Ästhetische Erziehung
Der Begriff der Ästhetischen Erziehung wird heute, außerhalb von einigen speziellen Fachdidaktiken oder Feldern der Elementarbildung (Schäfer 2006), wenig verwendet. Viel häufiger tauchen Begriffe wie Ästhetische Bildung (Dietrich/Krinninger/Schubert 2012; Liebau/Zirfas 2008), Kulturelle Bildung (Fuchs 2008a; Bockhorst 2011) oder Kulturvermittlung (Mandel 2004) auf. Ästhetische Erziehung scheint nicht mehr zu sein als ein Oberbegriff für Einzeldidaktiken wie Musikerziehung, Bewegungserziehung oder Kunsterziehung (aber schon die Worte Theatererziehung, Performanceerziehung oder Filmerziehung erscheinen ebenso ungebräuchlich wie absurd). Das ist unbefriedigend angesichts der Tatsache, dass ästhetische Erziehung als eine soziale Praxis Tag für Tag stattfindet, offensichtlich aber in einer von neueren erziehungstheoretischen Diskursen übersehenen Nische.
So bleiben die erzieherischen Prozesse ästhetischer Bildung oder kultureller Vermittlung begrifflich und theoretisch weitgehend ungeklärt. Man kann zwar den Begriff der Erziehung vermeiden oder ignorieren, man kann aber nicht nicht erziehen (Mollenhauer 1983), auch nicht in ästhetischer Hinsicht. Aus dieser Differenz von Diskurs und Praxis heraus ist das Anliegen des folgenden Textes zu verstehen: nach Gründen für und Wegen aus dieser wissenschaftlichen Scheu dem Begriff der ästhetischen Erziehung gegenüber zu fragen. Dies geschieht in drei Schritten: Zunächst sollen einige begriffliche Schwierigkeiten des Erziehungsbegriffs, die im Konstrukt der ästhetischen Erziehung noch an Zuspitzung erfahren, aufgezeigt werden. Im zweiten Abschnitt frage ich nach möglichen historischen Gründen für die aktuelle Zurückhaltung. Aus der Geschichte der ästhetischen Erziehung heraus ist sie nur allzu gut verständlich, zeigt sie doch Konjunkturen eines Konzepts ästhetischer Erziehung in Verbindung mit – aus heutiger Sicht vielfach überzogen scheinenden – Hoffnungen auf einen durch Ästhetik auch politisch und moralisch erzogenen Menschen. Schließlich werde ich im dritten Abschnitt einige systematische und über die Fachdidaktiken hinausgehende Dimensionen ästhetischer Erziehung aufzeigen.
Doppelbedeutung/en des Begriffs
In der Erziehungstheorie wird zwischen einem weiten und einem engeren Bedeutungshorizont des Erziehungsbegriffs unterschieden (Mollenhauer 1972; Winkler 2006; Sünkel 2010). In weiter Bedeutung versteht man das soziale System der Erziehung in seiner Funktion der Reproduktion und Erneuerung gesellschaftlicher Grundverhältnisse. Ihr dienen die Institutionen der Erziehung; ihre Verfahren sind solche, die die Weitergabe kulturellen Wissens, kultureller Fertigkeiten sowie der damit verbundenen Werthaltungen und Verhaltensnormen in der Sozialität sichern. Neben der Reproduktionsfunktion besteht seit der Moderne eine zweite wichtige Funktion der Erziehung in der Ermöglichung menschlicher Individualität und Selbstbestimmung. Erziehung zu Gemeinschaft und staatsbürgerlicher Pflichterfüllung dürfe niemals Selbstzweck, sondern müsse stets ergänzt und getragen sein durch den humanisierenden Zweck der Selbstbestimmung. Beide Ziele, die Erziehung zum Menschen und zum Bürger, stehen in einem unauflöslichen Spannungsverhältnis, das in jedem konkreten Erziehungsverhältnis zu bearbeiten ist. Erziehung ist somit immer von ihren Zielen her zu begründen und zu legitimieren, Intentionalität ist notwendiger, wenn auch nicht hinreichender Bestandteil von Erziehung. Aus diesen Intentionen des weiten Erziehungsverständnisses leiten sich dann Ziele ab, an denen sich Erziehung im engeren Sinne als eine kulturelle Praxis (in Schule, Familie, Fachunterricht etc.) orientiert.
