„Irgendwas hat der Tanzsack bewirkt“ — Eine qualitative Studie zum Einsatz von Tanzsäcken in der Bewegungsimprovisation
Abstract
Der Beitrag beschreibt ausgewählte Ergebnisse eines interdisziplinären Forschungsprojekts, das an der Universität Kassel im Zuge des durch das BMBF geförderte Projekt PRONET (Professionalisierung durch Vernetzung) entwickelt wurde. Ziel war es, Studierende der Fächer Musik, Kunst, Sport (Tanz) in ihrer Explorationsbereitschaft zu fördern.
Im Rahmen des Seminars machten wir die Beobachtung, dass eine Praxiseinheit mit Tanzsäcken auf die Seminarteilnehmer*innen eine besondere Wirkung hatte: Während Einstiege in explorative Bewegungsarbeit bei Studierenden oft auf anfängliche Skepsis, Zurückhaltung und Unsicherheit stoßen, beobachteten wir im hier beschriebenen Seminarkontext, dass es den Studierenden bei Zuhilfenahme des Tanzsacks erstaunlich schnell gelang, sich auf ungewohnte Bewegungs- und Improvisationsaufgaben einzulassen.
Mit der Studie wollen wir die Besonderheit einer ästhetischen Tätigkeit mikroanalytisch in den Blick nehmen und vermuten gerade in „der qualitativen Betrachtung unterschiedlicher Kunstsparten, Genres und Vermittlungsarten“ (Reinwand-Weiß 2020:167) ein hohes Potenzial für die Erforschung kultureller Praxis. Die Fallanalyse rekonstruiert, welche Erlebnisse für die Studierenden in der Bewegungsarbeit mit Tanzsäcken relevant waren. Es wird sich herausstellen, dass das Erleben von Anonymität und Schutz sowie die Flexible Widerständigkeit zentrale Bedeutung im Umgang mit dem Material hatten und es Hinweise darauf gibt, dass tänzerische Exploration angestoßen werden konnte.
Einleitung
Ein Unterricht, der ästhetische Bildungsprozesse initiieren und künstlerische Praxis ermöglichen möchte, kann mit den in Schule üblichen, zielgerichteten didaktischen Planungen in Konflikt geraten. Combe hat am Beispiel von „Jazz im Unterricht“ gezeigt (vgl. Combe/ Helsper 1994 zit. nach Helsper 2011:159), „dass das starre Festhalten an intentionalen didaktischen Planungen den Modus ästhetisch-offener Erfahrung bricht und sich lediglich in einem Unterrichtsverlauf, in dem Zeit gelassen wird und die Alltagsspekulationen der Schüler zum Tragen kommen, Momente ästhetisch-kreativer Bildung zeigen“ (Helsper 2011:159). Allgemeine Kriterien für ‚gelingenden‘ Unterricht lassen sich daher nur teilweise auf Unterricht übertragen, der ästhetische Bildungsprozesse anstoßen will (vgl. Bilstein 2020:64). Das Gelingen eines solchen Unterrichts hängt – wie von Helsper und Combe angedeutet – weniger von der Planungskompetenz der Lehrkraft ab, als von ihrer Fähigkeit, sich von Planungen zu distanzieren, flexibel auf Impulse von Schüler*innen einzugehen und diese situativ in den Unterricht zu integrieren. Die „pädagogische Antinomie“ (Helsper 2011:156) des Lehrer*innenhandelns zwischen der Notwendigkeit zu lenken und Freiraum zu gewähren, kann in ästhetisch-künstlerischen Kontexten als besonders herausfordernd wahrgenommen werden, da die gleichzeitige Verpflichtung gegenüber schulischen Notwendigkeiten und ‚künstlerischer Freiheit‘ das Spannungsverhältnis, in dem sich die Lehrpersonen bewegen, weiter verschärft. Um angehende Lehrer*innen auf dieses Spannungsverhältnis aufmerksam zu machen und sie bezüglich der besonderen Anforderungen an das Lehrer*innenhandeln in ästhetisch-künstlerischen Kontexten zu sensibilisieren, ist es sinnvoll, für Studierende Situationen herzustellen, in denen die Offenheit ästhetisch-künstlerischer Verfahren erfahrbar wird (vgl. Kranefeld/Mause 2020).
In der didaktischen Literatur der ästhetischen Fächer wird vielfach auf die Notwendigkeit hingewiesen, die besonderen Anforderungen der Anleitung explorativer und gestalterischer Verfahren zum Gegenstand der Lehrer*innenbildung zu machen (in der Musikpädagogik z.B. Sachsse 2019; Kranefeld/Mause 2020).
