Performative Forschung. Denkanstöße zum forschenden Umgang mit ideologisch aufgeladenen Architekturen und öffentlichen Räumen
Oder: Was IKEA Dortmund und die Halle des Volkes miteinander zu tun haben
Abstract
Ausgehend von der Ausstellung „MACHT RAUM GEWALT. Planen und Bauen im Nationalsozialismus“ stellt der Beitrag zunächst Forschungsansätze und Präsentationsmodi vor, die Denkanstöße zum Umgang mit symbolträchtigen Architekturen und öffentlichen Räumen geben, jedoch keine handlungsorientierte Perspektive öffnen. Die autobiografische Erinnerung an eine im Gehen und Wahrnehmen erfolgte Annäherung an ein bauliches Erbe Preußens veranschaulicht erste Zugänge zu dem, was später in Forschungsprojekten zur Evaluierung künstlerisch-orientierter Jugendkulturarbeit Performative Research genannt wird. Das mit der performativen Wende einhergehende Interesse an Handlungsvollzügen und implizitem Wissen hat den Zugang zu praxis-geleiteter Forschung befördert, die auch der künstlerischen und performativen Forschung den Weg geebnet haben. Doch das im künstlerischen Prozess und seinen präsentativen Darstellungsformen zum Ausdruck kommende, durch ästhetisches Denken geprägte, oft eigensinnige Wissen unterliegt von Anbeginn der Gefahr, durch normative und gebrauchsorientierte Forschungsinteressen unterminiert und institutionell vereinnahmt zu werden. Zwei Kunstschaffende, die auf den ersten Blick alles andere als Forschung betreiben, werden zuletzt das zur Diskussion stehende Anliegen erhellen: Guy Ben-Ner mit seinem performativen Ansatz und Annette Streyl, deren künstlerischer Ansatz Exponate hervorbringt, die am Ende auch klären, was es mit IKEA Dortmund und der Halle des Volkes auf sich hat.
Baukultur im sogenannten Dritten Reich
Was in der im Frühjahr 2023 eröffneten Ausstellung „MACHT RAUM GEWALT. Planen und Bauen im Nationalsozialismus“ in der Akademie der Künste am Pariser Platz zu sehen und erkunden ist, gibt einmal mehr Anlass, der Bedeutung, Funktion und Wirkung nationalsozialistischer Baukultur nachzugehen und die ideologische Indienstnahme von Architektur und Raum zu befragen – just an jenem Ort, wo die Preußische Akademie der Künste ihr Haus 1937 für Hitlers Generalbauinspektor Albert Speer räumen musste. Grundlage der Schau sind die erstmals einer breiten Öffentlichkeit vorgestellten Ergebnisse eines mehrjährigen, vom Bundesbauministerium beauftragten, von einem interdisziplinären Forschungsteam durchgeführten und von der Unabhängigen Historikerkommission (UHK) betreuten Forschungsprojekts „Planen und Bauen im Nationalsozialismus“, zu dem sowohl ein bebilderter, opulenter Ausstellungskatalog als auch eine mehrbändige wissenschaftliche Publikation herausgegeben wurde (Akademie der Künste 2023).
In dieser Dimension ist das Unterfangen sicher einmalig, doch nicht zum ersten Mal haben sich Fachleute – wenn auch erst Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch – dem architektonischen Erbe gewidmet und aus unterschiedlichen Perspektiven zu Wort gemeldet (u.a. Kunst 1983, Bartetzko 1985, Harlander/Pyta 2012). Nicht nur das Haus der Kunst in München, das wegen seiner Entstehungszeit und der ehedem dort gezeigten, von der NS-Propaganda ‚entartet‘ genannten Kunst immer wieder für Debatten sorgt, sondern auch andere Museen und Institutionen haben sich in Ausstellungen mit der NS-Architektur auseinandergesetzt (u.a. Reichardt/Schäche 1984), sie baugeschichtlich in größere Zusammenhänge gerückt (u.a. Scheider/Wang 1998), die Berliner Unterwelten gar eine Dauerausstellung installiert (Sawallisch 2014). Das Thema ist sensibel, die Rezeption oftmals kontrovers, die Stein gewordene Ideologie nicht immer ins richtige Licht gerückt, wie beispielsweise im Potsdam Museum. Unter dem Titel Potsdam, ein Paradies für meine Kamera“ sind dort Fotografien von Max Baur gezeigt worden, die nicht nur bis heute das nostalgische Bildgedächtnis der Stadt bestimmen, sondern die barocken Kirchen und Schlösser in dasselbe Licht rücken wie die zum NS-Vorzeigeprojekt deklarierte Potsdamer Friedrichsstadt oder der baumumsäumte, anmutig wirkende Kasernenkomplex im Stadtteil Nedlitz – die weitgehend fehlende zeitgeschichtliche Kommentierung wird erst in der Begleitveranstaltung „Kunststadt und Kaserne. Die NS-Architektur Potsdams" nachgereicht (Sander 2018).
Über die durch Text und Fotografie bestimmte Auseinandersetzung mit dem faschistischen Vermächtnis hinaus, haben Filmemacher wie Alexander Kluge und Peter Schamoni die Brutalität der Bauten buchstäblich unter die Lupe genommen und mit der so eingefangenen Ästhetik die Geisteshaltung der NS-Baumeister eindringlich zum Vorschein gebracht (Kluge/Schamoni 1961). Dass das Thema noch immer virulent ist – mit Blick auf das Sterben der letzten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, aber auch auf das Erstarken nationalsozialistischen Gedankenguts – darauf deutet nicht zuletzt auch die ab 2013 vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen produzierte, mehrteilige Serie „Böse Bauten“ hin (Zweites Deutsches Fernsehen 2020).
