MUSIK - BEWEGUNG - SZENE: Ein Gestaltungsprozess in einer heterogenen Gruppe
Abstract
Im vorliegenden Artikel wird ein Projekt zur gemeinsamen Theaterarbeit von Studierenden des Lehramts Sonderpädagogik und Schüler*innnen eines SBBZ (Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentrum) in Baden-Württemberg dargestellt und reflektiert. Im Vordergrund steht dabei die Frage, welche Faktoren zum Gelingen eines theaterpädagogischen Prozesses von den ersten Erfahrungen mit dem szenischen Spiel bis hin zu einer Aufführung vor Publikum in einer solchen heterogenen Gruppe beitragen können. Dabei wird eine partizipative und überwiegend auf Improvisationen beruhende Vorgehensweise herausgearbeitet und durch die Berücksichtigung von Aspekten der sozialen Interaktion ergänzt, die vor dem Hintergrund des Gabentheorems (vgl. Mauss in Anlehnung an Hentschel) interpretiert werden.
Begleitend werden im Hinblick auf die strukturelle Bedeutung eines solchen Projektes als Kooperation zwischen Schule und Hochschule außerdem Fragen des bildungsbezogenen Potentials angesprochen, die sich aus den im Projekt veränderten Rollenerwartungen und Begegnungsmöglichkeiten zwischen Schüler*innen und Studierenden des Lehramts ergeben.
Wenn Gestaltung als ein transformativer, ein „schöpferischer Vorgang“ verstanden wird, „in dem die Gestaltenden ihren inneren Vorstellungen zu einem Thema über bestimmte Ausdrucksmittel Gestalt verleihen“ (Ribke 2004:22), dann ist eine Grundidee des Seminares zum gemeinsamen Theaterspiel von Schüler*innen und Studierenden treffend beschrieben. Ein solcher Gestaltungsprozess stellt immer Verbindungen zwischen den Vorstellungen, Gedanken, Vorlieben, Gefühlen einzelner Personen und dem jeweiligen Umfeld her. In diesem Fall war der vorgegebene Rahmen ein gemeinsames Theaterprojekt im Schnittfeld von Schule und Hochschule. Um die Bestimmungsfaktoren eines solchen Prozesses innerhalb der genannten Gruppe soll es im Folgenden gehen.
Rahmenbedingungen
Organisatorisch gab es im Zeitraum von Oktober 2022 bis Februar 2023 sowie von April 2023 bis Juli 2023 wöchentliche Treffen zwischen Schüler*innen der Haupt – und Berufsschulstufe eines Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentrums (SBBZ) mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung in Baden-Württemberg, sowie einer Seminargruppe an der PH Ludwigsburg mit Studierenden aus verschiedenen Fachrichtungen innerhalb des Lehramts Sonderpädagogik, die das Handlungsfeld Kulturarbeit gewählt hatten. Geleitet wurden die wöchentlichen Treffen von dem Lehrer, der die Theater AG des SBBZ betreute sowie der Dozentin des PH - Seminares.
Für die Theater AG des SBBZ war die Zusammenarbeit als eine Erweiterung des theaterpädagogischen Angebots über den sozialräumlichen Rahmen der Schule hinaus gedacht – für die Seminargruppe ging es vor allem um die Möglichkeit, eigene theaterpädagogische Erfahrungen im direkten Kontakt mit Jugendlichen zu sammeln, und damit auch die eigenen theaterpädagogischen Kenntnisse im Hinblick auf die spätere Berufspraxis zu vertiefen.
Die entscheidende Zielsetzung bestand jedoch für beide Gruppen gemeinsam darin, zu allererst Begegnungen zu schaffen – über das theaterpädagogisch fundierte gemeinsame szenische Spiel mit Schwerpunkten auf Musik und Bewegung. Dazu bestand die Überlegung, dass der Arbeits- und Probenprozess über den Zeitraum von Oktober 2022 bis Juli 2023 in einer gemeinsamen Aufführung eines selbst erarbeiteten Stückes münden sollte.
