Be part, play the game! Vorschlag für ein Modell zu Bildung in digitalen Kulturen
Abstract
Im Text wird der Zustand von Bildung in digitalen Kulturen aus der Konstitution von Kritik in diesen hergeleitet. Auffällig wird dabei eine ‹posthumane› Wende, denn eine automatische ‹Daten-Kritik› unterläuft die Vorstellung, dass Kritikfähigkeit allein Menschen vorbehalten sei. Zudem drängt Kritik – statt Distanznahme und Reflexion zu gewährleisten – als Exzess zur Immersion in technologische Umwelten. Diese Funktionen werden als Verweis auf eine paradoxale Aufgabe von Kritik in digitalen Kulturen gelesen: die Erzeugung von Unmittelbarkeit in ungleichen techno-humanen ‹Ko-Operationen›. Dieser Umstand wird zum Anlass genommen, die Untersuchung aktueller sowie historischer Ausprägungen von Kritik medienwissenschaftlich tieferzulegen. Sie erscheinen nun als Kulturtechnik zur operativen Vermittlung von Differenzen und Lücken, die ob der unterschiedlichen Konstitution von menschlicher und technischer Welterfassung und -verarbeitung in medientechnologischen Verhältnissen immer vorhanden sind. ‹Digitale Kritik› überwindet die Differenzen, indem diese schlicht zum Zweck optimaler Konnektivierung an technische Umwelten ausgeblendet werden. In diesem Kontext wird auch Bildung als Anpassung an Medienkulturen lesbar. Anstelle von Kritik und vermeintlich emanzipatorischen humanistischen Bildungszielen werden deshalb medienwissenschaftlich informierte ‹Kulturen der operativen Vermittlung› als ‹posthumane Bildung› in digitalen Kulturen vorgeschlagen, bestehend aus: (1) einem diskursanalytischen Zugang zu Bildung, (2) ‹Daten-Bildung›, (3) einem Training für ein engagiert-zauderndes Mitspielen in techno-humanen Performances.
Be Part, Play the Game! Proposal for a Model on Education in Digital Cultures
In this text, the state of education in digital cultures is deduced from the constitution of critique within them. A ‹posthuman› turn becomes obvious, because an automatic ‹data-critique› undermines the idea that the ability to critique is reserved exclusively for humans. Moreover, instead of ensuring detachment and reflection, excessively practiced critique pushes for immersion in technological environments. These functions are read as the paradoxical task of critique in digital cultures: the generation of immediacy in unequal techno-human ‹co-operation›. This constitution is taken as a hint to delve deeper into the tasks of current as well as historical forms of critique from the viewpoint of media studies. They now appear as a cultural technique for an operative mediation of differences and gaps, which are always present in media-technological relations due to the different constitution of human and technical understanding and processing of the world. ‹Digital critique› overcomes these by simply fading them out for the purpose of optimal connectivity to technological environments. In this context, education can also be read as an adaptation to media cultures. Instead of critique and supposedly emancipatory, humanistic educational goals, ‹cultures of operative mediation› are proposed as ‹posthuman education› in digital cultures, consisting of: (1) a discourse-analytical approach to education, (2) ‹data-education›, (3) training for an engaged-hesitating playing along in techno-human performances.
Dieser Beitrag basiert auf Reflexionen von Martina Leeker, vorgetragen im PANEL 5 „Von Widerständigkeiten & Empowerment“ der 11. Tagung des Netzwerks Forschung Kulturelle Bildung zu „Ästhetik – Digitalität – Macht", März 2021.
Einführung in ein theoretisches Modell: Kritik, Medialität, Bildung
Anliegen dieses Textes ist es, ein medienwissenschaftlich begründetes Modell für Bildung in digitalen Kulturen vorzuschlagen. (Anm.: Der Begriff ‹digitale Kulturen› beschreibt den Umstand, dass unterdessen alle kulturellen Bereiche von Digitalität durchsetzt sind und keine Trennung mehr zwischen analogen und digitalen Welten vorgenommen werden kann. Ein äquivalenter, derzeit gebräuchlicher Begriff ist ‹Postdigitalität›. Vgl. zur Diskussion der beiden Begriffe: Klein 2019.) Zum besseren Verständnis werden einführend zunächst dessen zentrale Annahmen und Thesen dargelegt. Grundlegend ist dabei, dass mit dem medienwissenschaftlichen Fokus Bildung selbst als kulturstiftend und regulierend in den Blick genommen wird, also nicht a priori als Unterfangen gilt, das den Menschen positiv verbessert. Bildung bedarf vielmehr eines Einblicks in sich selbst. Dazu gehört, dass mit dem Modell keine Aussagen darüber getroffen werden sollen, wie Bildung sein sollte, sondern vielmehr erkundet wird, wie sie sich unter den technologischen Bedingungen digitaler Kulturen konstituiert und welchen Beitrag sie, wenn auch unwillentlich, zu diesen leisten könnte. Von den Ergebnissen dieser Erkundungen werden im Sinne einer Bildungspraxis Vorschläge entwickelt, wie mit der entstandenen Lage umgegangen werden könnte, statt gleichsam abstrakte, d. h. jenseits der Selbstreflexion situierte Bildungsziele zu formulieren.
Der Text geht von der Annahme aus, dass Bildung und Kritik eng zusammenhängen, da beide gleichermassen mit der Fähigkeit zur Reflexion des Selbst- und Weltverhältnisses einer Person verbunden sind (vgl. grundlegend Marotzki 1990, 32ff.). Diese Verbindung zeigt sich an einer allgemeinen Definition zu Kritik und deren Verhältnis zu Bildung, die Florian Sprenger vorlegt und dabei Kritik jenseits ihrer historisch variablen Ausprägungen aus ihrer etymologischen Herleitung als Unterscheiden verortet:
«Kritik bedeutet, der Antike folgend, zunächst beurteilen, auswählen und unterscheiden [...]. Das kritische Vermögen der gedanklichen Auflösung von etwas in seine Elemente ist eine menschliche Fähigkeit der Unterscheidung und des Urteils, durchaus an eine Kompetenz, an Bildung und Sachverstand gebunden» (Sprenger 2014, 3f.).
Es kann also davon ausgegangen werden, dass die Fähigkeit zu Kritik als Grundlage für Bildung anzusehen ist und Letztere zugleich voraussetzt. Dieses Zusammenspiel bedeutet auch, dass am Zustand von Kritik derjenige von Bildung abgelesen werden kann. In den anstehenden Untersuchungen wird allerdings ob der medienwissenschaftlichen Tieferlegung das landläufige Verständnis von Kritik als reflektierend-bewertende Haltung grundlegend infrage gestellt, das die etymologische Definition aus den Augen verliert. Florian Sprenger führt zur Reformulierung von Kritik aus: «Kritik will etwas erhellen, das nicht offensichtlich ist, seien es die Grenzen unseres Wissens, eine Wahrheit, ein Widerspruch, die Bedingungen von Möglichkeiten, eine Ungerechtigkeit» (ebd., 4). Es steht infrage, ob Kritik – und damit auch Bildung – diese Aufgaben je in einem emphatischen, d. h. ein Subjekt zur Selbstbestimmung befreienden Sinne innehatten.
Diese Zweifel kommen vor allem in digitalen Kulturen vehement auf, denn sie erhalten eine bis dahin unbekannte, durch digitale Umwelten erzeugte Ausprägung von Kritik. Waren Kritik und Bildung bisher menschlichen Agierenden vorbehalten, so mischen sich nunmehr nicht-menschliche, technische Agenten in sie ein. Kritik wird beispielsweise in sozialen Medien oder Plattformen für digitales Shopping auch von algorithmischen Berechnungen geübt. Auch für Bildung gilt, dass sie zum Beispiel im Umgang mit dem automatischen Auslesen von Daten in den sogenannten Digital Humanities unter der aktiven Beteiligung digitaler Agenten stattfindet. Es fällt zudem auf, dass die bisher für Kritik und Bildung konstitutive Distanznahme zum Umgebenden zugunsten einer möglichst totalen Immersion in technologische Umgebungen ausfällt. Effekt dieser durch Digitalität begründeten Kritik, hier als ‹digitale Kritik› bezeichnet, ist, dass die Verbandelung zwischen Mensch und Technologie umso enger und scheinbar unmittelbarer wird, je mehr in techno-humanen Ko-Operationen Kritik geübt wird. (Anm.: Während der Begriff ‹Kooperation› auf menschliches Zusammenarbeiten bezogen ist, bezeichnet ‹Ko-Operation› hier das gemeinschaftliche Handeln menschlicher und technischer Akteure. Der Fokus liegt auf dem Operativen, d. h. auf einer nicht mehr nur auf das Anthropologische bezogenen Sicht auf Handeln. Vgl. zur Diskussion der Begriffe auch den Sonderforschungsbereich Medien der Kooperation an der Universität Siegen.) Kritisieren wird zu einer Operation der Konnektivierung.