Zur Entstehung praxis-geleiteter Forschung
Manche Bauwerke haben bis heute überlebt und stellen die Frage nach Abriss oder Denkmalschutz, aber auch nach Umwidmung, wie beispielsweise der teilweise zu einem Wohnkomplex umgebaute, viereinhalb Kilometer lange Betonkoloss in Prora auf Rügen, wo mit „Kraft durch Freude“ ein Seebad für 20.000 Menschen entstehen sollte. Die Hinterlassenschaften stellen zuletzt auch die Frage nach der Erforschung des alltäglichen Umgangs. Man könnte die Bauten und Anlagen aufsuchen, nach dem Bottom-up-Prinzip recherchieren, Menschen vor Ort befragen, durch Interviews herausfinden, was sie davon halten, was sie dazu wissen und denken – allerdings stößt man dabei nicht selten an Grenzen, weil die Eindrücke sprachlich schwer zu fassen sind oder so manches lieber mit Schweigen beantwortet wird. Man könnte sich stattdessen beobachtend annähern und die Aufmerksamkeit darauf richten, wie Architekturen das Verhalten prägen, Menschen ein- oder ausschließen, was sie im Umgang mit solchen Bauten tun oder unterlassen – allerdings kann das auf Distanz gestellte forschende Auge von der eigenen, subjektiven Perspektive schwer absehen. Als dritte Möglichkeit jedoch kann man sich dem zu untersuchenden Praxisfeld selbst aussetzen, sich seiner Wirkung überlassen und wahrnehmend Selbstforschung betreiben. Die daraus resultierende Erfahrung kann dann noch mit dem Wissen anderer – gewonnen durch Gespräche, Interviews, Fachlektüren, Filme, Ausstellungsbesuche – angereichert, der Selbstbildungsprozess und die Erkenntnisse dann auch öffentlich gemacht werden, etwa als schriftlicher Bericht oder als visuelle Dokumentation. Man kann aber auch in Form einer Performance im öffentlichen Raum den Anwesenden zu Leibe rücken, mit einer „ungebetenen Gabe“ (Seitz 2011) die nötige Aufmerksamkeit für das Anliegen erzeugen, Menschen gar im Modus einer „temporären Komplizenschaft“ (Seitz 2009) zum Mitforschen einladen – im besten Fall auf künstlerisch-ästhetischem Wege.
Was künstlerische Forschung oder Artistic Research genannt wird, gibt es dem Namen nach erst seit gut zwei Jahrzehnten. Man könnte daher annehmen, dass das zur Debatte stehende Anliegen neu sei. Doch man braucht sich nur an Leonardo da Vinci erinnern, dessen Naturforschung allerlei Erfindungen hervorgebracht hat, an Pablo Picasso, der sich dem barocken Gemälde „Las Meninas“ von Velázquez nicht, wie in den Kunstwissenschaften üblich, sprachlich analytisch nähert, sondern mit über fünfzig Werken buchstäblich Bildforschung betreibt, an Allan Kaprow, der im Happening dezidiert experimentelle, öffentliche Alltagsforschung unternimmt, an Bertold Brecht, der die gesellschaftlichen Machtverhältnisse erforscht, seine Lehrstücke zudem als experimentelles Übungsfeld versteht, auf dem sich Profis und Kunstlaien gleichermaßen erproben. Geht es also um ein in den Künsten schon immer angewandtes Verfahren – nur unter neuem Label?
Wie in jeder Forschung wird auch in der künstlerischen Forschung Wissen und Können eingesetzt, um neue Erkenntnisse und Anwendungen zu erzeugen, wobei hier, so der Kunsttheoretiker Henk Borgdorff, „ein perzeptives, rezeptives und verstehendes Einlassen auf das Thema oft wichtiger für die Forschung ist, als den Forschungsgegenstand ‚explanatorisch in den Griff‘ zu bekommen“ (Borgdorff 2011:46). Performative Verfahren gehen dabei noch einen Schritt weiter. Sie mögen auch auf die Erforschung von Objekten, Bildern, Aufführungen, Musikstücken oder Architekturen zielen, allerdings von dem Interesse geleitet, wie solche Praxen überhaupt entstehen. Brad Haseman (2006) von der Queensland University hat mit seinem von mir adaptierten Begriff Performative Research entscheidend zum Verständnis des Practice-led Research beigetragen und damit einen Forschungsansatz geprägt, der inmitten der Praxis durch sie geleitet eruiert und dabei das Handeln zum Ausgang nimmt. Fast zwangsläufig ist dabei das Augenmerk auch auf das in den Praktiken zur Anwendung kommende inkorporierte, habitualisierte, implizite Wissen gerichtet – auf Vorräte, die der Anthropologe Thomas Csordas (1990) Embodied Knowledge genannt hat.