Ästhetischer Erziehung in dieser strukturalen Perspektive ist es um die Sicherung der kulturell-ästhetischen Anschlussfähigkeit der jüngeren Generation an die ältere zu tun. Sie setzt es sich zum Ziel, das ästhetische Wissen, die Fähigkeiten und Wertschätzungen gegenüber künstlerischen Prozessen und Produkten weiter zu geben, allerdings so, dass die Jüngeren nicht einfach kopieren, imitieren und erhalten, was ihnen übergeben wurde, sondern so, dass sie eigenständig damit weiterarbeiten.
Deshalb funktioniert „Weitergabe“ auch nicht einfach wie bei einem Staffellauf, sondern ist selbst ein hoch komplexes Geschehen, dessen Ergebnis zwar mitunter sichtbar, aber niemals vorhersagbar ist. Erziehung muss verstanden werden als ein kommunikatives Handeln (Mollenhauer 1972) zwischen zwei Subjekten. Als dritter Faktor tritt als Objekt der Erziehung dasjenige, was vermittelt und angeeignet werden soll, hinzu. Im Unterschied zum Unterricht geht es dabei zunächst weniger um Stoffe und Inhalte, sondern um, – wie Wolfgang Sünkel sagt, „nicht-genetische Handlungsdispositionen“ (Sünkel 2008, 2010), um das Ensemble von Kenntnissen, Fähigkeiten, Haltungen und Motiven, die zum Handeln befähigen. Dabei handelt es sich in Erziehungsprozessen immer um nicht-symmetrische Kommunikationen, um Beziehungen mit Gefälle. Denn die generationale Ordnung zwischen Älteren und Jüngeren, die das Erziehungsverhältnis trägt und zugleich Teil der kulturellen Überlieferung ist, liegt auf einem Wissens-, Könnens- und Machtvorsprung der Erziehenden gegenüber den Zu-Erziehenden. Theoretisch wie praktisch folgenreich ist jedoch die Differenz zwischen Vermittlung und Aneignung. Sie zwingt dazu, Erziehung als einen zweiteiligen Prozess aufzufassen, dessen erster Teil durch die Vermittlungsabsichten und -bemühungen und dessen zweiter Teil durch die Aneignungsintentionen, -motive und -praktiken gekennzeichnet ist. Während eine weitgehende Übereinstimmung von Präsentation und Aneignung die reproduktive, System erhaltende und in diesem Sinne affirmative Dimension der Erziehung stärkt, kann eine starke Differenz zwischen Vermittlung und Aneignung eher Kritik, Weiterentwicklung, unter Umständen aber auch Ablehnung oder Umsturz dessen, was Gegenstand der Erziehung hat sein sollen, bewirken.
