Zur Ideengeschichte der „Prinzipien Kultureller Bildung“ im Praxisfeld der öffentlichen Musikschule

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von Hans-Joachim Rieß

Erscheinungsjahr: 2019

Peer Reviewed

Abstract

Die öffentliche Musikschularbeit steht im fundamentalen Zusammenhang mit den „Prinzipien Kultureller Bildung“. Hierzu skizziert der Autor die Vorgeschichte der kulturellen Bildungskonzeption und ihre spezifische Profilierung in der öffentlichen Musikschule. Ideengeschichtlich lassen sich die Ursprünge der „Prinzipien Kultureller Bildung“ in der Reformpädagogik, jeweiligen Reformbewegungen und dem musischen Erziehungsansatz auffinden. Die Etablierung öffentlicher Musikschulen ist indes eng mit der Verbreitung elementarer Musikpädagogik bis heute verbunden. Darin drückt sich eine Unterrichtsweise aus, die der Entwicklung des individuellen musikalischen Handlungsspektrums den Vorrang gegenüber der tradierten instrumentalen bzw. vokalen Ausbildung einräumt und damit zum didaktischen und methodischen Orientierungspunkt erhebt. Der Beitrag untermauert den gesellschaftlichen Bildungsauftrag der öffentlichen Musikschule, bei dem es um die Vermittlung einer fachlich fundierten Musikerziehung zur Ermöglichung der Persönlichkeitsbildung als Voraussetzung für eine ethisch ausgerichtete Gesellschaftsentwicklung geht. Das korrespondierende Inklusionserfordernis erweist sich dabei als Dreh- und Angelpunkt für die Teilhabe an musikalischer Bildung für alle, die zugleich auf die individuelle Befähigung der Einzelnen durch Kulturelle Bildung zur Verantwortungsübernahme für sich selbst und in der Gesellschaft zielt.

Einleitung

Die ideengeschichtliche Betrachtung der öffentlichen Musikschule in Deutschland erweist, dass ihre bisherigen und zukünftigen Ziele sowie Handlungsweisen im fundamentalen Zusammenhang mit der Kulturellen Bildung stehen. Max Fuchs bezeichnet diese als Allgemeinbildung, die sich an jeweiligen kulturpädagogischen Prinzipien orientiert (Fuchs 2008:111). Sie basiert auf einer humanistischen Bildungsvorstellung, wonach das Ziel menschlicher Entwicklung letztlich darin besteht, zu einem selbstwirksamen Individuum heranzureifen und dabei eine autonome Persönlichkeit und Verantwortungsbereitschaft heranzubilden, die außerdem bestehende gesellschaftliche Zwänge kritisch hinterfragen kann (20). Diese Bildungsvorstellung reicht über die schulisch vermittelte Allgemeinbildung hinaus, weil sie dem Menschen zudem Anlässe für die weitergehende selbstbestimmte Entfaltung und Entwicklung des individuellen Persönlichkeitsprofils sowie eines dem gemäßen Denk- und Handlungsrepertoires anbietet (Hentig 2004:9).

Die vorgestellten allgemeinen Bildungsaspekte sind wiederum in den folgenden „Prinzipien Kultureller Bildung“ aufgehoben:

  • Ganzheitlichkeit: Zusammenspiel von Kopf, Herz und Hand
  • Selbstwirksamkeit
  • Ästhetische und künstlerische Erfahrung
  • Stärkenorientierung und Fehlerfreundlichkeit
  • Freiwilligkeit
  • Interessenorientierung
  • Partizipation
  • Vielfalt erleben
  • Selbstgesteuertes Lernen in Gruppen
  • Öffentlichkeit und Anerkennung (Bielenberg 2007:48 / Fuchs 2008:127 / Schorn 2009:7)

Die „Prinzipien Kultureller Bildung“ beschreiben indes bestimmte Erziehungs-, Erfahrungs- und Lernprozesse, die zu entsprechenden Bildungseffekten führen können (Rieß 2019:54). Vor diesem Hintergrund ermöglicht musikalische Bildung eine spezifische Erschließung der Musikkultur, wobei die Weitergabe instrumentaler und vokaler Fähigkeiten zunächst nur ein Mittel für eine umfassende Persönlichkeitsbildung darstellt. Auf die öffentliche Musikschule übertragen folgt daraus, dass Instrumental- bzw. Vokalunterricht erst dann als Kulturelle Bildung zu verstehen ist, wenn er über die reine Vermittlung instrumenteller Fertigkeiten hinaus auch Anlässe bietet, die den Menschen zur aktiven Teilhabe an der Gesellschaft befähigen (ebd.:16).