Zur Selbsterforschung preußischer Hinterlassenschaften
Gerade aus Frankfurt am Main angekommen und zur Professorin an der Fachhochschule Potsdam berufen, finde ich mich Mitte der 1990er-Jahre in der Fremde wieder – in einer Stadt mit reichhaltiger Vergangenheit, mit zahlreichen dem Verfall überlassenen Bauten, die aus untergegangenen herrschaftlichen Gesellschaftssystemen stammen: aus dem Königreich Preußen, dem sogenannten Dritten Reich, zuletzt der DDR. In einem von mir damals ausgerichteten Symposium „Der Garten, das Wasser, die Ruine“ (vgl. Seitz 1999) sollte den Geschichten einiger jener Bauwerke – gemeinsam mit Fachleuten aus Wissenschaft, Bildung und Kunst – an verschiedenen Orten in Potsdam mit Performances und Lectures nachgegangen werden. Zur Vorbereitung habe ich daher allerlei eher streifende Erkundungsgänge unternommen – hin zu den Ruinen, entlang der Gewässer, rein in die Gärten.
Eines sehr kalten, aber sonnigen Wintertages stapfe ich also die lange Treppe des mir bis dahin unbekannten Schloss Sanssouci hinunter in den Park und stehe vor einem stillgelegten, riesigen Brunnen – um ihn herum eine kreisförmige Anordnung übermannsgroßer Holzkisten. Zu meiner Rechten, in Richtung Westen, sehe ich eine sehr lange, schnurgerade, schneebedeckte schmale Allee, deren Ende ein weit entferntes, querstehendes Gebäude mit großer Kuppel markiert. Trotz der Entfernung wirkt es wie ein martialisch anmutender Riegel. Wie durch einen Bann gezogen, gehe ich langsam darauf zu, der Sonne entgegen, die hinter dem Bau langsam untergeht. An mir vorbei ziehen kahle, verschneite Bäume, an denen bisweilen noch das eine oder andere vertrocknete Blatt raschelt, hier und da ausgesparte Rondelle, die für Abwechslung sorgen und in denen wieder diese eigenartigen, großen Holzkästen stehen. Erst später komme ich darauf, dass Hermes, Apollon, Diana und wen die sich darunter befindenden unzähligen Skulpturen sonst noch zu repräsentieren haben, auf diese Weise vor Frost geschützt werden. Hin und wieder öffnet sich linkerhand eine der berühmten, von Linné erdachten Sichtachsen, für die Potsdams Gartenarchitektur so berühmt ist und die den Blick auf ferne Lichtungen oder auf eines der im Park verstreuten, eher versteckten kleinen Pavillons lenken, um auf diese Weise der geometrischen Strenge der Allee eine verspielte Landschaft zur Seite zu stellen. Und doch duldet der Gang keine Abweichung. Trampelpfade oder Dickichte gibt es hier nicht. Kein Mensch weit und breit.
Ich schärfe meine Wahrnehmung für die Schritt für Schritt sich verändernde Perspektive, in deren Zentrum das Gebäude steht: Ein Bau, der, je näher ich ihm komme, umso mächtiger wirkt und mich geradezu in den Erdboden drückt. Nach gefühlt kilometerlanger Wegstrecke stehe ich am Ende fast ebenerdig auf der Stufe eines heruntergekommenen Eingangsportals, das im Vergleich zu dem Baukoloss fast wie eine Nische anmutet, aber nicht besonders gemütlich wirkt – Ankömmlinge also nicht gerade offen und freudig empfängt. Wie ich später herausfinde, stehe ich an dem rückseitigen, dem Park zugewandten Ausgang des Neuen Palais. Es ist das letzte von Friedrich dem Großen im 18. Jahrhundert errichtete Schloss, das gegenüber dem eher lieblichen, als Sommerresidenz gedachten, im Stil des Rokoko erbauten Schloss Sanssouci einen ungebrochenen Herrschaftswillen demonstriert – symbolische Manifestation der Hohenzollern Monarchie, preußische Repräsentationsarchitektur, die mich, wie ehedem das Volk, außen vor lässt. Der verblichene Glanz dieser höfischen Residenz – die im Übrigen längst restauriert und als Museum allen zugänglich ist, ein Teil sogar die Potsdamer Universität beherbergt – verweist auf den Reichtum und die Macht des ehedem im Innern herrschenden Regenten. Ich drücke meine Nase an der Holztür fast platt, es riecht modrig und kalt, ein leichter Wind kommt auf. Ich drehe mich um, sehe eine dunkle Wetterfront auf mich zu kommen, die eine oder andere Schneeflocke schmilzt auf meinem Gesicht, die Dämmerung naht und ich erblicke weit hinten die Brunnenanlage mit dem sogenannten Musenrondell, wo mein Gang seinen Anfang genommen hatte. Ich sehe mich in meiner Vorstellung noch einmal langsam ankommen und dabei eigentlich immer größer werden. Der Versuch, das Portal – ganz wie der vitruvianische Mensch in Leonardos Zeichnung – mit weit ausgestreckten Armen und Beinen abzumessen, geht ins Leere. Ich spüre, dass ich hier keinen Platz habe, die Residenz für Größeres gemacht, der Mensch eben nicht Maß aller Dinge ist.
Kein Forschungsinteresse hat mich geleitet, sondern Neugierde und ein schweifender Blick, der dann auch alles andere als zufällig in der Allee hängengeblieben ist, ein Gang, der aufgrund der gartenarchitektonischen Raffinesse im Nachhinein eigentlich vorherzusehen war. Ein Staunen hat mich auf den Weg gebracht, eine Art Spurensuche, die mir letztendlich den Weg zur performativen Forschung eröffnet hat, was sich im Ansatz schon im Symposium „Der Garten, das Wasser, die Ruine“ niederschlägt und später auch die performative Installation „Preußen - gegengelesen“ im ehemaligen Lustgarten maßgeblich bestimmt.