Fragestellung
Im Folgenden geht es darum, zu zeigen, wie die gemeinsame Arbeit zu einem offenen und gemeinsamen Gestaltungsprozess werden konnte. Aus verschiedenen Dokumentationsformen zum Projekt wurden dazu gemeinsame Kernelemente herausgearbeitet, die zum Gelingen dieses Prozesses beitragen konnten, aber auch dessen Bedeutung im Rahmen des schul- und hochschulbezogenen Bildungskontextes sichtbar machen (vgl. Gerland 2018). Gerade unter diesem Aspekt soll das Geschehen vom Kennenlernen über das Erarbeiten und Proben bis hin zur Aufführung eines gemeinsamen Theaterstückes im Hinblick auf Themen wie Partizipation, Improvisation, soziale Interaktion betrachtet werden.
Methodisches Vorgehen
Entsprechend eines praxisorientierten forschungsmethodischen Ansatzes ergibt sich die Datengrundlage zur Analyse des Projektes aus verschiedenen Dokumenten, die drei verschiedene Perspektiven auf das Projekt enthalten:
- Die Stundenprotokolle aus dem gesamten Projektverlauf wurden von den Projektleitenden erstellt und enthalten Stichworte zum Ablauf und Kommentare aus den anschließenden Reflexionsgesprächen zwischen den beiden Projektleitenden.
- Ein Projektbericht wurde von einer Studierenden als dokumentierende Darstellung des Projektes aus ihrer persönlichen Sicht als Teilnehmerin erstellt.
- Und schließlich liegt eine Masterarbeit einer Studierenden vor, die ebenfalls Teilnehmerin des Projektes war, sich aber gezielt im Sinne einer wissenschaftlichen Reflexion mit der Frage nach partizipativen Prozessen in diesem Theaterprojekt befasste.
Da diese Dokumente aufgrund ihrer unterschiedlichen Perspektiven auch unterschiedliche inhaltliche Schwerpunkte enthalten, würde sich evtl. eine jeweils eigene Analyse zur Darstellung gerade dieser unterschiedlichen Perspektiven anbieten. Stattdessen wurde jedoch eine Vorgehensweise gewählt, die die verschiedenen Dokumente miteinander zu verknüpfen versucht und damit auch dem Zusammenwirken dieser unterschiedlichen Perspektiven als ein Bestimmungsmerkmal des zu untersuchenden Prozesses entsprechen soll. Dabei wurde eine inhaltsanalytische Vorgehensweise nach Kuckartz/Rädiker (2022) gewählt, die einen mehrstufigen, hermeneutisch orientierten Kodierungsprozess vorsieht.
Ergebnisse
Zusammenfassend konnten folgende zentralen Bestimmungsmerkmale für den gesamten Prozess herausgearbeitet werden:
Inhalte und Vorgehensweisen
Zunächst einmal erwiesen sich die konkreten Inhalte der Theaterarbeit sowie die handlungsbezogenen Vorgehensweisen im Prozess als ein wichtiges Bestimmungsmerkmal für dessen Verlauf. Diese werden im Wesentlichen aus der Perspektive der anleitenden, für das Projekt verantwortlichen Personen dargestellt.
Zu den strukturgebenden Elementen des Prozessverlaufes gehörte zunächst die Probenstruktur mit Ritualen zur Rahmung und weiteren festen Bestandteilen des Ablaufes sowie wiederkehrenden partizipativen Strukturen.
Innerhalb dieser Strukturen waren die durchgeführten Übungen vor allem in der ersten Phase des Prozesses insofern von großer Relevanz, als sie auf verschiedene elementare Grundlagen eines gemeinsamen Gestaltungsprozesses abzielten, wie etwa die Wahrnehmung der Gruppe, die Entstehung von Beziehungen, die gemeinsame Fokussierung auf Ausdrucksformen, aber auch die Unterstützung jedes einzelnen Individuums in seiner Ausdrucksfähigkeit oder das gemeinsame Beachten von Strukturen, innerhalb derer sich Freiräume zur Gestaltung entfalten können.
In einem Großteil der Übungen wurde über die Vermittlung von Impulsen durch das Zusammenspiel von Musik und Bewegung gearbeitet, da dies als ein Medium erschien, das allen Beteiligten der Gruppe zugänglich war und das auch auf positive Resonanz stieß.

Ein solcher Kommentar – aus dem späteren Verlauf des Stückentwicklungsprozesses – kann als Hinweis auf eine nicht nur unmittelbar gestaltende, sondern auch reflektierende Beteiligung am Prozess verstanden werden.
