Die biografische Bedeutung von Kultureller Bildung. Potentiale von Biografieforschung zum Verständnis von kulturellen Bildungsprozessen

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von Burkhard Hill, Stefanie Richter

Erscheinungsjahr: 2017

Diskurse zur Forschung in der Kulturellen
Bildung

Der Gegenstand „Kulturelle Bildung“

In der Kulturellen Bildung stehen Gestaltungs-, Ausdrucks- und Aufführungsaktivitäten im Mittelpunkt, die zum Beispiel durch Theaterspielen, Malen bzw. Zeichnen, Bildhauerei, Musizieren, Tanzen oder mit neuen Medien durchgeführt werden. Auch die Rezeption und die Reflexion von ästhetischen Ausdrucksformen gehören zur Kulturellen Bildung sowie die sozialen und kulturellen Umgebungen, die als Kontexte mit reflektiert und ggf. verändert werden können. Kulturelle Bildung zielt demnach sowohl auf die teilnehmenden Subjekte als auch auf die Gestaltung ihrer sozialen und kulturellen Umgebung. In einer ästhetisierten Alltagswelt, in der die Sinne der Menschen zunehmend beansprucht werden, gehören ein Bewusstsein für die offenen und versteckten ästhetischen Botschaften und die Fähigkeit, selbst mit ästhetischen Mitteln zu kommunizieren, zu wichtigen Wahrnehmungs-und Gestaltungskompetenzen für ein selbstbestimmtes Leben (vgl. Fuchs 2008:91ff.). Kulturelle Bildung ist demnach keine ‚schöngeistige‘ Freizeitgestaltung, sondern ein Bildungsprojekt zur Persönlichkeitsentwicklung und zur gesellschaftlichen Teilhabe: Die Bildung der Sinne dient dazu, die in jedem Menschen wohnenden Möglichkeiten der umfassenden Aneignung und Gestaltung von ‚Welt‘ zu entwickeln (vgl. Hill 2011:255). Die hierbei geförderten ästhetischen Erfahrungen erstrecken sich nicht nur auf die Aneignung „hochkultureller“ Genres, sondern auch auf alltags- und soziokulturelle Praktiken in informellen und non-formalen Bildungskontexten.

Im Schlussbericht der Enquetekommission „Kultur in Deutschland“ wurde Kulturelle Bildung wie folgt beschrieben:

Eine ganzheitliche Bildung, die Musik, Bewegung und Kunst einbezieht, führt, wenn diese Komponenten im richtigen Verhältnis stehen, im Vergleich zu anderen Lernsystemen bei gleicher Informationsdichte des Unterrichts für den Lernenden zu höherer Allgemeinbildung. Gleichzeitig werden höhere Kreativität, bessere soziale Ausgeglichenheit, höhere soziale Kommunikationsfähigkeit, höhere Lernleistungen in den nicht künstlerischen Fächern (Mathematik, Informatik), bessere Beherrschung der Muttersprache und allgemein bessere Gesundheit erreicht. Durch Kulturelle Bildung werden grundlegende Fähigkeiten und Fertigkeiten erworben, die für die Persönlichkeitsentwicklung des jungen Menschen, die emotionale Stabilität, Selbstverwirklichung und Identitätsfindung von zentraler Bedeutung sind (...). Kulturelle Bildung erschöpft sich nicht in der Wissensvermittlung, sondern sie ist vor allem auch Selbstbildung in kulturellen Lernprozessen (Deutscher Bundestag 2007:379).

Dieser Text hat eine programmatische Funktion im deutschen Bildungswesen und zeigt zugleich, welche Erwartungen an Kulturelle Bildung weit über die Beschäftigung mit den Künsten hinaus geknüpft sind. Sie erstrecken sich auf psychosoziale Schlüsselqualifikationen, die als Transfereffekte aus dem „Lernen im Medium der Künste“ (Ermert 2009, Rat für Kulturelle Bildung 2013:15) zu erwarten seien. Als Zielgruppe werden hier überwiegend Kinder- und Jugendliche ins Auge gefasst, was im Kontext der seit Jahren geführten Ganztagsschul-Debatte zu verstehen ist. Inzwischen werden Konzeptionen Kultureller Bildung aber auch auf andere Zielgruppen, Erwachsene und besonders ältere Menschen, ausgedehnt.

Die Frage nach den „Wirkungen“ Kultureller Bildung

Im obigen Zitat sind weitgehende Wirkungsbehauptungen enthalten, für die es bis in die 2010er Jahre hinein allerdings kaum empirische Nachweise gab. Der Rat für Kulturelle Bildung formuliert daher in seiner Denkschrift „Alles immer gut!“ mit einem kritischen Unterton:

„Kulturelle Bildung kann sich nur dann nachhaltig im Bildungssystem etablieren, wenn Bedingungen, Wirkungen und Wirkweisen fundiert auf der Basis empirischer Erkenntnisse und rationaler Argumente beschrieben werden können“ (Rat für Kulturelle Bildung 2013:54).

Zu den Mythen Kultureller Bildung gehören insbesondere Wirkungsbehauptungen, die durch methodisch angreifbare Studien aufgestellt und von populärwissenschaftlichen Medien verbreitet wurden. Beispielhaft sind dafür die so genannte „Bastian Studie“, die in Berliner Grundschulen die Wirkungen von Musikunterricht untersuchte und zu dem Ergebnis kam, dass dieser die Intelligenz und das Sozialverhalten fördere; oder die Ergebnisse einer 1995 in den USA durchgeführten Studie, die unter dem Titel „Mozart-Effekt“ publiziert wurde und aussagt, dass die Musik von Mozart zu einem differenzierteren räumlichen Wahrnehmungsvermögen führe. Beide Studien wurden methodologisch kritisiert und im Fall des „Mozart-Effekts“ sogar widerlegt. Dennoch hält sich in der Öffentlichkeit hartnäckig die Behauptung: „Musik macht intelligent“(vgl. Hill 2011; Rittelmeyer 2010, 2016).

Das Netzwerk Forschung Kulturelle Bildung machte bereits Ende der 2000er Jahre auf die bestehenden Forschungsdesiderate und Methodenfragen aufmerksam und veranstaltet seit 2010 regelmäßig Tagungen und Kolloquien, um eine Plattform für den wissenschaftlichen Austausch zu schaffen. Auch werden Forschungsarbeiten von NachwuchswissenschaftlerInnen begleitet. Ziel des Netzwerkes ist es, durch gegenstandsadäquate Forschungen im Verbund mit Praxis Beiträge zu einem wissenschaftlichen Verständnis von Kultureller Bildung zu leisten (vgl. Netzwerk Forschung Kulturelle Bildung 2016).

Inzwischen sind Stiftungen und das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) auf diese Forschungslücken aufmerksam geworden. Das zeigt sich in zwei voneinander unabhängigen Forschungsprogrammen mit einem gut ausgestatteten Fördervolumen: Der „Forschungsfonds Kulturelle Bildung. Studien zu den Wirkungen Kultureller Bildung“ fördert seit 2014 sechs Projekte aus Mitteln der Stiftung Mercator. Das BMBF wiederum veröffentlichte im Oktober 2015 die Richtlinie zur Förderung von Forschungsvorhaben zur Kulturellen Bildung. Es wird erwartet, dass hier etwa zehn Projekte gefördert werden. Im Trend liegen derzeit Forschungsdesigns, die es erlauben, eine größere Anzahl von ProbandInnen einzubeziehen und an einzelnen Fallstudien Besonderheiten kultureller Bildungsprozesse aufzuzeigen, was in der Regel durch einen Methodenmix aus qualitativen und quantitativen Verfahren erreicht werden soll.