Diese Funktion und deren Entstehung in Medienkulturen werden in diesem Text zum Anlass genommen, Kritik aus medienwissenschaftlicher Sicht tiefer zu legen und jenseits von tradierten Vorstellungen neu zu befragen. Der Verdacht ist dabei, dass sie weniger, wie bisher in den unterschiedlichen Modellen zu Kritik angenommen, mit Distanznahme und Reflexion als vielmehr mit einer medien-affinen, operativen Vermittlung zu tun hat; so wird es zumindest von digitaler Kritik ob ihres Strebens nach Unmittelbarkeit nahegelegt, die als Weise der Vermittlung zu verstehen ist. Vor diesem Hintergrund entsteht die zu untersuchende zentrale These dieses Textes. Sie besagt, dass Kritik als eine grundlegende kulturtechnische Funktion zu rekonstruieren sein könnte, die darin bestehe, Lücken in techno-humanen Koppelungen zu überbrücken, die aus den unterschiedlichen Weisen der Erfassung und Verrechnung von Welt durch Mensch und Technik entstehen. Kritik wäre mithin eine Technik der operativen Vermittlung von Medialität.
Da Medialität zentral ist für das Modell zur aus digitaler Kritik abgeleiteten Bildung in digitalen Kulturen, ist sie zur besseren Nachvollziehbarkeit ausführlicher zu exemplifizieren. Im Fokus steht bei der Medialität von Kritik hier nicht deren unbestreitbare Konstitution aus sich wandelnden medientechnischen Bedingungen, die sich daraus ergibt, dass sie immer mit und in Medien vonstattengeht, etwa in Sprache, Schrift, Büchern oder im Internet (vgl. Hörl, Pinkrah und Warnsholdt 2020, 3ff.; auch Marotzki und Jörissen 2010). Es geht vielmehr um Medialität selbst und deren Operativität, die einem unhintergehbaren ‹Zwang› zur operativen Vermittlung entspricht. (Anm.: Das hier vorgeschlagene Modell ist somit von einem Verständnis von Medialität zu unterscheiden, nach dem sie als die je spezifische Konstitution von Medien ausgelegt und die daraus folgende kulturelle Generativität untersucht wird. Hier steht vielmehr, wie auch bei Sybille Krämer (2008), der Vorgang der Übertragung durch Medien im Fokus. Wo Krämer allerdings mit der Figur des «Boten», der als «Drittes» zwischen zwei Beteiligten mit der Stimme des Beauftragenden spricht, das Verschwinden von Medien als Medialität stark macht, geht es in diesem Text um die Technologien und Regime der Überbrückung und Übersetzung.) ‹Operativ› bezieht sich dabei auf die medientechnische Funktionalität der Vermittlung. Bei dieser geht es nicht um hermeneutische oder bildungs-orientiere Vorgänge, sondern vielmehr um technologische Verfahrensweisen wie Übersetzungen in den Layern von Computerprogrammierungen oder die Gestaltung von Interfaces sowie um Diskurse zur Beziehung von Mensch und Technik. Der Vermittlungszwang entsteht zum einen daraus, dass Welt weder a priori gegeben ist noch Medien diese repräsentieren, womit eine grundlegende Notwendigkeit zur Vermittlung zwischen Welt, Medien und menschlichen Agierenden erzeugt wird. Zum anderen werden Vermittlungen nötig, da – wie bereits angeführt – technische Verrechnungen und menschliche Verarbeitungsweisen unterschiedlich sind; Technik ist nicht-menschlich (Hagen 2019). Es wird also in diesem Text nicht von einer Medien vorgängigen Konstitution des Menschen ausgegangen, wohl aber von einer Differenz zwischen beiden, die auch durch Vermittlungen nicht zu einer Einheit finden (vgl. auch Sprenger 2008). Unmittelbarkeit ist somit ausgeschlossen. Aus dieser Konstitution in Differenz ergibt sich vielmehr, dass Koppelungen und Interaktionen zwischen menschlichen und technischen Agierenden nötig werden, die grundsätzlich auf Übersetzungen beruhen. Dazu werden Techniken und Kulturen der Annäherung erfunden und ausgeübt. Dies wird etwa beim Film deutlich, dessen Abspulgeschwindigkeit unterhalb der menschlichen Wahrnehmungsschwellen angesiedelt ist, wodurch die Einzelbilder überhaupt erst als kontinuierliche Bewegung erscheinen. Differenz und Übersetzung zeigen sich auch beim Umgang mit Computern, wenn die für sie verständliche Maschinensprache der Schaltungen in eine dem Menschen zugängliche Befehlssprache oder grafische Oberflächen übersetzt wird (vgl. auch Damberger 2018); ein Vorgang, der immer wieder zu Fehlern neigt, imperfekt ist (Hagen 2019). Diese Imperfektion bedingt, dass die Differenz tendenziell ausgeblendet wird, um – fälschlicherweise – den Eindruck von Unmittelbarkeit zu erzeugen. In digitalen Kulturen scheinen nun die Ausblendung der Übersetzungen sowie die Herstellung von (unmöglicher) Unmittelbarkeit gleichsam existenziell zu sein, da sie z. B. im technischen Design flächendeckend und mit grosser Vehemenz hergestellt werden. Dieser Drang dürfte darin begründet sein, dass techno-humane Ko-Operationen in digitalen Kulturen lebenswichtig sind, also reibungslos funktionieren müssen. Dies zeigt sich etwa paradigmatisch an medizinischen Operationen mit robotischen ‹Assistenten›, in denen die technischen und humanen Beteiligten beim Schneiden am lebendigen Leib ‹zusammenarbeiten› (Leeker 2021a). Digitale Kritik leistet nun einen entscheidenden Beitrag zur operativen Vermittlung. Denn mit ihr werden aufgrund ihrer Konstitution als ‹techno-humanes Ensemble der Kritik› – d. h. Algorithmen und menschliche Agierende üben Kritik gemeinsam aus – sowie des ununterbrochenen Kritisierens Differenzen ausgeblendet und Unmittelbarkeit erzeugt. Aus systematischer Sicht entsteht der Eindruck von Unmittelbarkeit noch aus einem weiteren Grund, der die Vermittlung durch Kritik sogleich bedroht. Medien werden nämlich, so eine gängige Prämisse und Erkenntnis der Medienwissenschaft, im Vollzug unsichtbar (vgl. exemplarisch Krämer 2008, 27f.); man sieht z. B. den Film und nicht den Filmstreifen oder die Leinwand. Medialität konstituiert sich folglich nicht nur aus Medien als Weltbildapparaten, sondern auch aus deren Verschwinden aus der unmittelbaren Wahrnehmung, welches allerdings aufgehoben wird, sobald Störungen auftreten, womit immer zu rechnen ist. Der Eindruck von Unmittelbarkeit ist also auch ein Effekt von Medialität und verstärkt deren Fragilität, da sie ständig zu zerfallen droht. Medialität löst, so lässt sich zusammenfassen, eine nicht zu unterlaufende Kontingenz der (medialen) Existenz aus, die mit digitaler Kritik – sowie mit Kritik im Allgemeinen, so die im Folgenden auszuführende These – auf ein kontrollierbares Mass gebracht werden soll. Als Kulturtechnik der Medialitäts- und Kontingenzbewältigung erzeugt sie allerdings sui generis eine paradoxale Situation. Sie wird nämlich selbst ein Medium, das im Überbrücken der Lücken oder Irritationen immer wieder eben diese erzeugt. Kritik erzeugt als Medium der Vermittlung – im Sinne der medialen, rein operativ-orientierten Kopplungen – mithin keine Auflösung der durch Kontingenz ausgelösten medialen und existenziellen Einbrüche, sondern ist Generator und Teil eines nie endenden Prozesses der Mediatisierung.
