Straße oder Jugendclub: Reaktivierung der außerschulischen Kinder- und Jugendarbeit in den neuen Bundesländern

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von Werner Thole

Erscheinungsjahr: 2022/1993

Abstract

Ein dichtes Netz von Jugendklubs in der Stadt und auf dem Land existierte in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Diese Jugendklubs waren mit ihrer künstlerisch-kulturellen Zirkelarbeit, der gezielten Förderung junger Talente ebenso wie den breitenwirksamen Film-, Tanz- und Konzertveranstaltungen wohnortnahe Einrichtungen kultureller Teilhabe junger Menschen sowie deren Familien. Wie diese Einrichtungen sich nach der Auflösung der DDR veränderten, schildert der gekürzte Artikel aus dem Jahr 1993 exemplarisch anhand der Landschaft der kommunalen Kinder- und Jugendclubs der Stadt Halle an der Saale: Der Status quo von neun Kinder- und Jugendclubs wird vorgestellt und gibt Einblicke in deren räumliche, inhaltliche und personelle Situation der Nachwendejahre. Eine Befragung der Besucher*innen spiegelt zudem deren Lebensverhältnisse wider. Diese Ergebnisse werden in Vergleich mit der westdeutschen Alterskohorte gesetzt.
Aus der damaligen Perspektive wird abschließend der Frage nachgegangen, wohin sich die außerschulische Kinder- und Jugend(kultur)arbeit in den neuen Bundesländern entwickeln könnte. Und für die Gegenwart kann dieser Beitrag vielleicht Auskunft geben über das Woher – Wohin und warum der Osten heute noch so anders „tickt".

Jugendklubs in der DDR

Die regional breite Jugendklublandschaft der DDR am Ende der 1980er Jahre verdankt sich einem – auch von jugendlichen Selbstinitiativen mitgetragenen – expansiven Aus- und Neubau von Jugendfreizeiteinrichtungen, partiell auch von Kinderfreizeiteinrichtungen ab Mitte der 1970er bis Mitte der 1980er Jahre. Diese Ausweitung realisierte sich demnach mit einer leichten zeitli­chen Verzögerung in demselben Jahrzehnt, in dem in den Ländern der Bundesrepublik die offene Kinder- und Jugendarbeit personell und räumlich ihre bisher inten­sivste Expansi­onsphase erlebte.

Die Angaben über die tatsächliche Anzahl der Jugendklubeinrichtun­gen in der DDR variieren leicht. Ausgegangen wird allgemein von ca. 10.000 Jugend­klubhäusern, Mehrraumjugendklubs und Jugendklub­zimmern (vgl. Lindner 1991; Müller 1990). Die offizielle Statistik des Amtes für Jugendfragen der DDR erfasste 1988 allerdings lediglich 9.499 Jugendklubein­richtungen in der Trägerschaft von Be­trieben, Schulen, Universitäten und Hoch­schulen, staatlichen Organisa­tionen und von Kommunen. Allein 6.797 eh­renamtlich verwaltete Jugendklubeinrichtungen befanden sich in kom­munaler Trägerschaft. Die 823 haupt­amtlich ge­leiteten Ju­gendklubs unterstanden ebenfalls zumeist den kommuna­len Räten (vgl. Seiden­stücker 1990; Weicht/Weicht 1992).

Allein in Berlin-Ost konnten in dem Zeitraum zwischen 1981 und 1985 2.356 neue Plätze für ältere Kinder und Jugendliche in Klu­beinrichtungen geschaffen wer­den. Die Schaffung dieser Plätze erfolgte im Rahmen des neuen Woh­nungs­bauprogramms und stützte sich auf Meinungsumfragen, die festhielten, dass die quali­tative Ausgestaltung und Be­schaffenheit von Wohnumfeldern im starken Maße die Wohnzufrie­denheit und das familiale Zusammenleben, aber auch die Art der kul­turellen Aktivi­täten beeinflusst (vgl. Aßmann/Winkler 1987). Die sozialistische Ide­alvorstellung, der zufolge mit der Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmit­teln die ent­fremdende Differenz von Arbeit und Frei­zeit sich gleich­falls negiert und die Verwirkli­chung der individu­ellen Bedürf­nisse zur gesellschaft­lichen Aktivität avan­ciert, beförderte in diesem Zeitraum den Ausbau von staatlichen und halb­staat­lichen Dienstlei­stungsangeboten in eine höhere Planungspriorität. Die Eta­blierung eines breitflächigen Freizeitangebo­tes entsprach vollends der program­mati­schen Intention, die Entwicklung der sozia­listischen Le­bensweise durch „sinnvolle", kulturelle Gestaltungen der Frei­zeit und „gesellschaftlich nützli­che" Tätigkeiten zu fördern und zu si­chern (Aßmann/Winkler 1987:138f.; vgl. auch Akademie der Pädagogischen Wis­senschaften 1978). (…)

Der Freizeitbereich in der DDR war (...) mit einem hohen Bildungsanspruch belegt – zumindest auf der Proklamationsebene. So existierten neben den Jugendfreizeiteinrichtungen in nahezu allen größeren Kommunen Volkshochschulen. Musikschulen waren an 89 Orten zu finden. Im Kulturbund waren neben den (Alltags-)KünstlerInnen und (Alltags-)LiteratInnen auch die BriefmarkenfreundInnen und NumismatikerInnen organisiert. Die von ihnen, aber auch von den Kommunen, Betrieben und Gewerkschaften betriebenen 670 Kulturhäuser bildeten eine eigene Kulturraumlandschaft neben den Kultur„palästen" der staatli­chen Organisationen wie der Freien Deutschen Jugend (FDJ), die Jugendorganisation, und dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) sowie der Polizei und Armee und den sieben Häusern des Ministeriums für Staatssicherheit (Stasi). Zusammen mit den 1.663 Volks-, Kinder-, Gewerkschafts- und Be­triebsbibliotheken, den 66 Theatern und 450 Museen konstituierten sie das räumlich-institutionalisierte Tableau der Kulturarbeit in der DDR (vgl. Groschopp 1991). Und auch die quan­titativ durchaus beachtliche „Kleingärtner-, Siedler- und Kleintierzüchterkultur" mit eigenen Bildungs- und Kulturhäusern prägte die Spezifik der realsozialistischen Alltagskultur unterhalb der Verlautbarungskultur ebenso mit wie die kleinen, aber durchaus lebendigen autonomen Jugendkulturen, Literaten- und Künstlerszenen. Darüber hinaus gab es etwa 2.400 künstlerische Interessengemeinschaf­ten mit über 37.000 TeilnehmerInnen in den diversen Freizeiteinrichtungen (Zahlen für 1986). Die sich hier entwickelten „künstlerisch-kulturellen" Initiativen entsprachen allerdings nicht durchgängig den Erwartungen des zentralistischen Staats- und Parteiapparates. Die Selbstinitiative und die Eigenaktivitäten in den Projekten der kulturellen Arbeit wurden kritisch angefragt und zum Forschungsfeld. Unter anderem interessierte, welche „Gestaltung des Erzie­hungsprozesses zu beachten ist, wenn ein aktives Verhalten zu den Zielen und Aufga­ben der Pionierorganisationen auf dem künstlerisch-kulturellem Gebiet her­bei­geführt werden soll“ (Geidel 1978:8). Die Ergebnisse der Untersuchungen hielten fest, dass „die Herausbildung von Initiative in der kul­turell-künstlerischen Tätigkeit" von den Leitungen der Pioniergruppen optima­ler gefördert werden kann, wenn die „kulturellen Bezie­hungen im Kollektiv bewußter" und „stets in Verbindung mit den politischen Anliegen des Pionierauftrages ge­staltet werden" (Geidel 1978:11).

