Jugendkulturelle Szenen und Kulturelle Bildung
Besondere Adressaten
Jugendkulturelle Szenen stellen eine Herausforderung für die Kulturelle Bildung dar. Zum einen finden in diesen Gemeinschaften bereits informelle kulturelle Bildungsprozesse abseits einer kulturpädagogischen Einflussnahme statt. Dadurch erwerben Heranwachsende nicht selten einen hohen Grad an szene-spezifischem Wissen, das außerhalb der Szene stehende KulturarbeiterInnen und -pädagogInnen meist nicht vorweisen können. Diese werden deshalb von den Jugendlichen in vielen Fällen nicht ernst genommen und damit als kulturelle BildnerInnen nicht akzeptiert. Zum anderen bieten solche Szenen aber auch ein enormes Potential für die kulturelle Bildungsarbeit. Jugendliche können hier direkt bei ihren kulturellen Vorlieben und persönlichen Interessen abgeholt werden und pädagogische Interventionen können gezielt an dem bereits innerhalb der Szene erworbenen Wissen der Heranwachsenden ansetzen und dieses erweitern.
Mit Szenen bezeichnet man „thematisch fokussierte kulturelle Netzwerke von Personen, die bestimmte materiale und/oder mentale Formen der kollektiven Selbststilisierung teilen“ (Bucher/Niederbacher/Hitzler 2001:20). Der thematische Fokus dieser Netzwerke kann dabei von einem Musikstil (z.B. Black Metal) über eine Sportart (z.B. Skateboarding) bis hin zur Nutzung eines speziellen Mediums (z.B. Computerspiele) reichen. Szenen sind grundsätzlich frei wählbar und unterscheiden sich von traditionellen Gruppierungsformen wie Vereinen oder Verbänden dadurch, dass sie nicht mit herkömmlichen Verbindlichkeitsansprüchen einhergehen. Sie werden deshalb auch als „posttraditionale Vergemeinschaftungsformen“ bezeichnet (vgl. ebd.:18).
Der Begriff Jugendkultur taucht zwar bereits in den 1910er Jahren innerhalb der Reformpädagogik auf, als analytische Kategorie wird er allerdings erst seit den 1980er Jahren in der Jugendforschung verwendet. Er bezeichnet seitdem die verschiedenen selbstgeschaffenen und über Medien vermittelten Lebensstile von Jugendlichen, die sich in Musik, Mode, Konsum und der Schaffung neuer sozialer Treffpunkte ausdrückt (vgl. Baacke 1987:99). Diese dienen den Heranwachsenden als Orientierungspunkte bei ihrer Identitätsbildung und Abnabelung vom Elternhaus. Angesichts der Pluralisierung jugendlicher Lebensstile ab den 1980er Jahren wird in der Jugendforschung von Jugendkulturen im Plural gesprochen.
Nach Klaus Farin schließen sich 20-25 % der Heranwachsenden jugendkulturellen Szenen an. Der Einfluss auf die restlichen Jugendlichen ist jedoch weitaus größer, „denn die Angehörigen von Jugendkulturen sind so etwas wie die Avantgarde der Jugend, die Meinungsbildner und kulturellen Vorbilder für die große Mehrzahl der Gleichaltrigen, die sich mit keiner Jugendkultur voll identifizieren können – aber sich doch an diesen orientieren“ (Farin 2006:9).
Relative Autonomie
Jugendkulturelle Szenen sind bei Heranwachenden deshalb so beliebt, weil „sie relativ autonom gegenüber anderen Sozialräumen und Sozialisationsinstanzen sind“ (Großegger/Heinzlmaier 2002:9). In ihnen können sich Jugendliche zu einem gewissen Grad unabhängig von Autoritäten und Institutionen ausprobieren und eigene kulturelle Werte und Ausdrucksformen entwickeln.