Ein weiterer Bestandteil der konkreten methodischen Herangehensweise war eine starke Flexibilität bei der Gestaltung des Ablaufes der einzelnen Stunden. Von Seiten der Anleitenden wurden zwar Übungen und Spielimpulse vorgegeben, es wurden aber jederzeit auch Impulse aus der Gruppe, die sich im Spiel ergaben, aufgegriffen, wodurch der Ablauf der Stunde sich gegenüber der ursprünglichen Planung ändern konnte.
Die Vorgehensweise der anleitenden Personen war zunehmend von dramaturgischen Überlegungen geprägt, je mehr die Entwicklung eines Theaterstückes im Vordergrund stand. Dabei spielte der Umgang mit Grenzen, die bei Personen oder in Situationen wahrgenommen wurden, eine genauso wichtige Rolle wie die Unterstützung einzelner Personen durch gezielte Entscheidungen im Probenverlauf. Dabei ging es immer wieder auch darum, dass von Seiten der Verantwortlichen ein Rahmen gesetzt wurde, innerhalb dessen die Gestaltung der Szenen sich entfalten konnte. Die Impulse, die die Entwicklung des Stückes voranbrachten, kamen jedoch von verschiedenen Seiten. Ein zentrales Element des szenischen Spiels ist sicherlich die Differenzerfahrung, die mit dem szenischen Spiel einher geht. Mit diesem Begriff ist die Erfahrung eines Experimentierraumes gemeint, eines Freiraumes für Verhaltensweisen und Ideen, der den persönlichen Spielraum der Verhaltensweisen im Alltag überschreitet (Hentschel 2015:144). So kann zwischen eigenen biografischen Aspekten und Alltagserfahrungen einer Person und dem, was sie auf der Bühne zeigt, ein Schutzraum durch die gestaltete Überformung der eigenen Handlungen und Verhaltensweisen entstehen (Matzke 2012:242). Zwei Beispiele sollen illustrieren, dass eine solche Differenz zwischen eigener Person und gespielter Figur im hier betrachteten Projekt sehr unterschiedlich intensiv wahrgenommen wurde:
Situation 1: Im Rahmen einer Kettenimprovisation, bei der in einem „rotierenden System“ jede Person sich als Standbild mit einer kurzen Beschreibung in eine aus drei Personen bestehende Situation einbringen kann, wirft ein Schüler sich auf den Boden und landet in einer gekonnt schrägen Position: „ich bin die kaputte Teekanne!“ –obwohl diese Pose ganz spontan in diesem Moment entstanden ist, kann er sie allerdings bei einer aus irgendeinem Grund notwendigen Wiederholung der Szene genau wiederholen und tut es mit der gleichen Energie und Spontaneität wie beim ersten Mal.
Situation 2: In einer Übung, bei dem ein im Kreis herumgegebener Ball bei jeder Person zu etwas anderem werden soll, bleibt ein Schüler konsequent bei mehreren Runden dabei, zu zeigen, dass er diesen Ball – ähnlich wie einen Luftballon – mit einer Nadel steche.
Es wird deutlich, dass beide Schüler sicherlich ihre Vorstellungskraft einsetzen, dass der „Möglichkeitsraum“ (Hentschel 2015:144), die Entfernung oder Durchbrechung von Realität und alltäglichem Verhalten, einmal in ein ganz anderes Themenfeld und Bild führt, das andere Mal dagegen im Rahmen der Sachlogik der Situation bleibt. Derart unterschiedliche Herangehensweisen im Gestaltungsprozess der Gruppe zu berücksichtigen bzw. sie einzubinden, machte unter anderem den Reiz, aber auch die Herausforderung der künstlerisch-gestalterischen Arbeit aus.
Haltungen und Prinzipien
Als Grundlage der wöchentlichen Treffen wurden Prinzipien deutlich, nach denen gearbeitet wurde und die die Haltung der Verantwortlichen, aber auch aller Beteiligten prägten. Dazu gehören zunächst Werthaltungen, wie Offenheit, Wertschätzung und Achtung – und eine Sensibilität gegenüber allen beteiligten Personen und auch für alle entstehenden Situationen.
Aber auch Prinzipien, die die Arbeitsweise so weit wie möglich bestimmten, lassen sich erkennen, so das Prinzip der Selbstbestimmung und der Freiwilligkeit. Beide konnten im vorgegebenen institutionellen Rahmen sicherlich nur auf der Handlungsebene im Verlauf der Stunden umgesetzt werden. Unmittelbar damit verknüpft waren zwei weitere Prinzipien: die Improvisation und die Partizipation – beide sowohl auf der konkreten Handlungsebene als auch auf der Ebene der Gestaltung des Gesamtprozesses, insofern sehr umfassend gedacht.