Das hier vorgestellte Projekt beschreibt ausgewählte Ergebnisse eines interdisziplinären Forschungsprojekts, das an der Universität Kassel im Zuge des durch das BMBF geförderten Projekts PRONET (Professionalisierung durch Vernetzung) entwickelt wurde (2015-2019). Ziel des Projekts war es – anknüpfend an die dargestellten Ausgangsbeobachtungen – die Studierenden in einer Haltung zu fördern, die wir ‚experimentierend‘ nennen. Dafür wurden in bildender Kunst, Musik und Tanz ein Seminarkonzept entwickelt, das einen spielerischen, experimentierenden Umgang mit verschiedenen Materialien in Musik, Kunst und Bewegung anregen sollte (vgl. Voss/Freytag 2021). In der Musik geschah dies unter anderem über Klangexperimente mit Stimme, Körper und klingenden Materialien. In der bildenden Kunst über die Erkundung verschiedener Zeichenmaterialien (Kohle, Kreide, Bleistift) und über zeichnerische Experimente mit dem Körper (vgl. dazu Wetzel 2019:44-47). Im Tanz wurde unter anderem mit Tanzsäcken – einem elastischen Stoff, der den Körper der Tänzer*innen dicht umschließt – gearbeitet. Während Einstiege in explorative Bewegungsarbeit bei Studierenden sonst oft auf anfängliche Skepsis, Zurückhaltung und Unsicherheit stoßen, beobachteten wir im hier beschriebenen Seminarkontext, dass es den Studierenden bei Zuhilfenahme des Tanzsacks erstaunlich schnell gelang, sich auf ungewohnte Bewegungs- und Improvisationsaufgaben einzulassen. Es ergab sich für uns die Frage, warum sich gerade die Tanzsäcke als hilfreich erwiesen haben, Improvisation und Exploration bei den Studierenden zu fördern.
Wenngleich der Einsatz der Tanzsäcke sicher nicht der einzige Grund dafür ist, dass wir eine verhältnismäßig hohe Explorationsbereitschaft erkennen konnten (vgl. Voss/Freytag:2021), so lassen sich in der Auswertung der schriftlichen Seminarreflexionen der Studierenden doch einige Hinweise darauf finden, dass die Tanzschläuche unterstützend wirksam wurden. 18 von 19 Studierenden heben in ihren schriftlichen Seminarreflexionen, die Improvisation mit den Tanzschläuchen als besonders eindrückliches Erlebnis hervor. Die folgende Fallanalyse versucht zusammenfassend zu rekonstruieren, welche Erlebnisse für die Studierenden in der Bewegungsarbeit mit Tanzsäcken relevant waren. Es wird sich herausstellen, dass das Erleben von Anonymität und Schutz sowie die Flexible Widerständigkeit des Materials aus dem der Tanzsack gefertigt ist, von zentraler Bedeutung sind und dass es Hinweise darauf gibt, dass tänzerische Improvisation und Exploration durch das Material in besonderem Maße angestoßen werden konnte.
Skizzierung der Seminareinheit „Improvisieren mit Tanzsäcken“
Für das Anregen experimentierender und generativer Prozesse im Tanz wird in tanzpädagogischen Veröffentlichungen ein angemessenes Maß zwischen Freiraum und Beschränkung empfohlen (Klinge/Freytag 2007; Neuber 2009; Pürgstaller 2020). Dabei wird gerade in den Einschränkungen und Reduzierungen ein Potenzial für Bewegungseinfälle und –vielfalt gesehen (Klinge/Freytag 2007; Lampert 2007; Bäcker 2010). Nach Lampert (2007) sind insbesondere teiloffene bzw. strukturierte Bewegungsaufgaben geeignet, die Tanzenden anzuregen, individuelle Bewegungsideen und Ausdrucksmöglichkeiten zu erproben. Diese Aussage findet sich durch empirische Studien aus der Kreativitätsforschung bestätigt, die belegen, dass eine Ausgewogenheit zwischen strukturierten und unstrukturierten Methoden positive Effekte auf die Kreativitätsentwicklung von Kindern hat (Jones/Lord 2006; Davies et al.:2013). Für das Improvisieren mit den Tanzsäcken haben wir daher– nach einem zunächst freien Einstieg – teiloffene Improvisationsaufgaben formuliert, die den Studierenden die Möglichkeit geben, sich zum einen an einer Aufgabe zu orientieren und zum anderen Spielraum für die individuelle Ausgestaltung geben.
