Kulturelle Bildung für benachteiligte Kinder und Jugendliche
TheaterpädagogInnen und Clowns, die sich regelmäßig in einer Klinik für krebskranke Kinder einfinden, Tanz und Musik mit Jugendlichen, die Träger des Down-Syndroms sind, ein Foto- bzw. ein Filmprojekt mit Heranwachsenden, die in einer Bürgerkriegszone, einem Katastrophengebiet leben, BildhauerInnen, die mit jugendlichen Strafgefangenen, MusikerInnen, die mit autistischen, mit hyperaktiven, mit traumatisierten Menschen arbeiten, Zirkusprojekte, die von Straßenkindern gestaltet werden – dies alles sind Beispiele für die Bereitstellung von Zugangs- und Gestaltungsmöglichkeiten, die die eigenständige kulturelle Selbstbildung der Adressaten mit organisierter Unterstützung verbinden (vgl. z.B.: Müller 2009; Braun 2011a; Lowinski 2007; Zaiser 2011; Klinikclowns 2012; Inclusion Life Art Network 2012; Kultur vom Rande 2011; The Freedom Theatre 2012; Kinderkulturkarawane 2012).
Diesen Beispielen ist gemeinsam, dass Kulturelle Bildung an solchen sozialen Orten mit Angeboten aufwartet, in denen die Gelegenheiten für symbolische Ausdruckstätigkeit institutionell nicht vorgesehen oder gar weitestgehend zerstört sind. Sie findet aber auch an etablierten Bildungsorten statt, die von den Betroffenen kaum aufgesucht werden. Sie ermöglichen Menschen eine Teilhabe am kulturellen Leben, die von ihrer Lebenslage her teils subjektive, teils strukturelle Einschränkungen aufweisen (Fuchs 2008d). Im Unterschied zu selbstorganisierten Aktivitäten – Kinder, die Bilder malen, Jugendliche, die eigene Bands gründen – sind es hier zielgerichtete Maßnahmen kulturell Schaffender, die ihr Engagement teils ethisch-moralisch, teils sozialpädagogisch, teils (semi-)therapeutisch begründen. Sie versuchen dazu beizutragen, die gegebene soziale Ungleichheit an der Realisierung kultureller Teilhabe zu verringern. Von hier aus erschließt sich, warum von Benachteiligten gesprochen werden kann.
Denn Kulturelle Bildung bietet – dem Anspruch nach – für alle Kinder und Jugendlichen die gleichen Zugangschancen zur Welt ästhetisch-kultureller Gegenstände, Symbole und Ausdrucksformen (Deutsche UNESCO Kommission 2010). Doch ob und welche dieser Chancen von ihnen ergriffen werden (können), hängt nicht nur von der Entwicklung und der Bildung ihrer individuellen Interessen ab; es steht vielmehr in engem Zusammenhang mit den sozialen und (inter-)kulturellen Kontexten ihres Aufwachsens, mit Herkunftsmilieu und Lebensgeschichte, mit wirtschaftlicher Lage und Bildungshorizont der Eltern und Familie und nicht zuletzt mit dem Anregungs- und Anerkennungsreichtum der Infrastruktur öffentlicher und privater Bildungseinrichtungen.
Benachteiligung
Der Begriff „Benachteiligung“ umfasst teils episodenhafte, vor allem aber strukturell-dauerhafte Kontexte, in die Kinder und Jugendliche geraten können und aufwachsen (vgl. Münder 2006). So wäre die zeitweise Ausgrenzung eines Kindes aus der Gruppe seiner Spielfreunde, die es von gleichberechtigter Teilhabe an gemeinschaftlichen Aktivitäten ausschließt, von einer über Jahre hinweg beinahe unveränderten Situation zu unterscheiden, die sein Recht auf Teilhabe durch die enge Begrenzung seiner Ressourcen auf lebensgeschichtlich nachhaltige Weise stark einschränkt, etwa durch Armut, durch Rassismus, durch gewaltsame Beeinträchtigung oder durch Stigmatisierung von Menschen mit Handicaps. Benachteiligung hängt zweifellos stark mit der eingeschränkten wirtschaftlichen Lage der Einzelnen zusammen, sie kann aber auch unabhängig von Armutslagen der Betroffenen vorliegen, weil bereits kulturelle Konstruktionen von Andersheit ausreichen, die sich in Fremdenfeindlichkeit, Vorenthaltung von Informationen und Zugängen zu allgemein anerkannten Teilhabebereichen als Strategien der Exklusion verfestigen (Treptow 2010).