Diese relative Autonomie jugendkultureller Szenen gilt auch mit gewissen Einschränkungen gegenüber dem kommerziellen Markt. Dieser Umstand macht sie seit den Anfängen der Neuen Kulturpädagogik zu einem interessanten Adressaten der Kulturellen Bildung. In dem von Hilmar Hoffmann verfassten Programm Kultur für alle von 1979 (siehe Hilmar Hoffmann/Dieter Kramer „Kultur für alle. Kulturpolitik im sozialen und demokratischen Rechtsstaat“), das den „Grundstein für das (legte), was wir heute Kulturelle Bildung nennen“ (Schneider 2010a:11), wird bereits Bezug genommen auf die alternative Szene der Kultur, zu der Hoffmann auch die „heterogenen Erscheinungsformen der mehr oder minder autonomen Jugendkultur“ (Hoffmann 1981:288) zählt. Hoffmann sieht vor allem Handlungsbedarf in Bezug auf die „immer stärkere Kommerzialisierung (der Jugendkultur)“, an der die „öffentliche Hand nicht ganz schuldlos (ist), solange sie jene Mittel verweigert, welche Jugendkultur braucht, um unabhängig und autonom zu bleiben oder es wieder zu werden“ (ebd.:288f.). Vor Augen hat er dabei vor allem alternative und selbstverwaltete Jugendzentren, die ab den 1970er Jahren bundesweit entstehen und die sich nach ihrem Selbstverständnis einer kulturindustriellen Vereinnahmung verweigern.
Eine solche Sichtweise muss mittlerweile jedoch angesichts der immer rasanteren Kommerzialisierung jugendkultureller Stilisierungspraktiken kritisch betrachtet werden. „Heute stürzen sich kommerzielle Anbieter, wie die Mode-, Werbe- oder Musikbranche, auf jegliche innovativen Impulse der Jugendszene und adaptieren sie für die eigene Produktentwicklung“ (Keuchel 2010b:232f.). Das heißt allerdings nicht, dass jugendkulturelle SzeneMitglieder völlig ohnmächtig gegenüber diesen Formen der Kommerzialisierung sind. Gerade innerhalb der Cultural Studies wird seit den 1970er Jahren auf die Deutungsmacht auch jugendlicher KonsumentInnen hingewiesen. Hier bieten sich immer wieder neue Möglichkeiten der Selbststilisierung für die Heranwachsenden: „Hinter dem Konsum verbirgt sich in der Regel [...] eine Produktion, denn die Kulturkonsumenten fabrizieren mit den Bildern und Tönen der Medien eigene Bedeutungen und lustvolle Erlebnisse“ (Winter 1997:40). Diese „Kunst des Eigensinns“ (vgl. Winter 2001) emanzipiert jugendkulturelle Szenen zwar nicht von der Kulturindustrie als solcher, aber auf der Ebene der kulturellen Bedeutungen besitzt sie eine relative Autonomie.
Unsichtbares sichtbar machen
Jugendkulturelle Szenen sind bereits für sich „Sozialisationsinstanzen“ (Baacke 1987:202). In ihnen bestimmen Jugendliche nicht nur ihr Verhältnis zur Welt und experimentieren auf dem Feld der Selbststilisierung, sondern sie teilen auch das Wissen, das sie dabei erwerben. Explizit wird dies in der Hardcore-Szene, die sich auf die Do It Yourself-Idee von Punk beruft. Nach dieser kann sich jeder kreativ ausdrücken, egal wie perfekt er die künstlerischen Produktionsmittel beherrscht. Das bei diesen autodidaktischen Gehversuchen generierte Wissen wird in der Hardcore-Szene öffentlich gemacht. Es kursiert dort beispielsweise in Form von Anleitungen in den szene-eigenen Medien (vgl. Calmbach/Rhein 2007).
Auch in anderen jugendkulturellen Szenen lässt sich diese Form von Kultureller Selbstbildung innerhalb der eigenen Peer Group abseits pädagogischer Institutionen beobachten. Ob es sich dabei um die auf YouTube hochgeladene Video-Anleitung einer Breakdance-Crew handelt oder um die von einem LAN-Gamer in einem Weblog gepostete Bauanleitung für ein technisches Tool. Stefanie Rhein und Renate Müller sprechen in diesem Zusammenhang auch von einer „Selbstsozialisation“ und verstehen darunter „die Einarbeitung in audiovisuelles Symbolwissen und der selbst organisierte Erwerb rezeptiver und produktiver Kompetenzen“ (Rhein/Müller 2006:552). In jugendkulturellen Szenen sind damit bereits „unsichtbare Bildungsprogramme“ (Hitzler/Pfadenhauer 2004:15) wirksam. Diese sind „unsichtbar nicht nur für die Augen von Bildungspolitikern, sondern weitgehend auch für die Szenegänger selber, da Kompetenzen hier [...] überwiegend doch in eher beiläufigen Entwicklungs- und Aneignungsprozessen erworben werden“ (ebd.:86).