(…) Über 90% der Jugendklubgründungen ging eine Initiative von Jugendli­chen voraus und annähernd ebenso viele unterstanden einer jugendlichen „Selbstverwaltung" (vgl. Müller 1990). Dennoch waren die Jugendklubs keine poli­tikfreien Oasen. Insbesondere die Grundorgani­sationen der Freien Deutschen Ju­gend kooperierten mit den Selbstverwaltungsorganen der Jugendklubs und nahmen mehr oder weni­ger massiv Einfluss auf die inhaltliche Ausgestaltung der Pro­gramme und Angebote in den Einrichtungen. Die im Verlauf der 1980er Jahre zunehmende Präsenz der staatlichen Organisationen kann als eine sukzes­sive sich ver­stär­kende Form so­zialer und politischer Kontrolle interpretiert werden (Bernd Lindner 1991; vgl. auch Weicht/Weicht 1992). Resultat dieser Einmischung war, dass viele aktive KlubbesucherInnen sich gegängelt und ge­maßregelt fühlten, die Lust und das Interesse an der Klubar­beit verloren und sich zurückzogen. Dem entgegen hebt Margrit Müller (1990) den relati­v eigenakti­ven Freiraum in den DDR Ju­gendklubs auch noch in den 1980er Jahren hervor. Der Wi­derspruch zwischen diesen bei­den Deutungsweisen ist hier nicht auf­zuklären und so muss un­deutlich bleiben, wie direkt und intensiv kul­turpolitische Vorgaben auf die Programme und die Frei­zeitgestaltungsmöglichkeiten von Kindern und Ju­gendlichen in den Jugend­klubeinrichtungen einzuwirken ver­mochten. (…) So legte der Zentralrat der Freien Deutschen Jugend (FDJ) zu Beginn der 1980er Jahre auf der Rostocker Jugendklubtagung zwar fest, dass die Jugendklubs von den Kreisleitungen, den FDJ-Grundeinheiten zu führen sind. In der 1987 er­lassenen Jugendklubverordnung wurde diese allgemeine Leitlinie präzisiert. Planungsprozesse, die Leitung und das Fi­nanzwesen unterlagen ab diesem Zeitpunkt einer stärkeren Kon­trolle (vgl. Weicht 1991:41). Damit wurden die for­male Entscheidungsstrukturen zwar örtlich zentralisiert und die „freien" Gestal­tungsmöglichkeiten in den Einrichtungen eingeschränkt, aber nicht vollständig verunmöglicht. Kaschiert über das „Notwendige", konnten unter Ausblendung kon­fliktträchtiger Inhalte die Freizeitangebote in den Klubeinrichtungen häufig weiterhin „frei" geplant und realisiert wer­den.

Der vorliegende Beitrag versucht (…) dem Prozess der Reorganisation der außerschulischen Kinder- und Jugendarbeit in der deutsch-deutschen Nachwendezeit nach­zugehen. Exemplarisch wird die Entwicklung in der Saalestadt Halle betrach­tet. Die außerinstitutionellen, selbstorganisierten Initiativen und die konzeptionellen Pläne der Kommu­nalverwaltung, die Reaktivierung der außerschulischen Pädagogik in den Kinder- und Jugendeinrichtungen sowie die Freizeitinteressen der diese Einrichtungen besuchenden Kinder und Ju­gendlichen werden (…) referiert. Abschließend wird ein vorläufiges Fazit der bisheri­gen Umwälzungen und ein Ausblick zu benennen versucht.

Jugendliche Selbstorganisation und kommunalpolitische Konzeptualisierung der außerschulischen Kinder- und Jugendarbeit

Mit dem Zerbersten der zentralbürokratischen Organisationsgesell­schaft Deut­sche Demokratische Republik standen nicht nur die politi­schen und ökonomi­schen Sy­steme vor der Aufgabe, sich zu reorganisie­ren, sondern ein bis dato zumindest äu­ßerlich funktionie­rendes Netzwerk von Sozialstrukturen und sozialer Absiche­rung ge­riet ins Wanken. Die staatlichen und ju­gendpolitischen Organisationen, die zu DDR-Zeiten die Biographien der Heranwachsenden wesentlich begleiteten und ab­stützten, verloren für die Kinder und Jugendlichen ihre inhaltliche und struktu­rieren­de Bedeutung. Das Altbewährte konnte keine verlässlichen Sicherheiten mehr liefern. (…)

Aus dem „Runden Tisch der Jugend" her­aus entstand im Frühjahr 1990 die Arbeitsgemeinschaft „Demokratischer Jugend­bund" mit 33 Mit­gliedsorganisationen und dem Anspruch, die unter­schiedlich ausge­richte­ten Jugend­initiativen in den neuen Bundesländern zu för­dern und de­ren Probleme und Inter­es­sen gemeinschaftlich zu artikulieren. Aus der Rückblende sicherlich kein gescheiterter, sicherlich aber auch kein gelungener Orientierungsversuch. Denn die of­fiziellen An­gaben des Demo­kratischen Jugendbundes von über 2 Millionen Mitgliedern wurden schon bald kritisch angefragt und reale Schätzungen gingen fortan da­von aus, dass in keinem der neuen Jugendverbände mehr als 10% der angege­benen Mitglieder mitar­beiten (vgl. Pogundke 1991; Benner 1990). So hatte der Landesjugendring Sachsen zum Beispiel Ende 1992 21 Mitgliedverbände. Zusammen repräsentieren diese jedoch lediglich 2000 aktive Mitglieder (vgl. Lang/Tully 1993). Viele Landes-, Kreis- und Stadtju­gendringe gründeten sich, lösten sich we­gen Inak­tivität wieder auf, gründeten sich erneut und lösten sich wieder auf, noch bevor in­haltliche und strukturelle Konturen sich herauszubilden vermochten. Der Reorganisa­tionsprozess der kinder- und jugendver­bandlichen Landschaft in den neuen Bundes­ländern zeigt heute ein gebro­chenes Bild. (…)

Diese allgemeine Tendenz konkretisiert sich in den Kommunen – exempla­risch ver­deutlicht in diesem Beitrag an der Stadt Halle. Von den in Halle in den Jahren 1989 und 1990 ge­gründeten Kinder- und Jugendverbänden existierte im Jahr 1992 keine Initiative mehr als reiner Mitgliederverband. Die sich in die Kinder- und Ju­gendpolitik noch einmi­schenden Initiativen und die Projekte, die aktiv mit Kin­dern und Jugendlichen kultu­rell oder sozialpädagogisch arbeiteten, hatten sich schnell zu Dienstleistungs­verbän­den mit einer minimalen akti­ven Mitglieder­schaft ent­wickelt oder strebten ei­ne dementsprechende Fortschreibung ihrer Arbeit an. Einige bemühten sich um eine An­erkennung als freier Träger der Jugendhilfe, um den Verlust an eh­renamtlichem Engagement über die Einstel­lung von hauptamtlichem Personal, zumeist über Arbeitsbeschaffungsmaß­nahmen, auszugleichen.

Parallel entstanden in Halle (…) In­teressengemeinschaften und so­zialkul­turelle Leistungsanbieter wie die „Kindervereinigung", der „Kanena Ju­gend­treff", der „Freie Kultur­verein", der „Verein für Freizeit und Erho­lung", der „Verein für Ju­gend, Bildung und Kom­munikation" und die „Vereinigung Kommu­nale Kul­tur Halle". Teilweise knüp­fen sie an In­itiativen aus der DDR-Zeit an, führten diese unter an­derem Namen fort oder institutionali­sierten ehemalige „Nischenkulturen" unter den verän­derten Bedingungen. Projekte wie das „Antifa-Café", die „Kellnerstraße e. V.“, das „Objekt 5", das „Fahradies", das „Pfusch", das „Gig" sowie das „Reformhaus" ent­sprangen hin­gegen einer alternativen Aufbruchsstimmung. (…)

Die öffentliche außerschulische Kinder- und Jugend(kultur)arbeit, die in der DDR nicht in das Ressort der Jugendhilfe fiel (vgl. Münder 1990; DJI 1990), reorga­nisierte sich gegen Ende 1990 problembezogen. Im Ge­gensatz zu anderen Handlungsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe – wie den Kin­derkrippen, -gärten und -horte, die sich auf ein dichtes räumliches und personelles Ver­sor­gungsnetz stützten – konnte sich der Reor­ganisationsprozess der außerschulischen Kinder- und Jugendarbeit nicht an be­stehende Strukturen an­schlie­ßen. (…) Zu den ersten wohlfahrtsstaatlichen Jugendprojekten, die in Halle 1990 neu entstan­den, gehörte ein de­zentralisiertes Streetwork-Projekt in sechs Stadtteilen. Schon zum 1. September 1990 wurden zudem 10 Jugendclubs von der Kommune reaktiviert. Von den circa 40 Ju­gendklubs, die 1988 in Halle existierten, wurde damit die Mehrzahl der Mehrraumeinrich­tungen und grö­ßeren Jugendfreizeitklubs in die kommu­nale Träger­schaft über­nommen. Ab dem späten Frühjahr 1991 wurde, in Kooperation mit Vertrete­rInnen aus westdeutschen Jugendämtern, an einer „langfristigen Strategie zur Entwicklung der Jugendfreizeiteinrich­tungen in der Stadt Halle" gearbeitet. Die Situa­tion der Kinder und Jugendlichen in Halle wird in diesem Konzeptions­papier in alarmierender Schärfe vorgetra­gen:

„Die aktuelle Problem- und Bedürfnislage der jungen Generation im Osten Deutschlands hat sich seit dem Herbst 1989 grundlegend verändert. (...) Konkret für die Stadt Halle stellt sich die Situation fol­gendermaßen dar:

  1. ca. 500 Ju­gendliche ohne Lehrstelle (...)
  2. 5.900 Jugendliche sind arbeitslos
  3. 33% der Ju­gendlichen sind alkoholgefährdet
  4. (...) rund 2.000 psychosozial auffällige Kinder und Jugendliche, wobei eine sehr hohe Dunkelzif­fer anzunehmen ist.

Aufgrund der besonderen sozialen Bedingungen ist davon auszugehen, daß ca. 50.000 der 85.000 Kinder und Jugendli­chen suchtgefährdet sind. Bei über 400 Problemfelder zum Einstieg in die Drogenszene ist in zunehmendem Maße mit mehreren tausend Drogenkonsumenten zu rechnen" (Informationsvorlage 1991:2).

Unbestreitbar ist, dass Halle an der Saale aufgrund seiner topographi­schen Lage – die Stadt liegt im Zentrum der maroden Industriezonen Buna, Leuna und Bit­terfeld – mit besonderen sozialen, ökonomischen und infrastruktu­rellen Pro­blemen und Risiken belastet ist. Doch die subjektiven Risikobela­stungen, die die zitierte Vorlage nennt, liegen jenseits jedweder empirischen Solidität.

(…) Die soziale, freizeitbezo­gene, kulturelle und pädagogi­sche Kinder- und Jugendarbeit wird de facto re­duziert auf ein Präventionspro­gramm gegen Gewalt, Devianz und angenommener Psychopathologien. Damit wird die außerschulische Kinder- und Ju­gendarbeit ihres Normalitätsanspruches entkleidet. Zwei­tens wird der Eindruck er­weckt, als sei die außer­schulische Kinder- und Jugendarbeit imstande, die aufgezeig­ten problematischen Le­benslagen und selbstzer­störerischen Fluchtbewegungen von Kindern und Jugendli­chen durch soziale und pädagogische Interventionen zu kom­pensieren. Eine solche pädago­gische Omnipotenz fordert geradezu dazu heraus, die Öffentlichkeit und die Politik dazu an­zuhalten, die prak­ti­sche Arbeit auch an den formulierten Vorgaben im Nachhinein zu beur­teilen. Zu befürchten und leider auch schon abzusehen ist, daß die MitarbeiterInnen in den entsprechenden Projekten sich dann gegen das Ar­gument „gescheitert durch Un­fähigkeit" zu wehren haben, also einem Ar­gument ent­gegnen müssen, dem durch die konzeptionelle Anlage die Rede bereitet wurde. Programmatische Sätze wie "Wer heute Ju­gendarbeit verhin­dert, muß sich über die Gewalt von Morgen nicht wundern" (Informationsvorlage 1991:5) stützen diese Ten­denz und erwecken Erwar­tungen an die außerschulische Kinder- und Jugend­arbeit (…).

Zwischen „Heavy-Café", Hanteln und Selbstorganisation: Porträts der kommunalen Kinder- und Jugendclubs

Die vom Autor durchgeführte Untersuchung wurde im Frühjahr 1992 abgeschlossen. Neun von zehn existierenden kommu­nalen Jugendfreizeiteinrichtungen der Saalestadt Halle wurden in die Untersuchung einbezogen – freie Träger unterhalten bis heute keine nennenswer­ten, kommunalpolitisch gewollte und unterstützte offene außerschulische Freizeitein­richtungen für Kinder und Ju­gendliche in dieser Stadt. Die Ergebnisse lassen grob und nur mi­ni­mal konturiert drei unterschiedliche Typen erken­nen. (…)

Einrichtungen der „klassischen" Jugendarbeit

Die überwiegende Mehrzahl der kommunalen Kinder- und Jugendfreizeit­einrichtun­gen sind Orte einer als „klassisch" zu bezeichnenden Kinder- und Jugendarbeit: Kinder und Jugendliche finden sich hier zwanglos ein, tref­fen ihre Freunde und Freundinnen, kommunizieren, spielen, planen ihre Aktivitäten, auch die, die sie zunächst außerhalb der Einrichtung zu verwirklichen suchen, und beteiligen sich je nach Motiva­tion an den spora­dischen Angeboten. Sieben Einrichtungen können diesem Typus zugeordnet werden.

