an die philosophischen Anthropologen Arnold Gehlen, Max Scheler und Helmuth Plessner an. Die von Plessner (1982) hervorgehobenen beiden Modi des Menschen, zum einen die exzentrische Position des Körper-Habens, die das zielgerichtete Handeln in der Welt verbürgt, wie die andere, der gegebenen Existenz als Körper im Körper, welche der exzentrischen Position vorgeordnet ist, überwinden aber nicht den traditionellen, von René Descartes konstruierten Dualismus der Trennung von Körper und Geist, denn die Einheit wird zwar vorausgesetzt, nicht aber sichergestellt, da es kein inneres Kriterium für die Gleichheit innerer Entitäten gibt (vgl. Wulf 2009a). Der eigene Handlungstrieb gilt als Aktivposten des Ichs. Die Gegenüberstellungen und Verkürzungen in der Erklärung des zweifachen Körpers werden durch zwei Kernpunkte Merleau-Pontys vermieden. Erstens handelt es sich um eine Beschreibung des Leibes, die am Rande der wissenschaftlichen Paradigmen von Philosophie und Psychologie diesen vorangeht, ihren empiristischen und intellektualistischen Epistemen nicht verfällt, sondern ursprünglich ist. Zweitens und über die Beschreibung des Leibes hinaus liefert Merleau-Ponty eine Philosophie, die die traditionellen Kategorien von Subjekt und Objekt, Form und Inhalt, Aktivität und Passivität in Frage stellt. Der Modus der Leibgebundenheit besagt in seiner lebenslangen, permanenten Präsenz, „daß ich niemals ihn eigentlich vor mir habe, daß er sich nicht vor meinem Blick entfalten kann, vielmehr immer am Rand meiner Wahrnehmung bleibt und dergestalt mit mir ist“ (Merleau-Ponty 1966:115). Diese Situation bestimmt das Weltverhältnis dahingehend, dass Welt und Körper unmittelbar miteinander verwoben sind. Die chiastische Verschränkung von Welt und Subjekt ist im Modus der Leibgebundenheit begründet. Sie ermöglicht es, die Spaltung von Denken und Ich und Körper zu überwinden. Der Körper ist entsprechend der Erfahrung der Welt in Außen-, Innen- und Sozialwelt strukturiert. Die im Französischen gegebene sprachliche Unterscheidung zwischen chair (Fleisch im Sinne von Leibhaftigkeit) und corps (Körperabbild) macht die Differenz deutlich, die zwischen Leiblichkeit als zweifachem Körper und Körper als Körperabbild im landläufigen Sinn besteht (Merleau-Ponty 1986)). Die Einschreibungsprozesse in das rätselhaft bleibende Gewebe sind mimetisch und begründen auf der Basis des Körpers ein unmittelbares und zum großen Teil unbewusstes Weltverhältnis (Bourdieu 1987). Der Körper wird in den Prozessen der Einverleibung von Welt dahingehend erweitert, dass er zum Erzeuger weiterer Prozesse wird (Gebauer/Wulf 1992; Wulf 2009a; Schuhmacher-Chilla 1995).
Geschichte des Körpers/Körperdiskurse
Leben war in früheren Zeiten immer fraglos an Körperlichkeit gebunden wie Körperlichkeit an Leben. Der komplexe Zusammenhang von Körper-Leib-Seele wurde mit dem neuzeitlichen Paradigma des „Cogito Ergo Sum“ von René Descartes aufgelöst. Der von der Seele getrennte Körper wurde für den theoretischen Diskurs zum Schweigen gebracht, aber institutionell und technisch verwertbar gemacht. In Folge der Machtkritik Michel Foucaults und einer im Zusammenhang mit der Kritik am Herrschaftsverhältnisse verdeckenden Vernunftprinzip, erstarkten Anthropologiekritik wird der Körper wieder zur Sprache gebracht (Kamper/Rittner 1976). Foucault (1977) analysiert in seinen theoretischen Schriften den gesellschaftlich geformten, zugerichteten und zwanghaften Körper. Er zeigt die von Institutionen, wie z.B. Gefängnis, Militär und Schule, durchgeführten Disziplinierungsprozesse, in deren historischer Entwicklung der Körper als Produkt von Machtstrategien erkennbar wird. Pierre Bourdieu stellt in soziologischen Analysen die Inkorporierungsstrategien dar, mit denen Macht qua Körperlichkeit subtil in die Subjekte selbst implantiert wird. Der zentrale Begriff des „Habitus“ wirkt neben dem „sens pratique“ (Handlungssinn) als Leitmedium dieses unmerklichen Transfers in die Körper, die im sozialen Raum über Fragen des Geschmacks und Stils mit ihren Sinnen entscheiden. Aus der anfänglichen Zivilisations- und Wissenschaftskritik am eindimensionalen Vernunftprinzip, als Herrschaftsprinzip über den Körper (Böhme/Böhme 1985), entwickelt sich ein erneutes Interesse am Körper als reflektierte Wende unabhängig von einer bestimmten Disziplin. Das Projekt einer neuen Körperlichkeit, die nicht reduzierter Sinnlichkeit oder vom Rahmen gesellschaftlicher Bedingungen losgelöster Subjektivität verfällt, hat sich seit den frühen 1980er Jahren immer stärker herauskristallisiert (Kamper/Wulf 1982). Aus Sicht der historisch-kulturellen Anthropologie, die nach dem Ende einer verbindlich anthropologischen Norm die Geschichtlichkeit ihres Gegenstandes und die ihrer Perspektiven und Methoden aufeinander bezieht, nimmt der Körper als endlicher, d.h. geburtlicher und sterblicher, eine zentrale Stellung in der Erforschung des Menschlichen ein (Arendt 1967). Die in den gesellschaftlich konkreten Körpern liegenden Unterschiede beziehen sich explizit auf Geschlecht (vgl. Butler 1997), Stil, Kleidung, Sinne, Auge, Geste, Bewegung, Hand, Sprache, die zugleich Artikulation und Hören des Artikulierten ist, Imagination und Bild (Belting 2001). Die durch Neue Medien und zunehmende gesellschaftliche Verbildlichung bedingte Veränderung der Wahrnehmung, zugleich der Behandlung und Stellung des Körpers, bleibt für alle Bildungsprozesse relevant (Benthien/Wulf 2001).
