Mediensozialisation und kulturelles Lernen
Die Rolle der Medien im Sozialisationsprozess wird unterschiedlich wahrgenommen. Auf Seiten der SozialisationstheoretikerInnen bilden Medien eine Sozialisationsinstanz unter anderen, der in der Regel wenig Bedeutung beigemessen wird. Demgegenüber betont die Kommunikations- und Medienwissenschaft, die sich mit dem Medienumgang von Heranwachsenden beschäftigt, dass Medien einen festen Platz im Sozialisationsprozess von Kindern und Jugendlichen einnehmen (siehe Kai Hugger „Bildung im gegenwärtigen Mediatisierungsprozess“). Wie vollzieht sich die Sozialisation mit und über Medien unter aktuellen gesellschaftlichen und medialen Bedingungen? Welche Herausforderungen und Potentiale für kulturelles Lernen sind damit verbunden?
Mediensozialisation – eine Begriffsbestimmung
Die Aneignung von Medien, also von medialen Inhalten, Angebotsformen und Kanälen vollzieht sich ebenfalls „in gesellschaftlicher Einbettung und vor dem Hintergrund konkreter Lebenswelten und ihrer Bedingungen“ (Theunert/Schorb 2004:203). Medien bieten dabei Orientierungsvorlagen, sie werden zum Amüsement und zur Information gleichermaßen herangezogen, und sie bieten zunehmend kommunikative Werkzeuge an, die es den NutzerInnen gestatten, sich zu anderen in Beziehung zu setzen und eigene Werke zu gestalten und zu veröffentlichen. Medien sind als „Agenturen der Alltagskultur“ (Weiß 2008:175) auf komplexe Weise von Bedeutung im Verlauf des Sozialisationsprozesses. Die Heranwachsenden wenden sich mit vielfältigen Motiven und handlungsleitenden Anliegen ihren Medienfavoriten und medialen Interaktions- und Ausdrucksformen zu. Vor allem folgende Aspekte sind dabei für die Jugendlichen relevant:
>> Sich in Beziehung setzen: Die Heranwachsenden stehen in einem regen Austausch mit anderen Gleichaltrigen und suchen in ihren medialen Selbstkonstruktionen ein Gegenüber, dass ihnen die Möglichkeit der Bestätigung des Eigenen gibt, aber bei dem sie durchaus auch mit Widerspruch zurechtkommen müssen.
>> Sich selbstbestimmte Freiräume suchen: Auf der Suche nach Abgrenzung, z.B. von Erwachsenen, bieten die Medien den Heranwachsenden vielfältige Vorgaben und Vorlagen, die sie aufgreifen und sich in eigener Gestaltung erproben.
>> Sich beteiligen: Die Heranwachsenden finden in medialen Räumen Möglichkeiten, um sich zu positionieren und zu verorten. Diese Verortung bildet die Voraussetzung dafür, dass die Jugendlichen sich mit der eigenen Lebenswelt und der weiteren sozialen, kulturellen und politischen Welt auseinandersetzen können.
>> Sich als kompetent erleben: Nicht zuletzt wird in der Betrachtung des Medienhandelns von Jugendlichen deutlich, dass sie über das Ausleben ihrer Interessen in medialen Räumen eine Bestätigung für ihr Handeln suchen und dabei stolz auf ihre Fähigkeiten und Kenntnisse sind und diese beständig weiterentwickeln wollen.
Historische Dimension
Ab etwa Mitte der 1980er Jahre wurden jene Stränge der Rezeptionsforschung, die das Verstehen des Medienumgangs von Heranwachsenden in den Vordergrund rücken, sich dem interpretativen Paradigma der Sozialwissenschaften zuordnen und ihre theoretischen Bezüge unter anderem aus der Entwicklungspsychologie wie der Sozialisationstheorie beziehen, immer weiter ausdifferenziert. Damit liegt ein breiter Fundus an theoretischen Zugängen und empirischen Befunden vor, der vertiefte Einblicke in den Medienumgang von Kindern und Jugendlichen erlaubt. Insbesondere das Fernsehen als eines der Leitmedien des Aufwachsens stand dabei in vielen Arbeiten im Vordergrund (vgl. z.B. Paus-Hasebrink u.a. 1999; Barthelmes/Sander 2001).
Gerade neuere Veröffentlichungen belegen ein stärkeres Interesse an der Explizierung der Fragen zur sozialisatorischen Bedeutung der Medien (vgl. z.B. Süss 2004, Hoffmann/Mikos 2007, Paus-Hasebrink/Bichler 2008, Vollbrecht/Wegener 2010). Reflektiert werden dabei sowohl die theoretischen und methodischen Ansätze als auch die jeweils untersuchten Ausschnitte des Medienumgangs von Heranwachsenden. Einigkeit besteht in der Mediensozialisationsforschung darin, dass bislang „keine konzise Theorie der Mediensozialisation vor[liegt], die ihrer Dynamik, Kontingenz, Varietät und Komplexität annähernd gerecht wird“ (Kübler 2010:23, vgl. auch Hoffmann 2007). Gleichwohl bietet die Kinder- und Jugendmedienforschung eine Fülle an Ergebnissen, die die verschiedenen Aspekte der Medienaneignung von Heranwachsenden im Detail betrachtet und wertvolle Befunde zur Sozialisationsrelevanz von Medien liefert.
