Das 1. InterKulturBarometer – Zentrale Ergebnisse zum Thema Kunst, Kultur und Migration

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von Susanne Keuchel

Erscheinungsjahr: 2015

Das 1. InterKulturBarometer (Keuchel 2012), das das Zentrum für Kulturforschung 2011 für den Bundesbeauftragten für Kultur und Medien, die Länder Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen durchgeführt hat, basiert auf einem multimethodischen Ansatz: In einer quantitativen Erhebung wurden im Rahmen einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage innerhalb einer geschichteten Stichprobe 2.800 Personen, darunter 1.637 Personen mit Migrationshintergrund, persönlich befragt. In einer qualitativen Erhebung wurden 60 Interviews zur Vertiefung und Lokalisierung der Themeninhalte durchgeführt.

Ziel des 1. InterKulturBarometers war es, erstmals verlässliche Zahlen über die kulturellen und künstlerischen Prozesse einer Einwanderungsgesellschaft sowie die kulturelle Partizipation und Identität der Menschen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte unter besonderer Berücksichtigung des Faktors Migration zu liefern. Die Sinus-Migranten-Milieu-Studie (vgl. Sinus Sociovision 2007) hat aufgezeigt, dass „Migrationshintergrund" nur einer von vielen weiteren sozialen Faktoren ist, die einen Menschen entscheidend prägen, wobei hier vor allem die Bildung und die Werteeinstellung der Familie hervorgehoben wurden. Das InterKulturBarometer knüpfte an diese wichtigen Erkenntnisse an, stellte jedoch die Auswirkungen von Migration auf die kulturellen Einstellungen und Erfahrungen in den Mittelpunkt der Betrachtung. Welche Auswirkungen hat speziell der Faktor Migration auf die Wahrnehmung und Gestaltung kultureller Prozesse? In diesem Kontext sollte nicht nur die migrantische, sondern auch die nicht-migrantische Bevölkerung in den Fokus genommen werden. Bei der Beantwortung der Fragen galt es, mit Blick auf die Ergebnisse der Sinus-Migranten-Milieu-Studie immer auch kritisch zu prüfen, ob bei den empirischen Befunden der Faktor Migration oder andere Faktoren, wie z.B. Bildung oder Alter, eine entscheidendere Rolle spielen.

Zum kulturellen Kapital, das wir durch Migration gewinnen

Migration hat in den letzten Jahrzehnten mit dazu beigetragen, dass sich der Kulturbegriff in Deutschland geweitet hat. Wurde in der Vergangenheit in Deutschland traditionell ein Kulturbegriff gepflegt, der sich nahezu ausschließlich über die „Künste" definiert (vgl. Klein 2009), vertreten vor allem Bevölkerungsgruppen mit Migrationshintergrund einen breiteren Kulturbegriff, der zum Beispiel das menschliche Miteinander und das Alltagsleben mit einbezieht. Auch jüngere Bevölkerungsgruppen ohne Migrationshintergrund erweitern zunehmend ihre Begriffsdefinition von Kultur auf ein breiteres Verständnis, das vor allem auch kulturelle Eigenarten unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen, kulturelle Diversität, umfasst.

Neben einer Erweiterung des Kulturbegriffs kann als weiteres kulturelles Kapital durch Migration auch das erweiterte kulturelle Interessenspektrum der in Deutschland lebenden Bevölkerung hervorgehoben werden. So interessieren sich Bevölkerungsgruppen mit nichteuropäischem Migrationshintergrund explizit auch für Kunstwerke bzw. Künstler aus den Kulturräumen ihrer Herkunftsländer: 65% der türkischen Community und 54% der aus Nahost stammenden Bevölkerungsgruppen, die in Deutschland leben, zeigen z.B. ein reges Interesse für Kunstwerke bzw. Künstler aus dem arabischen Kulturraum. Daneben sind sie umgekehrt aber auch an kulturellen Werken aus dem europäischen Kulturraum (57% bzw. 45%) interessiert.

Noch nicht gelungen ist es nach den Ergebnissen des 1. InterKulturBarometers, einen kulturellen „Kapitaltransfer" des erweiterten kulturellen Interessensspektrums der migrantischen Bevölkerungsgruppen aus nichteuropäischen Herkunftsländern auf weitere Teile der deutschstämmigen Bevölkerung zu übertragen, die noch sehr selten ein explizites Interesse an Künstlern und Kunstwerken außerhalb des europäischen und angloamerikanischen Raums an den Tag legen: So interessiert sich nur 15% der deutschstämmigen Bevölkerung für Kunst aus dem asiatischen, 13% für Kunst aus dem afrikanischen und 3% für Kunst aus dem arabisch geprägten Kulturraum.