  • Jugendfreizeiteinrichtung „Gimritzer Damm"
    Die Jugendfreizeiteinrichtung „Gimritzer Damm" besteht seit 1983, liegt in Halle/Neustadt und ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut zu erreichen. Die ju­gendlichen StammbesucherInnen sind hauptsächlich zwischen 14 und 18 Jahre alte SchülerInnen aus allen Schularten. Viele Eltern der Be­sucherInnen arbeiten oder arbeiteten noch bis vor kurzem in den Chemiekombinaten in Leuna oder Schko­pau. Die Unklarheit über die Zukunft dieser „chemischen Giftzonen" be­stimmt die Gespräche in den Familien, trägt an sie ein Risikopotential heran, das hier, zumal Verarbeitungserfahrungen fehlen, häufig eine rasch emotional eskalierende Atmo­sphäre entstehen lässt. In der Einrichtung herrscht (…) eine freundschaftliche Stimmung unter den Jugendlichen und zwischen ihnen und den MitarbeiterInnen. Es arbeiten hier zurzeit jeweils drei ABM-Kräfte hauptamtlich sowie mehrere ehrenamtliche MitarbeiterInnen. Die Einrichtung besitzt einen gut ausge­statteten Kraft­raum, einen EDV-Raum, in dem der Computerclub tagt, einen relativ selten genutzten Raum für so­ziales Spie­len und Lernen, einen großen Saal für Discoveranstaltungen sowie eine Küche und eine Werkstatt für den Hausmeister. Das ehemalige Fotolabor wird heute als Ab­stellkammer genutzt. Es finden Schach-, Tischtennis- und Skattur­niere, Pantomimekurse und Mini-Playback-Shows statt. Der offene Treff in der Bar sowie der Computer- und Kraftsportraum werden von den Jugendli­chen gut angenommen. Die weiteren Angebote werden nur von wenigen ge­nutzt. Die Jugendfreizei­teinrich­tung „Gimritzer Damm" hat dienstags bis sonntags von 13 bis 19 Uhr geöffnet, am Vi­deoabend donnerstags und zur Disco freitags bis 22 Uhr. Sonntags haben nur Club­mitglieder Zutritt. Das Mobiliar der Räume wurde kürzlich erneuert und viele Gesellschaftsspiele wurden angeschafft, die Räume befinden sich jedoch in einem renovie­rungsbedürf­tigen Zustand.
  • Jugendfreizeiteinrichtung „Roxy"
    Die Jugendfreizeiteinrichtung „Roxy" wurde ebenfalls Mitte der 1980er Jahre er­baut. Sie ist, ob­gleich im Südpark von Halle/Neustadt gelegen, gut erreichbar für die Neustädter Jugendlichen. Ju­gendliche aus anderen Stadtteilen müssen aller­dings lange Anfahrtswege in Kauf nehmen. Den gemischten BesucherInnenstamm stellen Kinder zwischen 6 und 10 Jahren sowie Jugendliche zwischen 16 und 25 Jahren. Nach der Wende wurden drei hauptamtli­che MitarbeiterInnen neu eingestellt. Ferner en­gagieren sich 15 Ehren­amtliche in der Einrichtung. Das Haus ist mit einem Discoraum, einem Sitz­raum, einem Barbereich mit Sitzecke, einem Club- und Billardraum mit Kicker und einer kleinen Küche ausgestattet. Des Weiteren wird Zirkelarbeit zu bestimmten Themen an­geboten. Die Disco, Ferienfreizeiten, Sportfest, Basteln und Faschingsfeten komplettieren die Angebotsstruktur. Am Vormittag treffen sich regelmäßig ar­beitslose Jugendliche und junge Mütter in den Räumen. Die Jugendlichen entwickeln starke Eigeninitiative bei der Durchführung der Dis­coveranstaltungen, der Innen- und Außengestaltung des Hauses sowie der Organi­sation des Reinigungsdienstes. Wäh­rend die Mädchenarbeit und neu ein­geführte Angebote nur wenig Resonanz finden, werden Kin­derveranstaltun­gen, Disco, Sportveranstaltungen sowie die Spielautomaten besonders gut genutzt. Bei den Fe­rienfreizeiten besteht eine überaus große Nachfrage. Die Einrichtung ist täglich außer sonntags von 9 bis 23 Uhr geöffnet, wobei ver­schiedene Zirkel an verschiedenen Tagen sowie dreimal wöchentlich Disco stattfindet. Es wurden neue Spielautomaten und eine Videoanlage angeschafft. Die Discoan­lage und die Einrichtung müßten nach Auskunft der MitarbeiterInnen jedoch erneuert werden.
    Die Freizeiteinrichtungen „Gimritzer Damm" und „Roxy" sind augenblicklich die beiden einzigen Freizeiteinrichtungen in Halle/Neustadt, dem größten, in den 1960er Jahren errichteten Neubaustadtteil Halles. Ein weiteres Frei­zeitzentrum wurde schon im Frühjahr 1990 geschlossen. Inzwischen ist in den ehema­ligen Räumlichkeiten des Kinder- und Jugendfreizeitzentrums der Technische Über­wachungsverein (TÜV) Halles untergebracht. (…) 
  • Jugendfreizeiteinrichtung „Heide"
    Randständig liegt die erst 1990 eröffnete Jugendfreizeiteinrichtung „Heide" im Norden Halles. Halle-Nord, der jüngste Stadtteil Halles, ist von der Innenstadt aus nur mit dem Bus und nach mehr­maligem Um­steigen zu erreichen. Die Be­sucherInnen des Hauses sind SchülerInnen und Auszubildende im Alter zwi­schen 13 und 20 Jahren, wobei der offene Treff vornehmlich von den 13- bis 16-Jäh­rigen besucht wird. Der Umgangsstil ist sehr aufgeschlossen und vertraut, auch zu den MitarbeiterInnen. Es sind zurzeit drei hauptamtliche und 20 ehrenamtli­che Mitar­beiterInnen in der Einrichtung tätig. Die räumliche Ausstattung ist ausrei­chend. Die Billard- und Bücherecke, der Tischten­nisraum, die Sitzecke und die zwei Bars werden täglich genutzt zum Klönen, Haus­aufgaben erledigen und zum Lesen. Im großen Discoraum findet regelmäßig am Samstag eine Tanzveranstaltung statt. Sonst ist er von der Thea­tergruppe, dem Sei­denmal-Kurs oder dem sich im Aufbau befindlichen Gitar­renunterricht belegt. Weitere Angebote sind die Zeichenzirkel und ein Zirkel für darstellendes Spiel, die einmal wöchentlich statt­finden. Die Jugendlichen übernehmen den Reinigungsdienst, die Gestaltung von Werbe­plakaten und die Organisation der Disco. Sie werden auch in die Renovierungs- und Ausgestaltungsarbeiten einbezo­gen. Die Einrichtung ist montags bis freitags von 8 bis 22 Uhr, sonnabends von 15 bis 24 Uhr und sonntags von 15 bis 20 Uhr geöffnet.
    Im Gegensatz zum Jugendfreizeitzentrum „Heide" liegen die drei Einrichtungen im südlichen Halle auch für die Kinder und Jugendlichen, die im Zentrum Halles wohnen, infrastrukturell und verkehrstechnisch günstiger.
  • Jugendfreizeiteinrichtung „Neuerer"
    Die Jugendfreizeiteinrichtung „Neuerer" befindet sich seit 1986 in einem Neu­baugebiet mit ho­her Bevölkerungsdichte in günstiger Verkehrslage. Die BesucherInnen sind 13- bis 16-Jährige aus der näheren Umgebung. Es herrscht eine stark ausgeprägte Cliquenbildung vor, die eine ausgrenzende und ab­schreckende Wirkung auf andere Jugendliche ausübt. Nach der Wende wurde die MitarbeiterInnenstruktur und das Gesamtkonzept völlig ge­ändert. Gegenwärtig sind 3 hauptamtli­che MitarbeiterInnen und eine ABM-Kraft tätig. Die Haupträume des Hauses werden als Tischten­nis-, Musik-, Bar- und Spiel­raum genutzt. In einem kombinierten Computer- und Bastelraum finden Mäd­chen- und Computergruppen statt. Die nicht genutzte Küche soll in Kürze in eine Nähstube umgebaut werden. Die Ausstattung wirkt unzweckmäßig. Die BesucherInnenzahl zeigt, dass der Club mit seinen Angeboten wie Tischtennis und Gesellschaftsspiele bei den Jugendlichen Resonanz findet. Aktiv beteiligen sie sich jedoch nur selten. Der Club ist von Dienstag bis Sonntag von 13 bis 19 Uhr geöff­net, bei besonde­ren Veranstaltungen wie der wöchentlichen Bandprobe bis 22 Uhr.
  • Ju­gendfreizeiteinrichtung „Bummi"
    In dem infrastrukturell wenig erschlossenen Neubaugebiet Silberhöhe befindet sich seit 1983 die Ju­gendfreizeiteinrichtung „Bummi" in verkehrsgünstiger Lage. Den BesucherInnenstamm bilden fast aus­schließlich Jugendliche über 18 Jahre aus den hoch problembelasteten Wohngebieten der Silberhöhe. Ein BesucherInnenkern hat sich zur sogenannten "Clubmannschaft" von ca. 25 Personen ge­funden und fordert be­sondere Privilegien. Der Club besteht aus einem Saal mit Tischtennisplatten, einer Bar und angrenzen­der Küche, einer RaucherInnen- und Automatenecke, zwei kleinen Lagerräu­men, einer Werkstatt für Bastel- und Reparaturarbeiten im Keller und einem Raum, der den Mitgliedern der Clubmannschaft vorbehalten ist. Diese nehmen auch vornehmlich an den gemeinsamen Fahrten und anderen internen Aktio­nen teil. Für die weiteren BesucherInnen gibt es offene Angebote wie Dis­coabende, das „Heavy-Café", Gymna­stikstunden und eine Arbeitslosen- und Konfliktberatung. Letztere wurde aber bisher so gut wie nie in Anspruch ge­nommen. Die Eigeninitiative der Jugendli­chen ist sehr dürftig. Am häufigsten besucht werden die Angebote in der Disco und der offene Bereich. Die Art und der Zustand der räumlichen und materiellen Ausstattung er­scheint mangel­haft. Nur der Clubraum wurde renoviert und ist freundlich einge­richtet. Für die weitere Renovierung fehlt es an Geld. Der Club ist täglich von 15 bis 22 Uhr geöffnet. Zweimal in der Woche werden Dis­co­abende veranstaltet, einmal in der Woche wird das „Heavy-Café" oder Hardrockmusik angeboten.
  • Jugendfreizeiteinrichtung „Eule"
    Die Jugendfreizeiteinrichtung „Eule" besteht seit 1985 und liegt in dem dichtbe­siedelten Neubau­gebiet Halle-Süd. Die 14- bis 20-Jährigen, hauptsächlich aus dem Stadtteil kommenden BesucherInnen können, im Gegensatz zu den weni­gen, die die Einrichtung aus anderen Stadtteilen kommend besuchen, diese zu Fuß errei­chen. Im Frühjahr 1992 waren drei hauptamtliche MitarbeiterInnen und ABM-Kräfte hier beschäftigt sowie 20 bis 25 ehrenamtliche MitarbeiterInnen enga­giert. Die Mitarbeit der Jugendlichen beschränkt sich auf die Organisation der Discover­anstaltungen und die Teilnahme an dem Computerclub. Zur Freizeitgestaltung steht eine Druckerwerkstatt, ein Fitness- und Computer­raum, eine Küche, eine Fahrrad- und Holzwerkstatt und eine Siebdruckanlage für Papier, Textilien und Folie zur Verfügung. Der offene Bereich besteht aus mehreren Räumen mit Billardtischen, Tischtennisplatten und Gesellschafts­spielen. Bevor­zugte Angebote sind die Disco­veranstaltungen, die Ferienfahrten und der Kinder­zirkel. Die Einrichtung ist täglich von 14 bis 22 Uhr geöffnet. Alle 14 Tage finden am Freitag, Samstag und Sonntag Discoveranstaltungen statt. Durch einen Zuschuss vom ehemaligen DDR-Übergangsministerium für Jugend und Sport in Höhe von 150.000 DM waren viele Neuanschaffungen und eine Reno­vierungsmaßnahme im Juni 1990 möglich, so dass das Haus und die Aus­stattung in einem guten Zustand sind.
    Eine weitere Einrichtung der „klassischen" Jugendarbeit weist ein Profil auf, das in Richtung „soziokulturelles" Zentrum ausgerichtet ist und weiteren Aufgaben der kom­munalen Jugendhilfe Räume zur Verfügung stellt.
  • Freizeiteinrichtung „Weiße Rose"
    Die Freizeiteinrichtung „Weiße Rose" wurde vor 22 Jahren eröffnet und ist damit die älteste der hier vorgestellten Einrichtungen. Zum Untersuchungszeit­punkt – März 1992 – waren drei haupt­amtli­che sowie ABM-Mitarbeite­rInnen in der Einrichtung tä­tig. Die neurenovierte Jugendstil-Villa steht unter Denkmalschutz und bietet meh­re­re, verschieden nutzbare Räume: ein Mädchen-, Spielzimmer und Beratungs­raum, der ein­mal in der Woche von der Jugendgerichtshilfe, der Jugendar­beitslosenhilfe und der Adopti­onsvermittlung für Beratungen für Kinder, Jugendliche und Erwach­sene belegt wird. Ein weiterer Raum wurde als Café eingerichtet, in welchem nach der Wiedereröffnung offene Kinder-, Jugend- und Familientreffs durchgeführt werden sollen. Im Keller befindet sich eine Art Nachtbar mit großen Ni­schen und einer Tanzfläche, die für Discoveranstaltun­gen genutzt wird. Eine große Rasenfläche bie­tet die Möglichkeit zum Spielen und Toben im Freien. Weitere Angebote sind Kinder- und Jugend­zirkel, Kera­mikzirkel, gemeinsame Freizeitgestaltung für Kinder der 1. bis 5. Klasse. Das Mobiliar ist in gutem Zustand. Gesellschaftsspiele, Tisch­tennisplatten, Zelte und ein Grill sind vorhanden; Fernseher, Plattenspieler und Musikanlagen gibt es in der Einrichtung nicht. Die Einrichtung wird nach Beendung aller Renovierungsarbeiten von Sonntag bis Freitag zwischen 14 und 22 Uhr geöff­net sein. Bei Bedarf wird am Samstag eine Disco durchgeführt.