Diese Überlegungen zu Konstitution und Wirkungen von Kritik werden in diesem Text rückblickend auch auf deren historische Formen angewandt, um Erstere zu prüfen und zu entfalten. Dies wird exemplarisch an Kants Modell einer aufklärerisch-modernen Kritik nachvollzogen (Kant 1995), die als Referenz zum Auffinden und Beurteilen digitaler Kritik wichtig ist, da sie Erstere posthuman unterläuft. Die Gegenwart führt mithin in die Vergangenheit, und von Letzterer wieder zurück, um Modelle und Praktiken von Kritik im Vergleich je besser zu verstehen.
Es steht abschliessend infrage, was diese Sicht auf und Analyse von Kritik für Bildung im Allgemeinen, im Sinne der Entwicklung reflexiver Selbst- und Weltverhältnisse und bezogen auf ihre Ausprägung in digitalen Kulturen im Besonderen bedeutet. Die zu untersuchende These ist, dass auch der emphatische Vermittlungsbegriff aus Bildungstheorien, denen es um eine Theorie und Praxis reflektierter und verändernder kultureller Teilhabe geht (vgl. auch Marotzki und Jörissen 2010), aus medienwissenschaftlicher Sicht ein medientechnisches Vermittlungsproblem löst. Es geht um die Anpassung von Individuen oder Gruppen an ihre medialen Umwelten. Was bedeutet dies für Konzepte zu Bildung und Bildungsarbeit in digitalen Kulturen?
Kritik als Medialitäts- und Kontingenzbewältigung bei Kant und Adorno
Es steht nun zur Grundlegung der medienwissenschaftlichen Sicht auf Kritik sowie zur Erfassung der kulturtechnischen Funktionen ihrer digitalen Ausprägung infrage, ob und inwiefern auch Kants Modell für Kritik als Kulturtechnik der Medialitäts- und Kontingenzbewältigung rekonstruiert werden kann. Dazu ist zunächst eine definitorische Unterscheidung vorzunehmen. Kants Modell wird hier ‹aufklärerisch-moderne Kritik› genannt und von ‹moderner Kritik› als einer Interpretation Ersterer abgegrenzt. Moderne Kritik reicht bis zum zeitgenössischen Kritikbegriff und bezieht auch ‹postmoderne Kritik› (Ricken 2006; Ricken 2020) ein. Denn trotz aller postmoderner Modifikationen, die u. a. die Abschaffung des Subjekts als Dreh- und Angelpunkt von Kritik verfolgten (vgl. Ricken 2020. Anm.: Moderne Kritik und Kants Kritik-Modell werden seit den 1980er-Jahren im Zuge postmoderner Überlegungen äusserst kritisch betrachtet, weil aus ihnen im 18./19. Jahrhundert u. a. im Rahmen der Universalisierung des Vernunft-Subjektes z. B. kolonialistische Haltungen ableitet wurden (vgl. Ricken 2020); Rationalität eskaliert im Irrationalen (vgl. exemplarisch: Adorno 1966, 353). Das moderne Subjekt wird nunmehr durch das Modell eines verteilten und relationalen Gefüges abgelöst (Ricken 2020), was sich z. B. im Begriff des ‹Dividuum› zeigt (Ott 2015).), sind Relikte moderner Kritik weiterhin virulent, so die These in diesem Text, wenn es darum geht, in Notlagen, wie sie in digitalen Kulturen bezogen auf moderne Werte auftauchen, eine Position der Reflexion für menschliche Agierende zu behaupten (vgl. Thiele 2015).
Ausschlaggebend für die kulturtechnische Sondierung von Kritik ist, dass es sich bei moderner Kritik und ihren Ausprägungen um eine (Fehl-)Interpretation von Kants Modell handelt. Beide Kritiken konstituieren sich nämlich zwar aus einem autonomen und vernunftbegabten Subjekt sowie aus Distanznahme, Reflexion und der Verbindung von Kritik und Öffentlichkeit. Sie unterscheiden sich aber grundlegend in ihren Intentionen. Während sich moderne Kritik nämlich das Recht zum Bewerten und Beurteilen nimmt und sich als Widerständigkeit gibt (vgl. auch Sprenger 2014), zielt Kants Modell nicht auf emanzipatorische Effekte, sondern vielmehr auf rigide operative Vermittlungs-Ordnungen. Dies zeigt sich in den Vorschriften für Erkenntnis in seinen ‹Drei Kritiken› (Kant 1995) sowie in der Auslegung von Kritik als «Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit» (Kant 1784; Foucault 1992; Sprenger 2014), der auf sozio-politische Anpassungen hinausläuft. Es wird zu prüfen sein, ob und wie sich aus der hier veranschlagten Perspektive in der Gesellschaftskritik der Frankfurter Schule in den 1960er-Jahren (vgl. Adorno 1966) überhaupt Widerständigkeit einstellt. (Anm: Michel Foucaults Theorie zu Kritik, die sich zum einen als Haltung, «nicht dermaßen regiert zu werden» (Foucault 1992, 12) sowie zweitens als Herausstellen der Kontingenz, d. h. der Veränderbarkeit des je Gegebenen zeigt (Lemke 2010; Sprenger 2014), wird in diesem Text nicht untersucht. Sie bricht nämlich im Hinblick auf ihre kulturtechnische Funktionalität mit dem Kant’schen Modell und entwickelt ein eigenes Regime der Medialitäts- und Kontingenzbewältigung. Dieses darzulegen, würde den Rahmen dieses Textes allerdings sprengen.)
Das historische Beispiel ist also heranzuziehen, um dem positiv besetzten Konstrukt ‹Kritik› auf die Schliche zu kommen, indem die Kant’sche und von dieser ausgehend auch (post)moderne Versionen von Kritik auf ihre kulturtechnische Funktionalität als operative Vermittlungsregime hin geprüft werden. Würde sich dies bestätigen, wäre nicht zu bedauern, dass Vernunftbegabung, Subjektivität und eine gesicherte Erkenntnisfähigkeit in digitalen Kulturen posthuman unterlaufen und tradierte Vorstellungen von Kritik und Bildung abgeschafft werden. Denn ‹Kritiken› befreiten das Subjekt nicht zu Selbstbestimmung oder reflexiven Selbst- und Weltverhältnissen, sondern regieren es vielmehr mithilfe von u. a. freiwilliger Selbst-Unterwerfung.
Kants aufklärerisch-moderne Erkenntniskritik als operativer Vermittlungs-Apparat
Der Zugang zur kulturtechnischen Funktionalität von Kants Modell zu Kritik erschliesst sich, wenn anerkannt wird, dass sie für ihn vor allem Erkenntniskritik war (vgl. auch Lemke 2010; Sprenger 2014) und er danach fragte, wie Welt mithilfe von Vernunft und im Ringen mit deren Grenzen verlässlich erkannt werden könne. Kants Modell einer aufklärerisch-modernen Kritik hatte also, es sei noch einmal betont, sehr wenig mit dem zu tun, was heutzutage noch unter ‹moderner Kritik› verstanden wird, nämlich das Aufdecken, Reflektieren und Verändern von Verhältnissen. Um der Welterkenntnis nachzukommen, wurden in der Kant’schen Kritik dagegen basale Operationen wie Unterscheiden, Kategorisieren und Urteilen im Medium Sprache vorgenommen, wobei Begriffe eine wichtige Rolle spielten (Kant 1781/1998).