Performative Forschung in der Jugendkulturarbeit
Das performative Forschen im eigentlichen Sinne habe ich erst viele Jahre später im Rahmen der Evaluation eines Qualifizierungs- und Entwicklungsprojektes für sogenannte bildungsferne Jugendliche unter dem Titel „inVolve“ entdeckt, das vom Berliner JugendKunst- und Kulturhaus Schlesische27 in den Jahren 2004 - 2006 durchgeführt wurde. Im Rahmen eines EU-Forschungskontextes unter meiner Leitung sollte zwei Jahre nach Projektende die Nachhaltigkeit des Projekts und besonders die darin erfolgte Theaterarbeit nicht durch Interviews erforscht werden, zumal solche schon unmittelbar danach geführt wurden, sondern anhand der ehedem im Projekt ins Spiel gebrachten Verfahren und Medien. Diese Vorgehensweise war damit begründet, dass der Erfolg oder Misserfolg solcher Maßnahmen nicht allein sprachlich und retrospektiv zu fassen, auch nicht statistisch in Schulabschlüssen oder Berufsausbildungen zu bemessen ist, die Langzeitwirkung vielmehr im alltäglichen Umgang und Handeln besonders anschaulich wird. In einem Workshop wurden daher künstlerisch-ästhetisch angelegte Recherchen unternommen, die jungen Leute beispielsweise gebeten, den seit Projektabschluss erfolgten Lebensweg mit Kreide großflächig auf dem Fußboden zu kartieren, um ihn dann erzählend abzulaufen. Wichtige Ereignisse wurden später auch mit Dingen, Tönen, Körperstatuen, Bildern, Miniaturszenen, selbst mit Gummibärchen markiert, die Jugendlichen darüber hinaus angeregt, mit Requisiten, Text- und Videoschnipseln aus dem Stück performativ umzugehen, sie im Handeln einem neuen Gebrauch zuzuführen (vgl. Seitz 2012).
Lag das Interesse hier eher auf den Ergebnissen, so rückten in der forschenden Begleitung des von der Schlesischen27 im Jahre 2011 initiierten Projekts „Die jungen Pächter“ die Handlungsvollzüge selbst in den Vordergrund (vgl. Seitz/Steinkrauss 2013, Seitz 2017). Um ihrem Wunsch nach eigenen Räumlichkeiten nachzukommen, wurden jungen Leuten leerstehende Ladenflächen in verschiedenen Berliner Bezirken zur Verfügung gestellt, die sie selbstorganisiert einrichten konnten, um für eine begrenzte Zeit ihren handwerklichen Interessen bzw. künstlerischen Ambitionen nachzugehen. Hier wurde in actu geforscht, die Praxisentwicklung als Performative Research verstanden und die Gruppe ermuntert, sie projektbegleitend zu evaluieren und voranzutreiben. Anliegen der an dem Projekt teilnehmenden Jugendlichen war es, sich abseits der Vorgaben und Angebotskultur öffentlicher Bildungs- und Kultureinrichtungen eigenmächtig auf den Weg zu machen, selbst Akquise zu betreiben und die Ergebnisse einer interessierten Öffentlichkeit zu präsentieren; Anliegen des Forschungsteams der FH Potsdam war es, das Projekt aktiv und engagiert zu begleiten und es schließlich unter bildungspolitischen Aspekten als Modell für Best-Practice in einem EU-Forschungskontext aufzustellen. Das Konzept war übertragbar, wurde später von anderen Einrichtungen übernommen, das Wissen und die Erfahrung an neue Pächterinnen und Pächter weitergegeben. Unter dem Label „WIR!Filialen“ haben sie, bald ein Jahrzehnt danach, noch als ‚Raumpioniere‘ mit dazu beigetragen, dass das lange leerstehende Haus der Statistik am Berliner Alexander Platz als sogenanntes „Allesandershaus“ nicht nur zwischengenutzt wurde, sondern ein Teilkomplex vom Berliner Senat zu einem dauerhaften, interdisziplinär genutzten Kreativquartier umgebaut wird.
Die übliche Dichotomie zwischen Forschenden und Beforschten wurde in dem Projekt „Die jungen Pächter“ aufgehoben, den jungen Leuten die Rolle von Co-Forschenden zugesprochen, die Expertise in eigener Sache mitbringen. So haben die Pachtenden den ‚Pachtvertrag‘ selbst verfasst, Regeln aufgestellt, ihre oftmals intuitive und spontane Vorgehensweise selbst beobachtet und befragt, ihr Wollen, Wissen und Können reflektiert, haben bis zum Umfallen diskutiert und gestritten, auf manchmal stammelnde Weise diskursives Denken zur Sprache gebracht. Ihre praktischen Suchbewegungen haben dagegen analoges Denken bemüht und jenes schon erwähnte implizite Körperwissen zur Anwendung gebracht, das im tänzerischen, musikalischen, bildlichen, szenischen, poetischen, installativen oder videografischen Tun zur Anschauung kommt. Es sind präsentative Ausdrucksformen, die nicht erklären oder vermitteln wollen, sondern schlagartig sinnstiftend sind und zum Vorschein bringen, was wichtig und von Belang ist. Zwischen Erinnerung und Reflexion einerseits und Tun und Handeln andererseits hin- und herpendelnd wird Knowhow ins Spiel gebracht, Erfahrung gemacht, Erkenntnis generiert und Praxis weiterentwickelt.