Selbstverwaltung als Prinzip

Fiel schon bei den bisher vorgestellten Kinder- und Jugendfreizeiteinrich­tungen der hohe Selbstak­tivierungsgrad der BesucherInnen in den Clubs auf, er­reicht er in dem Jugendcafé „Völkchen" einen Grad, der stark in Richtung inne­rer Selbstverwaltung tendiert. Insgesamt ist dies ein über­raschender Befund, ist doch all­gemein in Bezug auf das Sozial- und Erzie­hungssystem in den neuen Bundesländern seit 1990 eine deutliche Ab­nahme von ehrenamtlichen Aktivitä­ten und Hilfsformen aus den lebens­weltlichen Milieus heraus festzustellen. Der im Vergleich zu den ande­ren Freizeitein­richtungen höhere Bildungsgrad der ju­gendlichen BesucherInnen sowie die periphere Lage des Stadtteils können ne­ben der Existenz einer weiteren Einrichtung in unmit­telbarer Nähe, die ein kul­turell anders orien­tiertes BesucherInnenspektrum anspricht, Indizien sein, die diese Ent­wicklung beeinflussten:

  • Freie Begegnungsstätte „Jugendcafé Völkchen"
    Die freie Begegnungsstätte „Jugendcafé Völkchen" wurde 1985 in einem Neubau­gebiet der Südstadt eröffnet. Die Einrichtung wird von einem festen SchülerInnen­stamm zwischen 12 und 25 Jahren genutzt. In den Abendstunden kom­men auch einige Auszubildende und berufstätige Jugendliche. Durch den hohen Bekannt­heitsgrad untereinander ist der Umgangston zwischen den Jugendlichen und den LeiterInnen sehr freundschaftlich und vertraut. Die Leitung des Clubs ob­liegt einem jungen Ehepaar. Das Raumangebot umfasst drei große, miteinander verbundene Zimmer mit Tisch­ten­nisplatte, Spielautomaten und Poolbillard, Couchecke und einer großen Terrasse. Freizeitangebote sind Gesellschaftsspiele und Discoveranstaltungen; außerdem gibt es einen Computerraum und ein Videofilmstudio. Die Zirkelar­beit – wie Zeichnen – ist noch im Aufbau. Momentan gibt es keine fi­nanziellen Mittel für KursleiterInnen. Die Jugendlichen sind sehr aktiv bei der Umsetzung eigener, neuer Ideen und ha­ben den Club im letzten Sommer in Eigenregie umgebaut. Sie organisieren den Reini­gungsdienst sowie die Discoabende und den Bardienst. Durch das große En­gagement der Jugendli­chen ist das ganze Haus in einem sehr guten Zustand. Die Einrichtung ist montags bis frei­tags von 14 bis 21 Uhr geöffnet. Während der Schulferien gibt es ganztägige Aktivitäten.

„Kommerzialisierte" Einrichtungen

Zwei stärker kommerziell ausgerichtete Freizeitstätten komplettieren die Jugendclu­blandschaft in Halle:

  • „Sportzentrum Steg"
    Das im November 1990 eröffnete „Sportzentrum Steg" wird überwiegend von männlichen Jugend­lichen zwischen 10 und 18 Jahren aus problembelasteten Mili­eus besucht und dient haupt­sächlich sportlichen Zwecken. Das Team be­steht aus einem hauptamtlichen und drei ehrenamtli­chen Mitar­beiterInnen. Das Zentrum besteht aus zwei großen Räumen für sportliche Aktivitäten sowie ei­nem Umkleide- und Aufenthaltsraum. Unter folgenden Angeboten kann ge­wählt werden: Trimmfrei­zeitangebote, Kindersportfeste, Fitnesstraining, asiati­scher Kampfsport, wobei die beiden letzten Angebote am häufigsten genutzt werden. Alle BesucherInnen müssen den gleichen Monatsbeitrag von fünf DM entrich­ten. Die räumliche Ausstat­tung kann durch die große Anzahl neuer Sportgeräte als sehr gut bezeichnet wer­den. Täglich trainieren hier bis zu 120 Jugendliche, schwerpunktmäßig an „Kraftmaschinen".
  • Freizeitstätte „Die Lampe"
    Die Freizeitstätte „Die Lampe", eine Diskothek, befindet sich ebenfalls, wie der zur Zeit renovierte Jugendclub „Wasserturm" und das „Bummi" in dem Stadtteil Silber­höhe. Der ehemalige Jugendklub „Die Lampe" wurde im Dezember 1991 von einem Ge­schäftsmann gepachtet. Vier Angestellte lei­ten das Projekt. Die Finanzie­rung ge­schieht mit eigenen Mitteln. Das Publikum besteht überwie­gend aus be­rufstätigen StammbesucherInnen ab 16 Jahren. In dem größten Raum finden die Discoveran­staltungen statt. Zusätzlich gibt es einen kleinen Saal (…) und einen Raum mit einer Bar, Billard­tischen, Spielautomaten und Sitzecken. Der große Saal wird dreimal im Monat für das Puppentheater zur Verfügung gestellt. Das Billard-Café ist sonntags bis donnerstags von 18 bis 24 Uhr geöffnet. Am Freitag finden von 18 bis 3 Uhr und am Samstag von 20 bis 4 Uhr Discoveran­stal­tungen statt. Der Discosaal ist ebenso wie die übrigen Räume gut ausgestattet.