Dementsprechend trifft Kulturelle Bildung für benachteiligte Kinder und Jugendliche auf unterschiedliche Kontexte, in denen kulturelle Ausdruckformen von Kindern und Jugendlichen stattfinden, ermöglicht oder verhindert werden. Denn zunächst finden ihre ästhetisch-kulturellen Bildungsprozesse in jenen sozialen Lebenswelten und institutionellen settings statt, in die sie hineingeboren werden und in denen sie aufwachsen. Diese sind durch eine Reihe von räumlichen, sachlichen, symbolischen und ökonomischen Strukturbedingungen beeinflusst, die die Lebenslage, den sozialen Status und die Reichweite markieren, innerhalb derer symbolische Inhalte, Wahrnehmungskompetenzen und Ausdrucksmöglichkeiten entwickelt und gestaltet werden können. Diese Strukturbedingungen können sehr begrenzt sein oder sehr weite Spannweiten bilden, innerhalb derer Kindern und Jugendlichen Inhalte, Zugänge, Methoden eröffnet oder eben verschlossen werden.
Unterschiede, Vergemeinschaftung, Resilienz
Dennoch sind es nicht selten Kinder und Jugendliche selbst, die die durch Erwachsene vorgenommenen Unterscheidungen gleichsam überspringen. Mögen diese auch deutliche Gründe geltend machen, besondere Andere auszugrenzen – sie selbst finden nicht selten Möglichkeiten, sich durch solidarische Kooperationen über die Grenzen sozialer Unterscheidung hinwegzusetzen. Also jene Bedeutungszuschreibungen zu ignorieren – Hautfarbe, Geschlecht, Handicaps, Herkunft u.a. –, die für Erwachsene Grund genug sind, sie zu benachteiligen. Sie tun dies, indem sie differente Stilelemente zusammen führen und auf diese Weise eine eigene kreative Ausdrucksgestaltung entwickeln, die eher an erlebnisreichen Prozessen und herausfordernder Formgebung interessiert ist als an der Frage, was die beteiligten Akteure voneinander unterscheidet. In dieser Eigendynamik ästhetischer Gestaltung liegt das Potential einer sowohl differenzbestätigenden wie differenzüberwindenden Tätigkeit: Unterschiede werden als wichtige Bedingung für die Entwicklung kreativen Ausdrucks entdeckt, aber sie werden auch als Hemmnis für gemeinschaftliche Aktivitäten überbrückt. Damit arbeitet Kulturelle Bildung auf der doppelten Ebene: auf der Ebene sach- und ausdrucksbezogener Gestaltung (Herstellung und Produkt) und auf einer Ebene sozialer Verständigung (Kommunikation und Interaktion) und bildet so einen Beitrag für integrative Gruppenprozesse (vgl. Treptow 2008b).
Hier reicht die Spannweite von einzelnen situativ wechselnden Angeboten Einzelner über die Gründung von Selbsthilfe-Initiativen der Eltern, die programmatische Selbstverpflichtung öffentlicher und privater Einrichtungen wie Museen, Theater, Orchester (vgl. Grube/Lasch 2005; Müller 2009) bis hin zu regionalen und nationalen Förderprogrammen, die über großflächige Projektfinanzierung in Zusammenarbeit mit Unternehmen Sach- und Personalmittel bereitstellen (Jedem Kind ein Instrument 2011).