Diese Problematisierung von Erkenntnis ist allerdings, so die These in diesem Text, nicht durch die Konstitution von Erkenntnis, sondern vielmehr durch Medialität bedingt, der Kant mit der Entwicklung eines operativen Vermittlungsmodells in Gestalt von Kritik begegnete. Auslöser war eine medientechnisch bedingte Problemlage, die zu Kants Zeiten aus Literalität als Medienverbund von u. a. Buchdruck, allgemeiner Alphabetisierung, Welt- und Landkarten sowie Zeitungswesen entstand. Dieser Verbund führte nämlich insofern zum Verlust verlässlicher, auf vorgegebenen Ordnungen beruhender Erkenntnis und Sozialität, als er sich aus einer Differenz zwischen den medialen Erscheinungen und der Welt konstituierte. Es wurden dauerhaft mediale Übersetzungen nötig, z. B. zwischen Karten und geografischen Verhältnissen oder geschriebenem Text und gesprochener Sprache. In diesem Kontext legte Kant seine erkenntnistheoretische Prämisse von der Unerreichbarkeit des «Dings an sich» (Kant 1781/1998) vor, die gleichsam als Medien- und Medialitätstheorie avant la lettre gelten kann (vgl. auch Gregory 2015). Mit ihr wurde nämlich der medial-humanen Differenz der Literalität eine zu überbrückende Lücke zwischen Erkenntnisapparat und Welt an die Seite gestellt. Der Clou dieser Setzung ist, dass mit der Unerreichbarkeit der Welt Differenz zur ontologischen Kondition erklärt und dabei zugleich eine grundlegende Vermittelbarkeit behauptet wurde. Die operativen Vermittlungen, die ein sicheres und tragfähiges Überbrücken der techno-humanen Lücken sicherstellen sollten, gelangen allerdings nur, weil zum einen die kritischen Praktiken des Weltordnens in Regelwerke für Aussagelogiken, Sprechweisen oder Codierungen eingelassen waren (Kant 1781/1998). Zum anderen dienten angenommene, a priori bestehende, mithin transzendentale Anschauungsformen dazu, die Richtigkeit von Aussagen sowie die Stabilität der Vermittlung zu garantieren (ebd.).
Die Crux ist dabei allerdings, dass Kants Kritik selbst ein Medium ist, das durch die Stiftung von Vermittlungen wiederum neue Lücken erzeugt, die überbrückt werden müssen, denn jede mediale Vermittlung ist prekär und fragil, da sie nicht unmittelbar oder ‹naturgegeben› ist, sondern vielmehr ein Konstrukt, das jederzeit einstürzen könnte. (Anm.: Die aufkommende Kontingenz entspricht in dieser Ordnung nicht einer Aufweichung des Vermittlungs-Regimes, sondern sie ist vielmehr als Aufforderung zur anhaltenden Vermittlung gleichsam kontingenz-hemmend.) Da Kritik aber die Absicherung der Vermittlung garantiert, wird sie zu einem Prozess permanenter Selbstaufheizung, mit der Kritik ständig neue Kritik anzettelt sowie immer mehr Schichten (etwa: Aussagelogiken, Schemata) und Instanzen (das Subjekt) der Absicherung erzeugt und eingefügt werden. (Anm.: Es steht infrage, in welchem Verhältnis die Methoden von Kants Modell zu denen algorithmischer Datenanalyse stehen, die ebenso auf Unterscheiden, Kategorisieren und Korrelieren aufbauen. Wäre Kants Aussagemodell als Vermittlungssystem formalisierbar oder ist es selbst schon als Formalisierung zu lesen?)
Kants Kritik entspricht mithin einem ausgeklügelten Apparat, der in sich so vernetzt ist, dass Lücken in der eigenen Vermittlung aus der internen Absicherung überbrückt werden können. Diese interne Verweisungslogik des Medialität-Organisations-Kontroll-Apparats erzeugte eine zwanghafte Vermittelbarkeit, die als Triumph über entfesselte, den Menschen dezentrierende Medienwelten gelten kann.
Selbst-Regierung der vernünftigen kritischen Subjekte
Eine wichtige Instanz dieser Vermittlungsmethode ist das von Kant erdachte und seither als unabdingbar für (moderne wie postmoderne) Kritik angesehene ‹kritische Subjekt›. (Anm.: In postmodernen Ausprägungen von Kritik, etwa bei Foucault, wird das Subjekt bereits als Gewordenes rekonstruiert und damit dezentriert (Lemke 2010; Sprenger 2014).) Aus der hier zugrunde gelegten Sicht auf Kritik kommt ihm allerdings eine andere Aufgabe zu als gemeinhin angenommen. Dem Subjekt obliegt es nämlich nicht, widerständige Positionierungen ein- oder Bewertungen vorzunehmen, sondern vielmehr aus Vernunft die Überbrückung der stetig rumorenden Medialität durch Selbstregierung zu sichern. Kant hatte das vernünftige Subjekt mithin als Instanz erfunden, mit der die Aussagelogiken verbindlich eingehalten werden können (Kant 1781/1998). Dies kann gelingen, weil das vernünftige Subjekt Welt a priori, d. h. aus sich heraus erkennt. Darüber hinaus wurde das Subjekt als freie und autonome Instanz entworfen, womit allerdings seine – wenn auch freiwillige, als Ermächtigung angesehene – Unterwerfung unter Vernunft gemeint war (vgl. auch Sprenger 2014). Freiheit bedeutete nämlich die freiwillige Anerkennung von Vernunft (vgl. auch Lemke 2010; Sprenger 2014; Ricken 2020), die verhindert, dass Subjekte in der prekären Vermittlungslage in Imaginationen und Spekulationen abdriften; auch «Kants Gespenster» genannt (Beil 2014). Diese Problematik der Vermittlung verhandelt Kant in Auseinandersetzung mit dem schwedischen Mathematiker, Physiker und Theosophen Swedenborg in seiner Schrift «Träume eines Geistersehers» (1768/1977), in der die Austreibung der Gespenster allerdings nicht gelingt. Ulrich Johannes Beil schreibt:
«Die Tatsache allerdings, dass die Grenze zwischen allgemein erfahrbaren und bloß eingebildeten Erscheinungen nur graduell, nicht definitiv gezogen werden kann, führt zu dem im Kontext einer aufklärerischen Epistemologie bemerkenswerten Befund, dass jedes wahrgenommene Objekt einen Rest an Gespenstischem behält» (Beil 2014, 454).
Das Problem ist gleichsam hausgemacht. Da Kant nämlich den Zugriff auf die Dinge an sich negierte, implementierte er Erkenntnis jenseits einer klaren Grenzziehung zwischen Einbildung und empirisch Erfahrbarem (vgl. auch Beil 2014). Oder anders: Aufklärerisch-moderne Kritik konstituiert sich aus Vernunft, um die Gespenster zu beherrschen, die in der operativen Vermittlung agieren und operieren, die sie allerdings selbst erst erzeugt hat und denen sie nicht mehr entkommen kann.
Diese Kritik-aus-Vernunft steht zudem für eine freiwillige Unterwerfung des Subjekts unter die höheren Gesetze von Gemeinschaft und Staat ein. Denn es kann zugunsten eines grösseren und höheren gesellschaftlichen Ganzen von eigenen Interessen absehen (vgl. auch Sprenger 2014). So lautet auch die Botschaft der «Kritik der Urteilskraft» (Kant 1790/1963). Sie besagt, dass selbst das Ästhetische, das sich dem Zugriff durch Begriffe zunächst widersetzt und einer rein subjektiven Rezeption (Geschmacksurteil) zugeordnet ist, auf Begriffe gebracht werden kann. Es geht dabei um ein freies Spiel der Erkenntnis, das auf den regulierenden Bezug zum Gemeinwohl übersetzt wird.
Aufgabe der Erzeugung des Subjekts war es also, erstens den wasserdichten und gleichsam zwanghaften Vermittlungsapparat zu unterstützen, indem Ersteres Statthalter der Richtigkeit und Stabilität der operativen Vermittlung wurde. Subjekte können zudem zweitens als eine Regierungsweise gelten, die daraus besteht, sich selbst und andere Subjekte in Schach zu halten. Das kritische Subjekt dient mithin der Absicherung der Vermittlungsweisen aufklärerisch-moderner Kritik und ist dabei selbst Teil des beschriebenen Regulierungssystems.