Wir verwenden nachfolgend keinen engen Wirkungsbegriff im Sinne von relativ kurzfristig nachweisbaren Effekten in Form von psychosozialen Schlüsselqualifikationen, Intelligenzsteigerungen, sozialen Kompetenzen usw. Anhand des später diskutierten Fallbeispiels möchten wir zeigen, wie Subjekte Prozesse der Persönlichkeitsentwicklung durchlaufen können, die an ästhetische Wahrnehmungs- und Ausdrucksformen gebunden sind und nicht linear, sondern in Schüben, mit Unterbrechungen usw. verlaufen. Diese sind abhängig von Kontextbedingungen, spezifischen Lebenssituationen, subjektiven Aneignungsformen usw. Diese Komplexität spiegelt sich unseres Erachtens nicht in einem engen, funktionalen Wirkungsbegriff wider, der die subjektiven Aneignungsprozesse zugunsten funktionaler, medienbezogener Wirkungen weitgehend außer Acht lässt. Wir verwenden den Begriff „Wirkungen“ daher in Anführungszeichen.

Zum Stand der Forschung

Trotz dieses offensichtlichen Forschungsbooms in der Kulturellen Bildung bleiben einige Desiderate bestehen. Die Projektgruppe „Forschung zur kulturellen Bildung in Deutschland“ (Liebau/Jörissen/Klepacki 2014a) erarbeitete z.B. einen Überblick über Forschungsaktivitäten in Deutschland, der als Zukunftsprojekt fortlaufend weiter aktualisiert werden soll. Die Autoren konstatieren insbesondere, dass die Forschungslandschaft „eher als Konglomeration einzelner, eher unverbundener künstebezogener Forschungsfelder und Akteure“ bestehe, dass Theoriebegriffe (Bildung, Lernen, Aneignung) äußerst different verwendet würden und dass forschungsmethodische Standards sehr unterschiedlich entwickelt seien (vgl. ebd.:204f.)

Anlässlich des Förderprogramms „Jedem Kind ein Instrument“ wurde durch das BMBF eine ausführliche wissenschaftliche Begleitung gefördert, die – am Beispiel des Mediums Musik – einzelne Wirkungsaspekte untersuchte, beispielsweise Veränderungen im musikalischen Selbstkonzept, Transfereffekte im Bereich von Lese- bzw. Rechtschreibkompetenzen und erhöhter Aufmerksamkeit, positive Auswirkungen auf die Stressbewältigung, auf eine gesteigerte Leistungsfähigkeit des Arbeitsgedächtnisses usw. (vgl. Koordinierungsstelle des BMBF-Forschungsschwerpunkts zu Jedem Kind ein Instrument 2013:55-67). Bezogen auf musikalische Bildung gibt es einige neurobiologische Untersuchungen, die die Neuroplastizität des Gehirns betreffen (z.B. Schneider 2012). Im Mittelpunkt dieser Untersuchungen stehen häufig Transfereffekte sowie neurobiologische Befunde, anhand derer auf die Persönlichkeitsentwicklung geschlossen wird.

Zwei Sammelbände aus dem Umfeld des Netzwerks Forschung Kulturelle Bildung machen unterschiedliche Forschungsansätze sichtbar. Der Band „Forschung zur Kulturellen Bildung“ (Liebau/Jörissen/Klepacki 2014b) enthält sowohl bildungstheoretische und forschungsmethodologische Beiträge sowie Berichte aus einzelnen Forschungsprojekten. Das Buch „Forsch!“ (Fink/Hill/Reinwand-Weiss 2015) gewährt einen Überblick über Projekte von NachwuchswissenschaftlerInnen, wie sie in der regelmäßigen Forschungswerkstatt des Netzwerkes Forschung Kulturelle Bildung diskutiert werden. Insgesamt bleibt auch hier als Gesamteindruck die Heterogenität der Theorien, Forschungsansätze und Methoden bestehen, wie sie an anderer Stelle auf die Heterogenität des Feldes, der Bildungskontexte, Zielgruppen und künstlerisch-medialen Genres zurückgeführt wurde (vgl. Prenzel/Ray 2012:926f.).

Rittelmeyer weist ebenfalls auf theoretische und methodische Defizite der Transferforschung hin und formuliert die für die Forschungslandschaft relevante Frage: „Welche Bedeutung haben biographische Erfahrungen mit ästhetischen Tätigkeiten und Erlebnissen für den Bildungsprozess Heranwachsender?“, wobei er sich erstaunt zeigt, dass diese naheliegende Frage bisher noch gar nicht gestellt worden sei (vgl. Rittelmeyer 2014:38). Die AutorInnengruppe Hill, Richter und Flick entwickelte zwar ein Forschungsdesign für eine biografische Forschung zur Kulturellen Bildung (Hill/Richter/Flick 2015), das bisher aber noch nicht umfassend realisiert werden konnte. In der Bildungsforschung gehören biografieanalytische Forschungen schon seit den 1970er Jahren zum anerkannten Bestand (vgl. Schulze 2006), wurden in der Forschung zur Kulturellen Bildung bisher aber eher nur partiell umgesetzt, z.B. in der Studie zur biografischen Bedeutung von Theatererfahrungen (Reinwand 2008) und zur Rekonstruktion musikalischer Erfahrungen (Dietrich/Schubert 2014). In einer neueren Veröffentlichung wird zudem deutlich, dass die bekannten biografieanalytischen Studien im Kontext Kultureller Bildung bisher kaum methodologisch diskutiert werden und dass diesbezüglich große Unklarheiten herrschen (vgl. Rittelmeyer 2016:26ff.).

Ein Überblick über die von der Stiftung Mercator geförderten Projekte zeigt zudem, dass überwiegend eine schulzentrierte Perspektive auf den Gegenstand vorherrscht. Vier von sechs Projekten beziehen sich unmittelbar auf schulische Kontexte. Die verbleibenden zwei Projekte untersuchen formelle Bildungsprozesse der musikalischen Früherziehung bzw. von Kursen einer Jugendkunstschule. Über die Ausrichtung der geförderten Forschungsvorhaben der BMBF-Ausschreibung ist bei Drucklegung dieses Artikels noch nichts bekannt. Folgt man den Schwerpunktsetzungen bisheriger Diskurse, so dürfte eine Schulzentrierung auch hier im Vordergrund stehen. Unseres Erachtens sind diese Untersuchungen von formalisierten Settings stark vom jeweiligen institutionellen Interesse geprägt. Die Frage nach den Transferwirkungen Kultureller Bildung wird zudem durch Legitimationszwänge der Effizienz des Mitteleinsatzes von öffentlichen oder durch Stiftungen bereitgestellten Mitteln aufgeworfen. So verengt sich die Forschungsperspektive und lässt weitgehend außer Acht, in welcher Weise die betroffenen Subjekte sich ästhetische Erfahrungen aneignen, wie sie diese in ihr Selbstbild einbauen, als lebensbegleitende Orientierungen mit sich tragen, Aktivitäten daraus entwickeln usw. Diese Subjektperspektive unterscheidet sich grundsätzlich von einer durch institutionelle Interessen geprägten Forschungsperspektive. Ohne dass dies explizit erklärt wurde, scheinen die ausgeschriebenen Forschungsprogramme der Zielsetzung zu folgen, die Kulturelle Bildung umfassend zu evaluieren, wie es auch das oben zitierte Statement des Rats für Kulturelle Bildung nahelegt.