Im Sinne der Förderung von kultureller Vielfalt und eines stärkeren kulturellen „Kapitaltransfers" kann es sinnvoll sein, in Vermittlungsangeboten nicht nur migrantische Bevölkerungsgruppen gezielt für hiesige Kulturangebote zu interessieren, sondern auch die deutschstämmigen Bevölkerungsgruppen mit Kunst aus anderen Kulturräumen typischer Migrantenherkunftsländer vertraut zu machen. Nach einer viermonatigen Angebotsanalyse des öffentlich zugänglichen Kulturangebots der Stadt Köln (vgl Keuchel/Larue 2011), die knapp 5.000 Kulturveranstaltungen im Untersuchungszeitraum ermittelte, stammt das Gros der Kunstwerke (68%) aus Deutschland bzw. dem angloamerikanischen Raum und beispielsweise nur 1% der Kunstwerke aus der Türkei, obwohl 34% der Kölner Bürger einen Migrationshintergrund haben und das Herkunftsland Türkei unter den ausländischen Kölner Bürgern am häufigsten vertreten ist (Vgl. dazu: Amt für Stadtentwicklung und Statistik der Stadt Köln 2012).

Die Förderung von räumlicher geographischer, kultureller Interessensvielfalt hätte zudem noch einen weiteren Vorteil: Nach den Ergebnissen des InterKulturBarometers könnte diese auch das Interesse der Bevölkerung an zeitgenössischen avantgardistischen Kunstformen fördern. So zeigen sich Bevölkerungsgruppen, die sich für Kunstwerke aus mehreren Kulturräumen öffnen, auch deutlich interessierter an zeitgenössischen avantgardistischen Kunstformen – stärker noch als beispielsweise Bevölkerungsgruppen mit hoher Schulbildung, die nach empirischen Studien (vgl. u.a. Keuchel 2003; Zahner 2010:55) ebenfalls eher einen Zugang zu diesen Kunstformen finden.

Zum Einflussfaktor Migration auf kulturelle Praktiken in der Generationenbetrachtung

Betrachtet man die Entwicklung kultureller Praktiken in Deutschland speziell bei migrantischen Bevölkerungsgruppen in der Generationenperspektive, zeigen sich Veränderungen und Entwicklungsprozesse. Bei dieser Betrachtung muss jedoch berücksichtigt werden, dass sich die Migrantengenerationen in Deutschland nicht nur in ihrer Verweildauer und ihrem Geburtsstatus voneinander unterscheiden, sondern auch in ihrer Schulbildung – und diese steht, das zeigen viele Studien, sehr deutlich in Beziehung zur kulturellen Teilhabe (Keuchel/Wiesand 2006). So ist die Schulbildung der ersten Generation auf einem niedrigeren Bildungsniveau als die der zweiten und dritten Generation, die weitgehend dem Bildungsniveau der deutschstämmigen Bevölkerung entspricht. Das niedrigere Schulbildungsniveau speziell der ersten Generation kann vor allem auf unterschiedliche Phasen der Migrationsgeschichte zurückgeführt werden, insbesondere auf die Zeitphase Mitte der 50er Jahre im Kontext der Arbeitsmigration auf Grundlage von Anwerbeabkommen mit Italien (1955), Spanien und Griechenland (beide 1960), der Türkei (1961) und Jugoslawien (1968), die gezielt vorangetrieben wurden, um den Mangel an Arbeitskräften in der Industrie auszugleichen. Diese Beschäftigungen verlangten zumeist keine hohe Schul- oder Berufsqualifikationen. In den Folgejahren wanderten andere Migrantengruppen verstärkt auch aus anderen Motiven in die Bundesrepublik ein (vgl. Butterwegge 2005). Ab den 90er Jahren kam z.B. eine große Anzahl an Asylsuchenden und Menschen mit Aussiedlervergangenheit in die Bundesrepublik. Insbesondere die politisch-verfolgten Zuwanderer, z.B. aus dem Iran, haben im Gegensatz zu den Arbeitsmigranten vielfach einen hohen Bildungshintergrund.

