Tanz als Alltagskultur
Für Curt Sachs, den großen Musikwissenschaftler, der sich in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts intensiv mit dem Tanz beschäftigte und seine Erkenntnisse in dem heute immer noch gültigen Werk „Eine Weltgeschichte des Tanzes“ (1933) dargelegt hat, steht der Tanz „den Wurzeln aller Kunst am nächsten“ (1984:V). Für ihn ist der Tanz „unsere Mutterkunst“, denn er „lebt in Zeit und Raum zugleich“, dessen „überschäumende Lebenslust die Glieder aus stumpfer Ruhe reißt, [...] weil dem Tanzenden magische Kraft erwächst, die ihm [...] Gesundheit, Leben spendet; [...] es gibt keine ‚Kunst’, die solche Weite hätte“ (1984:1).
Diese Gedanken machen das Elementare des Tanzes deutlich und zeigen auf, welchen Stellenwert der Tanz von jeher hatte. Auch heute ist Tanz ein wichtiger Teil des gesellschaftlichen Lebens in Deutschland, sei es in der Tanzkultur, in der Tanzkunst oder im Tanzsport.
Historische Dimension
Historisch betrachtet diente Tanz von den sogenannten Naturvölkern über die höfische und später ständisch geprägte Gesellschaft bis zur heute individualistisch geprägten Gesellschaft dazu, Gruppen zu verbinden oder die eigene Gruppe gegen andere Gruppen abzugrenzen. So waren z.B. die Kreistänze der Frühzeit eine gemeinsame Aktion mit zumeist kultischer Bedeutung oder der Höfische Tanz eine bewusste Abgrenzung des Adels zum einfachen Volk. Außerdem richtete man sich immer nach den gesellschaftlichen Formen und Normen des Landes, das die stärkste politische Macht entfaltete und den Ton in Geschmack und Kultur angegeben hat. Nicht selten wurden Verstöße gegen die gesellschaftlich akzeptierten Konventionen des Tanzes als Angriff auf die eigene Kultur, die eigenen Normen schlechthin verstanden. So gab es immer wieder Tanzverbote, galt der Tanz als unsittlich und sündig. Auch der Walzer war im 18. Jh. ein Skandal und selbst unter den Nationalsozialisten waren die modernen Tanzformen – wie der Ausdruckstanz – verpönt oder sogar verboten. Tanz war also nie nur einfach Bewegen nach Lust und Laune mit oder ohne Musik, sondern spiegelte seit jeher den Zeitgeist wider – war durchaus ein politisches Machtmittel.
Besonders der Missbrauch des Volkstanzes durch die Nationalsozialisten hat dazu beigetragen, dass noch heute in unserem Land dem Deutschen Volkstanz in Forschung, Lehre und Unterricht verbreitet der Ruf der Rückwärtsgewandtheit anhaftet. Im Gegensatz hierzu sind weltweit die meisten Länder bzw. Völker stolz auf ihre traditionellen Tänze, ihr traditionelles Erbe.
Es lohnt sicherlich darüber nachzudenken, ob Goethes Aussage nicht immer noch Gültigkeit hat, dass derjenige, der seine Herkunft und Wurzeln nicht kennt, seine Zukunft nicht gestalten kann und inwieweit eine Gesellschaft, die solches zulässt, sich ihrer eigenen Wurzeln und Möglichkeiten beraubt. Iskra Zankova (Präsidentin Deutscher Ballettrat/Deutscher Tanzrat) meinte sogar in der 10. Sitzung (11.11.2010) des Beirat Tanz der Sektion „Rat für darstellende Kunst und Tanz“ des Deutschen Kulturrats, dass „Kinder und Jugendliche zunächst etwas über ihre Wurzeln erfahren sollten und daher die Volkstänze und Volkslieder ihres Landes kennen lernen müssen“.