Bei den Tanzsäcken handelt es sich um dehnbare ca. 180 cm lange Stoffschläuche. Die Schläuche bestehen aus einem Stretchstoff und haben unterschiedliche Farben. Die Tänzer*innen steigen komplett in den Stoff, der am Rücken per Klettverschluss geschlossen wird. Die Sicht in den Tanzsäcken ist eingeschränkt. Von außen sind die Personen in den Tanzsäcken nur schemenhaft zu erkennen. Die im Seminar durchgeführte ca. zweistündige Einheit orientierte sich an Praxisvorschlägen aus dem Band „Tanz und Bildende Kunst“ von Barbara Haselbach (1991). Daraus wurden insbesondere die Aufgaben zu „Verfremdete Körper II (Schlauchfiguren)“ aufgegriffen.
Die Studierenden hatten zunächst die Aufgabe, sich in den Tanzsäcken frei zu bewegen. Sie sollten ausprobieren, wie sich das Material verhält und welche Bewegungen möglich sind. Dabei wurde unterschiedliche Musik eingespielt (z.B. ruhig, schnell, kraftvoll etc.). Im Anschluss wurden spontane Rückmeldungen über das Bewegen in den Tanzsäcken gesammelt. Im zweiten Schritt sollten die Studierenden in den Tanzsäcken verschiedene Körperformen ausprobieren: Pfeil (getreckte Form, Verlängerung der Extremitäten, Streckung), Wand (breite Ausdehnung, flächig, Vergrößerung), Kugel (sich rund machen, einrollen, krümmen, verschließen), Schraube (sie eindrehen bzw. verdrehen, innen und außen). Da die Körperarbeit in den Tanzsäcken aufgrund der eingeschränkten Sicht und der Beengung anstrengend sein kann, wurde die Gruppe geteilt, sodass immer eine Person tanzte, während eine andere Person beobachtete. Im Anschluss an die jeweiligen Explorationsphasen haben die Studierenden die Rollen getauscht und sich aus der Innen- wie auch der Außenperspektive kurze Rückmeldungen gegeben (z.B. zu den Fragen: „Was habe ich beobachtet?“, „Wie haben sich die Bewegungen angefühlt?“). Im Anschluss wurden weitere Anregungen gegeben: finde Übergänge zwischen den verschiedenen Körperformen (Kugel, Pfeil, Wand, Schraube); gestalte die Shapes auf allen Ebenen (tief, mittel hoch); verändere Tempo und Krafteinsatz; beachte die Begriffe wachsen, ausdehnen, zusammenziehen, plötzlich, allmählich etc.; halte die Shapes für jeweils acht Zählzeiten; spüre nach wie sich die verschiedenen Formen anfühlen; führe den Bewegungsablauf Pfeil, Wand, Schraube, Kugel mehrere Male durch und variiere dabei (z. B. Kugel nicht nur hockend, den Pfeil in verschiedene Richtungen auch diagonal und auf der tiefen Ebene, die Wand sagittal, horizontal oder vertikal). Zum Abschluss der Einheit hatten die Studierenden die Aufgabe sich erneut im Raum zu bewegen und dabei – nun ohne den Tanzsack – Formen und Bewegungen zu wiederholen und nachzuempfinden, die sie während der Improvisationsphasen in den Tanzsäcken durchgeführt haben. Wir beobachteten, dass die Studierenden zu Beginn der freien Improvisation zunächst mit Zurückhaltung agierten, wobei diese ‚Annäherungsphase‘ von den Studierenden trotzdem als wichtig beschrieben wird:
„Die Übung mit den Tanzsäcken ist mir besonders im Gedächtnis geblieben. Um sich mit dem Objekt auseinandersetzen zu können, durfte erst jeder Teilnehmer und jede Teilnehmerin ausprobieren, wie es sich in dem Tanzsack anfühlt. Dieser Einstieg war hilfreich, da ich mir so einen ersten Eindruck von dem doch vorerst fremd wirkenden Gegenstand machen konnte.“ (ANHECHG290)
In den anschließenden Improvisationen, die durch verschiedene Bewegungsimpulse strukturiert waren, ließ sich eine größere Offenheit für tänzerische Improvisation, Bewegungsvielfalt und -weite erkennen. In Phasen, in denen Studierende durch andere Studierende beobachtet wurden, schienen die Improvisationsbereitschaft und Bewegungsintensität nicht nachzulassen.