Die BesucherInnen

Die Porträts der Kinder- und Jugendfreizeiteinrichtungen vermitteln unab­hängig von institutionellen Strukturschwierigkeiten und einer noch nicht ent­wickel­ten päd­agogischen Professionalität das Bild von aktiven Handlungsfeldern. Obwohl die offiziell angege­bene BesucherInnenquote nicht erreicht wird, er­scheint das All­tagsleben in den Ein­richtungen vielfältig, auch bezüglich der kultureller Ak­tivitäten, und bunter entwic­kelt als in vielen Ju­gendfreizeiteinrichtungen der alten Bundesländer (vgl. Thole 1993). (…)

Allgemeine Hinweise zur Untersuchungspopulation

Zu Beginn des Jahres 1992 füllten 262, 150 männliche (57,3%) und 112 weibli­che (42,7%) BesucherInnen der vorgestellten Jugendfreizeiteinrichtungen einen standar­disierten Fragebogen zu ihren Freizeitaktivitäten und zu den Motiven ihres Besuches der kommunalen Freizeiteinrichtungen aus. Über 80% der Befragten gehörten der Altersgruppe der 14- bis 18-Jährigen an. Die Altersverteilung deckt sich mit der Beobach­tung, dass die kommunalen Jugendfreizeiteinrichtun­gen der Stadt Halle pri­mär von Mädchen und Jungen der „klassischen Adoleszenzphase" frequentiert wer­den. Knapp die Hälfte der Jugendlichen und älteren Kinder, die in die Befragung ein­bezogen werden konnten, besuchten eine Realschule (48,5%). Ein Gymnasium besuch­ten zum Untersuchungszeitpunkt 13% und eine Berufs­schule 19%. Lediglich 3,1% der Be­fragten gaben an, eine Hauptschule zu besu­chen. Die schulische Bildungsaspiration der Hallenser JugendclubbesucherInnen dürfte damit auf einem leicht höheren Niveau liegen als die in vergleichbaren Einrichtungen in den alten Bundesländern.

Die familiale Situation der JugendclubbesucherInnen ist disparat. Lediglich gut die Hälfte (55,3%) leben in familialen Gemeinschaften mit beiden leibli­chen Eltern. Nur mit der Mutter zusammen leben 16% und nur mit dem Vater zu­sammen 1,9%. Knapp 15% wohnen mit der Mutter und einem Stiefvater zu­sammen und immerhin 6,5% der jugendlichen ClubbesucherInnen leben in ei­nem Haushalt, dem weder die leibliche Mutter noch der leibliche Vater ange­hören. Ein Vergleich mit der „Schülerstudie '90" (Behnken u. a. 1991) zeigt, dass in Halle prozentual deutlich mehr ClubbesucherInnen in un­vollständigen oder gebro­chenen familialen Verhältnissen aufwachsen. 73 von 100 Kindern und Jugendli­chen wuchsen laut der „Schülerstudie" (Behnken 1991:112; vgl. Büchner 1993) bei den leiblichen Eltern auf. Von den ClubbesucherInnen konnten nur 55 von 100 entsprechend antworten und im Vergleich zur Schülerstudie wach­sen doppelt so viele Kinder und Jugendliche der „Jugendclubstudie" in Lebens­gemeinschaften auf, in der weder der leibliche Vater noch die leibliche Mutter ge­genwärtig sind. Der Prozess der Pluralisierung lebens­weltlicher Orientierung hat den schon zu DDR-Zeiten begonnenen Prozess der Auflö­sung und Verviel­fältigung fami­lialer Lebensformen (vgl. Kabat vel Job 1991) in den letzten zwei Jahren beschleunigt und verschärft. Kin­der und Jugendliche, die die kommunalen Freizeiteinrichtungen besuchen, schei­nen in familialen Lebensgemeinschaften zu wohnen, die von diesem Prozess be­sonders betroffen sind.

Befragt nach den außerhäuslichen Berufstätigkeiten notierten die Clubbesuche­rInnen in jeweils fast gleicher Häufigkeit, dass ihre Mutter einer Anlern- oder Hilfstätigkeit, einem handwerklich-technischen Beruf, einer kaufmännisch ver­waltenden Tätigkeit oder ei­ner pädagogisch-medizinischen Dienstleistung nachgeht. Arbeitslos waren 18,7% der Mütter. Die Tätigkeiten des Vaters ha­ben einen eindeutigen Trend zu handwerk­lich/technischen Berufen (28,6%). 8,8% der Väter waren den Angaben der Kinder und Jugendlichen zufolge ar­beitslos. (…)

Freizeitorientierungen

Die JugendclubbesucherInnen verbringen ihre Freizeit am liebsten mit ih­ren Freunden und Freundinnen in der Clique (84%) oder mit ihrem Freund oder Freundin allein (61,5%). In einem Verein oder in einer Jugendgruppe ver­bringen im­merhin knapp 40% einen Teil ihrer freien Zeit. (…)

Befragt nach den Freizei­torten, an denen sie sich oft in ihrer Freizeit aufhalten, ran­giert der Jugendclub mit deutlichem Abstand an der Spitze. 78,6% der befragten Kinder und Ju­gendlichen halten sich vornehmlich hier auf. Daneben be­vorzugen 39,7% einen bestimmten Treffpunkt. Signifikante Unterschiede zeigt die „Jugendclubpopulation" damit zu anderen Untersuchungen, wo für die Freizeitorte „zu Hause", „auf der Straße" und „im Gelände" ausgeprägter votiert wurde (vgl. u.a. Büchner 1993). Für eine Mehrheit der JugendclubbesucherInnen scheint die ge­wählte kommunale Freizeiteinrichtung der Ort zu sein, auf den sich, zumindest für eine gewisse Zeit, die Freizeitansprüche konzentrieren und wo insbe­sondere der Wunsch, sich mit FreundInnen zu treffen, fast ausschließlich realisiert wird.

Die Freizeitvorlieben (…) wurden anhand einer Liste mit 25 Aktivitätsvorgaben ab­gefragt. „Musikhören" genoss bei den weiblichen wie männlichen Befragten eine hohe Priorität (61,8%). Auch Reden oder „Quatschen" wurde durchschnitt­lich hoch (59,5%) notiert. Die Mädchen (70,8%) vo­tierten hier jedoch höher als die männlichen Befragten. In der Rangfolge folgt dann bei allen Kindern und Jugendlichen Fernsehen, Sport, Computer, Treffen auf der Straße, Tanzen, Lesen, Interesse an Tieren, Schreiben von Briefen oder Tage­büchern, Malen, Zeichnen und Fahrrad fahren. (…)

Langeweile in der Freizeit ist gerade im Kontext der Diskussionen um die „Offene Ju­gendarbeit" ein immer wieder zitiertes Thema. Langeweile in der Freizeit empfinden von der befragten Jugendclubpopulation „oft" 6,1%, „manchmal" 42,2% „selten" 40,8% und „nie" 10,7%. Auffällig ist, dass die ab 19-Jährigen weniger Langeweile ver­spüren als die jüngeren Jugendlichen und Kinder. Die 13-Jährigen erleben am häufig­sten Langeweile.