Schnittstelle Körper-Bild-Medium
Der Mensch ist Hans Belting zufolge der Ort der Bilder. Bilder, vor allem mentale, als Imagination und Fantasie lassen sich nicht vom Körper trennen (Belting 2001; Belting/Kamper/Schulz 2002). Ähnlich wie in der Sprache zeigt sich bei den Bildern die Doppelstrukur des Körpers, der Bilder sieht und Bilder erzeugt. Repräsentationsfragen müssen beim menschlichen Körper ansetzen, der immer auch Erscheinungskörper ist. Eines seiner Hauptmerkmale liegt in seiner performativen Repräsentation und gilt als die „erste Bedingung körperlicher Präsenz in der Welt“ (Belting 2002:X). Indem der Körper als lebendes Medium verstanden wird, können die Geschichte der technischen Bildmedien und die Kulturgeschichte des Körpers aufeinander bezogen werden. Die Frage nach dem Bild tangiert sowohl die Frage nach dem Körper, nach unterschiedlichen Medien wie dem Verständnis von Repräsentation. Durch das Medium des Bildes erhält der Körper eine neue Präsenz und kann gegenwärtig bleiben. Die Anwesenheit erfolgt als Referenz auf eine Abwesenheit und kann durch unterschiedliche Rituale und Techniken bis hin zu computeranimierten Bildprozessen zum Leben erweckt werden (vgl. Schulz 2002:16f.; Wulf 2009:299ff.). Eine besondere Stellung in der bildlichen Repräsentation kommt der Fotografie (siehe Jan Schmolling „Fotografie in der Kulturellen Bildung“) zu, die seit Roland Barthes als indexikalisches Aufzeigen der gewesenen Anwesenheit eines Menschen fungiert, dessen Körper nun Bild geworden ist.
Transformationen des Körpers
Transformationen des Körpers finden in vielfältigsten Formen und Medien seit den 60er Jahren des 20. Jh.s statt (Virilio 1996). Sie beinhalten einen veränderten Umgang mit der eigenen Wahrnehmung des Körpers und seiner Herauslösung aus dem abbildhaften Erscheinungsbild. Der Körper wird z.B. in der Kunst zum Material, das zerlegt in Haut, Haare, Fleisch und Blut, in digitalen Mutationen bis hin zu Verflüssigung und Verschwinden, seine menschliche Form an die immer schnelleren Zirkulationen des Netzes abgibt (Schuhmacher-Chilla 2000; Schneede 2002). Ausgehend von Selbstexperimenten und der Untersuchung des Verhältnisses Körper-Raum in den 1960er Jahren, vergewissern sich die KünstlerInnen der 1970er Jahre ihrer Körperlichkeit, während sie in den 1980er und 1990er Jahren die Angreifbarkeit des Körpers in Prozessen der Fragmentarisierung und Zerstückelung darstellen. Gegen Ende des 20. Jh.s wird nach einer noch möglichen Rolle des Körpers in Performances z.B. von Orlan (L’Art Charnel) und in unmittelbaren, rituellen von Marina Abramović gefragt, bevor filmische Entwürfe den fiktiven Morphingkörper einer Übergangsphase entwerfen. Ebenso relevant bleibt in Zukunft die Erforschung des sehenden/wahrnehmenden Körpers in der Person der BetrachterInnen künstlerischer/medialer Werke und Prozesse. Die leiblich/körperliche Wahrnehmung ist eine Grundbedingung ästhetisch-kultureller Bildung, die besonders auch beim Betrachten von Kunstwerken zur unhintergehbaren Erfahrung gehört (vgl. Hustvedt 2010).