Gesellschaftskritik – Nebenschauplatz zum Zwecke von Vermittlung
Das Verständnis von Kritik als Medialitätsbewältigung wirkt sich auch auf Status und Relevanz ihrer Ausformulierung als Gesellschaftskritik aus. Diese mag beim ersten Nachdenken als originäre und wichtigste Form von Kritik erscheinen, da sie z. B. ungleiche gesellschaftliche Verhältnisse oder politische Unterdrückung entlarven können soll und um Konzepte für deren Veränderung bzw. Abschaffung bemüht ist. Gesellschaftskritik entspringt aber – aus Sicht und Logik der hier vorgeschlagenen Perspektive auf Kritik – nicht primär z. B. gesellschaftlichen oder politischen Verhältnissen oder zielt unmittelbar auf diese. Kritik erzeugt Gesellschaftskritik im Gegenteil vielmehr erst zum Zweck einer gesicherten und befriedeten Vermittlung von Medialität.
Diese Sicht lässt sich beispielhaft an einem der zentralen Aspekte der ‹Kritischen Theorie› von Theodor W. Adorno entfalten (1966). In der negativen Dialektik steht das Erkennen der verborgenen Wahrheit von gesellschaftlichen Verhältnissen, etwa der Kulturindustrie, im Fokus. Aus kulturtechnischer Sicht auf Kritik kann dieses Denkmodell als Methode rekonstruiert werden, die techno-humane Differenz zu überwinden, indem die entstandenen Vermittlungslücken überbrückt werden. Die vermeintlich ‹wahre Wirklichkeit› stellt nämlich eine fixe und klar umrissene Bezugsgrösse zur Verfügung, die erkannt, beschrieben und verändert werden kann. Gesellschaftskritik dient aus dieser Perspektive der Vermittlung der techno-humanen Differenz, indem eine bestimmte soziale Gruppe zur wahren Erkenntnis fähig sein soll und so zum Garanten gesicherter Vermittlung wird. Dies sind die Kritisierenden im Duktus der Kritischen Theorie, denen die Deutungsmacht der richtigen Erkenntnis und Haltung zugestanden wird.
Die genannten Formen und Instanzen von Gesellschaftskritik sind mithin, zumindest aus der Sicht der Medialitäts- und Kontingenzbewältigung, vor allem als Weisen des Umgangs mit Medialität zu verstehen und als Auseinandersetzungen mit Gesellschaft, Politik oder Ökonomie den Bedingungen von Medialität und einer medialen Existenz nachgeordnet.
Fazit. Probleme von Kritik an Kritik und Bildungsidealen
Aus der Perspektive der Medialitäts- und Kontingenzbewältigung wird an Kants operativem Vermittlungs-Apparat verständlich, dass ein regelrechter existenzieller Zwang zu Kritik besteht, um Welt zu ordnen und Medialität sowie Kontingenz zumindest in Ansätzen und temporär in den Griff zu bekommen. (Anm.: In weiterer Forschung wäre eine Mediengeschichte der Medialitäts- und Kontingenzbewältigung durch Kritik von Interesse, in der weitere historische Phasen des medialen Wandels im Hinblick auf Vermittlungsregime betrachtet werden. In diesem Text ging es darum, das Kant’sche Modell der aufklärerisch-modernen Kritik in der genannten Funktion zu exemplifizieren.) Es geht vor diesem Hintergrund darum, Kritik immer präsent und am Laufen zu halten.
Mit der medienwissenschaftlichen Tieferlegung von Kritik wird zudem deutlich, dass Letztere nicht als ein Sprechen über etwas missverstanden werden sollte. Mit dieser Sicht wird suggeriert, man könne mit Kritik beispielweise die Wahrheit über Verhältnisse aussagen oder sich diesen entziehen. Kritik ist vielmehr immer schon ein ‹Sprechen-in-Medien› und verfügt also weder über ein Ausserhalb, noch garantiert sie eine vom Subjekt kontrollierte Distanzierung und Handlungsmacht.
Aus dem Gesagten folgt, dass den historisch sich je wandelnden Formen von Kritik nicht mit einer Kritik an ihnen begegnet werden kann, da dies die Kritisierenden immer tiefer in den Sog der kritischen Logiken hineintreiben würde. Diesem Teufelskreis zu entkommen, könnte in der Rekonstruktion der Vermittlungsregime gelingen, wie sie hier versuchsweise und exemplarisch unternommen wurde. Bezogen auf Bildung, die mit Kants Modell der aufklärerisch-modernen Kritik und deren Aneignung in der modernen, humanistischen Kritik als Erzeugung eines reflektierten Welt- und Selbstverhältnisses aufkommt, wird so deutlich, dass sie als Vermittlungsmethode literaler Medialität und nicht als emanzipatorischer Akt eines Subjektes zu lesen ist (vgl. auch Ricken 2006). Letzteres ist vielmehr Teil des modernen Vermittlungsregimes (vgl. auch Ricken 2020).
Zwei Erscheinungsweisen digitaler Kritik. Exzesse, Daten-Kritik, Resilienz
Es gilt nun, auf dieser Grundlage die Konstitution digitaler Kritik zu klären, von der im hier vorgeschlagenen Modell Bildung in digitalen Kulturen abhängig ist. Dabei ist die digitale Ausformung zunächst äusserst befremdlich und kaum identifizierbar, wenn für einen ersten Zugang die soeben dargelegten Kriterien für ‹moderne Kritiken› herangezogen werden. (Anm: Vgl. zur Frage, ob digitale Kritik die moderne Konstitution hinter sich lässt, Hansen 2020.) Wird allerdings die Aufgabe von Kritik als Medialitäts- und Kontingenzbewältigung zugrunde gelegt, wird digitale Kritik als Kritik-als-Exzess, Daten-Kritik und resilientes Krisenmanagement sichtbar. Im Fokus steht im Folgenden die Erkundung von deren Vermittlungsordnungen.
Kritik-als-Exzess für unmittelbare Vermitteltheit
Sobald digitale Geräte geöffnet werden, wird etwa in Gestalt von Likes und Kommentaren Kritik eingefordert. In sozialen Medien begegnen die Umherwandernden zudem im Hate Speech auf Facebook oder Twitter einer Explosion kritischer Schlagabtausche, die zur gleichsam entfesselten und enthemmten Meinungsäusserung und Teilnahme auffordern. Denn bei ‹Hass› in rechten Parolen oder in knackigen akademischen Thesen geht es in digitalen Plattformen nicht um Inhalte, sondern um die Erzeugung von seriellen Anknüpfungspunkten. Es entsteht Kritik-als-Exzess, an der sich das Vermittlungsmodell digitaler Kritik in besonderer Weise ablesen lässt. Dieses Modell gründet darauf, dass sich im Exzess ob der Kürze, des Tempos sowie der Kontinuität der Eingaben ein ununterbrochener Anschluss im und an den Strom der Kritik herstellt. In diesem Taumel entsteht der Eindruck einer paradoxalen unmittelbaren Vermitteltheit, mit der die techno-humane Differenz und die nötigen Übersetzungen schlicht ausgeblendet werden.
Der Gewinn dieser Affektivierung von Kritik, die sich, so Marie-Luise Angerer (2017), im Umgang mit auf das unbewusste Sensorium zielenden Medien und der damit verbundenen Umstellung des Weltzugangs auf Empfinden sowie auf Meinen, Entrüsten und Empören herstellt, ist die exzessive Abgabe von Daten. Diese setzt sich durch die gleichsam besinnungslose Ausübung von und Teilnahme an Kritik ununterbrochen fort. Effekt ist die Herstellung einer umfänglichen und dauerhaften Konnektivität menschlicher Agierender an digitale Kulturen, die im Eindruck von Unmittelbarkeit, die auch noch Handlungsmacht suggeriert, am nachhaltigsten gelingt.
Daten-Kritik. Im Spannungsfeld menschlicher und nichtmenschlicher Urteile
In dieser Konnektivierung operiert zudem eine nichtmenschliche, posthumane ‹Daten-Kritik›, die in algorithmischen Anwendungen wie Entscheidungssoftware oder Kaufvorschlägen von Daten selbst übernommen und durchgeführt wird (vgl. auch Sprenger 2014). In der Daten-Kritik, die zutiefst in den Lebensalltag eingreift, ist also mit nichtmenschlichen Instanzen zu rechnen, die über eine ‹eigene›, operative, nicht mit anthropozentrischen Begriffen beschreibbare ‹Handlungsmacht› verfügen.