Improvisation
Mit Meyer (2008) soll Improvisation hier als „spezifische Kategorie menschlichen Daseins – angesiedelt in Praktiken des Lebens und in Praktiken der Kunst“ (Meyer 2008:15) verstanden werden. Es geht bei diesem Begriff darum, einen Umgang mit dem Unvorhergesehenen zu beschreiben, eine „Tätigkeit im Hier und Jetzt“ (Meyer 2008:17), die aus der Situation heraus ohne vorherige Planung stattfindet. Dabei betonen Bertram/Rüsenberg (2021), dass ein solches Handeln nicht als weniger gekonntes Gegenstück zu planvollem Handeln zu verstehen ist, sondern eher als grundlegende und sich entwickelnde Fähigkeit des Menschen betrachtet werden kann, mit Unsicherheiten umzugehen. Bezieht man Kernbegriffe wie „kairos“ als den „richtigen Moment“ und „metis“ als das Gespür für die richtige Entscheidung“ (Silberberger 2013) ein, so kann Improvisation als eine Handlungsweise des Könnens und des Gelingens verstanden werden, die in den unterschiedlichsten Kontexten und auf den unterschiedlichsten Ebenen erscheinen kann.
Im hier vorgestellten Projekt war improvisatorisches Vorgehen eine methodische Grundkategorie im Geschehen der Theaterarbeit, in den einführenden Übungen und in den Probenphasen zum Stück. Denn gerade in der Arbeit mit Musik und Bewegung, aber auch in der Entwicklung von Szenen aus verschiedenen Impulsen heraus, ging es grundsätzlich darum, aus dem Moment heraus zu agieren und aufeinander zu reagieren.
Obwohl das improvisatorische Element im weiteren Verlauf der Proben auf der inhaltlichen Ebene in den Hintergrund trat, weil Szenen und Abläufe festgelegt und auch wiederholt und geübt wurden, kann auch die Entwicklung des Stückes als improvisatorischer Prozess bezeichnet werden, denn das Stück entstand von Moment zu Moment und aus den Ideen aller Beteiligten – und hier wird auch die enge Verzahnung von improvisatorischem und partizipativem Handeln deutlich. Dabei lassen sich im Wesentlichen drei Arten von Impulsen unterscheiden, durch die improvisatorisches Spiel in einen Teil des Stückes verwandelt wurde: zum einen das direkte Festhalten von situativ entstandenen Spielideen – die eher übliche Weise also, aus Improvisationen Szenen entstehen zu lassen. Der zweite Impuls bestand darin, dass für eine Situation ein Rahmen vorgegeben wurde, der den Spieler*innen grundsätzlich zur Improvisation überlassen wurde. Und schließlich wurde an manchen Stellen nach einer Szene gesucht, indem gezielt zu dieser Situation verschiedene Varianten improvisiert wurden und die Gruppe sich dann gemeinsam für eine davon entschied.
„Patrick meldet sich, dass er der Polizei laut sagen möchte, dass die Tasche geklaut wurde. An der Stelle wurde diskutiert, wie die Szene weiter verläuft. Patrick meldete sich und entwickelte dabei seine Rede für die Szene selbständig.“ (Velutgina 2023:59, Hervorhebung im Original)
Jede der drei Varianten bot auf unterschiedliche Weise Raum für einzelne Personen, ihr Gestaltungspotential einzubringen und zu entfalten. Hier unterschied sich die Gruppe der Schüler*innen von der der Studierenden bezüglich der gegenseitigen Wahrnehmung – denn vor allem das Gestaltungspotential der Schüler*innen wurde von den Studierenden wahrgenommen.
Insgesamt blieb die Handlung des Stückes bis hin zur Aufführung von dem Spannungsfeld zwischen festgelegten und zur Routine gewordenen Abläufen und im Moment spontan entstandenen Handlungen bestimmt.