In den letzten drei Jahren wurden die schulischen Freizeitangebote in den neuen Bundesländern drastisch reduziert. 53,8% der befragten BesucherInnen gaben an, dass an ihren Schulen keinerlei Frei­zeitangebote mehr vorhanden sind. Die vorhandenen Möglichkeiten werden je­doch auch nur noch von 12,2% der Befragten genutzt. 37,7% befragten BesucherInnen der kommunalen Freizeiteinrichtungen lehnen diese so­gar vollständig ab. Die wohnortnahen Freizeitan­gebote werden von 62,2% als unge­nü­gend beziehungsweise nicht ausreichend eingestuft. Als fehlend werden Sportange­bote (23,3%), öffentliche Räume (15,3%), Diskotheken und Tanzveranstaltungen (7,3%) genannt. Die Ambiva­lenzen der Umbruchsituation do­kumentieren sich hier besonders drastisch. Ei­nerseits werden die freizeitorientierten Zirkelangebote und Kabinette an den Schulen nicht mehr genutzt, zum Teil weil sie unattraktiv erscheinen, aber auch, weil sie strukturell immer noch eine DDR-Verpflichtungsmentalität dokumentieren. Andererseits wird die qualitative und quanti­tative Infrastruktur der außer­schulische Freizeitengebote als ungenügend empfunden. Insgesamt zeigt sich aber auch, dass konsumtive Angebote der „Trivial-/Populärkultur" relativ schnell eine wohnortnahe Infrastruktur etablieren konnten. 84,4% der Kinder und Jugendlichen gaben an, in der näheren Umgebung eine Videothek zu haben. 61,5% konnten auf eine Spielothek in Wohnortnähe verweisen und knapp 80% auf eine Kneipe und/oder eine Diskothek. Lediglich Bibliotheken sind den Kindern und Jugendlichen zufolge ver­gleichbar dezentralisiert ge­streut. Über 48% gaben an, in ihrer näheren Umgebung befände sich eine Bü­cherei.

Die Jugendclubs im Erleben der BesucherInnen

Auch die Jugendclubs liegen für die meisten Kinder und Jugendlichen in der Nähe ih­res Wohnortes. Knapp 90% der BesucherInnen der kommunalen Frei­zeiteinrichtun­gen wohnen in der näheren Umgebung der Einrichtungen. Die gegebene Fußläufigkeit der Jugendclubs mag auch erklären, dass 76% der be­fragten Kinder und Jugendlichen sich mehr als dreimal wöchentlich dort ein­finden. Am intensivsten werden die kommunalen Frei­zeiteinrichtungen von der Altersgruppe der 14- bis 16-Jährigen frequentiert. Auffallend ist die hohe Besuchsfrequentierung der Mädchen. 78% von ihnen kommen mehr als dreimal und 16% im­merhin zwei- bis dreimal in der Woche. Die Jugendclubs weisen demnach eine stabile, regelmäßig kommende BesucherInnenstruktur auf. Doch lediglich 12,5% der Jungen und 10,5% der Mädchen kommen wegen der „tollen" Angebote. Dass sie auch in die Jugendclubs kom­men, weil es außerhalb der Clubs keine attraktiven Angebote gibt, sagen 34%. Knapp 70% geben an, auch wegen der FreundInnen zu kommen. (…)

Besuchen die befragten weiblichen und männlichen Kinder und Jugendlichen nicht die Clubeinrichtungen, dann treffen sie sich auf der Straße oder langweilen sich (55%). Das gilt be­sonders für die weiblichen Jugendlichen, die keinen an­deren Freizeitort sehen und auch nur im geringen Umfange andere Jugendein­richtungen besuchen würden. Die meisten Kinder und Jugendlichen empfinden die Atmosphäre im Club „locker und aufgeschlossen" (61,8%). Dennoch stellen eine gereizte Stimmung immerhin 27,1% der Befragten fest. 35,9% sagen, dass in den Einrichtun­gen eine Cliquenbil­dung vorherrschend ist. Die Gestaltung des besuchten Jugendclubs gefällt 74,8% der Befragten und nur 14,5% lehnen die derzeitige Gestaltung ab. (…)

Resümieren wir die Ergebnisse der „Jugendclubbefragung" (…), ist die insgesamt positive Grundein­stellung der Kinder und Jugendlichen zu „ihren" Freizeiteinrichtungen augen­fällig. Besonders her­auszustreichen ist, dass die befragten Kinder und Jugendli­chen von den MitarbeiterIn­nen einen überwiegend positiven Eindruck mitteilen, obgleich die von ihnen offerierten Angebote, vornehmlich von den Mädchen, eher skeptisch und häufig als nicht ausrei­chend emp­funden werden.

Die Jugendclubs, auch das zeigt die Untersuchung deutlich, sind für die befragten Kinder und Jugendlichen nicht nur ein zentraler, sondern der Freizeitort schlechthin. Ohne die Jugendclubs, zumindest machen das die Befragungsergebnisse für Halle deutlich, wären viele Kinder und Jugendliche ohne Bindung und ohne einen Ort zum Treffen. Andere Freizeitorte haben einen nicht annähernd so hohen Stel­lenwert und sind zu­dem auch nicht geeignet, die Funktionen und Aufgaben, die die Kinder und Jugendlichen auf die Jugendclubs konzentrieren, zu übernehmen. Die neuen Frei­zeitorte wie Spielhallen, Videotheken oder Diskotheken haben auf­grund ihres kom­merziellen Charakters zwar einen attraktiven Stellenwert, aber wegen ihrer finanziel­len Voraussetzungen sind viele Jugendliche nicht in der Lage, diese regelmäßig zu be­su­chen. Auch darüber bekom­men die Jugendclubeinrichtungen einen hö­heren Stel­lenwert. Im Vergleich zu den kommerziellen Freizeitorten sind die Jugendclubs für die befragte Kinder- und Jugendlichenkohorte jedoch nicht nur der preisgünstigere, sondern auch der at­traktive Ort für die Realisation ihrer Wünsche in der Freizeit. Die zentrale Bed­eutung der Jugendclubeinrichtungen zeigt (…) keine signifi­kanten geschlechts- und al­ters­spezifischen Differenzierungen, auch wenn die getrof­fenen Aussagen sich pri­mär auf die Jungen und Mädchen der Altersgruppe der 14- bis 17-Jährigen be­ziehen. Inwieweit sie auf die älteren Kinder und „jüngeren" Jugendlichen in gleicher Weise zutreffen, ist hier nicht eindeutig anzugeben.

Versuche in Rich­tung Fazit: Wohin entwickelt sich die außerschulische Kinder- und Jugend(kultur)arbeit in den neuen Bundesländern?

(…) Wir leben heute inmitten ei­nes sozial-kul­turellen Großversuchs, von dem nicht abzusehen ist, wie er endet (Offe 1992). So sehr diese Problemskizze allgemein auf die andauernden politischen, sozia­len, kul­turel­len und ökonomischen Umwälzungen zutrifft, so sehr trifft sie auch im Konkre­ten auf das Feld der außerschu­lischen, sozialpädagogischen wie kulturellen Kinder- und Ju­gendarbeit zu (vgl. DJI 1990; Backhaus-Maul/Olk 1991). (…) Lediglich Kontu­ren des zukünftig Möglichen schimmern durch. Noch ist nicht eindeutig auszu­machen, welche inhaltli­chen und strukturellen Formen der Umbau- und Reorganisationsprozess letztendlich annehmen wird. (…)