Begriffsbestimmung: Tanz als Alltagskultur
Tanz als Alltagskultur kann nur verstanden werden, wenn zunächst klar ist, dass es den Tanz nicht gibt, sondern eine Vielzahl von unterschiedlichen Erscheinungsformen und Stilrichtungen, wie z.B.: Historischer Tanz, Klassischer Tanz, Moderner Tanz, Zeitgenössisch Künstlerischer Tanz, Tanztheater, Zeitgenössische Tanzformen wie HipHop, Jazz, Show etc., Gesellschaftstanz mit Walzer, Tango, Rumba, Cha-Cha-Cha etc. bis hin zum deutschen oder internationalen Volkstanz. Hinzu kommt, dass sich die Vermittlung in allen Bereichen einerseits an die TanzkünstlerInnen, die professionellen BühnentänzerInnen und andererseits an die Laien wendet, die mit unterschiedlicher Motivation und Befähigung tanzen – vom Kleinkind bis zum Erwachsenen. Unklarheiten in der Definition, bei Diskussionen etc. über Tanz sind deshalb quasi vorprogrammiert. Die Dachorganisationen des Tanzes in Deutschland, die im Deutschen Kulturrat in der „Sektion Rat für darstellende Kunst und Tanz“ vereint sind, haben sich deshalb auf eine gemeinsame Sprachregelung geeinigt. Seit einigen Jahren wird nun unterschieden in: Tanzkultur – Tanzkunst – Tanzsport.
Da mit „Tanzkunst“ der künstlerische Bühnentanz, also die Hochkultur gemeint ist, findet die Alltagskultur im Tanz – mit dem größten und vielfältigsten Angebot – heute in den Bereichen „Tanzkultur“ und „Tanzsport“ statt. Sind im Tanzsport die Regeln mit Punktbewertungen im Wettkampf, Turnier etc. maßgebend, so stehen bei der Tanzkultur die ganzheitliche Bildung und das gesellschaftliche Miteinander im Vordergrund. Zielgruppe der Tanzkultur sind die Laien, und zwar vom Kleinkind (ab dem dritten Lebensjahr) bis hin zum Senior bzw. zur Seniorin.
Tanz als Alltagskultur findet in den unterschiedlichsten Bereichen statt:
>> In der frühkindlichen Bildung sollte die Tanzerziehung ihren Ausgangspunkt in dem natürlichen Bewegungsbedürfnis und den Spielerfahrungen des Kindes haben (Martin/ Ellermann 1998:13). Die vielseitige, rhythmisch-musikalisch-tänzerisch geprägte Bewegungserziehung muss im Mittelpunkt stehen! Diese Tanzerziehung erfordert in besonderer Weise ein fundiertes Wissen über die physische und psychische Entwicklung des Kindes und die daraus resultierenden Möglichkeiten, um das Kind zu fördern und ihm nicht – im ungünstigsten Fall – sogar zu schaden. Für diese verantwortungsvolle Aufgabe müssen die ErzieherInnen entsprechend ausgebildet werden.
>> In der schulischen Bildung steht die Vielseitigkeit im Vordergrund. Neben dem Angebot zum Kennenlernen der vielfältigen Erscheinungsformen und Stilrichtungen des Tanzes müssen die Kinder und Jugendlichen jetzt verstärkt angeregt werden, ihr schöpferisches Potential durch Improvisations- und Gestaltungsaufgaben zu entdecken und sich vor einem Publikum zu präsentieren, um ihr Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl zu steigern. In der Regel wird dieser Unterricht von den SportlehrerInnen oder MusiklehrerInnen angeboten. Bei Projekten kann die Zusammenarbeit mit ausgebildeten TanzpädagogInnen oder TanzkünstlerInnen eine gute und interessante Ergänzung sein.
>> In der außerschulischen Bildung wollen die TeilnehmerInnen – Kinder, Jugendliche oder junge Erwachsene – in der Regel einen bestimmten Tanzstil erlernen (z.B. Klassischer Tanz, HipHop) oder sich darin vervollkommnen. Aber auch hier muss darauf geachtet werden, dass wie bei jeglichem Umgang mit Laien verantwortbewusste PädagogInnen den Unterricht erteilen, die die funktionellanatomischen Gesetzmäßigkeiten und psychosozialen Zusammenhänge beachten, um gesundheitliche Schäden – physischer und psychischer Art – zu vermeiden.