Dimensionen des Medienhandelns von Jugendlichen in aktuellen Medienwelten
Ein Kennzeichen jugendlicher Medienaneignung ist es, sich nicht mehr nur den Einzelmedien zuzuwenden, sondern sich die Vorzüge einer konvergenten Medienwelt, insbesondere über die digitalen, meist auch gleichzeitig multifunktionalen Medien, Computer und Internet zu Nutze zu machen (vgl. Wagner/Theunert 2006; Wagner 2011a): Sie verfolgen ihre medialen Vorlieben über die Medien hinweg, z.B. ein bevorzugtes Computerspiel mit dem entsprechenden Film und den zugehörigen Internetforen. Jene, die sich tief in die konvergente Medienwelt begeben, zeigen ausgeprägte mediale Vorlieben oder Spezialinteressen, häufig verstärkt durch die Eltern und vor allem die Peergroup. Sie messen Computer und Internet hohen Stellenwert bei und zeigen sich interessiert daran, ihre medienbezogenen Fähigkeiten auszubauen. Phänomene der Medienkonvergenz tragen dazu bei, eine Art Netz aufzuspannen, das verschiedene Inhalte miteinander verknüpft, ehemals getrennte Strukturen zusammenführt und damit neue Räume entstehen lässt, in denen die NutzerInnen selbst Gestaltungsmöglichkeiten haben. Nicht übersehen werden darf dabei, dass diese technischen Entwicklungen von wirtschaftlichen Interessen geprägt sind, wie es Jenkins als „corporate driven process“ beschreibt (Jenkins 2006a). Die Subjekte nutzen diese mediale ‚Infrastruktur’ und richten sich in ihr ein: Sie nehmen sie in Gebrauch und entwickeln ihre eigenen Aneignungsweisen. Sie nutzen die Möglichkeiten der Medien auch dazu, ihre eigenen Handlungsspielräume zu erweitern, indem sie kreative Wege finden, die Medien an ihre Bedürfnisse anzupassen. In der Medienwelt finden die NutzerInnen Inhalte, sie machen sich mit dem Umgang mit Apparaturen und Strukturen vertraut und sie finden in dieser Infrastruktur Räume, die sie selbst ausgestalten können.
Soziale Netzwerkdienste als Interaktions- und Resonanzräume
Online zu sein ist ein fester Bestandteil in der Medienzuwendung von Jugendlichen: 65 % der 12- bis 19-Jährigen gehen täglich online, weitere 25 % sind zumindest mehrmals pro Woche im Internet. Sogenannte Social-Web-Angebote wie Facebook oder Schueler-VZ sind ein Muss für viele Jugendliche. Besonders wichtig sind dabei die Pflege und der Ausbau bestehender sozialer Beziehungen. Neben den Möglichkeiten des kommunikativen Austauschs erleichtert das „Mitmach-Netz“ (Fisch/Gscheidle 2008) auch die Möglichkeiten, sich über die eigenen Produkte online in verschiedenen Facetten des eigenen Selbst zu präsentieren, z.B. über die Profile in den Online-Communitys oder eigenen „Channels“ auf Videoplattformen. Die Jugendlichen greifen dabei gerne auf bildhafte und präsentative Ausdrucksformen zurück (vgl. z.B. Wagner/Brüggen/Gebel 2009). In den Artikulationsformen der Jugendlichen in Online-Communitys finden sich zudem vielfältige Spuren massenmedialer Inhalte: Bevorzugte Musikstile, aber auch Fernsehvorlieben und Lieblingsfilme oder -computerspiele werden aufgegriffen und vielfältig weiterverarbeitet, z.B. in Form von Mashups. Mashups bezeichnen das Integrieren und Verweben von fremdproduzierten Inhalten in eigene Produkte, z.B. das Unterlegen einer eigenen Slideshow mit fremdproduzierter Musik. Dabei greifen Jugendliche auf unterschiedliche Quellen für diese massenmedialen Inhalte zurück: Zum Teil auf Material, das von den Anbietern selbst zur Verfügung gestellt wird, zum Teil auf Material, das andere NutzerInnen in Umlauf bringen und dessen Herkunft nicht mehr klar festzustellen ist (Wagner/Brüggen/Gebel 2009). Den Anregungen aus der Peergroup kommt dabei eine wesentliche Rolle zu. Fähigkeiten im Umgang mit multifunktionalen Medien, die gerade die gestalterischen Tätigkeiten erst ermöglichen, sind bei den Heranwachsenden hoch angesehen. MedienExpertInnen zu sein hat einen hohen Stellenwert unter vielen Jugendlichen (vgl. Wagner 2008).