Auch auf der Ebene der Organisation und Planung des Projektes in seinem Verlauf insgesamt (vgl. Vorgehensweisen) spielte die Improvisation eine Rolle. David Adler (2024) (siehe: „Reden ist Silber, Handeln ist Gold. Partizipative Kunst für ehrenamtliches Engagement in ländlichen Räumen“) spricht von der „sozialen Improvisation“, bei der das Umgehen mit den Gegebenheiten in bestimmten gesellschaftlichen Zusammenhängen für die Entstehung kulturell-künstlerischer Praxis relevant sein kann und muss. Auch wenn diese Überlegungen in einem ganz anderen Kontext entstanden sind, kann der Grundgedanke der sozialen Improvisation auf das hier vorgestellte Projekt insofern übertragen werden, als gerade in der sehr heterogenen Gruppe mit unterschiedlichen Rollenerwartungen, aber auch unterschiedlichen alltagsbezogenen Bedürfnissen immer wieder Entscheidungen getroffen wurden, die organisatorische, soziale und gestalterische Aspekte aus dem Moment heraus miteinander in Verbindung brachten. Deutliche Beispiele hierfür sind die Umbesetzung von Rollen aufgrund fehlender Personen, die häufig dann auch zur Veränderung der Rolle führte, oder auch der Einsatz von unterstützenden Strategien für die Handlung, die sich erst im Moment der Umsetzung (und manchmal auch abhängig von der Tagesform einer Person) als notwendig erwiesen.
Partizipation
Partizipation ist ein sehr umfassend und vielfältig verwendeter Begriff, der aktuell vor allem auch in seiner gesellschaftlich-politischen Dringlichkeit gerade im schulischen Kontext aus unterschiedlichen Perspektiven diskutiert wird (Büker et al. 2021). In der vorliegenden Darstellung bezieht sich der Begriff auf die Frage nach einer Beteiligung von Schüler*innen und Studierenden auf der Ebene des gestalterischen Handelns im Prozess der theaterpädagogischen Arbeit. Dies entspricht am ehesten den Fragen nach der Umsetzung partizipativer Elemente im Unterricht (Büker et al. 2021:392). Besondere Relevanz erhalten methodische Fragen in Bezug auf das partizipative Element in dieser Gruppe, da die Möglichkeiten der Schüler*innen, eigene Meinungen zu äußern oder eigene Ideen einzubringen, mit Hilfe von differenzierten Impulsen und sensibler Wahrnehmung und Interpretation begleitet sein müssen, da zum Teil keine verbale Sprache verwendet wird. Hier erweist sich das improvisatorische Vorgehen im Sinne einer intuitiven und auch situativen Ausrichtung der Aushandlungs- und Gestaltungsprozesse als sehr hilfreich.
Die Spannbreite einer partizipativen Vorgehensweise in diesem Projekt reicht von der Entscheidung der Verantwortlichen, grundsätzlich im theaterpädagogischen Prozess möglichst viele Impulse aus der Gruppe direkt aufzugreifen und möglichst viele Entscheidungen inhaltlicher Art an die Gruppe abzugeben, bis hin zu einer Resonanz auf das Ergebnis des Prozesses, bei dem als besondere Qualität hervorgehoben wurde, dass es aus so vielen verschiedenen Ideen aus der Gruppe entstanden sei und jeder sich einbringen konnte: „Mir gefällt an unserem Theaterstück, dass alle ihre eigenen Ideen einbringen konnten und jeder seinen Platz gefunden hat“ (Zitat eines der Mitspielenden aus dem Prolog des Stückes).
Aus der eher distanziert reflektierenden Perspektive der wissenschaftlichen Begleitung im Rahmen der Masterarbeit ergab sich eine zusammenfassende Gesamteinschätzung des partizipativen Charakters vor allem für die beteiligten Schüler*innen, die sowohl die Grenzen der Bemühungen aufzeigte als auch unterschiedliche Strukturen ausfindig machte, innerhalb derer die Beteiligung aller auf unterschiedliche Weise möglich wurde (Velutgina 2023).

Dazu gehörten zum einen ganz konkrete Maßnahmen wie die Arbeit in den Kleingruppen, die so weit wie möglich nach inhaltlichen Interessen gebildet wurden, und die zwar mit Impulsaufträgen, aber doch eigenständig arbeiteten. Die Rückmeldung auf die Ergebnisse der Kleingruppenarbeit kam dann jeweils aus der ganzen Gruppe. Feedbackstrukturen waren aber nicht nur bei der Erarbeitung des Stückes, sondern auch innerhalb des gesamten Projektes eine Maßnahme, die, zum Teil aus dem Moment heraus, in Gesprächen in der Gruppe, zum Teil auch mit vorbereiteten Materialien, so barrierearm wie möglich und so kontinuierlich wie möglich umgesetzt wurde.