Das Interesse am Kulturgeschehen der eigenen Wohnregion in Deutschland im Sinne eines weiten Kulturbegriffs, der auch populäre und soziokulturelle Kunstdarbietung umfasst, korreliert mit der Generationenzugehörigkeit migrantischer Bevölkerungsgruppen: Im Vergleich wenig Interesse zeigt anteilig die erste Migrantengeneration. Dies könnte mit ihrem Bildungshintergrund und möglicherweise auch mit einer geringeren Vertrautheit gegenüber der kulturellen Infrastruktur in Deutschland zusammenhängen. Auffällig ist das überproportionale Kulturinteresse speziell der dritten Generation, das anteilig stärker ausgeprägt ist als das der deutschstämmigen und speziell auch der jungen deutschstämmigen Bevölkerungsgruppe im Alterssegment der 14- bis 24-Jährigen, berücksichtigt man hier, dass die dritte Migrantengeneration eine junge Generation ist. Das stärker ausgeprägte Kulturinteresse der dritten Migrantengeneration steht möglicherweise in Beziehung zu dem Phänomen der „Künste", Perspektivwechsel, andere neue Blickwinkel aufzuzeigen – eine Fähigkeit, die auch hilfreich ist, wenn man sich zwischen zwei und mehr unterschiedlichen Kulturen bewegen muss. In diesem Sinne werden „interkulturelle Kompetenzen" im Zeitalter der Globalisierung vielfach auch als Schlüsselkompetenzen hervorgehoben (vgl. Sprung 2003:2). Dies gilt vor allem auch mit Blick auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt kulturell heterogener Gesellschaften (vgl. Kröger u.a. 2007:41), wie der der Bundesrepublik Deutschland. Im Jahr 2011 hatten dem Statistischen Bundesamt zufolge 19,5% der deutschen Bevölkerung einen Migrationshintergund (vgl. Statisches Bundesamt 2012:7).

Möglicherweise sind diese stärker ausgeprägten interkulturellen Perspektiven der dritten Generation, die sich ansonsten im Bildungsniveau oder anderen Merkmalsausprägungen kaum von der deutschstämmigen Bevölkerung unterscheidet, der Grund dafür, dass sich die dritte Migrantengeneration (30%) punktuell auch aufgeschlossener gegenüber Klassischen Kunstformen zeigt als vergleichsweise die deutschstämmigen 14- bis 24-Jährigen (22%).

Die zweite Migrantengeneration ist überproportional an populären Kunstformen interessiert – möglicherweise eine Sehnsucht nach dem „Mainstream". So klagen Menschen mit Migrationshintergrund vermehrt darüber, dass sie von Dritten auf ihr „Anderssein" aufmerksam gemacht werden und dies als Ausgrenzungsprozess empfinden, wie dies auch Mark Terkessidis (Terkessidis 2002/03:173-186) und andere Studien hervorheben (vgl. TNS Infratest Sozialforschung Berlin 2006:444). Dies könnte möglicherweise ein Grund sein, warum sich die zweite Generation allgemein akzeptierter und verbreiteter kulturell-künstlerischer Codes bedient, um ihre Zugehörigkeit zur Gesamtbevölkerung zu unterstreichen.

Die erste Migrantengeneration zeigt dagegen eine stärkere Nähe zu traditionellen, volkstümlichen Kunstformen; dies kann sicherlich auch auf das Bildungsniveau und die spezielle Migrationsgeschichte der Arbeitsmigration in den 50er Jahren zurückgeführt werden.

Angesichts des überproportionalen Interesses der dritten Migrantengeneration am Kulturgeschehen, und hier auch das stärkere Interesse an klassischen Kunstformen, verwundert die Rückmeldung, dass diese anteilig seltener unter den wiederkehrenden Besuchern von Klassischen Kultureinrichtungen (42%) und Angeboten der Freien Szene (24%) zu finden sind als vergleichsweise die deutschstämmige, hier auch die jungen deutschstämmigen Bevölkerungsgruppen (46% bzw. 29%). Allgemein kann beobachtet werden, dass migrantische Bevölkerungsgruppen (31% bzw. 15%) seltener von diesen Einrichtungen erreicht werden als deutschstämmige Bevölkerungsgruppen (46% bzw. 25%), dies gilt vor allem auch für Bevölkerungsgruppen mit Migrationshintergrund aus weiter entfernten Kulturräumen, wie beispielsweise mit türkischem (18% bzw. 13%) oder Migrationshintergrund aus dem Nahen Osten (14% bzw. 7%).