Diese potentiell kritische Grundhaltung ist auch im internationalen Diskurs zur Forschung in der Kulturellen Bildung zu finden. Besonders zwei durch die UNESCO geförderte, internationale Metastudien festigen den Trend, mehr evidenzbasierte Forschung zu etablieren (vgl. Bamford 2006; Winner/Goldstein/Vincent-Lancrin 2013). Insgesamt wird dort ein Defizit an Theorie- und Hypothesenbildung sowie Methodenentwicklung beklagt. Die evidence- based Forschung gilt dabei als höchster Standard, wie er besonders in der schulbezogenen Lernforschung verbreitet ist. Rittelmeyer setzt sich in Publikationen (z.B. 2016) allerdings kritisch und plausibel mit den so genannten evidence-based Forschungen auseinander. Insbesondere kritisiert er Vergleichsgruppendesigns, wenn die ProbandInnen per Zufallsauswahl unabhängig von ihren Interessen und Vorkenntnissen einer Treatment- oder Vergleichsgruppe zugeordnet werden (vgl. ebd.:39).

Unseres Erachtens zeigt dieser Überblick, dass es an einer bildungstheoretischen Fundierung von Forschungen zur Kulturellen Bildung mangelt. Sofern kurzfristige Effekte untersucht werden, handelt es sich im strengeren Sinne um Lernforschung, die Verhaltensänderungen nach dem absolvierten Programm misst. Längerfristige Transformationen von Orientierungen und Handlungsmustern sowie soziokulturelle Veränderungs- und Beteiligungsprozesse bleiben außer Acht. Wenn angesichts der vielen Einflüsse, die auf die Bildung des Subjekts einwirken, überhaupt spezifische Auswirkungen der Kulturellen Bildung „gemessen“ werden können, so ist dies unseres Erachtens nur eingeschränkt aus einer Evaluationsperspektive möglich, die lediglich ein Programm als Variable umfasst.

Schließlich muss an dieser Stelle vermerkt werden, dass sich die Bildungsforschung durchaus mit Wirkungen ästhetischer Erziehung bzw. ästhetischer Erfahrungen auseinandersetzt (vgl. dazu beispielsweise Zill 2015), dass dies aber in einer anderen Diskursarena – zumeist schulbezogen - verhandelt wird, ohne die Besonderheiten Kultureller Bildung, nämlich non-formales bzw. informelles Lernen, soziale und kulturelle Teilhabe, zu berücksichtigen. Der gegenwärtige, direkt auf Kulturelle Bildung bezogene Forschungsboom, weist unseres Erachtens allerdings darauf hin, dass hier ein Professionalisierungsprozess einsetzt, der das ehemalige Praxisfeld zu einem auf wissenschaftlicher Basis fundierten Sektor des Bildungsbereichs werden lässt und damit auch das Interesse der Bildungsforschung weckt.

Theoriebezüge: Bildung und Biografie, Biografieforschung und Narration

Wir betrachten „Wirkungen“ von Kultureller Bildung als in vielfältiger Form abhängig von subjektiven Dispositionen, künstlerischen Medien, kulturpädagogischen Interventionen, situativen und strukturellen Rahmenbedingungen sowie sozialen Interaktionen. Bildungsprozesse bestehen aus subjektiven Aneignungsprozessen in Auseinandersetzung mit der ‚Welt‘, die zu Transformationen des Orientierungsrahmens und der Handlungskompetenzen beim jeweiligen Subjekt führen (vgl. Marotzki 1990). Kulturelle Bildung im Besonderen findet als ästhetische Praxis in Auseinandersetzung mit den Künsten und medialen Technologien statt und ermöglicht somit eine spezifisch sinnliche Form der Weltaneignung.

Bildung wird hierbei als lebenslanger Prozess verstanden, wobei die „Veränderung oder Entwicklung von Menschen aufgrund von Sozialisation, Lernen und Erfahrungsverarbeitung“ in und außerhalb der dafür vorgesehenen Institutionen bedeutsam ist (vgl. Garz/Blömer 2005:443). Bildung bewirkt Transformationsprozesse von Haltungen und Orientierungen des Subjekts, die sich im Verständnis von sich selbst sowie im alltäglichen Handeln zeigen (vgl. Marotzki/Tiefel 2013:73). Max Fuchs definiert Kulturelle Bildung als Allgemeinbildung, die mit kulturpädagogischen Methoden einer ästhetisch-künstlerischen Praxis erreicht wird. Dabei stellt Bildung die subjektive Seite von Kultur und Kultur die objektive Seite von Bildung dar (vgl. Fuchs 2008:94). Biografie wiederum ist „die Lebensbewegung eines Menschen im soziokulturellen Raum und in der historischen Zeit, und die Erfahrungen, die er im Laufe seines Lebens (...) in der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt“ ansammelt (Schulze 2006:45). Der Prozess der Biografisierung des Lebenslaufs ist einerseits eine autopoetische Konstruktion des Subjekts, andererseits spiegeln sich darin kulturell vermittelte Orientierungsmuster und Beschreibungsformate (vgl. Kade/Nolda 2012:282) sowie strukturelle Rahmungen und Bedingungsfaktoren als Einbettung eines individuellen Bildungsprozesses in eine kollektiv geteilte Lebenswelt (vgl. Alheit/Dausien 1996:34). Die Subjektkonstruktionen werden analytisch also durch die sozialen, kulturellen Rahmungen sowie die interaktiven Herstellungsprozesse sozialer Wirklichkeit als ‚objektiver’ Bedingungsrahmen flankiert (vgl. Flick 2007:106ff.). Auf der Basis dieser theoretischen Grundlagen gehen wir davon aus, dass Erfahrungen mit Kultureller Bildung, sofern sie prägnant im positiven wie negativen Sinne waren, in Biografien präsent sind und durch autobiografisch-narrative Interviews zur Sprache kommen können.

Die erziehungswissenschaftliche Biografieforschung hat seit den 1920er Jahren eine lange Geschichte und erfuhr in den 1970er Jahren insbesondere durch die Soziolinguistik einen Aufschwung. Heinz-Hermann Krüger verfasste diesbezüglich einen umfassenden Überblick (vgl. Krüger 2006). Autobiografische Narrationen präsentieren als „Sprechakte“ sowohl Subjektkonstruktionen als auch Wirklichkeitsausschnitte aus der Perspektive der ErzählerInnen. Eine textstrukturelle Analyse kann sowohl über explizite als auch implizite Bestandteile der Erzählung Aufschluss geben. Nach Schütze können auf diese Weise „Prozessstrukturen des Lebensablaufs“ (Schütze 1983) identifiziert werden, die in Bildungsprozessen besonders in Form von biografischen Wandlungsprozessen in Erscheinung treten, in denen sich neue Handlungsschemata und Orientierungszusammenhänge dokumentieren (vgl. Schütze 2001; Fuchs 2011). In diesen Prozessstrukturen werden Orientierungsmuster, sich verändernde Handlungsrahmen, Bewältigungsformen, Identitätsbestandteile sichtbar, die an ästhetische Wahrnehmungs- und Gestaltungsprozesse gebunden sind und nach unserem Bildungsverständnis Transformationen des Orientierungsrahmens und der Handlungskompetenzen darstellen.

