Queere (Un-)Sichtbarkeit im Spannungsfeld von Identitätssuche und heteronormativer Geschlechterordnung
am Beispiel der Repräsentation von LGBTQIA* in der Kinder- und Jugendliteratur
Abstract
Das Studium der Sozialen Arbeit an der katho NRW, Standort Aachen ist von einer machtkritischen und diversitätssensiblen Grundhaltung geprägt und zielt darauf ab, durch die Vermittlung und Relationierung unterschiedlicher Wissensformen eine reflexive Professionalität der Studierenden auszubilden.
Simon Rosen und Uwe Koeberich untersuchen in ihrer gemeinsam verfassten Bachelorarbeit ausgewählte Werke der zeitgenössischen Kinder- und Jugendliteratur hinsichtlich der Repräsentation queerer Lebensweisen und fragen in diesem Zusammenhang auch nach der Relevanz literaturpädagogischen Handelns in der Kinder- und Jugendhilfe. Das einführende Abstract basiert auf dem Gutachten von Damaris Nübel und Norbert Frieters-Reermann.
Die Bachelorthesis thematisiert den Einfluss von Kinder- und Jugendliteratur (KJL) hinsichtlich der Identitätsentwicklung von Heranwachsenden und fokussiert dabei auf die Repräsentation von LGBTQIA*. Hierzu wurden zunächst wissenschaftliche Grundlagen aus der Kinder- und Jugendliteraturfoschung, der Sozialisationsforschung, den Gender Studies und der Queer Theory herangezogen und reflektiert. Dabei arbeiten die Autoren u. a. heraus, wie ein von Heteronormativität und Binarität geprägtes Geschlechtersystem queere und insbesondere nicht-binäre Identitäten strukturell stigmatisiert.
„Die heteronormative Ordnung zieht ihre Stabilität […] nicht aus einer objektiven ‚Natürlichkeit‘, sondern aus der Kontinuität des mehrheitlichen Handelns und einer ständigen Regulierung, Diskriminierung und Auslöschung alternativer Lebensentwürfe (vgl. Hark/Genschel 2003: 136f.; Wagenknecht 2007: 17). Ridgeway und Correll beschreiben es als hegemoniale Genderannahmen, also schlicht als die Vorstellung eines ‚natürlichen‘ und ‚richtigen‘ Geschlechtersystems (vgl. Ridgeway/Correll 2004: 517).“ [S. 20]
Diese Erkenntnis bildet die Basis der sich anschließenden Analyse zeitgenössischer KJL, die im Ergebnis eine mangelnde Repräsentation queerer Lebensweisen aufzeigt. Dort, wo eine Repräsentation queerer Lebensweisen festgestellt werden kann, so die Autoren, geht sie nicht selten mit stereotypen Vorstellungen oder mit dem Narrativ einher, dass sich der*die queere Protagonist*in seinen*ihren Platz in der Gemeinschaft durch besondere Leistungen erst verdienen muss. Bei der Angebotsanalyse habe sich gezeigt,
„dass es durchaus eine zunehmende Reaktion auf die Bedarfe nicht-heteronormativer Menschen im Hinblick auf eine gleichwertige Repräsentation ihrer Lebensentwürfe gibt. Dabei schafft die Literatur es aber nicht immer, der heteronormativen Matrix zu entkommen und läuft Gefahr, klischeehafte Darstellungen zu reproduzieren. Eine bloße Andeutung queerer Identitäten in der Form einer gerade so akzeptierten Abweichung von der Norm, also eine für die Heteronorm nicht bedrohliche Queerness, ist aber nicht ausreichend, um eine tatsächliche Veränderung herbeizuführen.“ [S. 108]
Dem von den Autoren festgestellten Mangel an angemessener Repräsentation queerer Lebensweisen in der KJL begegnen sie mit der Konzeption eines eigenen Märchens. Es trägt den Titel „Ich war einmal…“, der das Thema der Identitätssuche bereits spielerisch aufgreift. Die adoleszente Hauptfigur Elio, Kind eines Königspaars, begibt sich mithilfe des weissagenden Spiegels Shams auf die Suche nach der eigenen, als kohärent empfundenen Identität und wird mit zwei möglichen Lebenswegen konfrontiert: der Entwicklung hin zu einer nicht-binären sowie hin zu einer trans*weiblichen Identität mit jeweils unterschiedlichen Konsequenzen für die Thronfolge.
Die Bachelorthesis endet mit einem Transfer zur Sozialen Arbeit. Die Autoren fordern, dass verstärkt auf die Bedarfe der LGBTQIA*-Community reagiert werden muss und konstatieren, dass queere Klient*innen in der Kinder- und Jugendhilfe längst keine Seltenheit mehr sind.
„Aufgrund der Herausforderung, sich mit einer queeren Identität in einer heteronormativen Gesellschaft zu behaupten, besteht gerade für queere Kinder und Jugendliche ein erhöhtes Risiko der Überforderung und damit auch ein Bedarf der Unterstützung bei der Bewältigung vielfältiger Problemlagen (vgl. Kugler/Nordt 2015: 209)“. [S. 104]
(Kinder- und Jugend-)Literatur sehen die Autoren hier sowohl als Möglichkeit des Empowerments und der Selbsthilfe als auch als Medium der frühen Aufklärung über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt. Literatur habe das Potential,
„durch eine entstigmatisierende und normalisierende Darstellung von vielfältigen Geschlechterverhältnissen und queeren Lebenslagen […] eine Grundlage [zu schaffen] für eine selbstbewusste und von Wertschätzung geprägte Identitätskonstruktion.“ [S. 105]
Die Arbeit überzeugt durch einen schlüssigen Aufbau, einen klaren Fokus und ein umfangreiches Literaturverzeichnis. Die Einleitung führt anhand von aktuellen Beispielen aus der Medienlandschaft sehr gut zum eigentlichen Thema, das die beiden Autoren in der Folge äußerst engagiert in seiner Relevanz für die Soziale Arbeit auffächern. Sie gehen dabei gemäß dem Motto „nicht ohne uns über uns“ vor, indem sie bei der KJL-Recherche auch Buchempfehlungen der queeren Community sowie das queere Verlagswesen berücksichtigen. Vereinzelt finden sich sprachlich unpräzise oder verabsolutierende Formulierungen. Über diese Schwachstellen lässt sich aber vor dem Hintergrund des innovativen Potentials, der kreativen Leistung sowie des gelungenen Transfers leicht hinwegsehen.
Uwe Koeberich und Simon Rosen
Queere (Un-)Sichtbarkeit im Spannungsfeld von Identitätssuche und heteronormativer Geschlechterordnung
am Beispiel der Repräsentation von LGBTQIA* in der Kinder- und Jugendliteratur
(Bachelorarbeit PDF-1,3 MB)