Dagegen wird die dritte Migrantengeneration überproportional von kommerziellen Kulturanbietern erreicht. Dies wirft die Frage nach Vertriebswegen und Marketing der kommerziellen im Vergleich zu den öffentlichen Kultureinrichtungen auf im Sinne der Frage nach dem Erreichen von breiteren Bevölkerungsgruppen.

Auffällig ist zugleich die Beobachtung, dass bei Bevölkerungsgruppen mit Migrationshintergrund aus weiter entfernten Kulturräumen der wiederkehrende Besuch von klassischen Kultureinrichtungen im Gegensatz zur deutschstämmigen oder Bevölkerungsgruppen mit europäischem Migrationshintergrund nicht mit der Schulbildung korreliert. Dies unterstreicht oben genannte These, dass Bevölkerungsgruppen aus Ländern mit anderer kultureller Infrastruktur mehr Schwierigkeiten haben, sich mit der bestehenden kulturellen Infrastruktur in Deutschland vertraut zu machen – und eine Ansprache eher kommerziellen Kulturanbietern mit einer sehr direkten Öffentlichkeitsarbeit gelingt. Auch das daraus resultierende fehlende Elternengagement von migrantischen Bevölkerungsgruppen aus Herkunftsländern mit anderer kultureller Infrastruktur könnte mit dafür verantwortlich sein, dass in dieser Gruppe die kulturelle Teilhabe nicht mit der Schulbildung korreliert. So hat erst jüngst das 2. Jugend-KulturBarometer (Keuchel/Larue 2012) anschaulich belegt, wie wichtig eine frühe Kulturvermittlung von Seiten des Elternhauses ist. Sind einzelne migrantische Bevölkerungsgruppen mit der kulturellen Infrastruktur nicht vertraut, dann können sie ihre Kinder – auch wenn Sie einen hohen Bildungshintergrund haben – mit diesen Angeboten nicht vertraut machen.

Zum Stellenwert der kulturellen Erfahrungen im Herkunftsland

Fragt man die Bevölkerung nach relevanten Einflussfaktoren, die die eigene Identität besonders prägten bzw. allgemein sehr prägend sind – und begrenzt diese auf zwei bzw. drei Nennungen – wird an erster Stelle in der Bevölkerung die Familie (50% bzw. 67%) im Sinne der Werteprägung, wie sie auch die Sinus-Milieu-Studien (vgl. Sinus Sociovision 2007) hervorheben, genannt. An zweiter Stelle steht jedoch, noch vor der Bildung (18% bzw. 40%), überraschend die Völkerzugehörigkeit bzw. das Geburtsland (22% bzw. 49%) – und dieser Faktor wird besonders hervorgehoben von Bevölkerungsgruppen mit Migrationshintergrund aus weiter entfernten Kulturräumen, so beispielsweise Bevölkerungsgruppen, die aus der Türkei (70%) oder arabischen Ländern (63%) stammen.

Erklärt werden könnte letztgenannte Beobachtung mit Theorien der „cultural studies"(vgl. Hall/Du Gay 1996), die davon ausgehen, dass in Zeiten der Postmoderne große Sinnsysteme innerhalb einer Gesellschaft im Zuge der als Postmoderne bezeichneten Pluralisierung und Fragmentierung von Kultur und Gesellschaft ihren Alleinvertretungsanspruch verloren hätten. In diesem Sinne vertritt der Soziologe und Mitbegründer der „cultural studies" Stuart Hall die Ansicht, dass in der Postmoderne statt großer Sinnsysteme vielmehr „die Abweichung von der kulturellen Norm [...] zur Grundlage von Identität erklärt" (Keup 2008:172) wird.

Dass ungewöhnliche Personenmerkmale als besondere Quelle der eigenen Identität erlebt werden, kann nach den vorliegenden Daten des InterKulturBarometers nicht nur für Herkunftsländer aus weiter entfernte Kulturräumen beobachtet werden, sondern auch für andere Personenmerkmale, wie beispielsweise eine hohe Bildung: 64% der Hochschulabsolventen heben die Bildung als besonders prägenden Identitätsfaktor hervor, jedoch vergleichsweise nur 31% der Hauptschulabsolventen und 20% der Personen ohne Schulabschluss.