Theoretisch bedeutsame Anregungen zur Forschung in der Kulturellen Bildung können auch aus der „Pädagogik der Dinge“ (Nohl 2011) gewonnen werden. Die Grundüberlegung lautet, dass Pädagogik nicht nur als Interaktion zwischen Personen angelegt ist, sondern dass sie auch Räume, Material und Anderes als Medien einsetzt, die ihre eigene Wirkung, von Subjekt zu Subjekt unterschiedlich, entfalten. Nohl merkt an, dass „das Zusammenspiel zwischen Menschen und Dingen und die sich daraus möglicherweise entfaltenden neuen Zusammenhänge, aus denen wir die Bildung des Menschen und die Entstehung neuer Dinge abstrahieren, (...) der technikvergessenen empirischen Forschung neue Strategien [abverlangt]“ (ebd.:204). Er favorisiert beispielsweise videobasierte Mikroanalysen, die mittels der dokumentarischen Methode analysiert werden. Dabei wird besonders die Beziehung zwischen Mensch und Material fokussiert, die bei unserer Fragestellung allerdings nur dann bedeutsam wird, wenn sie für die Entwicklungsprozesse in biografischen Kontexten in Form von genrespezifischen Vorlieben und ästhetischen Gestaltungspraktiken von Bedeutung sind und explizit bzw. implizit erwähnt werden. In narrativen Interviews kommen Erzählungen vor, in denen die Materialität des ästhetischen Gegenstands expliziert wird: Die Vorliebe, mit Ölfarben zu malen kann in einem Fall zum Beispiel im Altersheim nicht fortgeführt werden, woraufhin die Erzählerin eingehend beschreibt, wie sie mit Pastellfarben alternative Ausdrucksformen entwickelt. Diese veränderte ästhetische Gestaltungsform korrespondiert mit anderen Bewältigungsanforderungen (Transformationen) im Zuge des Übergangs in ein Altersheim. Entsprechend unserer Schwerpunktsetzung, ästhetische Praktiken im Rahmen biografischer Entwicklungsprozesse zu rekonstruieren, favorisieren wir die weiter unten dargestellte Methode der Narrationsstrukturanalyse.

Biografieanalytische Forschung in der Kulturellen Bildung

Nachfolgend wird ein Forschungsdesign auf der Grundlage von autobiografisch-narrativen Interviews vorgestellt und anhand eines Fallbeispiels ("Fallbeispiel Frau Weinert") erläutert. Dabei wird von Fragestellungen ausgegangen wie: Welche Bedeutungen haben ästhetische Erfahrungen und Praktiken (als Kulturelle Bildung) im jeweiligen Lebensablauf? Wie werden künstlerisch-kreative Gestaltungsmöglichkeiten angeeignet? Welche Veränderungen bewirken diese bezogen auf Wahrnehmung, Orientierung, soziale und kulturelle Teilhabe sowie erweiterte Handlungskompetenzen, somit generell auf Identitäts-, Persönlichkeitsentwicklung und Bewältigung im Lebensablauf?

Zur Beantwortung dieser Fragen sind unseres Erachtens autobiografisch-narrative Interviews mit Menschen ab einem ‚mittleren‘ Lebensalter, die in einer beliebigen Form mit künstlerisch-kreativen Aktivitäten Kultureller Bildung in Berührung gekommen sind, besonders interessant, weil sie längere Lebensspannen umfassen. Die Auswahl der InterviewpartnerInnen erfolgt nach den Regeln des Theoretical Samplings (siehe unten), um eine große Bandbreite an unterschiedlichen biografischen Erfahrungen rekonstruieren zu können.

Datenerhebung

In den autobiografischen Kernnarrationen können die InterviewpartnerInnen ihren gesamten Lebensablauf entsprechend ihrer Erfahrungsaufschichtung erzählend rekonstruieren. In einem anschließenden Nachfrageteil werden Verständnisfragen gestellt. Zusätzlich werden die InterviewpartnerInnen angeregt, sofern sie dies nicht schon in der Kernnarration getan haben, Episoden mit Erfahrungen in Kultureller Bildung zu erzählen. Dieser Zugang soll es ermöglichen, deren Bedeutung im Lebensablauf der InterviewpartnerInnen anhand von expliziten oder impliziten Aussagen rekonstruieren zu können. Hierbei wird das „autobiographisch-narrative Interview“ (Schütze 1983) mit einem „episodischen Interview“ (Flick 2009:118f.) ergänzt.


Datenanalyse

Die Analyse erfolgt mittels der „Narrationsstrukturanalyse“ (Schütze 2007) zur Rekonstruktion von: Prozessstrukturen im Lebensablauf, sozialen Rahmungen biografischer Abläufe und Deutungs- bzw. Verarbeitungsmustern (subjektive Theorien, Haltungen). Die Analyse wird in folgenden Schritten durchgeführt: 1. formale Textanalyse, 2. formale und inhaltliche strukturelle Analyse, 3. analytische Abstraktion der biografischen Gesamtformung und 4. Wissensanalyse. Anhand von soziolinguistischen Kriterien können verschiedene Textformen unterschieden werden (Narration versus Argumentation, Kommentierung, Eigentheorien). Die Narrationen sind in den Schritten eins bis drei Grundlage zur Analyse biografischer Prozessstrukturen. Im vierten Schritt werden die Argumentationen, Kommentare, Eigentheorien als den BiografieträgerInnen nicht unbedingt intentional verfügbare Elemente ihrer biografischen Konstruktion betrachtet.

Der Nachfrageteil mit dem episodischen Interview fließt insbesondere in die Wissensanalyse mit ein. Hier können konkrete Erfahrungen mit Kultureller Bildung vor dem Hintergrund der gesamten Biografie sichtbar gemacht bzw. eingeordnet werden und subjektive Bedeutungszuschreibungen der Kulturellen Bildung für die Persönlichkeitsentwicklung herausgearbeitet werden. Ein innovativer Ansatz besteht darin, autobiografische Narrationen mit anschließend fokussierten Episoden zur Kulturellen Bildung zu verbinden. In der Gesamtschau wird ein biografisches Portrait formuliert, das als Ergebnis der jeweiligen Einzelfallstudie dient, die im nächsten Schritt mit anderen verglichen wird.

Entsprechend der „Grounded Theory“ (Glaser/Strauss 1998) werden im Prozess der Datenerhebung die Einzelfallanalysen einem fortwährenden kontrastiven Vergleich unterzogen (Schütze 2007). Die Grundsätze des „Theoretical Samplings“ (Glaser/Strauss 1998) erfordern komparative Analysen bis zur „theoretischen Sättigung“, d.h. dass aus weiteren Daten keine neuen theoretischen Erkenntnisse zu erwarten sind. Parallel dazu sind Prozesse der Kodierung (vgl. Flick 2007) angelegt, durch die Datencluster, zentrale Kodes und Konzepte zur weiteren Datenstrukturierung erarbeitet werden. Durch ein systematisches Verdichten vorhandener Daten und Kodes wird der Prozess bis hin zur fallübergreifenden Theoriebildung weitergeführt. Die Reichweite einer solchen datengestützten Theorie ist grundsätzlich von der Suche nach Variationen und dem Erzielen der „theoretischen Sättigung“ abhängig (vgl. Glaser/Strauss 1998; Bryant/Charmaz 2008; Morse 2008). Adele Clarke weist darauf hin, dass die klassische „Grounded Theory“ notwendigerweise um einen „situationszentrierten Ansatz“ zu ergänzen sei, „der ausdrücklich die Analyse der Gesamtsituation mit einschließt“ (Clarke 2012:34). Diese Forderung kommt dem hier verfolgten Forschungsinteresse entgegen, da nicht nur subjektive Bildungsprozesse, sondern auch deren soziale und strukturelle Kontexte als – jeweils vorhandene oder fehlende – Qualitätsmerkmale und Gelingensbedingungen untersucht werden sollen. Es wird ein Forschungsprozess als zyklischer Ablauf zwischen Datenerhebung, Auswertungsschritten, Reflexion des Forschungsprozesses und erneuten Erhebungen angestrebt, der idealerweise in fortlaufenden Forschungswerkstätten durchgeführt wird.