Eine besondere Schwierigkeit betrifft nun die ästhetische Erziehung, da ihr seit der Moderne eine grundlegende Zwiegesichtigkeit innewohnt: Gegenstand der ästhetischen Erziehung ist die ästhetische Erfahrung, da das, was Ästhetik ausmacht, nicht als Schönheit im Objekt zu finden, sondern nur als spezifische Erfahrung gegeben sein kann (zur historischen Entwicklung Parmentier 2004b). Diese Erfahrung ist fundiert in sinnlicher Erkenntnis und Empfindung, über die man keine bestimmenden, sondern nur „reflexive“ Urteile fällen kann, so meinte Immanuel Kant. Damit ist sie in besonderer Weise eine egologische, letztlich subjektive Erfahrung, die man zunächst einmal mit sich selbst macht. Andererseits sind diese Erfahrungen immer kontextualisiert in kulturell-kollektive Sinnmuster. Diese betreffen sowohl Muster der ästhetischen Materialbearbeitung (ästhetische Stile), als auch Verstehensmuster ästhetischer Objekte und Prozesse sowie schließlich ästhetische Verhaltensmuster der sozialen Distinktion durch die geschmackliche Orientierung. Aus der Spannung zwischen Subjektivität und Intersubjektivität entsteht die Dynamik des Neuen, entsteht das, was ästhetisch-kulturelle Entwicklungen in Gang hält, entsteht auch die subversive Kraft des Künstlerischen. Der Motor künstlerischer Entwicklung bleibt jedoch der vernünftigen Rede darüber fremd, er ist in Curricula und Stundenpläne nicht einzuholen – sonst wäre er im Kern nicht ästhetisch, sondern allenfalls die illustrative oder dekorative Außenseite vernünftiger Lehrinhalte. Insofern ist der Gang der künstlerischen Entwicklung seit der Autonomisierung der Kunst im 18./19. Jh. immer mit – nicht selten radikalen – Verneinungen des Bestehenden verbunden. Die ästhetische Erfahrung sei, so Klaus Mollenhauer, „Sperrgut in einem Projekt von Pädagogik, das seine Fluchtpunkte in klaren Verstandesbegriffen und zuverlässigen ethischen Handlungsorientierungen sucht“ (Mollenhauer 1990b:484). An dieser Grundproblematik hat sich bis heute nichts geändert, man könnte das Theorem sogar noch zuspitzen: Ästhetische Erziehung ist ein Widerspruch in sich. Denn eine ästhetische Erziehung, die Anschluss sucht an ein aktuelles Kunstverständnis, kann keine Erziehung sein, deren Intention immer auch Stabilisierung und Reproduktion sowie intersubjektiv verbindliche Selbst-Aufklärung ist. Und ästhetische Erziehung, die ausgeht von eben dieser Reproduktions- und Aufklärungsfunktion, kann dann niemals ästhetisch, sondern allenfalls mit Hübschheit dekorierte praktische oder moralische Erziehung sein. Insofern ist all denjenigen, die auf den Begriff der ästhetischen Erziehung jenseits einzelner als Propädeutik der jeweiligen Kunst aufzufassenden Fachdidaktiken verzichten, nur zuzustimmen. Wer die Entpädagogisierung der künstlerischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen fordert, den sollte man tatkräftig unterstützen. Ganz so einfach ist die Sache indes nicht – denn mit dem Verzicht auf ein Konzept ästhetischer Erziehung würde eine Denktradition aufgegeben, die sich der Herausforderung stellt, die Notwendigkeit der ästhetischen Erziehung auch durch ihre Bedeutung für außerästhetische Lebensbereiche zu begründen, ohne dabei den Autonomiecharakter der Künste aufzugeben (Dietrich 1998). Dass dieses Denken es immer schwer hatte und seine Widersprüche letztlich nicht in wissenschaftlicher Rede auflösbar sind, zeigt ein Blick in die Anfangsgeschichte dieses Denkens.