Indessen kann der starke öffentliche Zuspruch, den vor allem solche Projekte erfahren, die mit Aufwand für relativ kurze Zeit durchgeführt und dann nicht wiederholt werden, nicht übersehen lassen, dass es Einwände gibt (siehe Mareike Berghaus „Von Modellen zu Strukturen – zur Bedeutung von Modellprojekten in der Kulturellen Bildung“). Die Kritik setzt an der mangelnden Verstetigung, an der Vereinzelung des spektakulären Eventcharakters an, der keineswegs immer der Motivlage der Kinder und Jugendlichen, sondern den Image-Interessen von Unternehmen und Kultureinrichtungen entsprechen und die eine als positiv empfundene Signalwirkung setzen, es gelänge nachhaltig, bildungsfernen Schichten den Zugang zur klassischen Hochkultur zu sichern (Treptow 2011b). Zwischen kurzfristig intensivierten, jedoch langfristig reduzierten Events und dem Staunen vor den Möglichkeiten eines professionell geplanten Multimedia-Projekts entsteht aber immerhin die Vision, dass soziale Spaltung wenigstens über die Inszenierung ästhetisch-kultureller Gemeinschaft auf Zeit überbrückt werden kann.
Teilhabe, Unterstützung, Hilfe
Zugangschancen zur kulturellen Teilhabe für Benachteiligte, genauer: die Chancen ihrer Realisierung nachhaltig zu verbessern, heißt auch, die Begründungen für die Auswahl der Inhalte, der Methoden, der Orte und der Absichten genauer zu bestimmen. Diese Begründungen lassen sich danach unterscheiden, ob allein der Kontakt zur ästhetisch-kulturellen Welt (der Künste, der Museen) intensiviert und die Bildungsgelegenheiten erweitert werden und/oder ob dies darüber hinaus zu Effekten führen soll, die ausdrücklich als Unterstützung bzw. Hilfe bei der Bewältigung von definierten Anforderungen und Problemlagen im Alltagsleben der Kinder und Jugendlichen wirken sollen. Zwar wird der Wahrnehmung kultureller Interessen nicht selten ein positiver Effekt zugesprochen (Findung innerer Balance, Lebenssinn), mitunter auch die antike Idee der Seelenreinigung (Katharsis) etwa beim Erleben der Aufführung von Tragödien. Indessen strebt die Unterstützung von Kindern und Jugendlichen mehrere Ziele an.
Selbstwirksamkeit, Kommunikation, Interaktion
In ihrem Verhältnis zu sich selbst werden sie unterstützt, sich in der Fähigkeit zu bestätigen, ästhetische Prozesse wahrzunehmen, Unterschiede zu erkennen und zu vergleichen, aber auch durch Eigentätigkeit Symbole absichtsvoll zu kreieren, sich zuzutrauen expressiv-gestaltend sein zu können und darin anerkannt zu sein. Im Bereich der sozialen Kommunikation werden Kinder ermutigt, ihren Platz im Gefüge einer interpersonellen Beziehung selbstbewusst einzunehmen und „ihre Rolle“ zu spielen – sei es in musikalischen Gruppenprojekten oder in Inszenierungen des Kindertheaters.
Wie Projekte der Jugendmusikwerkstätten zeigen, ist die Erfahrung der Selbstwirksamkeit, die Überraschung über sich selbst – „Ich hab gar nicht gemerkt, dass ich was lern“ (Biburger/Wenzlik 2009) – eine Chance zur Erweiterung des eigenen Explorationsverhaltens. Wie indessen die Theatererfahrung mit jugendlichen Drogenabhängigen lehrt (Wilde Bühne 2012), entwickelt sich das Bewusstsein, es mit gleichermaßen Betroffenen zu tun haben, denen der Hintergrund ihrer Biografie die Sicherheit verleiht, nicht allein zu sein mit den damit verbundenen Weltbildern, Schwierigkeiten und Hoffnungen. Diese Erfahrung von Ähnlichkeit schafft eine vertrauensbildende Umgebung, die es erleichtert, die individuellen Ängste vor dem Unverständnis Anderer aufgeben und einen kooperativen Gruppenprozess beginnen zu können.