Dabei ging es – neben der gemeinsamen Reflexion von erarbeiteten Ergebnissen – immer wieder darum, Ideen zu sammeln oder auch Wünsche einzelner Personen zu berücksichtigen.
„Martin hat sich bei einer Melodie gemeldet, dass er sie schön findet. Martin beteiligte sich aktiv bei der Melodiesuche für den Tanz der Polizisten. Normalerweise muss man ihn nach seiner Meinung fragen. Außerdem tendiert Martin oft dazu, die Fragen mit „Ja“ zu beantworten. Deshalb ist es bemerkenswert, dass er sich bei einer Melodie selbst meldete. Ein anderer wichtiger Punkt ist, dass er dies ohne Motivation von außen tat.“ (Velutgina 2023:59, Hervorhebung im Original)
Immer wieder entstanden Situationen, bei denen – entsprechend der Arbeitsweise mit Musik und Bewegung – Gestaltungsalternativen ausprobiert wurden und dann gemeinsam eine davon ausgewählt wurde, wie es im Zusammenhang mit dem Aspekt der Improvisation bereits geschildert wurde.
Soziales Beziehungsgefüge
Der soziale Aspekt hatte für den Verlauf des Erarbeitungs- und Probenprozesses eine große Bedeutung. Die Heterogenität der Gruppe, die sich aus Schüler*innen und Studierenden zusammensetzte, zog zumindest auf Seiten der Studierenden eine intensive Auseinandersetzung mit dem eigenen Rollenverständnis nach sich, da dieses sich in dieser Situation von anderen Begegnungssituationen mit Schüler*innen gründlich unterschied. Das Konzept des Seminares, wirklich als eine Gruppe gemeinsame theaterpädagogische Erfahrungen zu sammeln und dann ein eigenes Stück zu entwickeln, wurde zu Beginn bekannt gegeben. Von den Studierenden wurde dies als Herausforderung angesehen, die phasenweise unterschiedlich gut bewältigt werden konnte. In jedem Fall ging aus den Rückmeldungen hervor, dass der unmittelbare und auch sehr persönliche Kontakt zu den Schüler*innen, der sich in den theaterpädagogischen Übungen und in den Gestaltungsprozessen ergab, als sehr positiv erlebt wurde. Die gemeinsame Fokussierung auf den „Gegenstand“ des Darstellens in Bewegung, Musik und Sprache, die in vielen Situationen die alltagsbezogenen Rollenunterschiede irrelevant werden ließ, trug dazu bei.
„Besonders schön und eindrücklich empfand ich die Spiegelübung, denn dabei war es wichtig, genau auf die andere Person zu achten. Wir durchmischten uns Studierende und Schüler:innen und konnten so einander auch etwas besser kennenlernen und ausprobieren, wie wir im Theater miteinander funktionieren.“ (Müller 2023:19)
Andererseits gab es auch Phasen, in denen die Rollen als angehende Lehrkräfte und damit pädagogische Verantwortungsträger ganz klar wieder eingenommen wurden. Letztlich stellte die Flexibilität, hier auch zu wechseln, eine wichtige Ressource für das Projekt dar, da auf diese Weise sowohl das Erlebnis der unmittelbaren Begegnung und gemeinsamen Gestaltung möglich wurde, als auch in bestimmten Situationen gezielt eine sensible, direkt aus dem Gestaltungsprozess erwachsene Unterstützung für einzelne Personen möglich wurde.
„(Es) wurden bestehende pädagogische Strukturen hinterfragt, Hierarchien behandelt: ‚Wie stehe ich als Studierende zu den Schüler:innen? Inwiefern nehme ich mich zurück? Inwiefern unterstütze ich?‘ und (es wurde) ein () sensible(r) Blick entwickelt für die gemeinsame Arbeit. Essenziell war hierbei der ständige, flexible Perspektivwechsel.“ (Müller 2023:49)
Diese Flexibilität entsprach auf der Ebene der Probengestaltung einem häufigen Wechsel der Sozialform, in der gearbeitet wurde: zum einen können in der großen Gruppe der Kreis und der Raumlauf als zwei unterschiedliche, aber jeweils bedeutsame „sozialräumliche Konstellationen“ für Ideensammlungs-, Abstimmungs- oder auch Erprobungsprozesse genannt werden (zum Kreis: Quack / Zielke 2019).