Fallbeispiel Frau Weinert

Das nachfolgende Fallbeispiel von Frau Weinert wurde im Rahmen einer Studie mit hochaltrigen Menschen zur Bewältigung des Alterns und von chronischen Mehrfacherkrankungen erarbeitet. Dabei war auffällig, dass Frau Weinert zu vielen Zeitpunkten ihres Lebens erzählt, wie das Lesen, Malen, Gedichteschreiben ihren Alltag begleiten und zum Teil auch zu den Bewältigungsstrategien von kritischen Lebensereignissen gehören. Interessant ist, dass das autobiografisch-narrative Interview nicht explizit auf ästhetische Erfahrungen fokussiert war, sondern Frau Weinert diese zusammen mit anderen Ereignissen erinnerte. Wir möchten die Analysen hier auf Prozesse Kultureller Bildung fokussieren, um die Potentiale eines biografieanalytischen Vorgehens zum Verständnis von Bildungsprozessen aufzuzeigen.

Im ersten Abschnitt geben wir einen zusammenfassenden Überblick über die lebensgeschichtlichen Entwicklungen, der auf dem ausführlicheren biografischen Portrait beruht, das als dritter Teil der textstrukturellen Analyse erarbeitet wurde. Im zweiten Abschnitt werden die Formen, Kontexte und biografischen Bedeutungen Kultureller Bildungsprozesse des Fallbeispiels reflektiert.

Zusammenfassende Darstellung der biografischen Entwicklung

Frau Weinert wurde 1921 in einer norddeutschen Großstadt als erste Tochter in einer Beamtenfamilie geboren. Der Vater ist Beamter und die Mutter ist Hausfrau. Sie wächst mit ihrer jüngeren Schwester in gut situierten Verhältnissen auf und wird von ihren Eltern in vielerlei Hinsicht gefördert. Sie erinnert den Vater als gebildeten und fürsorglichen Mann, der sie auch bei mädchenuntypischen Angelegenheiten und der Erlangung von Selbständigkeit unterstützt, z.B. einen Stromanschluss für eine Nachttischlampe ins Kinderzimmer zu legen oder sich einen eigenen Haustürschlüssel anzufertigen. Die Mutter tritt ebenfalls als fürsorgliche Person in Erscheinung, die jedoch als eher ängstlich beschrieben wird und die besonders darauf achtet, die häusliche Umgebung „schön“ zu gestalten, sich und ihre Kinder modisch zu kleiden usw. Die Mutter näht die Kleidung für sich und die Kinder, zeichnet aus Schaufenstern modische Entwürfe ab und setzt diese zuhause als Schnittmuster um. Frau Weinert geht bis zur mittleren Reife auf das Lyzeum. Sie möchte eine Ausbildung zur Modezeichnerin anschließen. Die Mutter unterstützt sie darin zunächst, lehnt jedoch den Zugang zur Kunstschule ab, nachdem sie sich als Erziehungsberechtigte vor Ort umgeschaut hat und das Milieu dort als für ihre Tochter ungeeignet ansieht („Und da kam sie wieder sagte „da kannst du nicht hingehen, da kam mir eine entgegen (…) mit langen Hosen und silbernen Fingernägeln“ [40-42]). Stattdessen beginnt die Tochter eine Ausbildung im Büro. Der biografische Entwurf, den künstlerisch-gestalterischen Ambitionen nachzugehen, kann von ihr nicht umgesetzt werden. Stattdessen folgt sie einem „braven“ [43] Berufsentwurf. Die Eltern fördern ihre Tochter allerdings – wie schon seit der Schulzeit – weiter, indem sie ihr beispielsweise den Besuch von Theateraufführungen, Tanzstunden, Tennis- und Malkursen ermöglichen.

Frau Weinert zieht sich offenbar seit der Kindheit auch gerne zurück und liest. Besondere Erinnerungen hat sie an die Lektüre der Nesthäkchenliteratur, die ein der damaligen Zeit entsprechendes bürgerliches Mädchen- und Frauenbild vermittelte, wobei sie sich offenbar besonders für die Stellen interessierte, in denen das eigenständige Handeln der Protagonistin im Vordergrund steht. In der Pubertät beginnt sie mit dem Schreiben von Gedichten und setzt sich so offenbar mit ihrer Gefühlswelt und Fragen, die sie beschäftigen, auseinander. Sie schildert z.B. eine Situation, in der die Mutter sie auffordert, ihre Gedichte Gästen vorzulesen und wie sie sich aus Scham ziert, dies zu tun. Hierin kommt zum Ausdruck, dass die Mutter das Dichten wertschätzt und der Tochter die Möglichkeit geben möchte, dies zu präsentieren. Allerdings erfasst sie offenbar nicht die intime Bedeutung der Gedichte. Später verarbeitet Frau Weinert z.B. Verlusterfahrungen im Zuge des Krieges in ihren Gedichten. Seit der Kindheit gehört auch das Malen und Gestalten von Anziehpuppen zu ihren Beschäftigungen. Weiterhin beschreibt sie ein allabendliches familiäres Zusammensein, wobei der Vater deutsche Klassiker vorliest, die Mutter Handarbeiten verrichtet und die beiden Töchter Anziehpuppen bemalen.

Frau Weinert erinnert ihre Mitgliedschaft im Bund Deutscher Mädel in erster Linie als eine Zeit, in der sie mit Gleichaltrigen zusammen ist und ihre Freizeit mit Musizieren, Radio Hören und Lesen außerhalb des Elternhauses verbringt. In diesem Zusammenhang spielt sie offenbar gemeinsam mit Mitschülerinnen Gitarre in einer Radioübertragung. Die politische Dimension des BDM im Nationalsozialismus wird von Frau Weinert auf diese Weise ausgeblendet. Diese Haltung entspricht unseres Erachtens gesellschaftlich üblichen Normalisierungsstrategien, die in der Nachkriegszeit entwickelt wurden.

Da der Vater nicht als Soldat eingezogen wird, bleibt die Familie im Krieg zusammen. Die Kriegszeit erinnert sie weniger im Sinne von Angst und Schrecken der Bombennächte. Vielmehr erzählt sie davon, wie die Familie mit den verfügbaren Mitteln das alltägliche Leben bestreitet, z.B. wie der Vater selbst Schuhe repariert. Sie nimmt während des Krieges an Malkursen teil, lernt so das Aktzeichnen und erinnert „über brennende Balken“ [73] zu den Malkursen gegangen zu sein. Offenbar ist es ihr wichtig, trotz der desaströsen Kriegssituation an ihren Malaktivitäten festzuhalten. Diese könnten bereits hier eine Ressource sein, mit schwierigen Lebenssituationen umzugehen bzw. das reale Geschehen temporär auszublenden.

Gegen Ende des Krieges wird der Vater noch zum Volkssturm eingezogen und überlebt dies. Die Familie durchsteht die Bombenangriffe im Luftschutzkeller weitgehend unbeschadet. Bedrückende Kriegserfahrungen dokumentieren sich in kurzen Interviewsequenzen, z.B. als sie erinnert, wie sie den Verlust geliebter Menschen durch das Schreiben eines Gedichtes zu verarbeiten versucht. Nach Kriegsende verändert sich die Situation der Familie dramatisch. Der Vater verliert seine Beamtenstellung und beide Elternteile verdienen beim Steineklopfen den Lebensunterhalt. Diese Situation wird in der Familie als sozialer Abstieg erlebt. Frau Weinert erinnert, wie ihre Mutter versuchte, in dieser Situation ihre Würde zu bewahren und sich nach wie vor besonders kleidete. So wurde sie von den anderen WiederaufbauhelferInnen als die „Hungergräfin“ [327] bezeichnet. Die Erzählung bezüglich der Familie in der NS-Zeit wirft einige Fragen auf, die sich im Rahmen der Analyse des narrativen Interviews allerdings nicht aufklären. Dies betrifft die Funktion des Vaters als Beamter im NS-System, die Gründe für die späte Einberufung zum Militärdienst sowie für den Verlust jeglicher Privilegien der Eltern in der Nachkriegszeit. Frau Weinert thematisiert das Verhältnis der Familie zum Nationalsozialismus nicht. So bleibt auch offen, ob sich der erlebte soziale Abstieg in der Nachkriegszeit aus Verstrickungen mit dem Nationalsozialismus erklären lässt.