Datenerhebung und Auswertung
Die Fallstudie basiert auf der systematischen Auswertung der nach dem Seminar im Wintersemester 2017/18 erhobenen qualitativen Daten. Die Stichprobe umfasst N = 20 Studierende. Die Studierenden haben im Anschluss an das Seminar ausgehend von einem Reflexionsimpuls zwei- bis dreiseitige schriftliche Reflexionen verfasst. Der Reflexionsimpuls lautete: „Gehen Sie in Gedanken noch einmal zu der Veranstaltung zurück und erinnern Sie sich dann möglichst detailliert an alles, was Ihnen im Rahmen des Seminars begegnet ist. Greifen Sie aus Ihren Erinnerungen das heraus, was für Sie besonders eindrücklich, überraschend, erstaunlich oder irritierend war und beschreiben Sie diese Eindrücke.“ In neunzehn der zwanzig Reflexionen wird die Arbeit mit den Tanzsäcken als bemerkenswert hervorgehoben. Im Rahmen der vorliegenden Studie wurden die Aussagen, die sich auf diesen Teil des Seminars beziehen, detailliert analysiert. Dabei war die Fragestellung leitend, welche Erfahrungen die Studierenden in der tänzerischen Improvisation mit den Tanzsäcken gemacht haben und wie der starke Eindruck, den die Tanzsäcke hinterlassen haben, zu erklären ist. Die Datenauswertung erfolgte computergestützt mit Hilfe der Analysesoftware ATLAS.ti. Die Daten wurden in Anlehnung an das mehrschrittige Analyseverfahren der Grounded Theory (Strauss/Corbin 1996) analysiert. Die Analyse begann mit einer explorativen, offenen Kodierung aller Textauszüge, die sich auf die Arbeit mit den Tanzsäcken beziehen. Ziel dieses Analyseschritts war es, einen ersten Zugang zu den Daten zu bekommen und einen Überblick über das im Datenmaterial präsente Themenspektrum zu gewinnen. In diesem offene Kodiervorgang, der von zwei Forscherinnen unabhängig voneinander durchgeführt wurde, kristallisierten sich unter anderem folgende Kodes heraus: anfängliches Befremden, anfängliche Irritation, anfängliche Abwehr, Schutz, Anonymität, Freiheit, Enthemmtheit, Entpersonifizierung, Widerständigkeit des Materials, Anstrengung, intensive Körpererfahrung, Fokus, Erstaunen, Wohlbefinden, Ideenvielfalt, ästhetischer Genuss, Zeigebereitschaft. Im Rahmen des axialen Kodierens, das im Team erfolgte, wurde analysiert, in welchen Beziehungen die genannten Kodes zueinanderstehen und inwiefern sich einzelne Kodes datenbasiert zu übergeordneten Kategorien ausdifferenzieren lassen. Der Auswertungsprozess führte zu folgenden Schlüsselkategorien, denen wie besonderes Erklärungspotenzial für die Wirkung der Tanzsäcke auf die Studierenden beimessen: Erleben von Anonymität und Schutz und Flexible Widerständigkeit.
Darstellung der Ergebnisse
Im Folgenden werden die zwei Schlüsselkategorien Erleben von Anonymität und Schutz und Flexible Widerständigkeit dargestellt.
a) Erleben von Anonymität und Schutz
„Als ich in einem derartigen Sack steckte und wir uns darin Bewegen sollten, fühlte ich mich als aller erstes anonym. Dadurch, dass der komplette Körper, also auch der Kopf und das Gesicht, bedeckt sind und man von außen keine Emotionen wahrnehmen kann, entsteht dieses Gefühl. Man fühlt sich freier in den Bewegungen. Man bewegt sich zum Teil anders und „komisch“, weil man sich selbst sicherer fühlt in dem Sack. Außenstehende erkennen nicht, wer du momentan bist, da alle Säcke gleich aussehen. Dies bietet einem mehr Spielraum.“ (MOSTANK 25)
In der tanzpädagogischen Literatur wird immer wieder auf die besondere Anfälligkeit des Tanzes für Situationen der Verunsicherungen und Scham hingewiesen (Freytag 2011; Behrens 2012; Klinge 2015; Lohfeld 2016). Vor allem soziale Konflikte und Bloßstellungen im Tanz scheinen dabei als potenzielle Bedrohung für den Selbstwert einer Person wahrgenommen zu werden (Behrens 2012; Quinten 2013). Im Rahmen des in diesem Beitrag beschriebenen Seminars scheint es durch den Einsatz der Tanzsäcke gelungen zu sein, Selbstsicherheit zu unterstützen und einen Raum zu schaffen, der es den Studierenden ermöglicht, sich weniger auf eine Außenwirkung als auf Improvisation mit Körper und Bewegung zu konzentrieren.