Die performative Wende in der Forschung
Die Wissensbestände der Moderne sind längst in der Krise, können aktuelle Entwicklungen kaum mehr erklären, ihnen gar mit Lösungsversuchen entgegentreten – man denke nur an die ökologischen Katastrophen, an massenhafte Fluchtbewegungen, undurchschaubare Handelsmärkte, schwere Pandemien, unfassbare Kriege – zuletzt mitten in Europa. Der Weltenlauf scheint ungewiss und aus den Fugen geraten. Mit dem vor Jahrzehnten in den Geistes- und Sozialwissenschaften sowie Kulturtheorien proklamierten Performative Turn ist ein Perspektivwechsel eingetreten, der nicht zuletzt die Unkontrollierbarkeit des Handelns ins Auge fasst und dem Nichtwissen auf der Spur ist. Seit der Bologna-Reform Anfang der 1990er-Jahre wird an Universitäten, Akademien, Schulen und anderen wissensvermittelnden Institutionen überdies nicht mehr nur textbasiert gelernt. Der Prozess des Lernens stützt sich nicht ausschließlich auf Vorhandenes, Tradiertes, vermeintliche Gewissheit und universelle Wahrheit vermittelndes Wissen, sondern fordert die forscherische Reflexion heraus. Theorie und Praxis (re)formulieren sich gegenseitig – selbst in frühkindlichen Bildungseinrichtungen und nicht zuletzt in Studiengängen der Sozialen Arbeit.
Die Dominanz etablierter Wissenschaftsmethoden ist brüchig geworden, die Praxis der drei klassischen Sektoren – Grundlagenforschung, angewandte Forschung und experimentelle Entwicklung – in Bewegung geraten. Mit dem Aufkommen von Praxis- und Handlungsforschung in den 1970er-Jahren (vgl. Moser 2018) gewinnt der Gang in die Lebenswirklichkeit an Bedeutung – der Schreibtisch wird, wenn man so will, buchstäblich nach draußen getragen, hin zu den Menschen, über die und mit denen man neue Erkenntnisse gewinnen will. Theorien basieren mehr und mehr auf Empirie, Methoden zielen auf praktischen Nutzen, experimentelle Versuchsanordnungen finden nicht mehr nur im Labor, sondern vor Ort statt. Während die quantitative Forschung durch breitgestreute Befragungen Hypothesen generiert, diese prüft und daraus statistisch relevante Schlussfolgerungen zieht, stützen sich qualitative Verfahren, so auch die rekonstruktive Sozialforschung, auf nicht-standardisierte, meist fallbezogene Erhebungsverfahren. Das Interesse an der Praxis führt allmählich dazu, dass diese weniger als Gegenstand, sondern quasi als Subjekt der Forschung verstanden wird – geforscht wird nicht mehr über Praxis und für Praxis, sondern durch Praxis.
Hierin liegt die eigentliche Bedeutung von Performativität, nämlich Wirklichkeiten und Sinnbezüge im Vollzug des Handelns herzustellen, wobei ein forschendes Interesse zugleich die Bedingungen, die Verortung, die Materialität und Medialität reflektiert, um mit diesem Wissen Praxis nicht nur zu erhellen, sondern auch zu verändern. Es geht um eine Art Feedbackschleife zwischen praktischem Können und Wissen auf der einen und distanzierter Beobachtung und Selbstreflexion auf der anderen Seite. Aktion und Reflexion entwickeln sich spiralförmig, den Radius nach oben immer weiter öffnend – ein Rückkopplungsverfahren, das sich auch die selbstevaluative Praxis der „Aktionsforschung“ (Posch 2009) zunutze macht, auf die im Übrigen auch die beiden vorgestellten Forschungsprojekte bauen und die, nebenbei bemerkt, dazu beigetragen haben, praxis-geleitete, performativ ausgerichtete Rechercheverfahren auch in der künstlerisch-ästhetisch ausgerichteten Bildungspraxis zu etablieren.
Selbstredend ist auch die Produktion von Kunst zumeist aktions- und reflexionsorientiert, ebenso ihre Rezeption, denn im besten Fall macht man sich vor dem Hintergrund eigener Erfahrung ein Bild von der Sache. Zuletzt basiert auch die künstlerische Forschung auf solcherart Rückkopplung, zumal durch performative Verfahren vorangetrieben. So wird beispielsweise am eigenen Leib erfahrbar, dass die Bedeutung etwa von Gebäuden oder Plätzen zwar gesellschaftlich konnotiert, ihnen bisweilen aber auch ein Verhaltenskodex zugeschrieben ist, der erst im Handeln Wirklichkeit wird, zuletzt also hergestellt und damit auch veränderbar ist. Bedeutung wohnt den Dingen nicht inne, sondern wird durch Sprache oder Schrift zugedacht, zugesprochen, zugeschrieben und kann im erneuten Umgang bewusst gemacht sowie überdies verschoben werden. Vor diesem Hintergrund hätte ich natürlich das eher implizite Verhaltensgebot im Park Sanssouci übertreten und andere Wege gehen, gar Trampelpfade eröffnen können.
Kunsterfahrung und ästhetisches Denken
Kunst ist zweifellos eine besondere Praxis, aber nicht jede Praxis ist Kunst, wie auch nicht jede Forschung künstlerisch ist. Allerdings hat sich der Ort künstlerischer Verfahren zu Lasten ihrer Autonomie verschoben; sie finden mehr und mehr Anwendung – im Alltag, in der Politik, im Design, vereinzelt eben auch in der Wissenschaftspraxis. Der Rahmen, der die Wirklichkeit der Kunst gegenüber anderen Wirklichkeiten kenntlich macht, mag an seinen Rändern ausfransen, aber er darf nicht gänzlich verschwinden. Rahmen machen erfahrbar, dass wir in verschiedenen, wenn auch ineinandergreifenden Wirklichkeiten handeln und uns bewegen – nur so wird bewusst, dass wir in relationaler Verfasstheit zur Welt stehen.