Die Erinnerungen von Frau Weinert gehen weiter mit der Heirat 1946, mit der sie zunächst offenbar die Hoffnung auf neue Handlungsspielräume („ich dachte ‚au ja wunderbar jetzt kannst du machen was du willst‘“ [50-51]) verbindet. Zwei Jahre nach der Hochzeit wird die erste Tochter geboren, weitere vier Jahre später kommen Zwillinge zur Welt. Über diese Lebensphase erzählt sie wenig, außer dass sich ihre Vorstellungen von mehr Handlungsspielraum offenbar nicht einlösten. Zirka ein Jahr nach der Geburt stirbt eines der Zwillingskinder nach einer Operation. Rückblickend bezeichnet sie dies als ersten großen Schicksalsschlag. Sie versucht diesen Verlust zu bewältigen. Im Interview erinnert sie eine Situation sehr detailliert, in der sie sich deutlich macht, wie die Seele des Kindes wie ein Vogel in die Lüfte steigt. Ein Freundeskreis steht ihr hier offenbar zur Seite und sie versucht zudem, ihre Trauer im „ganz still und leise“ [63] Schreiben von Gedichten zu bearbeiten. Sie macht deutlich, dass sie sich für die Fürsorge und Erziehung der zwei verbliebenen Töchter verantwortlich fühlt und sich jetzt dieser Aufgabe zuwendet. In diesen Erinnerungen taucht der Ehemann nicht auf. Etwas später erwähnt sie, dass er als Selbständiger sehr beschäftigt ist, so dass sie überwiegend alleine die Zeit mit den Töchtern verbringt. Auch spätere Urlaubsreisen verbringt sie in der Regel alleine mit den Töchtern an der Ostsee.

Über die Zeit nach diesem „Schicksalsschlag“ erzählt sie wenig und sie führt die Erzählung erst wieder Anfang der 1960er Jahre fort, als die Familie sich entscheidet, nach Süddeutschland zu gehen. Offenbar geschieht dies aufgrund beruflicher Perspektiven des Mannes. Allerdings ist er nach wie vor sehr viel beruflich unterwegs, so dass sie in der neuen Umgebung weitgehend auf sich gestellt und für die Kinder fast alleine zuständig ist. Die mit dem Umzug verknüpften Erwartungen an eine verbesserte Lebenssituation im eigenen Haus realisieren sich nicht, stattdessen stirbt der Mann 1966 plötzlich an einem Herzinfarkt, zirka vier Jahre nach dem Ortswechsel. Sie erzählt dieses zweite dramatische Ereignis nur knapp und hebt hervor, wie sie sich relativ schnell darauf besinnt, nun für den Lebensunterhalt ihrer Familie aufkommen zu müssen. Offenbar hatte der Mann in seiner Selbständigkeit entsprechende Risiken für die Familie nicht abgesichert. Sie entscheidet sich, eine Berufstätigkeit aufzunehmen, auf ihre Berufsausbildung zurückzugreifen und eine Stelle im öffentlichen Dienst anzunehmen. Diese Entscheidung trifft sie im Einvernehmen mit ihren mittlerweile vierzehn und achtzehnjährigen Töchtern. Auch in dieser Situation ist sie darum bemüht, ihnen möglichst viel Anregung und Unterstützung zukommen zu lassen und ihre berufliche Entwicklung zu fördern. Bei der beruflichen Entscheidung und der folgenden Karriere als Assistentin eines Professors an einem Institut sind signifikante Andere von Bedeutung, die sie unterstützen.

Die folgenden Jahre scheinen von beruflichem Ehrgeiz und Erfolg gekennzeichnet zu sein. Sie nehmen in der Erzählung einen breiten Raum ein. Hier tritt auch die enge Beziehung zur jüngeren Tochter, dem verbliebenen Zwillingskind, in Erscheinung, die ein Studium beginnt und weiterhin bei der Mutter lebt. Ein weiteres dramatisches Ereignis ist, als Frau Weinert mit 51 Jahren eine Krebsdiagnose erhält. Das stellt einen weiteren massiven Einschnitt in ihrem Leben dar. Hatte sie die Lebenssituation bis dahin unter Kontrolle und ihre eigene berufliche Entwicklung in der Hand, so treten nun tiefe Verunsicherungen und neue Bewältigungsanforderungen auf, da sich in der folgenden Zeit zwar auch Behandlungserfolge, aber auch immer neue Krebsdiagnosen und Behandlungen einstellen. In dieser Zeit sind die engen Beziehungen zu ihren beiden Töchtern sowie ihre aufrechterhaltene Berufstätigkeit wichtig. Über die mit der Krankheit verbundenen Ängste spricht sie wenig, stattdessen vermittelt sie den Eindruck, dass sie sich mit der Zeit mit dem Krebs als Lebensbegleiter einzurichten versteht.

Etwa zwei Jahre nach der ersten Diagnose, also mit ca. 53 Jahren, beginnt sie wieder damit, Malkurse zu besuchen und das Malen neben der Berufstätigkeit zu intensivieren. Damit nimmt sie den biografischen Entwurf einer intensiveren künstlerisch-kreativen Beschäftigung wieder auf. Dabei erzielt sie mit der Zeit so gute Ergebnisse, dass sie eigene Ausstellungen durchführen, Bilder verkaufen und selbst Malkurse geben kann. Mit ihrer Pensionierung in den frühen 1980er Jahren werden das Malen und das Abhalten von Malkursen zu einer zentralen Beschäftigung. Damit kann sie sich schließlich auch ihre Auslandsreisen finanzieren, die sie seit den letzten Berufsjahren zunächst mit Freunden, später auch alleine unternimmt. Weiterhin von großer Bedeutung bleibt der enge Kontakt zu ihren Töchtern. Zugleich betätigt sie sich ehrenamtlich in der Betreuung von jungen Menschen mit Behinderung. Auch erfahren wir, dass das Lesen und Schreiben nach wie vor für sie von Bedeutung ist. In diesem Zeitraum veröffentlicht sie z.B. eine Auseinandersetzung mit dem Erziehungsstil ihrer Mutter in Form eines fiktiven Dialogs zwischen erwachsener Tochter und Mutter. Nach der Pensionierung verbringt sie offenbar eine längere Zeit mit diesen Aktivitäten in einem Netzwerk gleichgesinnter älterer Menschen und im engen Austausch insbesondere mit ihrer jüngeren Tochter.