Aus der Geschichte der ästhetischen Erziehung
Im Humanismus erfolgte eine theoretische Grundlegung, in der die ästhetische Erziehung insofern als Grundlage und Kern aller Erziehung angesehen wurde, da nur durch die ästhetische Erfahrung der Mensch zur individuellen wie politischen Freiheit gelangen könne. Hier waren Ästhetik, Politik und Erziehung eng miteinander verbunden. Die Gründungsurkunde dieses Humanisierungsprogramms liefern Friedrich Schillers „Briefe zur ästhetischen Erziehung des Menschen“ von 1796 (Schiller 2009). Schillers Ausgangspunkt für diese Schrift war nicht etwa in erster Linie die Idee der Vermittlung einer Theorie des Schönen, sondern seine tiefe politische Verunsicherung, hervorgerufen durch die Entwicklungen im revolutionären Frankreich. Wie kann es geschehen, dass die ursprünglich humanen Ideen der Revolution sich nach kurzer Zeit dermaßen in unmenschliches Blutvergießen verwandeln? Und wie könnte eine solche Entwicklung für andere europäische Länder, denen Schiller ebenfalls das Ende feudaler Willkürherrschaft wünscht, verhindert werden? Schillers Antwort lautete, die Menschen seien noch nicht reif für die Errichtung eines vernünftigen Staates gleichberechtigter Menschen. Sie lebten in einer Zeit der Zerrissenheit und Selbstentfremdung, die es ihnen unmöglich macht, sowohl vernünftig ihr Leben und das der Gemeinschaft zu gestalten, als auch in Kontakt zu ihrer Sinnlichkeit und zu ihren Leidenschaften das Leben zu genießen und Glück zu empfinden. Versöhnung könne nur durch ästhetische Erziehung erfolgen, die nämlich den Menschen zum freien Spiel von Einbildungskraft, Sinnlichkeit und Vernunft befähige. Allein dadurch gelinge es, sich in eine Art Nullzustand zu versetzen, in dem Freiheit erfahrbar werden kann. Im ästhetischen Zustand könne man sich, so Schiller, der Welt noch einmal grenzenlos öffnen, indem man von dem durch Alltag, Pragmatik und Zweckrationalität geprägten Bestimmt-Sein gelöst ist. Gleichzeitig nehme man in die ästhetische Situation die Formkraft, die Fähigkeit zur Reflexion, zur distanzierenden Sicht auf die Dinge mit hinein, so dass man zur Aktivität bereit und fähig wird, die Freiheit erlangt, „der zu werden, der wir sein wollen“.
Gegen Ende seiner Schrift kommen Schiller allerdings starke Zweifel, ob sich die politische Freiheit durch den Zustand der ästhetisch erzeugten Freiheit tatsächlich einstelle oder ob es nicht vielmehr beim behaglichen Genießen des „schönen Scheins“ der Fiktionalität bleibe. Alle Kritik an Schillers Theorie setzt hier an (Parmentier 2004b), und die weitere Geschichte der bürgerlichen Ästhetik, die oft beschrieben wurde als eine Flucht aus dem öffentlichen und politischen Leben in einen privat-ästhetisierten Lebensstil, scheint Schillers Befürchtungen zu bestätigen (Menze 1980). Die hier erstmals gestellte Frage beschäftigt uns bis heute: Gibt es einen Übergang von der Ästhetik zur Ethik oder lassen sich beide Welten nur getrennt voneinander auffassen? In Schillers Theorie ist es Ziel der ästhetischen Erziehung, sich selbst als harmonische Persönlichkeit auszubilden und in Freiheit über sein Leben zu entscheiden, um dadurch auf humane Weise eine Veränderung der politischen Verhältnisse herbeizuführen. Dieses idealistische Konzept der europäischen Moderne findet sich auch heute noch in zahlreichen, wenngleich moderneren Vokabularien wieder. In der sogenannten Transferforschung (Rittelmeyer 2010) wird heute differentiell untersucht, ob ästhetische Erziehung auch der Intelligenzentwicklung, Sozialkompetenz, der Entwicklung von Ich-Stärke und der Ausbildung kreativer Kompetenzen diene (siehe Christian Rittelmeyer „Die Erforschung von Transferwirkungen künstlerischer Tätigkeiten“). Aus den Sonntagsreden zum Erhalt der öffentlichen Verantwortung für ästhetische Bildung sind solche Bezugnahmen auf außerästhetische Wirkungsfelder nicht wegzudenken.