Von der Alltagspraxis unterscheidet sich die Kunstpraxis durch die reflexive Verflechtung von impliziten und expliziten Wissensbeständen und Erfahrungen. Damit aus einem taktilen, körperlich-sinnlichen Ereignis eine Erfahrung wird, muss das momentane Erleben auf Distanz und in eine Dauer gestellt werden. Julian Klein vom Institut für künstlerische Forschung betont: „Künstlerische Erfahrung ist eine Form der Reflexion“ (Klein 2011:3). Von der wissenschaftlichen Forschung unterscheidet sich die künstlerische Forschung dadurch, dass die Erfahrung als Grundlage der Erkenntnis in ästhetische Prozesse eingebettet ist und das Wissen in künstlerischen Darstellungsformen auf sinnliche Weise hervorgebracht wird. Deswegen entspricht sie auch nicht den offiziellen Leitlinien zur Forschung und Entwicklung – künstlerische Forschung biete zwar neue Ausdrucksformen, könne aber nicht sagen, wie das erzeugte Wissen reproduzierbar und übertragbar sein soll (vgl. OECD 2018:71). Angesichts ihrer Bedeutung für die Geistes- und Sozialwissenschaften mag dies verwundern, auch dass weder die Praxis- noch die Aktionsforschung erwähnt wird, was genau betrachtet am Ende wenig überrascht, geht es dabei doch um leibgebundenes, subjektives und daher nicht messbares Wissen.
Wie in der Kunst, so in der künstlerischen Forschung: Man übereignet sich dem Modus der Aisthesis, jener auf Wahrnehmung beruhenden sinnlichen Erkenntnis, und damit einem zunächst erspürten Wissen. Was dabei ins Spiel kommt, ist „ästhetisches Denken“ (Dombois u.a. 2014), das zwar auch sonst, im Alltag etwa, wirksam, in den Künsten jedoch grundlegend ist. Anders als in der üblichen gesellschaftlichen Praxis wird hier nicht artikuliert, sondern gezeigt. Es sind singuläre, ambivalente, zufällige, flüchtige Setzungen, hingestellte, umgestellte, ausgestellte Ereignisse, die zunächst alles Mögliche tun, nur nicht den Logos bedienen. Künstlerische Forschung baut auf Knowhow, auf intellektuellem Vermögen, auf gemeinsamem Tun, zudem auf soziale Kompetenz. Das Wissen, das sie aufnimmt, investiert und generiert, hat hingegen zuvorderst mit körperlichen Erfahrungsdimensionen zu tun, mit Wahrnehmung und Intuition. Es sind vitale, affektive, kreative, auch imaginäre Kräfte, die buchstäblich zur Sache treiben, wobei Raum, Körper und dingliche Materialität – gewissermaßen als Akteur – zum nicht kalkulierbaren Widerfahrnis werden. Unter die Dominanz des klassischen Forschungsprimats gestellt, wird das performativ und präsentativ hervorgebrachte Wissen in der Regel sprachlich vermittelt, wird quasi übersetzt und dem Diskurs übereignet. Das ästhetische Denken wird dabei nicht selten normativ zurechtgerückt, gar erstickt, weil es tun soll, was ihm ganz und gar fernliegt, nämlich etwas festzustellen.
Vom Eigensinn künstlerischer Verfahren
Der Kunsthistoriker Günter Metken hat in der Ausstellung „Spurensicherung“ Exponate präsentiert, die auf Selbsterforschung basieren und mithilfe anthropologischer Forschungsmethoden fiktive Wissenschaften hervorbringen (vgl. Metken 1977). So deklariert beispielsweise der Künstler Christian Boltanski Dinge, die er auf Dachböden, Flohmärkten, im Abfall, an welchen Orten auch immer gefunden oder überreicht bekommen hat, zu Spuren seiner Biografie, was jene, die die Ausstellung besuchen, dann auch glauben. Der Künstler macht sich die Hinterlassenschaften eines fremden Lebens zu eigen, erfindet und konstruiert seinen Lebenslauf und übt, indem er die ‚Ausgrabungen‘ in einen fiktionalen Kontext setzt, zugleich Kritik an einer Wissenschaftspraxis, die für sich universelle Wahrheiten reklamiert. So etwas ist heutzutage kaum mehr denkbar, geht es in den Künsten – und ganz besonders in der Kulturellen Bildung – immer mehr um wahrheitsgetreue Realitätsrecherche und Dokumentation – das Ergebnis soll Denkanstoß genug sein, allenfalls theoretisch angereichert und empirisch untermauert.