Identitätsarbeit in konvergierenden Medienwelten
Für die Arbeit an der eigenen Identität finden die Heranwachsenden in Social Web-Angeboten vielfältige Präsentationsflächen, die dazu einladen, Facetten des eigenen Selbst zu erproben. Gleichzeitig bieten das Internet und seine Angebote einen Fundus an Material, in dem massenmediale Versatzstücke ebenso zu finden sind wie User Generated Content, mit dem die alltägliche Auseinandersetzung mit dem Selbst betrieben werden kann. Die Auseinandersetzung findet dabei auf drei Ebenen statt: Auf der persönlichen, der sozialen und auch der gesellschaftlich-kulturellen Ebene. Die Peergroup ist dabei ein Dreh- und Angelpunkt. Zentral für diese Prozesse der Identitätsarbeit werden nicht nur die gestalterischen Tätigkeiten der Heranwachsenden, sondern auch die Möglichkeiten, sich selbst und die eigenen Werke zur Diskussion stellen zu können (vgl. zu den Ausformungen von Identitätsarbeit ausführlich der Band von Theunert 2009). Jugendliche finden in diesen Räumen zudem die Möglichkeit, sich selbstbestimmte Freiräume zu schaffen. Es konturiert sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen den Entwicklungsaufgaben im Jugendalter und dem Medienhandeln der Jugendlichen. Neben der Erfahrung sozialer Eingebundenheit bilden Kompetenzerleben und die Erfahrung von Autonomie zwei weitere, zentrale Dimensionen gelingender Identitätsarbeit. Sich selbst als kompetent zu erleben ist für die Heranwachsenden dort möglich, wo sie sich mit ihren Fähigkeiten einbringen können und ihr Wissen als ExpertInnen geschätzt wird: Dies kann z.B. in verschiedenen Jugendszenen wie Computerspielszenen etc., in denen Medien eine wichtige Rolle spielen, erfahren werden. Die Erfahrung von Autonomie tangiert ein wesentliches Motiv, nämlich den Wunsch, sich zur Geltung zu bringen: Gerade über die produktiv-gestalterischen Tätigkeiten kann dieser Wunsch erfüllt werden.
Gestaltungsräume für kulturelles Lernen
Die Jugendlichen greifen für ihre Selbstdarstellung auf das zurück, was sie in den Medien vorfinden, sie bedienen sich daraus und sie werden kreativ tätig, indem sie Fotos und Videos selbst produzieren. So entstehen neue, eigene Ausdrucksformen, die auch veröffentlicht werden können und so einem mehr oder weniger großen, mehr oder wenig genau definierten Publikum zugänglich gemacht werden. Damit stellt sich die Frage nach den Teilhabemöglichkeiten der Subjekte auf eine neue Weise: Öffentlichkeit wird zu einer Art integrativem Bestandteil, um dem Wunsch nach Zugehörigkeit und nach Beteiligung nachgehen zu können. Publizieren und seine Themen auszudrücken, öffentlich zu machen und eigene Positionen zu vertreten scheint nun nicht mehr an aufwendige Technik gebunden zu sein, sondern im Rahmen des alltäglichen Medienhandelns potentiell zu verwirklichen sein. Jugendliche artikulieren sich in Online-Räumen der Sozialen Netzwerkdienste (z.B. Facebook) auf vielfältige und kreative Art und Weise – ob über eigene Produkte wie Videos oder Fotos oder über Profilbeschreibungen auf Social Network Sites: Sie können dort Themen platzieren, Standpunkte und Meinungen vertreten sowie die eigene Person und das eigene Erleben thematisieren und mit anderen darüber in Austausch treten. In diesen Prozess der medialen Artikulation werden stets auch Deutungsmuster und Erfahrungen eingebracht, die im Diskurs weiterentwickelt werden (vgl. dazu ausführlich Marotzki 2008).
Ausblick
Die Betrachtung der Medien als Gestaltungs-, Produktions- und Lebensräume erhält durch Angebote des Social Web neue Akzentuierungen (vgl. Ertelt/Röll 2008). In derartigen Online-Räumen, in denen sich Heranwachsende bewegen und verschiedenartigen Tätigkeiten nachgehen können, haben sie nun mehr denn je Möglichkeiten, sich mit ihren handlungsleitenden Themen und mit unterschiedlich gelagerten Motiven auseinander zu setzen. Sie sind zum einen Rezeptionsfläche für mediale Inhalte und zum anderen Räume zur Interaktion mit anderen und zur Präsentation eigener Werke (vgl. Wagner/Brüggen/Gebel 2009). Diese Räume sind neben den klassischen Sozialisationsinstanzen wie Schule und Elternhaus als informelle Lernräume von großer Bedeutung, gerade in Bezug auf das kulturelle Lernen. Im alltäglichen Austausch werden Handlungsweisen erprobt und Beziehungen gestaltet. Gleichzeitig bietet sich die Möglichkeit, Inhalte nicht mehr nur zu rezipieren, sondern auch aktiv zu generieren, zu bearbeiten und zu veröffentlichen, neue Potentiale für pädagogische Prozesse, die eine nachhaltige Unterstützung für eine souveräne Lebensführung darstellen.