  1. Deutlich erkennbar ist erstens, (…) dass kommunale Aufgaben­felder, deren Übernahme nicht gesetz­lich vor­geschrieben ist, finanziell mangelhaft ausge­stattet und von einer festen kommunalen Etatisierung ausgegrenzt bleiben. Die kulturelle, soziale und politische Jugendarbeit sowie die so­zialpädagogische Kinder- und Jugendarbeit werden mittelfristig (…) nur auf einem gerin­gen Finanzniveau in den kommunalen Haushalten Berück­sichti­gung finden. Insbesondere die Etatisierung von Planstellen wird zurück­hal­tend ge­schehen. Projektmittel und zeitlich befristete Förder­programme können wegen ihrer begrenzten Dauer die notwendigen Handlungsinitiativen nur kurz- bis mit­tel­fristig kompensie­ren. Hierdurch wird die Organisation einer kontinuierlichen und konstanten sowie konzeptionell lang­fristig und grundlegend angelegten Pädagogik des Kindes- und Jugendalters in den außer­schulischen Handlungsfeldern auf einen noch nicht absehbaren Zeitraum verschoben. (…) Eine bedarfsorientierte Kinder- und Jugendhilfeplanung, die auch die Bestandteile der kommunalen Kulturplanung integriert, die die Bereiche von Kinder- und Jugendkul­turarbeit betreffen, und ein hierauf fundierter Ausbau der sozialpädagogisch und kul­turell ausgerichteten Kinder- und Jugendarbeit, die mehr ist und mehr zu sein wünscht als kommunale Kinder- und Jugenddisco, Bastel- oder Spielstube, ist gefordert.
  2. Zweitens überdeckt die partiell zu schnelle und unreflektierte Übernahme westdeut­scher Strukturen auch in der Kinder- und Jugendhilfe die DDR-typi­sche Ausformu­lierung von Angeboten für Kinder und Jugend­liche. Die noch in DDR-Sozialisa­ti­onskontexten gewonnenen kulturellen Kompetenzen konnten sich unter den neuen sozial-politischen Bedin­gungen nicht mehr überall entsprechend ihrer Arti­kulations­fähigkeiten entfalten. Die Zirkel-Kultur der DDR hatte, fast schon ver­ges­sen, eine breite Kleinkunstlandschaft ent­wickelt, die heute zu veröden droht. (…) Zu hoffen ist, dass die noch bestehenden kulturellen Pro­jekte sich nicht ihrer „künstlerischen" Orientierung durch aus dem „Westen" trans­formierte sozialpädagogische Programme entledigen. Schon jetzt ist zu erkennen, dass nur noch die wenigsten Jugendklubs in den neuen Bundesländern explizit kulturelle Projekte mit Kindern und Jugendlichen initi­ieren. Zielgruppenspezifische Angebote ohne konkret inhaltliche Akzentuierungen überwie­gen. (…) Auch die Reaktivierung der Verzahnung von Schule und Freizeit, schuli­schen und außerschulischen Freizeitangeboten, die in der DDR eine entwickelte Tradition vorweisen konnte, erscheint überlegenswert.
  3. Als mangelhaft entwickelt zeigt sich noch die subsidiäre Un­terfütterung der kommunalen Jugend- und Kulturlandschaft durch freie Träger. Ein plural geglie­dertes Gebilde von an unterschiedliche Milieus und Interessen gerichtetes Ange­bot bedarf der ausdrücklich gewollten Förderung. (…)
  4. Deutlich artikulieren die Ergebnisse viertens ein auch schon anderorts mehrfach kon­statiertes Fachkräfteproblem (vgl. u. a. Backhaus-Maul/ Olk 1991, 1992). Weniger in den kulturell ausgerichteten, stark jedoch in den sozialpädagogi­schen Hand­lungsfel­dern ist ein enormes Professiona­lisierungsdefizit auszu­machen. Pädago­gische Inter­ventionen z.B. werden wenig bis gar nicht argumentativ ab­ge­stützt und re­duziert auf eine Wenn-Dann-Interaktion. Damit verbundene Unsi­cherheiten werden im Alltag zudem versuchsweise immer wieder durch rechtliche Inbeziehungssetzungen kompensiert. Häufig erlangt das Kinder- und Jugendhilfegesetz den Rang einer „pädagogischen Theorie" der Kinder- und Jugendhilfe. (…)
  5. Der Zerfall kollektiver Identitäten und lebensweltlicher Milieus (…) mit seinen enttraditio­nalisierenden und indivi­dualisieren­den Effekten zeigt in den neuen Bundesländern deutliche Spu­ren. Die Herstel­lung von So­zialität und kul­tureller Identität wird zunehmend deutli­cher auch in den Landschaften der neuen Bundesländer lebenswelt­lich entfremdet und zur Aufgabe der Individuen selbst. Parallel hat ein neues soziales und kulturelles Dienstleistungsnetz aber einen flächen­deckenden Orga­nisationsgrad auch nicht nur annähernd er­reicht, um den kulturellen Freisetzungspro­zess entlastend abzufedern. (…)
  6. Hervorzuheben ist sechstens, dass den Kinder- und Jugendfreizeiteinrichtungen im großstädti­schen Umfeld auch weiterhin eine zentrale Bedeutung als freizeitkulturelle Treffpunkte für die heranwach­sende Ge­neration zukommt. Für viele Kinder und Ju­gendliche sind die kommunalen Einrichtungen neben öffentlichen Treffpunkten wie die „Straße" die einzigen Orte, sich mit Al­tersgleichen zu treffen, insbesondere für die Altersgruppe der 14- bis 18-Jährigen (…). Vor dem Hintergrund der oben referierten Ergebnisse ist ausdrücklich auch vor einer weiteren Kommerzialisierung der kommunalen Jugend­clubeinrichtungen zu war­nen. (…)

Die Diskussion zeigt, dass die Dynamik der Neuorganisation der kulturellen und sozi­alpädagogischen Kinder- und Jugendarbeit in den neuen Bundesländern nicht un­ge­brochen, aber auch nicht völlig ohne erkennbares Profil erfolgt. Wie erfolgreich sie letztendlich sein wird, hängt auch davon ab, inwieweit es gelingt, tradierte Denk- und Verhaltensfiguren der „realsozialistischen" Ära zu überwinden, aber auch davon, inwieweit von unreflektierten Übernahmen altbundesrepublikanischer Lösun­gen ab­gesehen werden kann. Dazu gehört auch, die Differenz zwischen Schule und Kinder- und Jugendhilfe sowie zwischen kultu­rellen und so­zialpädagogischen Inhalten und Ar­beitsformen in der Kinder- und Jugendarbeit we­niger konkurrenzvoll, viel­leicht mehr kooperativ zu verstehen und mit entsprechen­den Modellen in der Praxis zu ex­peri­mentieren. Gelingt das, dann werden die Entwicklungen in den neuen Bundesländern vielleicht sogar innovative Potentiale und Ideen für die Praxis in den Alt-Bundeslän­dern vorlegen können.

Verwendete Literatur

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Anmerkungen

Dieser Beitrag ist die durchgesehene, redigierte und wesentlich gekürzte Fassung eines ursprünglich in der Zeitschrift „Neue Praxis“, Jg. 23 (1993), Heft 3, 185-205, publizierten Beitrages. Eine erste Fassung des Aufsatzes konnte zusammen mit Stephan Kolfhaus erstellt und im Band der Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung (1993): „Woher – Wohin. Kinder- und Jugendarbeit in Ostdeutschland“, 58-74, veröffentlicht werden. Auslassungen sind durch Klammern (…) gekennzeichnet.

Die Datenerhebung erfolgte im Rahmen des Lehr-Lern-Forschungsseminars „Die Kinder- und Jugendclubs und das Freizeitverhalten von Kindern und Jugendli­chen" wie auch die Erstellung der Porträts zu den Jugendclubs an der Pädagogischen Hochschule Halle-Köthen.

Die PH Halle-Köthen war 1989 eine von neun Pädagogischen Hochschulen der DDR. Im Jahre 1965 wurde auf Veranlassung des Ministeriums für Volksbildung und des Zentralrates der FDJ dort ein vierjähriges Fachstudium „Freundschaftspionierleiter" eingeführt. Auf Grundlage eines Kabinettsbeschlusses der Landesregierung in Sachsen-Anhalt vom 11. 12. 1990 wurde an der PH Halle-Köthen dieser Studiengang „abgewickelt“. Ab dem Sommersemester 1991 wurde ein erziehungswissenschaftlicher Hauptfachstudiengang, unter anderem mit einem sozialpädagogischen Schwerpunkt, eingerichtet. 1993 erfolgte die Integration der PH Halle-Köthen in die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Hinweis: Jugendklub wurde in der DDR mit K geschrieben, hingegen in der BRD mit C. Diese unterschiedliche Schreibweise wurde in den Artikel entsprechend der Historie integriert.

Zitieren

Gerne dürfen Sie aus diesem Artikel zitieren. Folgende Angaben sind zusammenhängend mit dem Zitat zu nennen:

Werner Thole (2022/1993): Straße oder Jugendclub: Reaktivierung der außerschulischen Kinder- und Jugendarbeit in den neuen Bundesländern . In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://kubi-online.de/index.php/artikel/strasse-oder-jugendclub-reaktivierung-ausserschulischen-kinder-jugendarbeit-den-neuen (letzter Zugriff am 16.07.2024).

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