>> Bei den Angeboten für Erwachsene steht neben den oben angesprochenen Bedingungen auch das Miteinander in einer Gruppe im Vordergrund. Diese TeilnehmerInnen suchen oft einen Ausgleich von ihren Alltags- und Berufsaktivitäten.
>> Ein Bereich, der in der Zukunft immer mehr in den Mittelpunkt rücken wird, ist der Tanz mit Senioren. Dabei kann es nicht nur darum gehen, sie mit Sitztänzen zu unterhalten. Sie sind an einem vielfältigen Angebot interessiert, das sie einerseits fordert, um sich gesund und fit halten zu können, ihnen andererseits aber auch die Möglichkeit gibt, mit Gleichgesinnten zusammen zu sein, um soziale Kontakte zu pflegen. Hier sind insbesondere erfahrene und für diese Zielgruppe qualifizierte TanzpädagogInnen gefragt, die diesen Ansprüchen gerecht werden.
>> Auch für die Rehabilitation und Prävention wurde der Tanz entdeckt. Gerade die Verbindung von Musik und Bewegung scheint hier einen besonderen Effekt zu erzielen, lassen sich doch so z.B. die Schmerzen vergessen durch das Miteinander beim Tanzen.
>> Ein eigener Bereich ist die Tanztherapie, die jedoch nur von speziell ausgebildeten TanztherapeutInnen angeboten werden sollte.
Was Tanz als Alltagskultur für Kinder und Jugendliche leisten kann
Tanzpädagogik in der Alltagskultur mit ihrem ganzheitlichen Bildungsanspruch legt Grundlagen für eine tänzerisch akzentuierte, ästhetische Bildung junger Menschen. Dazu nutzt sie Potenzen, wie sie der Tanz bietet. Damit weckt und fördert sie:
>> Ausdrucksfähigkeit durch Variationsreichtum in der Bewegung
>> rhythmisch-musikalisch-tänzerische Vielfalt in der Wechselbeziehung von Bewegung und Musik
>> Wahrnehmung des eigenen Körpers und Entwicklung eines individuellen Körperschemas/Körperbildes
>> Einstellung zu verantwortungsvollem Umgang mit dem eigenen Körper
>> Achtung vor der Individualität des anderen, auch des anderen Körpers
>> schöpferische Potentiale jedes Einzelnen
>> Teamfähigkeit in kreativen Gruppenprozessen
>> individuelle Präsentationsfähigkeit mit Stärkung des Selbstwertgefühls
>> Sozialkompetenz beim Tanzen in und mit der Gruppe
>> Kommunikation durch Bewegung
>> Aufbau und die Förderung von Kritikfähigkeit
>> Bewusstsein für die Entstehung und das Wachstum der eigenen (deutschen) Kultur,
>> Bewusstsein für und Akzeptanz von Kulturen anderer Völker bzw. Ethnien
>> Verständnis für historische Wurzeln europäischer und außereuropäischer Kulturen.
Tanzpädagogik kann also Fähigkeiten wecken und fördern, die in jungen Menschen angelegt sind, und helfen, personale und soziale Kompetenzen aufzubauen. Aufbau und Entwicklung der Fähigkeit und Motivation zur Teilhabe an der Gesellschaft und ihrer Mitgestaltung sind damit impliziert.
Weiterhin prägt auch die persönlichkeitsbildende Auseinandersetzung beim Entwickeln von eigenen Tanzmotiven oder Tänzen die jungen Menschen,
>> sei es in Einzelarbeit, wenn es darum geht, die vielfältigen Bewegungsmöglichkeiten des Körpers zu entdecken und wahrzunehmen, um daraus etwas Eigenes zu entwickeln,
>> sei es mit PartnerInnen oder in der Gruppe, um dabei den oder die anderen in ihrer Individualität zu akzeptieren und sich anzupassen.
Tanz war und ist bis heute eine zentrale, gesellschaftlich anerkannte Lerngelegenheit, um das andere Geschlecht kennen zu lernen und sich immer wieder auf neue PartnerInnen einzustellen. Akzeptanz des anderen Geschlechts wird wie selbstverständlich aufgebaut und intensiv gefördert. Es wird allerdings auch die Notwendigkeit deutlich erkannt, im Sinne eines Gender Mainstreamings geschlechtsspezifische Angebote für Jungen zu machen, um das aus der Tradition gewachsene Männerbild zu korrigieren und für Mädchen, um sich frei von psychischen Barrieren ausdrücken zu können.