Der Diskurs um das „Wissen der Künste“ (Flach/Weigel 2011) hat wesentlich zu ihrer Akademisierung und Verwissenschaftlichung beigetragen und die Debatte um die künstlerische Forschung als eine den etablierten Wissenschaften gleichrangige Form der Wissenserzeugung gestärkt. Mit der wissenschaftlichen und intellektuellen Vereinnahmung gehen die Abschwächung und Nivellierung des ästhetischen Potenzials einher, das nicht selten einer Banalisierung anheimfällt. Letzteres ist nicht despektierlich gemeint, sondern deutet auf eine allgemeine Popularisierung der Künste, mit der die soziale Wirkung in den Vordergrund rückt. Mit Blick auf die zahlreichen edukativen, oftmals simplifizierenden kulturellen Vermittlungsangebote scheint man zudem den Menschen nicht zuzutrauen, mit der „Kraft der Kunst“ (Menke 2013), mit ihrem Eigensinn und ihrer Radikalität umgehen zu können. Hinzu kommt eine verstärkte Anwendungsorientierung, allerlei Nützlichkeitsforderungen, nicht zuletzt die Hoffnung, dass die Partizipation an künstlerischen Prozessen dem schwindenden Demokratieverständnis in der Gesellschaft etwas entgegensetzen könne. Die Kunst wird zum Allheilmittel stilisiert, einem Trend, dem sich – durchaus selbstkritisch betrachtet – auch die beiden Eingangs vorgestellten Forschungsprojekte nicht gänzlich erwehren konnten. Sie wird zur Bewältigung von Problemlagen herangezogen, die systemisch bedingt und anderorts zu lösen sind. Manche gebrauchen gar Begriffe aus der Ökonomie, wie Ursula Bertram von der TU Dortmund, die der Kunsterfahrung „Effizienz durch unangepasstes Denken“ zuspricht und zum besseren Verständnis gar ein „Erfolgsrezept in Tropfenform“ verspricht (Bertram 2017:16). Was die Ausstellung „Kunst auf Rezept“ in der Berliner Galerie Apotheke Mitte im Jahre 2003 verabreicht, hatte mit Effizienz jedenfalls nichts zu tun. Dennoch haben die Tropfen gegen Gleichgültigkeit, die Spritzen gegen Intoleranz, die Infusionen gegen kriegerische Invasionen – ganz nach Art des auf Ähnlichkeit beruhenden homöopathischen Prinzips – für gesellschaftliche Problemlagen sensibilisiert. Ich frage mich manchmal, wo das freche, fantasievolle, witzige, unnütze, fiktive und doch ernste Spiel mit alldem geblieben ist, was vor Augen liegt (vgl. Seitz 2022). Bei aller Wirklichkeitsschau, Realitätsbewältigung und Wahrheitstreue bleibt der Möglichkeitssinn und vor allem das Spiel auf der Strecke – auch in der künstlerischen Forschung.
Die einen verstehen sie als singuläres, situations- und personengebundenes Verfahren, dessen Wissen nicht übertragbar und verallgemeinerbar ist. Die anderen betonen geradezu den Gebrauchswert, die Anwendbarkeit und Effizienz des erzeugten Wissens, wobei aus meiner Sicht der Gewinn, wenn man es denn überhaupt so nennen mag, nicht im Ergebnis, sondern im Verstehen und Nachvollziehen von Prozessen und Erkenntniswegen liegt. Nur wenige, vielleicht die lächelnden Dritten, sehen den Wert der künstlerischen Forschung darin, dass sie gerade keine universelle Wahrheit verkündet, diese im Gegenteil strapaziert und dekonstruiert. Mitunter wird nicht einmal eine Hypothese aufgestellt, sondern akzeptiert, dass wir nicht alles wissen können und ganz allgemein mit Ungewissheit umzugehen haben. Die Philosophin Kathrin Busch spricht gar vom „Gespenst der künstlerischen Forschung“, denn das Wissen, das sie berge und zur Kunst mache, habe eine „wiedergängerische Form“, werde bearbeitet, verschoben und traktiert und kehre als „ungewisses, spekulatives oder phantasmatisches“ zurück – Kunst sei eine „Erkenntnisform eigenen Rechts“ (vgl. Busch 2021:109). Sofern durch normative Vorgaben nicht bereits geschwächt oder durch eine Art Selbstzensur gestutzt, muss man in Kunst wie auch in der künstlerischen Forschung mit Eigensinn und im doppelten Wortsinn mit Unerhörtem rechnen. Hier werden mitunter Antworten gegeben, für die die Fragen noch erfunden werden müssen.
Zwei ungebetene Gaben als Forschungsimpuls
Wie zu Beginn ausgeführt, kann man sich der Wirksamkeit und Bedeutung umstrittener Bauten durch Befragung und Beobachtung nähern, sie sich aber auch performativ forschend selbst ‚erhinken‘. Der israelische Video-Künstler Guy Ben-Ner ist jedenfalls eingezogen – nicht in die nach römischem Vorbild für die Hauptstadt Germania geplante Halle des Volkes, jene Ruhmeshalle, die glücklicherweise nie gebaut wurde, sondern in einen anderen, nach skandinavischem Vorbild gebauten Volkstempel. Er hat sich mit seiner (echten) Familie in diversen IKEA-Filialen häuslich niedergelassen und, wen mag es wundern, ein Hausverbot nach dem anderen erhalten. Seinen Kindern gegenüber hat er gleich das ganze Haus zum Familieneigentumerklärt und all die schönen Waren in den Gebrauch überführt. Das Video „Stealing Beauty“ aus dem Jahre 2007 mag einen illegalen Guerillaakt dokumentieren und ist doch alles andere als eine feindliche Übernahme. Wie im Katalog und den im Haus überall flimmernden Werbevideos sitzen die Eltern zeitungslesend im Sessel, lümmeln fernsehend auf der Couch; die beiden Kids sind widerspenstig und stellen zu viel Fragen. Die Mutter checkt E-Mails, der Vater duscht, um später zu kochen. Sie bewohnen die Räume, als ob sie ihnen gehörten und alles funktionieren würde. Doch sie duschen, ohne nass zu werden, schreiben auf schwarze Bildschirme, kochen ohne Strom, essen von leeren Tellern, machen den Abwasch ohne Wasser – die entsprechenden Geräusche sind im Video nachträglich eingespielt und haben eine fast phantomartige Wirkung. Und wie es Eheleute vor dem Einschlafen zuweilen tun, debattieren sie im Bett darüber, wie den Kindern beizubringen sei, dass sich der Wert des Menschen am Besitzstand bemisst – und das alles während der Geschäftszeiten von IKEA, unter den Augen der Laufkundschaft und der Mitarbeitenden, die allesamt über die Videokamera stolpern, also die Rahmung wahrnehmen und erstaunlicherweise kaum Aufhebens um den ganz offensichtlich inszenierten Familieneinzug machen. Der Vater beschwört das Privateigentum und erteilt dem beim Stehlen erwischten Sohn eine Lektion: Man müsse hart arbeiten, um etwas sein Eigen zu nennen und den Besitz zu vermehren. Doch allen Ratschlägen zum Trotz, rufen die Kinder am Ende zum kollektiven Stehlen auf, nicht um sich zu bereichern, sondern um den Respekt vor dem Eigentum zu verlieren – seine Schönheit möge allen zugutekommen.