Produkt und Prozess. Erfolge organisieren, Übersetzungen vornehmen
Auf der Ebene der Inszenierung schließlich, verstanden als Ergebnis einer gemeinsamen Anstrengung, die für (Teil-)Öffentlichkeiten präsentiert wird, bildet das Erlebnis, ein Produkt entwickelt zu haben, einen nicht unerheblichen Anteil an der Erfahrung unterstützter Selbstbildung im Kindes- und Jugendalter. Denn die dazu nötigen Verständigungen, die wiederholten Übungen, die Thematisierung unterschiedlicher Vorschläge und Geschmacksvorstellungen sowie die mit der Realisierung zusammenhängenden organisatorischen zeitlich-räumlichen Regeln werden als positive Bedingungen für die eigene produktive Realisierung von Möglichkeiten erfahrbar (siehe Tom Braun/Brigitte Schorn „Ästhetisch-kulturelles Lernen und kulturpädagogische Bildungspraxis“).
Die durch ein Ergebnis (eine wiederholbare Inszenierung, einen Text, eine Skulptur, ein Bild, ein Foto, einen Film u.ä.) mögliche Erfahrung von eigenen Potentialen steht damit in Zusammenhang mit einer durchaus anstrengenden Erfahrung eines Prozesses, in dem soziale Kommunikation eine fundamentale Rolle übernimmt. Im Idealfall verbinden sich die Anerkennungserfahrungen des Prozesses mit denen des Produktes. Das bedeutet beispielsweise im Bereich des „biographischen Theaters“ (Köhler 2009), dass die Thematisierung von selbst erlebten Konflikten, Enttäuschungen, Krisen in eine der Logik des Inszenierungsprozesses entsprechende Formgebung „übersetzt“ werden muss. Diesen Übersetzungs-, d.h. Reduzierungs-, Zuspitzungs- und Korrekturprozess zu meistern kann als gelingender Lernprozess im Kontext von Selbstregulierung und wachsender Verständigungsfähigkeit verstanden werden. Er ist sach- und themenbezogen, kann aber durchaus Erweiterung finden im Blick auf davon abgelöste Fragen nach Austausch über Interessen, die im weiteren lebensweltlichen Zusammenhang der Kinder und Jugendlichen stehen. Nach einem solchen Prozess können Kinder und Jugendliche auf ein Geschehen zurückblicken, in dem sie selbst die Hauptbeteiligten waren. Dies wird wahrscheinlicher, wenn der Unterstützungsprozess die gelingende Balance zwischen Ermutigung und Verzicht auf Leistungsdruck, zwischen Selbstbestätigung und Abstimmung mit Interessen anderer, schließlich zwischen schrittweisen Herausforderungen und eigenen Erfolgserlebnissen erzeugt.
Forschung und Theorie
Je intensiver kulturelle Projekte als Hilfe angeboten werden, desto stärker können sie in die Nähe von therapeutischen Verfahren geraten. Tanz wird dann zur Tanz-, Musik zur Musik- und Malen zur Maltherapie. Die dabei einsetzende Logik des Helfens wird nur dann seriös einzuschätzen sein, wenn sie von entsprechend professioneller Diagnostik begleitet wird, etwa bei der Bewältigung posttraumatischer Belastungsstörungen. Noch immer sind wissenschaftlich gesicherte Belege für diesen Anspruch rar; doch häufig wird nicht die therapeutische, sondern die therapiebegleitende Aufgabe der Arbeit mit benachteiligten Kindern und Jugendlichen gesucht. Im Bereich der Unterstützung zur Lebensbewältigung im sozialen Raum liegen Untersuchungen vor, die den konstitutiven Zusammenhang von Kommunikation und ästhetischem Ausdruck belegen (vgl. z.B. Hill 2011a). Im Kern jedoch wird der Teilhabeanspruch Benachteiligter am kulturellen Leben realisiert, der nicht allein durch Wirkung, sondern durch Wahrnehmung von Rechten, wenn nicht des Menschenrechts auf Bildung, begründet werden sollte.