In der dargestellten Kategorie sind die Bereiche Anonymität und Schutz eng miteinander verbunden. Das Erleben von Anonymität wird dabei von den Studierenden als Bedingung für Schutz dargestellt: „Durch die Entpersonifizierung fühlte man sich freier und unbeobachteter.“ (EVMAERV282). Während alltagssprachlich Anonymität und Entpersonifizierung meist negativ konnotiert sind, beschreiben die Studierenden die Begriffe im Kontext des Seminars positiv:
„Zunächst war ich von den Tanzsäcken irritiert und habe mich gefragt, was das eigentlich soll. Als ich erst einmal in dem Sack gesteckt habe, war ich absolut begeistert. Man hat seinen Körper und die Bewegungen ganz anders gespürt und wahrgenommen. In dem Sack hat man sich wohlgefühlt, da er einem einen Schutzraum gegeben hat. Man wurde anonymisiert.“ (IRHALIU29)
Der Eindruck entpersonifiziert zu sein, kann durch verschiedene Impulse ausgelöst worden sein. Zum einen wirken die sich in den Schläuchen bewegenden Personen von außen tatsächlich nicht menschlich, sondern wie skulpturale Steingebilde. Auch lassen sich in den Schläuchen mit dem Körper Figuren bilden, die man ohne das textile Material nicht formen könnte. Die verfremdende Eigenschaft des Tanzschlauchs, d. h. seine Eigenschaft die Körperformen nahezu verschwinden zu lassen und assoziationsoffene und teilweise abstrakte Formen hervorzubringen, scheint für die Studierenden attraktiv zu sein und zum Erproben ungewohnter Bewegungsformen zu ermutigen (vgl. MOSTANK 25).
Bei der Analyse der Daten fällt weiter auf, dass die Sorge vor Bewertungen von Kommilitoninnen oder Lehrenden eine besondere Bedeutung spielt. Es wird deutlich, dass der Tanzschlauch im Rahmen des Seminars dazu beiträgt, den bewertenden Blick von außen für eine Weile ‚außen vor‘ zu lassen, was von den Studierenden entlastend erlebt wird und eine Konzentration auf Körperempfinden und Bewegungserfahrung ermöglicht.
„(ich) machte mir weniger Gedanken darüber was die zusehenden Studierenden denken könnte.“ (ANHECHG290)
„Jeder war jeder völlig mit sich selbst und seinem Körper beschäftigt, ohne Gedanken daran zu verlieren, beobachtet oder bewertet zu werden. (BIANREF90).
Bemerkenswert ist, dass als die Studierenden am Ende der Einheit die Aufgabe erhalten, den Tanzschlauch abzulegen und ohne Tanzschlauch zu improvisieren, die Selbstsicherheit bestehen bleibt. Aus den Aussagen der Studierenden geht hervor, dass sie darüber erstaunt sind, dass sie auch nach dem Ablegen des Tanzschlauchs von Schamgefühl und Zeigehemmungen gegenüber ihren Kommilitoninnen und Kommilitonen befreit bleiben:
„Es war ein unvergesslicher Augenblick zu sehen, wie alle Leute mit einem Mal all ihre Hüllen [d. h. den Tanzschlauch] fallen ließen. Man stand auf einmal dort, wie nackt auf einer Bühne. Du konntest jedem in die Augen schauen und jeder konnte dir in die Augen schauen. Und keiner empfand es mehr als unangenehm oder beschämend sich frei vor den Anderen zu bewegen.“ (STFRURB090)
„Als wir dieselben Bewegungen nach dem Ausziehen der Säcke ausführen sollten, war ich erstaunlicherweise viel selbstsicherer und hatte große Freude daran.“ (BRPEHIK103)
„Die Tanzsäcke wurden später wieder ausgezogen und wir haben uns ohne sie zur Musik bewegt. Hierbei habe ich mich deutlich freier und wohler gefühlt, als ich das von mir erwartet hätte. Normalerweise denke ich bei solchen Aufgaben mehr an die anderen und was sie von mir denken.“ (HAHALUQ092)
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass im Rahmen des Seminars der Tanzschlauch durch seine verhüllende und verfremdende Eigenschaft für die Studierenden als Schutz fungiert und es den Studierenden ermöglicht, sich weniger auf eine Außenwirkung und mögliche Bewertungen, sondern mehr auf die tänzerische Improvisation zu konzentrieren. Der durch den Tanzschlauch gegebene Schutz vor den Blicken der anderen Studierenden und der Lehrenden befreit von Zeigehemmungen und fördert den Fokus auf Körpererleben und explorative Bewegungsarbeit. Sich unbeobachtet zu erleben, wird von den Studierenden als angenehm beschrieben. Damit unterstützt der Tanzschlauch eine wichtige Voraussetzung für kreatives und experimentierendes Handeln. Vogt (2010) macht deutlich, dass eine geschützte Ausgangssituation in kreativen Prozessen die Risikofreude und die Bereitschaft, sich in unbekanntes Terrain vorzuwagen erhöht: „das Individuum kann eigene Ziele relativ ungestört verfolgen, ist bereit, Risiken einzugehen und kann unbekannte, neue Lösungen entwickeln“ (ebd. 2010:166).