Die Teilhabe am kulturellen Leben wird als besonders prägender Identitätsfaktor (4% bzw. 11%) eher selten hervorgehoben. Dennoch spielen kulturelle Themen, insbesondere die Kulturgeschichte, eine wichtige Rolle geht es um die Wertschätzung von Lebensbereichen im Aufnahme- und im Herkunftsland.

Betrachtet man die Rückmeldungen migrantischer Bevölkerungsgruppen bezogen auf die Wertschätzung einzelner Lebensbereiche im Aufnahme- und im Herkunftsland, wird deutlich, dass anteilig sogenannte „emotionale" Faktoren, wie Bedeutung der Familie, Essen, Kulturgeschichte bzw. Sehenswürdigkeiten, gesellschaftliches Miteinander oder beispielsweise auch die Sprache vor allem im Herkunftsland geschätzt werden, während im Aufnahmeland Deutschland insbesondere infrastrukturelle Faktoren hervorgehoben werden, wie Rechtsprechung, Wirtschaft oder auch die gesundheitliche Versorgung. In der dritten Generation nimmt die Wertschätzung der einzelnen Lebensbereiche in Deutschland deutlich zu und zugleich die Wertschätzung der Lebensbereiche bezogen auf das Herkunftsland, auch bei den sogenannten emotionalen Faktoren, ab, mit einer spannenden Ausnahme: So schätzt die dritte Generation speziell die Kulturgeschichte und die Sehenswürdigkeiten im Herkunftsland, der im Vergleich zu den anderen hier genannten „emotionalen" Lebensbereichen abstrakteste Faktor, noch stärker als vergleichsweise die erste Migrantengeneration. Dies wirft konkrete Fragen nach dem Stellenwert kultureller Identitäten auf. Möglicherweise ist die Sehnsucht der dritten Migrantengeneration, die definitiv in Deutschland angekommen ist, sich im Bildungsdurchschnitt nicht von der deutschstämmigen Bevölkerung unterscheidet und zugleich im Vergleich zu den anderen Generationen vielfach auch räumlich bezogen auf Besuche weniger Berührung mit dem Herkunftsland hat, nach der „Identität" der eigenen familiären Wurzeln besonders groß, während die zweite Migrantengeneration, die sich selbst nicht für den Schritt auszuwandern entschieden hat, möglicherweise eher noch vom Wunsch geprägt ist, dazuzugehören und eben nicht (ausschließlich) über ihre Herkunft als Person definiert zu werden.

Zu Maßnahmen, die kulturelle Teilhabe migrantischer Bevölkerungsgruppen unterstützen

Die Bevölkerung wurde auch konkret gefragt, welche Maßnahmen ergriffen werden sollten, um speziell die migrantische Zielgruppenansprache in Kultureinrichtungen verbessern zu können. Dabei wurde von allen Befragten an erster und zweiter Stelle Kulturelle Bildung sowie eine stärkere Einbindung von Künstlern bzw. Kunstwerken aus den Herkunftsländern genannt, wie dies auch folgende Übersicht verdeutlicht.

Unterschiedliche Einschätzungen zeigen sich erneut bei den Migrantengenerationen. So ist die erste Migrantengeneration naturgemäß deutlich stärker auch an Vermittlungsangeboten und Informationsmedien in der Sprache der eigenen Herkunftsländer interessiert. Die dritte Migrantengeneration setzt sich dagegen stark – und hier anteilig deutlich stärker als vergleichsweise die erste und zweite Migrantengeneration – für mehr Kulturangebote aus typischen Migrantenherkunftsländern ein. Auch vertritt diese anteilig wesentlich öfter die Forderung, mehr Migranten in Planungsprozesse einzubinden und mit Migrantenselbstorganisationen zu kooperieren.

Bei den qualitativen Interviews fiel auf, dass sich auch hier alle Befragten mit und ohne Migrationshintergrund für mehr Künstler und Kulturangebote aus Migrantenherkunftsländern in Deutschland einsetzten, hier allerdings immer auch „Befürchtungen" sowohl bei der deutschstämmigen als auch der migrantischen Bevölkerung thematisiert wurden, dass die „eigene" Kultur nicht ausreichend berücksichtigt und von anderen Bevölkerungsgruppen wahrgenommen bzw. respektiert werden könnte. Ein einfaches Aufaddieren oder eine Quotierung von Kunstwerken und Künstlern aus Migrantenherkunftsländern ohne zusätzliche Vermittlungsansätze birgt nach diesen Rückmeldungen Konfliktpotential und die Gefahr, Haltungen zu zementieren, nach denen es eine klar abgrenzbare „eigene" und eine „andere" Kultur gibt.