Gleichwohl steht Daten-Kritik in Relation zu menschlichen Agierenden und entwickelt dabei ihre eigenen Methoden der Medialitäts- und Kontingenzbewältigung, nämlich den Anschein der reibungslosen Ko-Operation in techno-humanen Ensembles. Zum einen beruhen die algorithmischen Operationen nämlich, wie z. B. die Suche über Google, auf den Aktionen menschlicher Agierender, sodass sie personalisiert erscheinen (vgl. auch Esposito 2014). Zum anderen geben die menschlichen Agierenden den operativen Erhebungen und Verrechnungen, etwa den Musikvorschlägen in Spotify, einen Sinn (Martel 2015). Grundlage dafür, dass diese techno-humane Ko-Operation in Daten-Kritik gelingt, dürfte die durch Kritik-als-Exzess erzeugte Unmittelbarkeit sein.
Diese Vermittlung mündet schliesslich in einem bedingungslosen Vertrauen in Daten-Kritik, wenn die Ko-Operativität zur technologischen ‹Fürsorge› wird. Ein Beispiel dafür ist das Leben mit überwachenden und zugleich proaktiven Assistenzsystemen, die etwa beim smarten altersgerechten Wohnen zum Einsatz kommen (vgl. Kaldrack 2020). Effekt dieser nichtmenschlichen Sorge ist – im Dunstkreis von Unmittelbarkeit und affektiver Bindung durch digitale Kritik – eine Regierungsweise der «freiwilligen Unterwerfung unter Fremdkontrolle» (vgl. Andreas, Rieger und Kasprowicz 2018).
Paranoia und Schizoidie
Mit dem Zwang zur permanenten Daten-Interpretation entsteht die Erkenntnisweise digitaler Kritik, nämlich eine entpathologisierte Paranoia, die die bisher beschriebenen Epistemologien des Kritik-Modells Kants und seiner Interpretationen hinter sich lässt. (Anm.: Die Betonung der paranoiden Konstitution von Erkenntnis und Wissen hat in der Medienwissenschaft eine lange Tradition und wird in der aktuellen Forschung zu digitalen Kulturen verstärkt herangezogen (vgl. einführend auch: Apprich 2020).) Aus der Kant’schen Erkenntnis-Kritik wird nun vielmehr ein Apparat für Anschlussverwaltung, mit der nicht mehr mediale Lücken überbrückt und reguliert, sondern nur noch unmittelbare Connections hergestellt werden sollen. Gilt es nämlich, beständig zu klären, ob es sich bei einer Kritik um Fake News handelt, Trolle oder Bots agieren, oder ein Argument aus der rechten oder linken Ecke kommt, mutieren hermeneutische Deutungen, Kontextualisierungen und Sinngebungen auf der Suche nach Informationen zur Klärung dieser Fragen, z. B. im Internet, zu einer Verkettung zirkulierender Verlinkungen.
In dieser andauernden paranoiden Kritik vollzieht sich die digitale Subjektivierung, die ob der Verteilung menschlicher Agierender auf ihre technologischen Umwelten als digitale Schizoidie bezeichnet werden kann. So sind menschliche Agierende z. B. auch in digitalen Profilen oder personalisierten Bots präsent und aktiv und teilen sich Handlungsmacht mit diesen. Sie sind im technologischen, nicht im Sinne einer endlich angemessenen Beschreibung des Menschen, «Dividuen» (Ott 2015). Dabei kommt es zu einem Regime einer auf Dauer gestellten – wechselseitigen – Anpassung zwischen technischen und menschlichen Agierenden. Bezogen auf Letztere besteht diese darin, dass das Subjekt die technischen Anteile in seinen Verhaltensweisen adaptieren und zusammenfügen sowie mögliche künftige Aktionen der algorithmischen Agierenden vorausdenken, antizipieren muss: Vorgänge, denen auch die Algorithmen unterliegen. In der Antizipation wird das Subjekt zu einer ‹präemptiven› Erscheinung, die gleichsam in Spekulationen und Ungewissheiten existiert.
Diese Techno-Psycho-Logik ist Teil der Medialitäts- und Kontingenzbewältigung durch digitale Kritik. Sie bindet die menschlichen Agierenden nämlich in der verteilten, techno-humanen Subjektivierung mit einem sanften Zwang zur Obedienz. Partizipation und Ko-Operation abzubrechen hiesse dagegen, Teile des verteilten Subjekts aufzugeben und seine schizoide Handlungsmacht zu annullieren.
Resilienz und Affirmation
Kritik trifft in digitalen Kulturen schliesslich auf eine grundlegende Umstellung in der Konzeptualisierung der Ordnung von Welt, die Erstere letztlich und mit gravierenden Auswirkungen suspendiert. Es geht um das Konzept der ‹Resilienz›, das Crawford Stanley Holling in den 1970er-Jahren in der Forschung zu Ökosystemen erarbeitet hatte (Holling 1973). Resilienz meint, dass technische und soziale Systeme sowie Individuen auf die Adaption von Krisen und Katastrophen als Strategie des Überlebens hin ausgelegt sind (vgl. auch Sprenger 2019; Leeker 2021b). An die Stelle von Politik als Suche nach Problemlösungen und Veränderung tritt das Ausharren in der Hoffnung auf eine nicht vorhersehbare und planbare resiliente Selbstorganisation der Systeme, durch die sie weiterhin existieren können.
Folgerichtig wird in Teilen des zeitgenössischen kulturwissenschaftlichen Diskurses die Ersetzung von Kritik durch Affirmation gefordert (vgl. einführend: Thiele 2015; paradigmatisch: Braidotti 2018), da Kritik in der Ordnung der Resilienz ihre handlungsleitende Funktion verlöre. In der resilienten Existenz ist es nämlich zielführender, die Fähigkeit für eine auf Dauer gestellte affirmative Anpassung auszubilden und zu trainieren, mit der man das Beste aus den je kommenden, unvorhersehbaren Situationen machen kann.
Kritik mutiert derart als drittes Konstituens ihrer digitalen Gestalt zum resilienten Krisenmanagement. Damit wird auch Gesellschaftskritik obsolet, da die Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse weder planbar ist noch ob der Selbstorganisation der Systeme sinnvoll erscheint. An die Stelle von Veränderung tritt vielmehr eine rein spekulative Planung möglicher Zukünfte, so Jutta Weber am Beispiel der Sicherheitspolitik in digitalen Kulturen (Weber 2014). In deren Zentrum steht die Entwicklung von möglichst vielen denkbaren und undenkbaren Szenarien der Gefährdung, die potenziell eintreten könnten. Sie werden durchgespielt und dabei immer wieder variiert (vgl. auch Leeker 2021b, 83f.). Dies hat einen gravierenden Effekt, denn die Spekulationen werden dadurch selbstbezüglich, d. h. sie verlieren den Bezug zum Gegebenen. Mit diesem Vorgang soll der Eindruck von Sicherheit in einer Situation hergestellt werden, die sich unhintergehbar aus Unsicherheit und Kontrollverlust sowie aus Kontingenz und Unvermittelbarkeit von menschlichen Agierenden und Welt konstituiert. Im resilienten Krisenmanagement übernimmt so eine perfide Methode der Medialitäts- und Kontingenzbewältigung. Kontingenz und Störungen in der Vermittlung werden bewältigt, indem sie zum Status quo erklärt und in dieser ontologischen Konstitution in einem Spiel der Spekulationen beschönigt werden.
Fazit: Wider die erzwungene Unmittelbarkeit
Während Kants aufklärerisch-moderne Kritik auf Vermittlungsordnungen wie Aussagelogiken, Subjekte oder autoritative ‹Gesellschaftskritik› zur Medialitätsbewältigung setzte, mit denen Vermittlung immer klar als solche ausgezeichnet war, organisiert digitale Kritik diese, wie hier ausgeführt, mittels einer Entfesselung von Medialität. Damit treten die in Exzessen forcierte unmittelbare Bindung menschlicher Agierender an Medienkulturen sowie die resiliente Anpassung an diese an die Stelle der Reflexivität von Vermittlung, die auf ihrer Konstitution in Differenz und Vermitteltheit beruhte.