Mit dem hier anvisierten Forschungsanliegen hat das zugegebenermaßen wenig zu tun. Ben-Ner hat mit seiner performativen Intervention Kunst im Sinn und keine künstlerische Forschung, denn eine solche würde sich vermutlich für die vorbeilaufenden Menschen samt ihrer stoischen Haltung interessieren. Das Video mag die Erwartung an die hier zur Frage stehende performative Forschung also enttäuschen, zumal IKEA allenfalls hässliche, aber keinesfalls ‚böse‘ Bauten in die Landschaft setzt, als indirekter Impuls und unerbetene Gabe jedoch umso wirkungsvoller sein – man muss ja nicht gleich auf dem ehemaligen Reichssportfeld in Berlin ein Zelt aufbauen.
Zu klären wäre noch, was, wie der Titel dieses Beitrages besagt, IKEA-Ausstellungshäuser und Nazibauten miteinander zu tun haben – auch hier: zuvorderst nichts. Und doch hat die Künstlerin Annette Streyl, die gewissermaßen zur Kategorie der lachenden Dritten gehört, im Jahre 2001 in der Berliner Galerie Breitengraser IKEA Dortmund und die Halle des Volkes nebeneinander ausgestellt – nicht als Fotografien an der Wand, sondern als hängende Objekte. Während der im Volksmund als Nazi-Klotz bezeichnete Schwerbelastungskörper, der mit seinen gut zwölfeinhalbtausend Tonnen Stahlbeton auf 100qm die Bodenbelastung der geplanten Gebäude probehalber simulieren sollte und unweit des Tempelhofer Feldes noch heute zu besichtigen ist, ist Hitlers Ruhmeshalle Vision geblieben – nicht nur wegen des Kriegsbeginns, sondern vermutlich auch wegen der erwartbaren, gefährlichen Bodensenkung. Die gelernte Steinbildhauerin Streyl hingegen hat das gigantische Bauwerk nach den Originalplänen von Albert Speer zumindest im Maßstab 1:100 nachgebaut – und zwar als Strickware, was dem ersten Anschein nach an alles andere, aber nicht an Architektur denken lässt. Auch wenn sie ein paar Jahre später im Hamburger Kunsthaus den stofflichen Hüllen durch ein darunter befestigtes Drahtmodell mehr Plastizität verliehen hat, sind mir die flapsig über Wäscheleinen gehängten Fassaden besonders eindrücklich in Erinnerung: ihres Innenlebens beraubte Repräsentationen. Der Flachbau von IKEA mutet an wie blaugefärbte, krumpelige Meterware; die Halle des Volkes mit ihrer Riesenkuppel erinnert an einen überdimensionierten, aus der Form geratenen Hoodie. Es sind Exponate aus der 2007 abgeschlossenen Serie „Strickarchitektur“, zu der u.a. auch die Deutsche Bank und der abgerissene Palast der Republik gehören – das Neue Palais war leider nicht dabei. Die heimeligen Objekte aus flauschigem Material bürsten die gewichtige Machtsymbolik – sei es der nationalsozialistischen Ideologie oder des kapitalistischen Warenfetischismus – mit Leichtigkeit gegen den Strich. Die emblematische Bildsprache wird buchstäblich verstrickt, die von Männern gebaute Architektur unter weiblicher Hand zu einer bunten Maschenware – bizarr, befremdlich, ironisch, in ihrer Bedeutung rätselhaft und lustvoll entzaubert.
Bei aller Wahrheitssuche sollte das performative Forschen am Ende die subversive Wirkung des Humors nicht vergessen, auf Spiel und künstlerischen Eigensinn bauen. Man möchte sich und andere nicht nur aufklären, sondern mit fatalen, scheinbar unabänderlichen Wirklichkeiten – und sei es das steinerne Vermächtnis der nationalsozialistischen Diktatur – umgehen können, andere Wissensdimensionen bemühen und hervorbringen, sich produzierend, rezipierend oder partizipierend in aller Ernsthaftigkeit auch dem Nutzlosen hingeben, einen neuen Zugang und Umgang finden, ganz wie Ben-Ner, Streyl oder auch Charlie Chaplin mit seiner fulminanten Performance in dem Film „Der große Diktator“ aus dem Jahre 1940.