Yvonne Ehrenspeck (1998) spricht in diesem Zusammenhang von den stets uneingelösten „Versprechungen des Ästhetischen“: „Dabei scheinen es mehr die ‚Versprechungen des Ästhetischen‘ selbst als deren tatsächliche Erfüllung zu sein, die ästhetische Erziehung so attraktiv erscheinen lassen. Es ist insofern gerade die Differenz zwischen Versprechungen und Umsetzungswirklichkeiten, die die Perpetuierungen der ‚Versprechungen des Ästhetischen‘ ermöglicht, wobei die jeweiligen ‚Versprechungen des Ästhetischen‘ zum Ausdruck dieser Differenz werden“ (Ehrenspeck 1998:290). Was hier über ästhetische Erziehung gesagt wird, lässt sich allerdings auch für Erziehungsprozesse generell behaupten, die ihre Ziele je aus Vorstellungen über die Zukunft der Heranwachsenden ableiten muss. In der Tat aber eignet sich das Feld der Ästhetik aufgrund seiner Offenheit und Polyvalenz besonders für die Formulierung von pädagogischen Versprechungen. Das Problematische an Schillers Utopie ästhetischer Erziehung ist jedoch nicht so sehr die Utopie und die vielleicht überzogene Hoffnung auf politische Veränderung, sondern vielmehr das implizite Menschenbild der harmonisch gebildeten Persönlichkeit. Der auf Autonomie und Selbstbestimmung zielende humanistische Bildungsbegriff ist inzwischen gründlich revidiert. So ist in der Bildungstheorie seit der Dialektik der Aufklärung, ist in den Kultur- und Sozialwissenschaften durch zahlreiche sozialgeschichtliche Studien, ist auch in den genderstudies der letzten Jahre die hegemoniale Geste dieses Humanisierungsideals entdeckt und dekonstruiert worden (vgl. Meyer-Drawe 2000), er eignet sich nicht mehr zur Begründungsfigur ästhetischer Erziehung.
Systematische Dimensionen ästhetischer Erziehung
Es muss nun darum gehen, den in den Einzeldidaktiken verwendeten engen Erziehungsbegriff einer Erziehung zur Kunst und einen weiten Begriff der Erziehung durch Kunst aufeinander zu beziehen (Bamford 2009), und zwar vorbehaltlich der im ersten Abschnitt erläuterten Selbstwidersprüchlichkeit. Die dabei entstehenden Schwierigkeiten ergeben sich aus dem Vorstehenden: Auf der einen Seite droht eine Überfrachtung der sozialen Praxis der ästhetischen Erziehung mit abstrakten politischen und moralischen Erwartungen oder mit Versprechungen an Persönlichkeitsbildung, die das Spezifische des Ästhetischen nur unzulänglich oder gar nicht in den Blick nehmen. Auf der anderen Seite droht durch bequemen Verzicht auf ein Konzept ästhetischer Erziehung eine Verharmlosung und Affirmation an eine kulturindustriell hervorgebrachte Massenkultur, die gerade das Gegenteil von Subjektivierung und Kritik konstituiert (Parmentier 1988).
Ästhetische Erziehung besteht in dem Bemühen um Befähigung zur Partizipation an ästhetischen Prozessen der Vergangenheit, der Gegenwart und Zukunft, die auf der Fähigkeit zur ästhetischen Erfahrung beruht. Sie bedarf der Anstrengung einer Arbeit an der Differenz zwischen Präsentation und Aneignung mit dem Ziel des theoretischen wie praktischen, rezeptiven wie produktiven, leiblichen wie kognitiven und historischen Nachvollzugs künstlerischer Prozesse. Als Objekt der Erziehung spitzt sich im Gegenstandsbereich der Ästhetik die Doppelstruktur der Erziehung als zur Reproduktion verpflichtende und zur Produktion freisetzende zu. Diese Spitze muss wie ein Stachel im Fleisch der ästhetischen Erziehung als Sparten-Propädeutik und Sinnesschulung virulent bleiben, will ästhetische Erziehung nicht in einer „fatalen Harmlosigkeit“ (Meyer-Drawe 2004) aufgehen, die alle Verbindung zu moralischer und politischer Verantwortung aufgegeben hat. Im Folgenden werden vier Dimensionen ästhetischer Erziehung vorgestellt, die in je unterschiedlicher Weise auf die angesprochenen Fragen Bezug nehmen.