Allerdings nehmen mit den Jahren die gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu, die Reisen werden kürzer und gehen in weniger entfernte Ziele. Schließlich führen Stürze, Knochenbrüche, Hüftgelenksoperationen, Krebsbehandlungen gehäuft über Jahre hinweg bis Anfang der 2000er Jahre dazu, dass Frau Weinert zusammen mit ihren Töchtern den Übergang in ein betreutes Wohnen in einem Altenheim plant. Als ein Platz in dem gewünschten Heim frei wird, entschließt sie sich kurzfristig dazu, dort einzuziehen. Kurz darauf erleidet sie erneut einen schweren Sturz, der zu weiteren Krankenhausaufenthalten und Beeinträchtigungen führt. Obwohl sie im Interview deutlich macht, dass es ihr schwer fällt, diese Situation durchzustehen, „rappel[t]“ [225] sie sich auf und überwindet durch intensive ambulante Rehabilitation die ärgsten Sturzfolgen. Für die Bewältigung des Übergangs in das betreute Wohnen sowie der seelischen und körperlichen Sturzfolgen scheint nicht nur die Unterstützung durch ihre Töchter wichtig zu sein, sondern auch dass dieser Übergang und der Alltag vom Heimpersonal gemeinsam mit ihr gestaltet wird (z.B. Zimmergestaltung mit eigenen Möbeln, Bücherregal, Malutensilien oder die Aushandlung der Zubereitung des Frühstücks); dass die ambulante Aktivierung von ÄrztInnen und Fachkräften des Heims gefördert wird und dass sie in ihrer Grundhaltung unterstützt wird, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Das Sich-Einleben wird auch dadurch erleichtert, dass das Heim an ihren Bildern interessiert ist und sie gemeinsam mit den Fachkräften Bilder für eine Dauerausstellung auswählt und aufhängt. Darüber kommt sie sowohl mit BewohnerInnen als auch mit Fachkräften ins Gespräch.

Das autobiografisch-narrative Interview wurde zu dem Zeitpunkt geführt, als sich Frau Weinert nach dem schweren Sturz und der ambulanten Rehabilitation gerade wieder erholte. Frau Weinert verstarb etwa zwei Jahre nach dem Interview in diesem Heim.

Anmerkungen zu den Prozessstrukturen im Lebensablauf von Frau Weinert

Im Lebensablauf von Frau Weinert ist zu beobachten, dass sie mehrere einschneidende Ereignisse wie den Verlust ihr nahestehender Personen und lebensbedrohliche Erkrankungen erleidet. Diese Ereignisse markieren Verlaufskurvenentwicklungen, in denen die Betroffene Verlust, Schmerz, Angst, Trauer, existenzielle Unsicherheit durchlebt. Allerdings wird deutlich, dass Frau Weinert immer wieder Handlungsschemata der Kontrolle entwickelt und die Krisensituationen zu bewältigen versucht: Beim Tod des Kindes durch eine aktive Trauerarbeit, Gedichteschreiben und sich auf die Notwendigkeiten innerhalb der Familie zu besinnen; beim Tod des Mannes durch den Wiedereinstieg ins Berufsleben und eine bewusste Konzentration auf die Beziehungsgestaltung mit den Töchtern; mit dem Beginn der Krebserkrankung und weiterer chronischer Gesundheitsprobleme z.B. durch die Aufrechterhaltung der Berufstätigkeit, durch die Entwicklung von Strategien im Umgang mit der Krebserkrankung und durch die Wiederaufnahme und das Intensivieren ihrer künstlerisch-kreativen Fähigkeiten; daraus entwickelt sie einen neuen Lebensentwurf, in dem sie sich mit dem Krebs und den Folgeerscheinungen arrangiert und neuen Lebenssinn gewinnt. So hält sie ihr weiteres Leben bis ins hohe Alter in einem latenten Gleichgewicht zwischen krankheitsbedingter Verlaufskurve und Handlungsschemata der aktiven Lebensgestaltung. Bei der Bewältigung der unterschiedlichen Krisen greift sie auf Ressourcen zurück, wie z.B.: Die engen Bindungen zu ihren Töchtern, mit denen sie auch wichtige Entscheidungen bespricht; ihre schon in der Kindheit und Jugend erworbenen Fähigkeiten wie z.B. das Gedichteschreiben, das ihr bei der inneren Verarbeitung hilft und das Malen, das ihr neue Aktivitäten und soziale Anerkennung eröffnet; ihre Berufsausbildung, die ihr und ihren Töchtern nach dem Tod des Mannes die materielle Basis sichert; die berufliche Tätigkeit, die ihr Anerkennung und Erfüllung bringt; signifikante Andere, die sie als FreundInnen, ÄrztInnen und Fachkräfte unterstützen. Im Verlauf der vielen Krisen und ihrer Bewältigung entwickelt Frau Weinert offenbar ein Selbstbild des „Stehaufmännchen[s]“ [408], das durch Schicksalsschläge bedroht, von diesen aber nicht übermannt wird. Dieses Selbstbild hilft ihr auch im hohen Alter den Übergang in das Heim und die schweren Sturzfolgen zu bewältigen.

Zur Bedeutung ästhetischer Erfahrungen und Kultureller Bildung in Frau Weinerts Lebensablauf

Gerade weil dieses Interview im Erzählstimulus nicht ästhetische Erfahrungen und Kulturelle Bildung thematisierte, wurde bei der Analyse deutlich, dass Frau Weinert in verschiedenen Phasen ihres Lebens auf entsprechende Aktivitäten und Erfahrungen Bezug nahm. Wir ordnen die künstlerisch-kreativen Aneignungsformen von Frau Weinert zunächst den Bereichen des informellen Lernens (selbständige Aktivitäten, Aktivitäten in der Familie und unter Gleichaltrigen) sowie des formellen Lernens (Malkurse) zu. In der Ausübung entsprechen die künstlerisch-kreativen Tätigkeiten des Malens und Schreibens den Formen der Auseinandersetzung mit der ‚Welt‘, wie wir diese oben als Kulturelle Bildung definiert haben. Des Weiteren werden folgende Bedeutungszusammenhänge Kultureller Bildung sichtbar:

  1. Familie als Anregungs- und Fördermilieu: Frau Weinert wächst in einer bürgerlichen Familie auf, in der sie in mehrerer Hinsicht ein soziales und kulturelles Anregungsmilieu vorfindet. Sie wird in ihrer Selbständigkeit gefördert, an Literatur herangeführt und im Malen unterstützt. In ihrer Mutter hat sie ein Vorbild, da diese selbst kreativ wirkt und an einer ästhetischen Gestaltung von Kleidung und häuslicher Umwelt interessiert ist. Die Förderung der ästhetischen Wahrnehmung und Gestaltung ist ein Hinweis auf ein bürgerlich privilegiertes Milieu, in dem entsprechende Aktivitäten und die Geschmacksbildung zum Selbstverständnis gehören. Dieses Anregungsmilieu findet aber seine Grenzen darin, dass Frau Weinert den Berufswunsch Modezeichnerin nicht gegen den Willen der Mutter einschlagen kann. Allerdings werden ihre kreativen Aktivitäten weiterhin unterstützt.
  2. Zugänge zu Bildungsangeboten: Zugänge werden nicht nur durch das Elternhaus ermöglicht, sondern auch durch den Bund Deutscher Mädel, der nationalsozialistischen Jugendorganisation für Mädchen. Frau Weinert äußert sich nicht zu den politischen Hintergründen, hebt stattdessen den Ereignischarakter musischer Aktivitäten hervor: das gemeinsame Lesen, Musizieren, Radio Hören außerhalb des Elternhauses. (Dass diese bedeutsamen ästhetischen Erfahrungen von nationalsozialistischen Jugendorganisationen organisiert wurden, ist ein spezifisches Merkmal der damals jungen Generation.) Besondere Bedeutung haben die Malkurse, die sie auch in einer von Bomben zerstörten Großstadt besucht und die sie im Aktzeichnen weiterbilden. Im späteren Leben ist die Verfügbarkeit von Malkursen in ihrer näheren Umgebung entscheidend dafür, dass sie ihre Malaktivitäten wieder aufnehmen bzw. intensivieren kann.
  3. Individuelle Präferenzen: Frau Weinert entdeckt schon im Kindesalter das Lesen als Rückzugsmöglichkeit und Orientierungsrahmen. Das Lesen bietet auch in späteren Lebensphasen eine Rückzugsmöglichkeit, z.B. wenn sie sich im Heim aus gemeinschaftlichen Kulturangeboten ‚ausklinkt‘. Das Dichten und Schreiben gewinnt offenbar spätestens in der Pubertät an Bedeutung. Im Interview macht sie immer wieder deutlich, dass sie diese Fähigkeit irgendwann für sich entdeckte und schreibend verschiedene kritische Lebensereignisse bzw. Gefühlslagen zu verarbeiten versuchte. Das Malen ist zweifelsohne die herausragende kreative Beschäftigung in ihrem Leben. Die Anfänge in der Kindheit und Jugend werden durch die Eltern gefördert und werden selbst während des Krieges als intensive Beschäftigung mit Techniken (Aktzeichnen) weitergeführt. Zwar tritt das Malen in den Jahren in den Hintergrund, in denen familiäre Verpflichtungen und Schicksalsschläge das Leben bestimmen, aber spätestens als die Kinder erwachsen sind, sie sich beruflich etabliert und die ersten Folgen einer Krebsdiagnose überwunden hat, greift sie auf diese Ressource zurück und nimmt einen früheren biografischen Entwurf, sich künstlerisch zu bilden, wieder auf. Sie verwirklicht ihre malerischen Interessen gezielt durch Ausbildung ihrer Maltechniken und erarbeitet sich einen Status als Künstlerin, die einerseits Bilder ausstellt und verkauft, andererseits künstlerisches Gestalten anderer Menschen durch Anleitung in Malkursen fördert.
  4. Kreative Aktivitäten und Lebensbewältigung: Frau Weinert stellt explizit dar, wie sie das Schreiben zur Lebensbewältigung einsetzt. Als pubertierendes Mädchen verfasst sie Gedichte über ihre Gefühlswelt, als junge Mutter verarbeitet sie den Tod eines Kindes in Gedichtform und führt als ältere Frau schriftlich einen fiktiven Dialog zu ungeklärten Fragen mit ihrer Mutter. Das Malen stellt neben den engen Beziehungen zu ihren beiden Töchtern eine weitere lebenslang verfügbare Ressource dar, die vor allem mit steigendem Lebensalter und zunehmender gesundheitlicher Beeinträchtigung an Bedeutung und Intensität gewinnt und eine stabilisierende Funktion hat. Neben der Selbstverwirklichung in den Bildern sind auch die soziale Anerkennung und materielle Ressourcen bedeutsam. Beim Malen beschäftigt sie sich intensiv mit Techniken und vertieft sich in ihre Gefühlswelt, was ihr offenbar ebenfalls bei der Bewältigung hilft.
  5. Kreative Beschäftigung in Episoden: In den Erinnerungen von Frau Weinert haben ihre kreativen Beschäftigungen eine unterschiedliche Intensität. Häufig verknüpft sie Situationen der Trauer und Verarbeitung mit dem Dichten, später auch mit dem Malen, dann wiederum gibt es Phasen, in denen über lange Jahre hinweg andere Orientierungen und Schwerpunktsetzungen, z. B. Krisen, Familie und Beruf im Vordergrund stehen. Die intensive Beschäftigung mit dem Dichten und Malen aus der Jugend kann in späteren Lebensphasen nur zeitweise fortgeführt werden. Erst ab der Lebensmitte schafft sich Frau Weinert den Raum, das Malen als künstlerisch-kreative Aktivität wieder aufzunehmen und auszubauen. Dies geschieht im Kontext der Bewältigungsstrategien, die sie angesichts der Krebserkrankung und anderer Veränderungen in ihrer Lebenssituation entwickelt. Wir schließen aus diesem Verlauf, dass künstlerisch-kreative Aktivitäten generell nicht durchgängig praktiziert werden können, sondern dass sie – sofern sie nicht professionell ausgeübt werden – jeweils den Raum einnehmen, der ihnen im Rahmen der Alltagsbewältigung bleibt.

Resümee

Da Frau Weinert in ihren Bewältigungsstrategien immer wieder die kreative Auseinandersetzung durch Gedichteschreiben und Malen in den Vordergrund rückt, ist die biografische Bedeutung von ästhetischen Erfahrungen und Praktiken in diesem Fallbeispiel signifikant. Die Eigendynamik des kreativen Schaffens ist zum Teil stärker als die Behinderung durch äußere Bedingungen (z.B. Malkurse im Krieg). Zum anderen verlangen aber Krisen und Lebensbewältigung zeitweise alle Aufmerksamkeit und Energie, so dass für eine ästhetische Praxis kaum Raum bleibt. Selbst wenn dann künstlerisch-kreative Aktivitäten erst nach langer Zeit (wie im Fallbeispiel in der zweiten Lebenshälfte) wieder aufgenommen werden, zeigt sich aber ein Bildungszusammenhang über die gesamte Spanne der Biografie von der frühen Förderung in Kindheit und Jugend bis zur Wiederaufnahme und Intensivierung im Alter.

Das Potenzial von Biografieforschung liegt diesbezüglich gerade darin, die gesamte Lebensspanne rekonstruieren zu können. Auf diese Weise wird im Fallbeispiel deutlich, wie eine ästhetische Praxis im Zusammenhang mit anderen Lebensereignissen an Bedeutung gewinnen oder verlieren kann: In der Jugend bedeutsam zum Beispiel als Medium für Selbsterfahrung und Gemeinschaft; im Erwachsenenalter hinter den Anforderungen des Familienlebens zurücktretend; in verschiedenen Phasen als Ressource der Krisenbewältigung; sinnstiftend und sozial integrativ insbesondere im Übergang zum Ruhestand usw. Hieraus ließe sich ein Modell ableiten, das lebensphasenspezifische Ausprägungen von ästhetischen Erfahrungen und Praktiken unterscheidet. Ein solches Modell wäre mit vergleichenden biografischen Fallstudien weiterzuentwickeln. Im Zentrum stünde hierbei die Frage, wie die in Kindheit und Jugend angeeigneten ästhetischen Erfahrungen und Praktiken die Subjekte ein Leben lang begleiten, wie sie sich ggf. als Ressource und Persönlichkeitsmerkmal im Zusammenspiel mit anderen Lebensanforderungen behaupten können bzw. welche förderlichen und hinderlichen Bedingungen hierbei wirken.

Weiterhin könnten Fragestellungen entwickelt werden, die einen Zusammenhang zwischen Selbstwirksamkeitserfahrungen durch ästhetische Praxis und Ressourcen zur Bewältigung von kritischen Lebensereignissen und gesundheitlichen Beeinträchtigungen in den Blick nehmen. Da kulturelle Aktivitäten älterer Menschen in hoher Zahl belegt sind (vgl. Höpflinger 2017), liegt die Relevanz dieser Fragestellungen auf der Hand.

Forschungsmethodisch wird aus der Fallstudie von Frau Weinert deutlich, dass gerade die biografische Einbettung von ästhetischen Erfahrungen und Praktiken die Hinweise darauf freilegt, welche Bedeutung sie im jeweiligen Lebenszusammenhang haben. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass zunächst die Erzählung der gesamten Lebensgeschichte bedeutsam ist, bevor durch Nachfragen auf Episoden Kultureller Bildung Bezug genommen wird. Dies lässt den InterviewpartnerInnen die Freiheit, ihre Lebensgeschichte zunächst ohne diese Fokussierung zu erinnern. Ob Kulturelle Bildung dann jeweils bedeutsam wird oder nicht, wird sich zeigen.

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Burkhard Hill, Stefanie Richter (2017): Die biografische Bedeutung von Kultureller Bildung. Potentiale von Biografieforschung zum Verständnis von kulturellen Bildungsprozessen . In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://kubi-online.de/index.php/artikel/biografische-bedeutung-kultureller-bildung-potentiale-biografieforschung-zum-verstaendnis (letzter Zugriff am 14.09.2021).

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