b) Flexible Widerständigkeit
„Das Bewegen im Tanzsack war ein Bewegen gegen Widerstände. Es musste eine gewisse Körperspannung aufgebracht und gehalten werden, um sich darin gegen den Stoffwiderstand bewegen zu können.“ (EVAMERV282)
In dem Datenmaterial finden sich zahlreiche Stellen, die wir unter der Kategorie Flexible Widerständigkeit zusammengefasst haben. Es geht hier um das explorative (Bewegungs-)Spiel mit Begrenzungen sowie das Erleben von Körperspannung und Bewegungsweite, die durch das Stoff-Material hervorgerufen wird. Die elastische Stofffülle schließt sich eng um den eigenen Körper und begrenzt diesen wie ein Kokon. Es gibt in gewisser Weise keinen Raum zwischen „innen“ und „außen“. Im Unterschied zu einer festen Wand, ist der Widerstand, den der Tanzsack bietet, jedoch flexibel. Bei Erhöhung des Kraftaufwands gibt das Material nach. Da sich aber zugleich die Spannung im Material erhöht, verstärkt sich auch der Druck, den der Tanzsack auf die Tänzer*innen ausübt. In den Reflexionen beschreiben die Studierenden, dass das Bewegen in dem Tanzsack durch die Einschränkung des Sehsinns, der Bewegungsmöglichkeiten und der Atemluft zunächst Unbehagen und ein Gefühl von Enge auslöst.
„Die Anfangsübung, wir sollten uns einen Sack nehmen, hineinschlüpfen und uns bewegen, löste bei den meisten Teilnehmern noch ein Gefühl des Unwohlseins aus. Man war gefangen. Man war eingeengt. Der eigene Bewegungsapparat war gehemmt.“ (STFRURB090)
Die Studierenden fassen nach dem anfänglichen Unbehagen schnell Vertrauen in das ungewohnte Material. So eingrenzend das Material zunächst auch erscheint, so sehr provoziert es auch den Impuls, sich gegen die Grenzen zu wehren und diese zu ‚überwinden‘.
„Und dennoch lautete die Aufgabe „Bewegt euch und versucht geometrische Figuren zu erzeugen.“ - wie ironisch. Doch es forderte das Individuum von allen Aufgaben am meisten. Es galt die üblichen Hürden und Blockaden zu überwinden, aus der Wohlfühlzone herauszutreten. Man musste gegen eben diese Gefangenheit und Enge ankämpfen und sich wehren. Man musste sich aber außerdem selbst überwinden, überwinden die Hemmungen fallen zu lassen […].“ (STFRURB090)
Der Student beschreibt, dass er durch Material und Aufgaben gefordert ist, „übliche Hürden“ zu überwinden und „aus der Wohlfühlzone herauszutreten“. Er formuliert damit nicht nur einen Kampf gegen die räumlichen Begrenzungen, sondern auch das Überwinden von Grenze, die im Bereich des Mentalen liegt. Diese Verbindung von motorischer und psychischer Widerständigkeit könnte ein Grund dafür sein, dass die tänzerische Improvisation mit Tanzsäcken von vielen Studierenden als sehr eindrücklich erlebt wurde.
Die flexible Widerständigkeit des Stoffmaterials des Tanzsacks erfordert direkte und kraftvolle Bewegungen, die in Anlehnung an die „Effort Actions“ von Laban (1968) an Antriebsqualitäten wie „drücken“, „stoßen“ oder „wringen“ erinnern. Laban unterscheidet in seinen theoretischen Grundlagen die Faktoren space, time, weight und flow, nach denen sich seiner Auffassung nach alle Bewegungen strukturieren lassen. In den deutschen Übertragungen werden die Faktoren mit Raum, Zeit, Dynamik und Fluss übersetzt. Laban fasste die Kombinationsmöglichkeiten von Raum (zwischen direkt und indirekt), Zeit (zwischen plötzlich und allmählich) und Dynamik (zwischen zart und kräftig) als „Effort Actions“ (Antriebsqualitäten) zusammen. Diese Antriebsqualitäten beschreibt er mit schweben, stoßen, gleiten, wringen, drücken, flattern, tupfen, peitschen.
Einige Studierende schreiben, dass die Bewegung im Tanzsack mit erhöhter Körperspannung und einem positiven Körpergefühl verbunden waren.