Dieser Vermittlungstyp digitaler Kritik entsteht, so die These, aus den techno-epistemologischen Bedingungen digitaler Kulturen, in denen techno-humane Ko-Operationen eine entscheidende Rolle spielen. Diese machen z. B. das autonome Fahren erst denkbar, in dem Mensch und Auto zusammenarbeiten, indem der Mensch dem technischen Ding vor der eigentätigen Performance im Vollzug des Fahrens dieses beibringt. Im Gegenzug erhält er angeblich mit dem smarten Auto mehr Sicherheit im Strassenverkehr und wird von der eigenen Orientierung in seinen Umgebungen entlastet. Diese Ko-Operationen bedürfen dringlich einer möglichst problemlosen Vermittlung, da sie sich in der techno-humanen Interaktion aus prekären Übertragungen konstituieren, müssen doch fortwährend analoge und digitale Phänomen-Bereiche übersetzt werden (auch Damberger 2018). Aufgabe digitaler Kritik ist es, die Übersetzungsprobleme mit dem Versprechen auf Unmittelbarkeit auszublenden. Dies ist für die technischen Umwelten wichtig, da sie sich an menschlichen Daten entwickeln und optimieren. Deshalb gilt: Je mehr und intensiver auf menschlicher und technischer Seite kritisiert wird, desto mehr Daten entstehen und desto besser, sicherer und (scheinbar!) unmittelbarer werden die medialen Umwelten.
Bildung in digitalen Kulturen. Diskurskritisch-posthuman und Kulturen operativer Vermittlung
Die Konstitution digitaler Kritik rahmt und bestimmt digitale Bildung, so die hier vertretene These. Zu dieser Bildung liegen erste systematische und historische Theoriebildungen aus dem Bereich der Bildungswissenschaft vor (exemplarisch und richtungsweisend: Jörissen 2019). Da diese allerdings, so die Einschätzung in diesem Text, der techno-humanen Ko-Operativität tendenziell immer wieder mit modernen Prämissen wie der (humanistischen) Besonderheit des Menschen oder dem Hochhalten von Selbst-Bestimmung begegnen (vgl. exemplarisch Wimmer 2017; Damberger 2018. Anm: Michael Wimmer hat eine «posthumanistische Pädagogik» vorgelegt, die hier allerdings nicht zugrunde gelegt wird, da sie eher einem poststrukturalistischen Zugriff mit einem Fokus auf ‹das Menschliche› folgt.), soll hier zur Erkundung von nichtmoderner posthumaner Bildung auf aktuelle Theorien aus dem sogenannten ‹Kritischen Posthumanismus› Bezug genommen (vgl. exemplarisch Barad 2007; Braidotti 2014; Braidotti 2016) und sollen diese als Bildungstheorien gelesen werden. Sie versuchen nämlich etwas radikaler als die ‹eigentlichen› Bildungstheorien, das Nicht-mehr-Moderne, Nicht-mehr-Menschliche und Mehr-als-nur-Menschliche zu denken. Dabei schwenken sie allerdings bemerkenswerterweise auf das soeben beschriebene digitale Vermittlungsregime der Unmittelbarkeit um, sodass sie diesem ungewollt zuarbeiten dürften, statt es zu reflektieren oder zu reorganisieren. Vor diesem Hintergrund steht infrage, wie eine posthumane Bildung unter den technologischen Bedingungen digitaler Kulturen aussehen könnte, damit sie einen reflektierenden Umgang mit Letzteren ermöglicht. Ausgehend von den hier angeführten Analysen wird die Entwicklung einer diskurskritisch-posthumanen Bildung als Kulturen der operativen Vermittlung vorgeschlagen, die über ihre Vermittlungsregime aufgeklärt sind und mit diesen engagiert und das heisst immer auch zaudernd und zweifelnd performen.
Diskurskritisch-posthuman. Differenz versus Unmittelbarkeit
Ein Beispiel für posthumane Konzepte sind Denkmodelle aus dem Techno-Ökologismus in der feministischen Forschung (vgl. exemplarisch Barad 2007; Braidotti 2014; Braidotti 2016) sowie der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) (Latour 2006). Diese Theorien verstehen sich zwar nicht explizit als posthumane Bildungskonzepte, sollen aber in diesem Text als solche gelesen werden. Denn sie arbeiten avanciert an einer – posthumanen – Reformulierung des Welt- und Selbstverhältnisses, in deren Fokus die Bildung für eine bessere, diverse, gleichberechtigte und nachhaltige Zukunft steht. Dabei wird von nicht-nur-menschlichen Handlungs-Ensembles ausgegangen, in denen Differenzen zwischen Agenzien (etwa Menschen, Tiere, Anorganisches, technische Dinge) obsolet geworden sein sollen. (Anm.: Im Gegensatz zum emphatisch aufgeladenen Kritischen Posthumanismus arbeiten Ina Bolinski und Stefan Rieger (2021) an einer Theorie von «Multi-Spezies Communities» (2021), in der techno-humane Ensembles technologisch grundiert sind und in ihrer Operativität und Unterschiedlichkeit erforscht werden. Hier wäre ein Ausgangspunkt für eine Bestimmung von ‹Mensch› und ‹Technik› für digitale Bildung.) An deren Stelle tritt Vernetzung durch wechselseitige Übersetzung ins Einswerden (vgl. auch Schulz-Schaeffer 2000, 199ff.). (Anm.: Ingo Schulz-Schaeffer führt dies an den Theoremen von Michel Callon und Bruno Latour aus (Schulz-Schaeffer 2000).)
Aus Medialität wird im posthumanen Techno-Ökologismus mithin eine Ordnung der Verflechtung. Die bildende Relevanz dieser Unmittelbarkeit soll darin liegen, dass sie zum einen ob des symmetrischen Rangs aller Beteiligten zur Grundlage für die Herstellung einer dekolonial lesbaren gesellschaftlichen und politischen Gleichberechtigung wird (vgl. dazu euphorisch: Ricken 2020). Zum anderen soll der im Handlungsensemble dezentrierte Status der menschlichen Akteure dabei helfen, eine ökologische Demut und Sorge zu entwickeln, die sich in der Rettung der Erde vor der Klimakatastrophe materialisiert. In diesem posthumanen Techno-Ökologismus wird mithin Unmittelbarkeit unreflektiert zur ontologischen Konstitution und gleichsam, so die These in dieser Untersuchung, zum ethischen, mithin normativen Bezugsrahmen erhoben und dabei die Notwendigkeit von Vermittlung ausgeblendet.
Diese Verfasstheit ist allerdings hochproblematisch. Affirmation und differenzloser Relationismus tauchen nämlich in dem Moment auf, als Subjektivität und Regierungsweisen sich mithilfe digitaler Kritik auf techno-humane Ko-Operationen umstellen, die – wie dargelegt – auf unmittelbaren Vermittlungen gründen und nur mit diesen funktionieren. Wird dieser Kontext in Betracht gezogen, könnte im relationalen Modell mithin ungewollt das Regime der obedienten Anpassung unterstützt werden, das soeben dargelegt wurde. Dieser Umstand wird dadurch verborgen, dass die Redefinition menschlicher Agierender als integraler Bestandteil der technischen Umwelten als glückliche Wendung hin zu einem endlich ‹richtigen›, komplexen Verständnis von Mensch und Welt nobilitiert wird. (Anm.: Im geschilderten Kontext ist Latours Aphorismus problematisch, dass der Mensch «nie modern gewesen sei» und der moderne Humanismus eine ‹falsche Lehre› (vgl. auch Latour 2006). Denn für Latour war der Mensch, im Gegensatz zum Kant’schen aufklärerisch-modernen, d. h. autonomen und freien Subjekt, ‹schon immer› mit seinen Umwelten in einem Handlungsensemble verwoben. Aus dem hier vorgeschlagenen Zugang wird allerdings deutlich, dass ‹wir› selbstverständlich modern gewesen sind, da der moderne Diskurs dies erzeugte und die Zeitgenossen diesen verkörperten. Die Frage nach der Wahrheit von Modellen oder deren Richtigkeit stellt sich dabei überhaupt nicht.)
Florian Sprenger bringt dagegen die politischen Aspekte einer prekären Vermittlung prägnant auf den Punkt und plädiert für:
«einen Ausblick auf eine Medientheorie (man lese hier: Bildungstheorie, M. L.) der Mitte zwischen differenzierten, distanzierten Elementen, deren Verschiedenheit aufrechterhalten wird und nicht dem Phantasma einer Einswerdung unterliegt. Medien werden zur Bedingung des Umgangs mit Ungleichheit. Sie sind eine Fähigkeit zur Distanz, und ihr Weltverhältnis der Mittelbarkeit macht sie zu Umgangsweisen mit Differenz» (Sprenger 2008).