Positiv wurden in den qualitativen Interviews dagegen Kulturprogramme hervorgehoben, die sich als gemeinsamen Dialog bzw. Kunst als Entwicklungsprozess verstehen. So wünscht sich die Bevölkerung allgemein bei Kulturveranstaltungen mehr Raum für menschliche Begegnungen und partizipative Ansätze. Hohes Interesse, vor allem bei der jungen Bevölkerung, wird zudem signalisiert für Kulturangebote, die Kunstwerke nicht nur aus einem oder zwei Herkunftsländern einbinden, sondern aus vielen verschiedenen Kulturräumen, und für sogenannte „hybride" Kunstformen, die sich explizit auf künstlerische Ausdrucksformen des Aufnahmelands wie typischer Migrantenherkunftsländer beziehen.

Zum Themenfeld Kunst, Kultur und Migration

Das InterKulturBarometer ist keine Wirkungsstudie. Dennoch können systematische Zusammenhänge zwischen Einstellungen und Handlungen im Kontext von Fragen der Inklusion hier erste Hinweise für weiterführende Forschungsfragen geben. Im kulturellen Bildungsdiskurs wird immer wieder betont, dass die „Künste" interkulturelle Kompetenzen fördern können (vgl. Xuan 2009). Empirische Belege finden sich hierfür jedoch kaum. In einer Vorstudie des InterKulturBarometers wurde deutlich, dass im Vergleich zu anderen Befragten, Künstler mehr Identitätsbezüge zu verschiedenen Ländern entwickelten (vgl. Keuchel/Larue 2010:20-27). Möglicherweise unterstützen hier Perspektivwechsel, die in den „Künsten" verankert sind, Positionierungen in vielfältigen, auch multinationalen „Identitätskonstrukten".

Im InterKulturBarometer konnte in diesem Sinne beobachtet werden, dass migrantische Bevölkerungsgruppen ihre eigene Migrationserfahrung anteilig stärker als vorteilhaft einstuften, wenn sie sowohl die Kulturgeschichte des Aufnahme- wie des Herkunftslandes wertschätzen (78%). Dass Fragen der kulturellen Identität bezogen auf das Herkunftsland für migrantische Bevölkerungsgruppen eine wichtige Rolle spielen, wurde vorausgehend bei der Betrachtung maßgeblicher Identitätsfaktoren deutlich. Eine Schlüsselfunktion nimmt dabei die Auseinandersetzung mit der Kulturgeschichte des Herkunftslandes ein, die vor allem für die dritte Migrantengeneration eine wichtige Rolle spielt, die oftmals nur noch wenig Berührungspunkte mit dem Herkunftsland hat und sich – möglicherweise nicht zuletzt aus diesem Grund – ein breiteres kulturelles Angebot aus typischen Migrantenherkunftsländern in den öffentlich geförderten Kultureinrichtungen wünscht, wie dies vorausgehend deutlich wurde. Der Kulturgeschichte wurde, bezogen auf die Bindung ans Herkunftsland, in der Studie von migrantischen Bevölkerungsgruppen ein ähnlich hoher Stellenwert eingeräumt, wie andere „emotionale "Lebensfaktoren", z.B. das menschliche Miteinander, die Familie oder Essen und Trinken. Daher könnte bei Inklusionsprozessen die Auseinandersetzung mit der Kulturgeschichte des Aufnahmelandes, aber auch typischer Migrantenherkunftsländer, eine Schlüsselrolle einnehmen, da diese nach den vorliegenden Daten des InterKulturBarometers offenbar eine positive Ausgangsbasis für mehr Verständnis, Zugang und Offenheit gegenüber alternativen Handlungsweisen und Wahlmöglichkeiten bietet – und auch für das Entwickeln und gemeinsame Gestalten neuer kultureller und künstlerischer Prozesse.