Fingerfertigkeiten. Ästhetische Erziehung ist zunächst eine auf praktische Fähigkeiten ausgerichtete Vermittlung von Fertigkeiten. Auch im zeitlichen Sinn ist die tätige Zuwendung zu ästhetischen Materialien das erste, was Kinder betreiben. Sie erwerben im alltäglichen Umgang mit Klängen, Lauten, Farben, Stoffen oder Sprache praktische Fähigkeiten der Differenzierung und Gestaltung ihres Verhältnisses zur Welt. Sie erkunden über die Sinne einen spezifischen Zugang zu Wahrnehmungs- und Ausdrucksmöglichkeiten. Die fortschreitende Kenntnis und Beherrschung eines Instruments (allen voran die eigene Stimme, der eigene Körper), verschiedener Maltechniken oder das praktische Wissen darum, wie man eine Kugel oder einen Quader formt, befähigt die Kinder zur selbständigen Wahl der Mittel. Zu diesen praktischen Fähigkeiten gehören aber auch das aktive Hören und Sehen, Begreifen und Mitvollziehen von dargestellten ästhetischen Objekten, z.B. Kunstwerken. Ebenso zählt dazu die suchende Aufmerksamkeit, etwas als ein ästhetisches Objekt wahrzunehmen bzw. die ästhetischen Seiten eines Objektes aufzunehmen. Die Vermittlungsformen dieser Dimension sind zu großen Teilen mimetisch bestimmt und vollziehen sich sowohl im informellen wie im formalen Bezugsrahmen. Vermittelt wird dabei eine praktische Habitualisierung und Haltung dem je spezifischen Medium gegenüber. So spielt etwa in der Musikerziehung das geduldige Üben des Immer Gleichen eine größere Rolle als in der Kunsterziehung.
Alphabetisierung. Im Laufe des Lebens und Lernens lassen sich die tätigen Umgangsweisen mit ästhetischen Stoffen nur dann weiter ausdifferenzieren, wenn man Kenntnisse über ästhetische Symbolbestände und ihre Traditionen sammelt. Denn man muss Geschichten kennen, um sie aufführen zu können; man muss verschiedene Erscheinungs- und Gebrauchsweisen von Musik, Malerei oder Literatur kennen, um ihre Eigenheiten wert- und einschätzen zu können. Man muss (irgendwann) wissen, wie man z.B. Freude oder Traurigkeit ins Bild bringt, damit ästhetische Tätigkeit nicht beim Individuum stehen bleibt, sondern sich in die bestehende(n) Kultur(en) hinein entwickelt. An Ästhetik als einer kulturellen Praxis in einer komplex ausdifferenzierten und diversifizierten Sozialität kann nur partizipieren, wer auch kognitiv unterscheiden kann zwischen Herkünften, Bedeutungen, aber auch sozialen Funktionen und Machtgefügen, die den ästhetischen Einzelzeichen innewohnen und auf die sie verweisen. Zuständig für ästhetische Alphabetisierungsprozesse sind traditionell die Institutionen der Allgemeinbildung: Schule, Hochschule und Einrichtungen der Erwachsenenbildung geben in der Regel das kulturell gesammelte Wissen über die verschiedenen Künste weiter. Darüber hinaus übernehmen aber mehr und mehr die Kulturanbieter selbst diese Alphabetisierungskurse: In Gestalt von MuseumspädagogInnen, Gesprächs- oder Kinderkonzerten und Theaterworkshops bieten die Kulturinstitutionen Gelegenheiten zu die Rezeption begleitenden Verstehensbemühungen. Zentral an der Alphabetisierung bleibt allerdings die gesellschaftliche Selbstverpflichtung, sie in kontinuierlichen Lehrgängen für alle anzubieten und sich dessen nicht durch unregelmäßig verteilte Projektgelder zu entledigen.