Zum anderen kam es im Verlauf des Prozesses aber immer häufiger auch zum Arbeiten in kleinen Gruppen, so dass recht intensive „Arbeitsbeziehungen“ entstanden, in denen die üblichen Rollenerwartungen zwar zunächst noch relevant waren, im Verlauf des gemeinsamen Gestaltungsprozesses jedoch immer stärker zurück traten zugunsten eines intensiven Sich-Aufeinander-Einlassens im Hinblick auf das zu erarbeitende Theaterstück.
Betrachtet man die Interaktionen, die sich im Laufe des Prozesses immer wieder neu ergaben, einzelne Beziehungen intensiv werden und auch wieder vergehen ließen, vor allem aber die Gruppe als Ganzes in einen immer engeren Zusammenhalt wachsen ließ, so lässt sich dieser Zusammenhang zwischen gestalterischem, improvisierendem Tun und sozialen Interaktionen und Beziehungen vor dem Hintergrund des Theorem der Gabe reflektieren (Mauss 1994, zit. nach Hentschel 2015:134), das Ingrid Hentschel (2015) auf das Theaterspiel in heterogenen Gruppen übertragen hat. Sie beschreibt – anhand eines Beispiels aus der inklusiven Theaterszene, der Theaterwerkstatt Bethel – die unterschiedlichen sozialen, aber auch emotionalen Qualitäten, die im Probenprozess, insbesondere auch bei einer gemeinsamen Aufführung, entstehen. So wird der Wechsel von Geben und Nehmen zur Aufrechterhaltung von Beziehungen über die gegenseitigen Impulse in der gemeinsamen Gestaltung erlebbar. Was Hentschel in Bezug auf eine gemeinsame Aufführung schreibt, war im hier vorgestellten Projekt ebenfalls zu erleben:
„Das Moment des Überschusses und der Überschreitung kann einer Aufführung den Charakter eines Festes verleihen, indem die Anwesenden durch intensive Teilhabe die Erfahrung der Communitas (vgl. Turner 1989), der gemeinschaftlichen Verbundenheit machen.“ (Hentschel 2015:144) Im Bericht der Studierenden ist zu lesen von „(der) gemeinsamen Aufregung, (der) Freude über das gemeinsame Stück und (der) Verbundenheit, die man in diesem Moment fühlt.“ (Müller 2023:15)
Besonders prägnant und intensiv können diese Erfahrungen der Wechselseitigkeit und Verbundenheit dadurch werden, dass die Beziehungen zwischen den in der Gruppe zusammengeführten Personen in ihren Rollen im Alltag in fast jeder Hinsicht ein hierarchisches Gefüge aufweisen – bedingt durch natürliche Gegebenheiten wie den Altersunterschied und die unterschiedliche Position im Lebenslauf, bedingt aber auch durch formale institutionelle Gegebenheiten wie die komplementären Rollen, die die beiden Gruppen zueinander im Bildungssystem haben. Im Sinne des Theorems der Gabe reflektiert, wird der intensive, ja vielleicht auch existenzielle Charakter der Begegnungen in diesem Gestaltungsprozess deutlicher, gleichzeitig erhält der Prozess des gemeinsamen Gestaltens eine Leichtigkeit, die sich aus den anzunehmenden stärkenden Effekten des „Schenkens“ und „Beschenktwerdens“ ergibt. Gemeint sind Prozesse innerhalb der Gruppe, die gemeinsam immer wieder aus dem Moment heraus agiert und aufeinander reagiert.