Es ist sicher notwendig, in digitalen Kulturen ‹Mensch›, Subjektpositionen und Weltverhältnisse neu zu beschreiben und Anthropozentrismen aufzulösen, ohne dabei in Kant’sche oder moderne Paradigmen zurückzufallen, die nicht ‹besser› waren als die digitalen. (Anm.: Derzeit entworfene Topoi für Subjektivierungen wie «nomadische Subjekte» (Braidotti 2015) oder «Dividuen» (Ott 2015) beschreiben allerdings Symptome digitaler Kulturen und befördern das Regime der Unmittelbarkeit sowie der Resilienz.) Vor dem Hintergrund der hier dargelegten Effekte wäre allerdings anstelle des gleichsam emphatischen (Kritischen) Posthumanismus eine diskurskritisch-posthumane Bildung zu entwickeln, die die Verflechtung mit dem Regime der Unmittelbarkeit erkennt und auflöst. (Anm.: Vgl. zu einer diskurskritischen Bildungstheorie auch Ricken 2006.) Dabei ist der Ambivalenz der emphatischen posthumanen Modelle Rechnung zu tragen, denn sie bergen, neben der Drift zur Obedienz, in der Tat auch das Potenzial für ökologische Sorge und soziale Veränderung in sich. Es gilt, diese Ordnung der Ambivalenz und deren Potenzial freizulegen und diese in Kulturen der operativen Vermittlung als Bildungsarbeit immer wieder auszutarieren. Deren Grundlage ist die Unverfügbarkeit von Technik, wodurch Vermittlung wieder Übersetzung wird, die die Chance in sich birgt, die faszinatorischen und affektiven Konnektivierungen zu kappen.
Posthumane Daten-Bildung
Aus der dargelegten Daten-Kritik folgt für eine diskurskritisch-posthumane Bildung, dass diese selbst einer Bildung bedarf, denn eine angemessene Daten-Kritik müsste, so ist mit Florian Sprenger zu formulieren (Sprenger 2014), automatisch, nämlich als Kritik durch Daten erfolgen. Das heisst, Daten müssten fähig sein, sich zu beobachten und zu reflektieren, letztlich zu dekonstruieren (vgl. Sprenger 2014, 15. Anm.: Florian Sprenger vertieft diesen Gedanken an Michel Foucaults Verständnis von Kritik als Reflexion der Gewordenheit des Gegebenen und schlägt vor, dass Daten-Kritik fähig sein müsse, eine Geschichte der eigenen Kontingenz zu er- und vermitteln (Sprenger 2014, 16f.).) Die bis dato Menschen zugeschriebene Aufgabe von Kritik als Reflexion ihrer selbst würde mithin auf Maschinen übergehen. Damit wäre auf automatischer Ebene eine Einsicht dahin nötig, dass Daten (das Gegebene) nie einfach gegeben sind, sondern von menschlichen und technischen Voreinstellungen abhängen. Mit einer Kritik menschlicher Agierender an digitalen Daten (Anm.: Vgl. zu Critical Data Studies exemplarisch Dalton und Thatcher 2014.) wäre den automatischen Prozessen dagegen nicht mehr beizukommen, da sie weder mit anthropologischen Begriffen verstehbar und beschreibbar noch gänzlich nachvollziehbar oder kontrollierbar sind.
Diese Automatisierung von Kritik wäre auch auf das sogenannte biased programming (Chun 2018) anzuwenden. Zwar können die darin formalisierten rassistischen Vorurteile und Voreinstellungen, die die Sehnsucht nach Unmittelbarkeit und Einheit im Konzept der «Homophilie» (ebd.) insofern technisch umsetzen, als sich angeblich Gleiches mit Gleichem verbinden will, durch andere Programmierungen unterlaufen werden. Dabei ist allerdings zu beachten, dass es sich um eine nichtmenschliche Daten-Politik handelt, die nur begrenzt von menschlichen Agierenden korrigierbar und kontrollierbar ist. Interventionistische Eingriffe können also eine Korrektur ermöglichen, würden aber anschliessend Teil der technologischen Operationen, die sich die techno-humanen Ko-Operationen einverleiben. Die smarten Operationen müssten mithin z. B. Ein- und Ausgrenzungen erfassen und vermeiden, statt sie als vermeintlich unschuldigen Input für die eigene Entwicklung zu nutzen.
Dieser Zustand hat methodische Auswirkungen. Statt auf Interventionen zu bauen – etwa im Sinne des cultural hacking zur Umdeutung und Aneignung medientechnischer Operationen (Jörissen 2019), das schon längst operativ integriert ist –, könnte eine diskurskritische-posthumane Bildung daran arbeiten, die Grenzen von Interventionen lesbar zu machen.
Be part, play the game. Bildung für sehr ernste Spiele
Teil der Kultur der diskurskritisch-posthumanen operativen Vermittlung ist schliesslich ob der posthumanen Lage, aus der die technischen Agierenden nicht mehr wegzudenken sind, eine Bildungstheorie, die auf eine diskurskritisch informierte Gebrauchsgeschichte digitaler Kulturen zielt. In deren Fokus stehen multiple Handlungsensembles, die einer Bildung im Sinne eines Trainings für techno-humane Performances und Performanzen bedürfen, wie sie etwa paradigmatisch in den vernetzten Clustern sozialer Medien zum Tragen kommen.
In diesen liefern sich menschliche Agierende und Algorithmen einen nicht nur spassigen Wettkampf. Sollen z. B. smarte Einheiten wie Gesichtsfilter, Quizze oder virtuelle Umwelten zukünftige Kundinnen und Kunden auf Accounts locken, werden diese Operationen im Wissen um deren prekären Status akribisch geplant. Dabei trägt das Wissen von Influencerinnen und Influencern oder Coaches für z. B. Werbung in virtuellen Umgebungen, die u. a. Vermutungen zu den Funktionsweisen der Algorithmen z. B. von Instagram beisteuern dazu bei, eine Ökonomie der Aufmerksamkeit zu erzeugen. Auch die nicht-professionellen Nutzerinnen und Nutzer versuchen, die Logik des Algorithmus zu antizipieren, indem sie sie bedienen und zugleich austricksen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Plattformen wiederum beobachten die ‹Kundinnen und Kunden›, passen die Algorithmen deren Verhaltensweisen an und versuchen dabei, z. B. Tricks beim Anlocken von Followern auszuhebeln und zu verunmöglichen. Die Algorithmen arbeiten schliesslich die ihnen je zugeteilten Aufgaben im Hintergrund ab und machen sich dabei unsichtbar, sodass die Aktionen der menschlichen Agenten in social media ins Spekulative rücken. Es tobt mithin ein regelrechter Wettkampf zwischen den menschlichen Gestalterinnen und Gestaltern, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Instagram und dessen Algorithmen sowie ökonomischen (z. B. Facebook) und politischen Playern der Datentechnologien (etwa Geheimdienste) um die Organisation des Datenflusses. Ziel der Beteiligten ist es, die unterschiedlichen Aktionen je im Wechselspiel zu verstehen, um sie zu unterwandern; was letztlich ob der Komplexität und Intransparenz der technischen Agenten eine Illusion ist.
Da man aus diesem ‹Spiel› nicht aussteigen kann, empfiehlt es sich, es möglichst gut und wendig zu beherrschen. Im geschilderten Wettlauf kommen nämlich – gerade durch das Mitspielen im Rahmen der interdependenten Anpassungen – immer wieder kurze Leerstellen und Momente des Ungewissen auf, die als Möglichkeit für immer neue – wohlgemerkt – anpassende Ent-Unterwerfungen stehen. Mit Letzteren bliebe mithin als diskurskritisch-posthumane Bildung ein letztlich zwar unkontrollierbares, aber doch entschieden und zugleich immer wieder zweifelnd und zaudernd unternommenes Performen mit und Performt-Werden von Technologien. Oder anders: Es geht um das Austarieren der für Medialität und insbesondere für digitale Kulturen konstitutiven Ambivalenz.