Selbstaufmerksamkeit. Ästhetische Erfahrung beginnt bei der Sinneswahrnehmung, die selbst thematisch wird (vgl. Mollenhauer u.a. 1996). Ist dieser Schritt von der Wahrnehmung zur Wahrnehmung der eigenen Wahrnehmung vollzogen, begibt sich das Subjekt in einen Modus der Selbstaufmerksamkeit oder Selbstbegegnung, in dem es sich selbst und den Gegenstand auf andere Weise wahrnimmt als im Zustand der pragmatischen Welt- und Selbstzuwendung. Es befindet sich in einem Modus des fiktiven „als-ob“. Alltagssprachlich nähern wir uns dem Phänomen mit Worten wie Ergriffenheit, Gänsehaut oder „einfach nur total geil“. Alle meinen etwas ähnliches, nämlich die deutliche und gewisse Wahrnehmung, dass zwischen ästhetischem Medium und dem Ich-Selbst-Gefüge des Subjektes etwas Einzigartiges geschieht, gepaart mit einer Ahnung davon, dass dieses Geschehen nicht nur den Moment, sondern mehr betreffen könnte.
So gehört es zu den Vermittlungsbemühungen ästhetischer Erziehung, durch die Bereitstellung günstiger situativer Rahmenbedingungen eine Konzentration auf die eigene Sinnestätigkeit, die damit verbundene Leiblichkeit und die im ästhetischen Kontext entstehenden Empfindungen überhaupt zu ermöglichen. Dazu gehört das Anbieten und Gestalten geeigneter Räume (oder Ateliers, wie sie die Reggiopädagogik z.B. favorisiert) und Zeitstrukturen, die Störungen möglichst ausschließen. Dazu gehört das allmähliche Einüben in die je medienspezifischen Haltungen und Gewohnheiten: Musik und Tanz sind meist Gruppenaktivitäten, bei denen das Zuhören, Zusehen, Rücksichtnehmen eine besondere Rolle spielt. Malen, Basteln, (Vor-)Lesen hingegen sind eher individuelle, ruhige Tätigkeiten. Die Schule mit ihrem kulturellen Festgeschrieben-Sein auf die Funktion der Selektion hat es für diese Dimension ästhetischer Erfahrung schwerer als andere pädagogische Einrichtungen, die z.B. auf Bewertungen verzichten können.
Sprache. Schließlich gehört zur ästhetischen Erziehung, dass Heranwachsende befähigt werden, die ästhetische Erfahrung zu artikulieren, anderen und sich selbst darüber etwas mitzuteilen. Die ästhetische Erfahrung drängt zum Ausdruck; sie wird dadurch nicht nachträglich benannt, sondern sie wird in ihrer Artikulation allererst konstituiert. Das muss nicht immer wortsprachlich geschehen; die Wortsprache ist hier oft sogar besonders hilflos. Auch in weniger diskursiven, eher gestischen Ausdrucksweisen zeigt sich diese Dimension ästhetischer Erfahrung: gemalte Bilder werden gezeigt, auf dem Popkonzert werden begeisterte Blicke getauscht oder im Tanz gemeinsame Körperbewegungen aufeinander abgestimmt. Alle Formen des nach außen hin artikulierten Beeindruckt-Seins münden wiederum in eine Praxis der Verständigung über das Gesehene und Gehörte, deren Nuancenreichtum im Prozess der ästhetischen Bildung durchaus unterschiedliche Formen annehmen kann.
Alle vier Dimensionen müssen an der Konzeption ästhetischer Erziehung beteiligt sein und ineinander spielen, keine ist – auf Dauer – entbehrlich. Sie bedürfen je unterschiedlicher Anstrengungen durch die Pädagogik und sind auch unterschiedlich begrenzt in ihrer Machbarkeit. Im Ganzen besteht das Ziel darin, ästhetische Erziehung in einen Prozess ästhetischer Selbst-Bildung übergehen zu lassen. Die in Schulen arbeitende Tänzerin Wiebke Dröge (2009) bespricht den Punkt des „overtaking“ als denjenigen Zielpunkt ästhetischer Erziehung, an dem die AdressatInnen den ästhetischen Prozess selbst in die Hand nehmen und zu ihrem Produkt zu Ende führen. Dieser Punkt kann vielfach verfehlt werden. Ästhetische Erziehung wird so, will sie Anschluss halten zur aktuellen Kunstproduktion wie auch zum aktuellen Diskurs über Erziehung und ästhetische Bildung, im besten Sinne unbequem – wie gleichermaßen unverzichtbar.