Die Beziehungen zwischen den darstellenden Personen auf der Bühne und dem zuschauenden Publikum stellen eine weitere Dimension dar, die Hentschel in ihrem Text in die Theorie der Gabe als einem möglichst nicht zu unterbrechenden Kreislauf von Geben – Nehmen und Wiedergeben (Hentschel 2015:136) einordnet – nicht ohne Bezug zu nehmen auf die Besonderheit der „Gabe“ im Bereich der Kunst als einem zwischen physisch materiellem und über die Lebenswelt hinausgehenden immateriellem Gegenstand. Den Prozess der Präsentation vor einem Publikum kennzeichnet sie folgendermaßen: „Wenn sich Künstler mit einer Sache beschäftigen, dann wollen sie den Dingen ihr Eigenrecht rückerstatten, das was sie für sich selbst sind, um es dann dem Publikum zugänglich zu machen, zu übergeben.“ (Hentschel 2015:136)


Die Bedeutung, die die Aufführung des Theaterstückes für die Beteiligten hatte, wird aus der Antwort eines Schülers deutlich – auf die Frage, warum dieses Stück aufgeführt wird, antwortet er: „Warum wir das Stück den Leuten zeigen? Um sie zu unterhalten natürlich. Und – damit die Leute etwas Schönes sehen.“
Fazit
So lässt sich insgesamt als Grundidee des Seminares festhalten, kulturell-künstlerische Praxis als Feld der Stärkung, des Ausdrucks und der Begegnung anzubieten, und dieses Angebot auf der strukturellen Ebene durch die Kooperation zweier Institutionen, die im Bildungssystem unterschiedliche Rollen einnehmen, zu einer wechselseitigen Bereicherung für Personen werden zu lassen, die aufgrund ihrer Lebenssituation an verschiedenen Stellen des Bildungssystems stehen. Auf der Prozessebene (Racherbäumer 2016) scheint die partizipative und auf den Grundsätzen der Improvisation beruhende Vorgehensweise dabei hilfreich zu sein. Aus den Rückmeldungen der Beteiligten geht hervor, dass diese Ideen auf positive Resonanz stoßen. Dass ein solches Projekt für die Haltung der Studierenden den Schüler*innen gegenüber eine große Bedeutung hatte, wird in einem resümierenden Kommentar einer Studierenden deutlich, wenn sie die Grundlage für die Entscheidung, das Seminar zu besuchen, folgendermaßen benennt:
„Der Wille, wöchentlich Perspektivwechsel zu übernehmen und sich aus der Lehramtsstudierendenrolle herauszubewegen in die Rolle des/r Schauspieler:in hinein, um Teil einer Theatergruppe zu sein, ohne in die Rolle des Anweisens oder Entscheidens zu kommen.“ (Müller 2023:49)
Ein Aspekt, der das Projekt durchzieht und in allen drei Datenquellen immer wieder auftaucht, wenn auch nicht jedes Mal explizit so benannt, ist die Wahrnehmung „Inklusiver Momente“. Dies können situative Momente sein, vor allem aber ist damit die Schaffung eines Rahmens oder auch die Entstehung einer Dynamik gemeint, die das Auftreten „inklusiver Momente“ als Momente wirklicher Lern – und Begegnungserfahrungen jenseits von – normalerweise wenig reflektierten – Hierarchien und Ausgrenzungsmechanismen möglich machen (vgl. Platte / Krönig 2017). Tizia Müller zeigt in ihrem Bericht an verschiedenen Stellen auf, inwiefern das beschriebene Projekt vor dem Hintergrund eines solchen Konzepts verstanden und gedeutet werden kann.
Trotzdem bleibt – gerade aufgrund der beschriebenen strukturellen Rahmenbedingungen – kritisch zu fragen, inwieweit ein solches Projekt wirklich dazu geeignet ist, die Prozesse, die angestoßen werden, auch über das Projekt hinaus weiter zu führen. Strukturell gesehen bedeuten diese Prozesse eine Flexibilisierung von schulischen und auch von hochschulischen Organisationsformen und Bildungskonzepten. In bildungsbezogener Hinsicht ist die gemeinsame Entwicklung von Ideen im Hinblick auf eine gemeinsame Sache, – aus ganz unterschiedlichen Perspektiven und aus spontanem Agieren heraus – ein Element, das sich vielleicht auch auf andere Zusammenhänge übertragen ließe.
Inwieweit hier Ansatzpunkte vorliegen, die in die aktuelle Diskussion zur inklusiven Didaktik einfließen können (vgl. zum Beispiel Dexel / Kratz 2022) oder aber inwieweit vor allem das Potential kulturell-künstlerischer Bildungsprozesse im Hinblick auf die ästhetische Erfahrung als gemeinsamen Gegenstand im Sinne Georg Feusers (2013) oder auch als Grundlage von Bildungsprozessen ganz allgemein im Sinne Gerd Schäfers (2019) weiter ausgeleuchtet werden könnte, bleibt weiteren Überlegungen zu Gestaltungsvorgängen wie dem hier beschriebenen überlassen.