In der Jugendkulturarbeit wird diese Form der Wissens- und Kompetenzaneignung auch als „informelles kulturelles Lernen“ (Fuchs 2008a:122) bezeichnet.
KulturpädagogInnen stoßen bei Mitgliedern jugendkultureller Szenen also auf eine grundsätzliche Bereitschaft, sich in kulturelle Kompetenzen und Wissensbestände einzuarbeiten. Diese kann gerade in der deutschen Jugendkulturarbeit, deren pädagogische Arbeitsweise stark geprägt ist „von der Leitidee einer Stärkung der eigenen Kreativität und künstlerischen Produktion“ (Reinwand 2010a:195f.) produktiv genutzt werden. Das bereits informell erworbene praktische Knowhow gilt es im Sinne von Hoffmann zu animieren. Unter „Animation“ versteht er eine Technik, die nicht immer neue Bedürfnisse wecken, sondern vielmehr dazu anregen soll, die bereits vorhandenen zu artikulieren und zu entwickeln (vgl. Hoffmann 1981:316f.). Es geht ihm im Prinzip also um eine Sichtbarmachung der bislang noch unsichtbaren Bildungsprogramme, um diese über ihren Szene-Rahmen hinaus zu erweitern. Kulturelle Bildung kann man deshalb auch als den Versuch verstehen, „die Brücke zu schlagen zwischen der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen, ihren Bildungsmöglichkeiten und Voraussetzungen und zugleich anspruchsvollen wie bewältigbaren ästhetischen Herausforderungen, die von ihnen selbst mitentwickelt werden“ (Hill/Biburger/Wenzlik 2008b:13).
Gegenseitige Anerkennung
Dafür ist es jedoch notwendig, dass JugendkulturarbeiterInnen nicht nur die Vorlieben, Bedürfnisse und Gewohnheiten ihrer Klientel kennen (vgl. Baer 1994a:141), sondern auch, dass sie die Szenemitglieder als kulturelle ExpertInnen ansehen und entsprechend behandeln. Erst dann kann es zu einem Austausch kommen, wie ihn Rhein und Müller in Bezug auf die Kulturarbeit mit musikzentrierten jugendkulturellen Szenen beschreiben: „Jugendliche Selbstsozialisierer vermitteln die audiovisuellen Codes und szenespezifisches Wissen der für sie bedeutsamen Kulturen besser als (Musik-)Pädagoginnen und Pädagogen, weil sie sie besser beherrschen und zudem über die entsprechenden Aneignungsstrategien verfügen. Umgekehrt kann (Musik-)Pädagogik jugendlichen Selbstsozialisierern diejenigen Aspekte ihrer (musikalischen) Umwelt erhellen, die ihnen unvertraut sind. Dies gilt. z.B. für die hinter aktuellen Jugendkulturen stehenden kulturellen Wurzeln und Traditionen, für die wiederum (Musik-)Lehrerinnen und Lehrer die Experten sein können“ (Rhein/Müller 2006:565). Die gegenseitige Anerkennung von Jugendlichen und PädagogInnen als ExpertInnen auf ihrem jeweiligen Gebiet ist Voraussetzung für eine gelingende Jugendkulturarbeit. Erst wenn sich die jugendlichen Szenemitglieder mit ihrer eigenen kulturellen Identität akzeptiert fühlen, können sie die über ihre bereits erworbenen Kenntnisse und Wissensbestände hinausführenden Angebote der Kulturellen Bildung ernst nehmen und schließlich auch annehmen. Erst dadurch werden die Mitglieder jugendkultureller Szenen von Objekten der Kulturpädagogik zu deren Subjekten.