Projektarbeit, Vorführungen und Wettbewerbe
Eine besondere Herausforderung an die Sozialkompetenz entsteht immer dann, wenn es darum geht, in persönlichem Einsatz anstehende Aufgaben über das Tanzgeschehen hinaus zu übernehmen – eine Lerngelegenheit, die sich gerade im Zusammenhang von Tanzkreisen, Vereinsarbeit etc. bietet. Eine pädagogisch besonders fruchtbare Vernetzung der unterschiedlichen Herausforderungen entsteht im Zusammenhang von Projektarbeit, Vorführungen und Wettbewerben.
Projektarbeit zeichnet sich aus durch interdisziplinäres und interkulturelles Arbeiten sowie durch wechselnde Arbeitsformen von der Einzelarbeit über die Arbeit mit PartnerInnen und in Kleingruppen bis zum Zusammenwirken in der Gesamtgruppe. Diese Form wird bevorzugt bei der Vorbereitung von Tanzvorführungen praktiziert, wenn es darum geht, Tänze für eine Präsentation zu gestalten. In diesem Prozess sind die schöpferischen Potenzen jedes Einzelnen gefordert, wird Teamfähigkeit beansprucht und Kritikfähigkeit aufgebaut. Schließlich wird bei der Aufführung selbst die individuelle Ausdrucks- und Präsentationsfähigkeit verlangt und – je nach Thema des jeweiligen Stückes – in den Dienst der Gruppe gestellt.
Im Wettbewerb werden Kritikfähigkeit und Toleranz in besonderer Weise gefordert, weil sich die Gruppe einer Jury stellt und lernen muss, die Leistung anderer anzuerkennen, wie z.B. bei dem Wettbewerb „Jugend tanzt“ des Deutschen Bundesverbandes Tanz, einem bundesweiten Wettbewerb im Bereich der Tanzkultur, bei den Tanzturnieren des Deutschen Tanzsportverbandes, den internationalen Ballettwettbewerben in Lausanne/Schweiz oder Varna/Bulgarien.
Voraussetzungen und Ausbildungsmöglichkeiten für TanzpädagogInnen
Notwendig sind – sowohl in der Tanzkultur, dem Tanzsport, als auch in der Tanzkunst –TanzpädagogInnen, die über Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten verfügen, wie sie der bereits erwähnte Beirat Tanz/Deutscher Kulturrat mit RepräsentantInnen aus der Tanzkultur und der Tanzkunst im Jahr 2007 in seinen „Mindestkompetenzen und Grundkenntnisse für Tanzpädagoginnen und Tanzpädagogen“ festgehalten hat. Ausbildungsmöglichkeiten bestehen in staatlichen Ausbildungsstätten, den Universitäten und Hochschulen, darüber hinaus gibt es berufsbegleitende Aus- und Fortbildungen, durch die sich interessierte Laien, aber auch TänzerInnen und LehrerInnen tänzerisch-pädagogisch weiter qualifizieren können. Einerseits gibt es Angebote, die mehr auf einen Bereich ausgerichtet sind, wie z.B. BallettpädagogIn oder TanzlehrerIn für Gesellschaftstanz und anderseits breit angelegte Fortbildungen, wie z.B. das Gesamtkonzept Tanzpädagogik des Deutschen Bundesverbandes Tanz mit den drei aufeinander aufbauenden Stufen: TanzleiterIn, TanzpädagogIn und Diplom-TanzpädagogIn für den Bereich der Tanzkultur, in Kooperation mit Universitäten, Hochschulen und Landesverbänden.
Angebote für Tanz in der Alltagskultur
Tanz als Alltagskultur findet heute in Vereinen, Tanzstudios, Tanzschulen, Fitnessstudios, Volkshochschulen und Schulen statt, mit umfangreichen und vielfältigen Angeboten für alle Altersstufen und trägt damit zu einer Kulturellen Bildung im Tanz bei.