„Durch ihre Tendenz, sich stetig zusammenzuziehen, wird man genötigt ausufernde und kraftvolle Bewegungsabläufe zu vollziehen. Um einen graden Stand zu haben oder die Arme auszustrecken, muss man förmlich ein Maximum an Kraft aufbringen.“ (EVKAGIK 240)
„Die Spannung im Körper hat sich unheimlich schön angefühlt. Ich hatte das Gefühl, dass ich durch die Spannung in den Armen, Beinen und Händen schöne gleitende Bewegungen ausführen konnte […].“ (ANYUILK100)
Wie auch bei der Kategorie Erleben von Anonymität und Schutz, wird die Wirkung des Tanzsacks noch gespürt, nachdem dieser abgelegt wurde. Die anschließenden Bewegungen außerhalb des Stoffmaterials scheinen die positiven Bewegungserfahrungen zu intensivieren und ermöglichen eine Übertragung in den ‚öffentlichen‘ Raum.
„Besonders spannend war der Moment, als wir ohne die Säcke Bewegungen durchführten, da man auch ohne diese, die gleichen großen Bewegungen durchführte und den Widerstand der Säcke dennoch spürte.“ (IRHALIU29)
Ein möglicher theoretischer Erklärungsansatz für die eindrückliche Wirkung des Materials Tanzsack findet sich in phänomenologischen Betrachtungen zum Tastsinn von Bernhard Waldenfels. Waldenfels (2002) macht darauf aufmerksam, dass der Tastsinn, im Unterschied zum Sehsinn und Hörsinn, das Objekt verändert, auf das er sich richtet (ebd:71). Während die Veränderung bei einem sehr festen Gegenstand sich auf leichte Abnutzungsspuren beschränkt, kann ein weicher Gegenstand durch Berührung stark verformt werden. Berühren zeichnet sich nach Waldenfels zudem dadurch aus, „daß in der Berührung Berührendes und Berührtes einander berühren, daß sie sich berühren [Hervorhebung im Original]“ (ebd:77). Es entsteht ein Kräftespiel zwischen Berührtem und Berührendem, wobei das Berührte stets auch Berührendes ist (vgl. ebd.). Dieses Wechselspiel scheint für die Studierenden in der Arbeit mit den Tanzschläuchen sehr deutlich erfahrbar zu sein und einen – im wörtlichen Sinne – nachhaltigen Eindruck zu hinterlassen:
„Ebenfalls war es sehr spannend nach den Übungen mit dem Tanzsack ohne zu tanzen, dabei konnte ich sehr deutlich fühlen wo die Spannung des Stoffes noch auf meinen Körper wirkt.“ (CHVOMAM201)
Dass das Wechselspiel zwischen Leib und Ding hier so deutlich wahrgenommen wird, dürfte auf die Elastizität des Stoffes, aus dem der Tanzsack besteht, zurückzuführen sein. Die Person, die sich im Tanzsack bewegt, kann auf den empfundenen Druck reagieren, indem sie ihm nachgibt, das heißt durch ihre Bewegungen die Spannung reduziert, oder aber den Druck als Impuls nutzen, um mit erhöhtem Krafteinsatz gegen ihn zu arbeiten. Waldenfels stellt fest, dass „in der Erfahrung das Bemerken in ein Bewirken übergeht und dieses auf das Bemerken zurückwirkt, daß also Sensorik und Motorik kreisförmig zusammengeschlossen sind“ (Waldenfels 2002:71). Diese Kopplung wird in der Arbeit mit dem Tanzsack intensiv erfahren:
„Das Bewegen im Tanzsack war ein Bewegen gegen Widerstände. Es musste eine gewisse Körperspannung aufgebracht und gehalten werden, um sich darin gegen den Stoffwiderstand bewegen zu können.“ (EVAMERV282)
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Materialität der Tanzsäcke ein (Bewegungs-)spiel mit und gegen flexible Widerstände erfordert und große und kraftvolle Bewegungen provoziert, die von den Studierenden als angenehm erlebt werden. Sie beschreiben eine hohe Konzentration, ein verändertes Körpergefühl und eine Bewegungsqualität, die auch im Anschluss in der tänzerischen Improvisation ohne die Tanzsäcke beibehalten werden kann. Das Bewegen gegen Widerstände scheint sich nicht nur auf motorischer, sondern auch auf mentaler Ebene zu vollziehen.
„Erst als die Tanzsäcke als Hilfsmittel hinzugezogen wurden, gelang es mir, und soweit sich das beobachten lies auch den anderen, die Bewegungen auszureizen. Sie wurden offener und größer. Die Fixierung auf bestimmte Positionen und Haltungen hatte die bewusste Konzentration auf die Bewegung zur Folge. Die Tanzsäcke luden dazu ein den Raum, der einen umschloss, bis an die Grenzen auszudehnen und sich für sich selbst und unbeobachtet zu bewegen. Die ausladenden Bewegungen und die Konzentration auf dieselben blieben auch anschließend, nachdem sich alle ohne die Tanzsäcke bewegten.“ (BEJWAK150)
Mit Waldenfels gesprochen wirkt der Tanzsack an der Entstehung der Bewegung mit (vgl. Waldenfels 2004:178) und unterstützt auf diese Weise die Erkundung neuer Bewegungsmöglichkeiten.