„Ich sehe kein Defizit, sondern als Künstler sogar eine Bereicherung: auch für das Land, in dem ich jetzt lebe. Das Land ist farbiger geworden." (Mehmet Güler - türkischer, in Deutschland lebender, Bildender Künstler)

Verwendete Literatur

  • Amt für Stadtentwicklung und Statistik der Stadt Köln (Hrsg.) (2012): Bevölkerung und Haushalte. In: Kölner Statistische Nachrichten - 6/2012 Statistisches Jahrbuch 2012, 90. Jahrgang. Stadt Köln. Amt für Stadtentwicklung und Statistik.
  • Butterwegge, Carolin (2005): Von der "Gastarbeiter"-Anwerbung zum Zuwanderungsgesetz. Migrationsgeschehen und Zuwanderungspolitik in der Bundesrepublik. In: bpb. Dossier Migration 2005. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.
  • Hall, Stuart/Du Gay, Paul (Hrsg.) (1996): Questions of Cultural Identity. London: SAGE Publications Ltd.
  • Keuchel, Susanne (2003): Rheinschiene – Kulturschiene. Bonn: ARCult.
  • Keuchel, Susanne/Wiesand, Andreas Johannes (Hrsg.) (2006): Das 1. Jugend-KulturBarometer. „Zwi­schen Eminem und Picasso ....“. Bonn: ARCult Media.
  • Keuchel, Susanne/Larue, Dominic (2010): Kulturelle Identitäten in Deutschland – eine explorative Studie und aktuelle Bestandsaufnahme. In: Museumskunde. 75/I (20-27). Berlin: G + H.
  • Keuchel, Susanne (2010): Das 1. InterKulturBarometer. Migration als Einflussfaktor auf Kunst und Kultur. Köln: ARCult.
  • Keuchel, Susanne (2011): Nachwuchsarbeit muss dennoch intensiviert werden. Ergebnisse aus dem 9. KulturBarometer. Online verfügbar unter: http://www.miz.org/artikel/2011_KulturBarometer.pdf (letzter Zugriff: 29.07.2013).
  • Keuchel, Susanne/Larue, Dominic (2011): Kulturwelten in Köln. Eine empirische Analyse des Kulturangebots mit Fokus auf Internationalität und Interkulturalität. Hrsg. vom Zentrum für Kulturforschung. Köln: ArCult Media.
  • Keuchel, Susanne/Larue, Dominic (2012): Das 2. Jugend-KulturBarometer. „Zwischen Xavier Naidoo und Stefan Raab...“. Köln: ARCult Media.
  • Keupp, Heiner et al. (2008): Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Reinbek: Rowohlt.
  • Klein, Armin (2009): Kulturpolitik. Eine Einführung. Wiesbaden: VS.
  • Kröger, Franz/Tutucu, Emine/Schacke, Anne (2007): Kulturorte als Lernorte interkultureller Kompetenz. Absichten und Erkenntnisse. In: Institut für Kulturpolitik (Hrsg.): Beheimatung durch Kultur. Kulturorte als Lernorte interkultureller Kompetenz (41-88). Essen: Klartext.
  • Sinus Sociovision (Hrsg.) (2007): Die Milieus der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Heidelberg: Sinus Sociovision.
  • Sprung, Annette (2003): Bildungsmarkt Interkulturalität – eine Erfolgsgeschichte? Bonn: Deutsches Institut für Erwachsenenbildung.
  • Statistisches Bundesamt (Hrsg.) (2012): Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit Migrationshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus 2011. Statistisches Bundesamt Wiesbaden.
  • Terkessidis, Mark (2002): Kulturarbeit in der Einwanderungsgesellschaft. In: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hrsg.): Jahrbuch für Kulturpolitik 2002/03. Band 3 (173-186). Thema: Interkultur. Bonn/Essen: Klartext Verlag.
  • TNS Infratest Sozialforschung Berlin (Hrsg.) (2006): Muslime in Deutschland. Eine Erhebung im Auftrag des Bundespresseamtes.
  • Xuan Gao, Xuan (2009): Interkulturelles Verstehen durch Kunst im Zeitalter der Globalisierung. München: Hochschulschrift Universität München.
  • Zahner, Nina Tesser (2010): Die Selektivität des Publikums zeitgenössischer Kunst als Herausforderung für die Rezeptionstheorie Pierre Bourdieus? In: Bekmaier-Feuerhahn, Sigrid et al. (Hrsg): Jahrbuch für Kulturmanagement. Theorien für den Kultursektor (55-75). Bielefeld: transcript.

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Susanne Keuchel (2015): Das 1. InterKulturBarometer – Zentrale Ergebnisse zum Thema Kunst, Kultur und Migration. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://kubi-online.de/artikel/1-interkulturbarometer-zentrale-ergebnisse-zum-thema-kunst-kultur-migration (letzter Zugriff am 14.09.2021).

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