Hypothesen zum didaktischen Potenzial von Tanzsäcken
Den Objekteigenschaften des Materials Tanzsack (verhüllend, verfremdend, nachgebend, begrenzend) lassen sich basierend auf der qualitativen Analyse des Datenmaterials spezifische Qualitäten von Subjekt-Objekt-Beziehung zuordnen. Diesen Subjekt-Objekt-Beziehungen können datenbasiert verschiedene Hypothesen zur Wirkung des Tanzsacks auf die tänzerische Improvisation zugeordnet werden. Neben den unmittelbaren Wirkungen auf den Prozess gibt das Datenmaterial auch Hinweise darauf, inwiefern die Arbeit mit den Tanzsäcken im Sinne einer Veränderung des Welt- und Selbstverhältnisses bildungswirksam werden konnte. Die folgende Übersicht basiert auf der Auswertung der Seminarreflexionen und ist in ihrer Gültigkeit auf den hier beschriebenen Seminarkontext beschränkt. Inwiefern sich die im Rahmen unserer qualitativen Analyse erkennbaren Zusammenhänge verallgemeinern lassen, wäre in weiterführender Forschung zu prüfen.
Fazit und Ausblick
Unser Projekt gibt Hinweise darauf, dass die Arbeit mit Tanzsäcken Potenzial hat, die Bewegungsexploration in tanzdidaktischen Kontexten zu unterstützen. Es konnte rekonstruiert werden, dass die verhüllenden und verfremdenden Objekteigenschaften des Tanzsacks auf der einen Seite (Erleben von Anonymität und Schutz) und die Materialität des Tanzsacks auf der anderen Seite (Flexible Widerständigkeit) Explorations- und Zeigebereitschaft anregen. Dabei ist auch zu vermuten, dass das Zusammenspiel beider Faktoren von Bedeutung ist. Das verhüllende Moment des Tanzsacks wie auch die besondere Materialeigenschaft unterstützen die Studierenden. Es entwickelt sich Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und Sicherheit bei der Durchführung, was wiederum Einfluss auf das Tanzen außerhalb der Tanzsäcke hat. Hier scheint eine „körperliche Erinnerung“ an das Material zu helfen, die wie eine Stütze wirkt und dazu beiträgt sich auch ohne das verhüllende Material sicher zu fühlen.
Der Prozess Vertrauen und Sicherheit in den eigenen Fähigkeiten aufzubauen um dann vor anderen ohne Scham tanzen und improvisieren zu können, kann durch eine Vielzahl von Ansätzen unterstützt werden, die Arbeit mit den Säcken könnte für manche Menschen wie eine Art „Beschleuniger“ dafür wirken. Ebenfalls kann es angewendet werden, um choreografisches Material zu generieren. Dabei lassen sich die Ergebnisse der hier skizzierten fallanalytischen Betrachtung nicht verallgemeinern, da sie in hohem Maße von Subjekt und Situation abhängig sind. Zahlreiche Faktoren, deren Einfluss sich im Rahmen der Studie nicht rekonstruieren ließ, mögen die positiven Effekte begünstigt haben, so zum Beispiel das Erleben eines positiven Gruppenklimas, Vorerfahrungen der Studierenden oder die organisatorischen Rahmenbedingungen (vgl. Voss/ Freytag 2021). Es muss auch eingeräumt werden, dass die Studierenden bei der Anfertigung ihrer Seminarreflexionen möglicherweise ‚sozial erwünscht‘ formuliert und reflektiert haben und dass das Verhalten während des Seminars durch die Anpassung an angenommene Erwartungen von Seiten der Dozentinnen beeinflusst gewesen sein kann. Insgesamt gibt die mikroanalytische Betrachtung Hinweise darauf, dass aus didaktischer Perspektive die Verwendung von Materialien oder Objekten bei der Anregung von explorativen und kreativen Prozessen in der ästhetischen Praxis eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt. Der Prozess Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten abzubauen und ohne Scham zu tanzen und zu improvisieren, kann durch eine Vielzahl von Methoden und Ansätzen unterstützt werden (z.B. Aufgabenstellung, Sozialform). Die Arbeit mit den Tanzsäcken könnte aber für einige Personen wie eine Art „Beschleuniger“ wirken. Hier die besonderen Struktureigenschaften eines Objekts genauer zu analysieren, scheint auch in anderen Vermittlungsformaten der Kulturellen Bildung lohnend ebenso wie perspektivisch die empirische Überprüfung entsprechender Wirkungshypothesen.