Im Folgenden werden zunächst die Vorgeschichte der Kulturellen Bildungskonzeption und der korrespondierenden „Prinzipien Kultureller Bildung“ skizziert. Dem schließt sich eine Betrachtung ihrer Profilierung und ihres Niederschlags in der öffentlichen Musikschulidee an sowie der damit unmittelbar verbundenen Etablierung elementarer Musikpädagogik.

Vorgeschichte der Kulturellen Bildungskonzeption

Reformpädagogik als Multiplikator für kulturkritisches Denken

Zur Vorgeschichte der Kulturellen Bildungskonzeption gehört das auch im deutschen Sprachraum seit Beginn des 19. Jahrhunderts andauernde reformpädagogische Denken, welches die inhaltliche und praktische Ausgestaltung des Schulwesens bis heute begleitet (Oelkers 2005:35). Im Zuge einer damaligen Ausbreitung von Volksschulen samt Schulpflicht professionalisierten sich die Lehrkräfte durch ein systematischeres Nachdenken über das eigene Unterrichtshandeln, das infolge der voranschreitenden Industrialisierung zugleich ein wachsendes kulturkritisches Problembewusstsein beförderte. Dies führte im deutschen Schulwesen zur Abkehr von der einstigen starren, hauptsächlich theoretischen Wissensvermittlung (ebd.:30). Die reformpädagogische Unterrichtsweise strebte dagegen eine intensivere Orientierung an den realen lebensweltlichen Gegebenheiten und Persönlichkeitsprofilen der Schülerinnen und Schüler an, einschließlich der Vermittlung dem gemäßer Lerninhalte (ebd.:32). Dazu trugen außerdem die Anwendung der methodischen Grundsätze wie beispielsweise der Anschaulichkeit (35) und des Arbeitsunterrichts bei, die zu vermehrtem eigenschöpferischen Handeln anleiten sollten (ebd.:41). In diesem Zusammenhang stieg ebenso die Relevanz ästhetischer Bildung (ebd.:44) und körperlicher Kultivierung (ebd.:46).

Lebensphilosophische Weltanschauung der Reformbewegungen 

Der um sich greifende Modernisierungsprozess erschütterte sämtliche gesellschaftliche und wirtschaftliche Gegebenheiten in Deutschland (ebd.:29). Außerdem ließ der naturwissenschaftliche und technische Fortschritt den einstigen vernunftgeleiteten deutschen Idealismus verblassen, was letztlich zum Verlust einer vormals anerkannten schlüssigen Deutungsmöglichkeit für die gesamte Wirklichkeit führte. Stattdessen setzten sich jeweilige Weltanschauungen durch, die vorhandene Lebenserfahrungen ideologisch verabsolutierten (Schnädelbach 2013:23). Dabei entwickelte sich der irrational aufgefasste Lebensbegriff zum zentralen philosophischen Topos. Er bildete in den deutschen Reformbewegungen den gedanklichen Bezugspunkt auf ihrer Suche nach möglichst unverfälschten naturbezogenen Alternativen zur inhuman empfundenen technisierten Umwelt (ebd.:172). Im ausgehenden 19. Jahrhundert stellt ihre Ausbreitung zugleich eine Reaktion auf das Verschwinden traditioneller Lebensvollzüge infolge der sozialen Zersplitterung und Subjektivierung in den anwachsenden Industrierevieren dar (Kerbs/Linse 1998:155).

Die Reformbewegungen gingen auch in Opposition zur nun dominanten kapitalistischen Wirtschaftsweise und der aus ihr resultierenden, seelenlos erachteten Gesellschaftsform (Kolland 1979:14). Angetrieben durch zivilisatorische Skepsis und der absurd aufgefassten Alltagswirklichkeit suchten sie ihr Heil in der soziologischen Utopie lebendiger Gemeinschaftlichkeit. Diesem Bedürfnis folgten insbesondere die bildungsnahen kleinbürgerlichen Kreise, die sich zwischen den Polen geschichtlicher Rückwärtsgewandtheit und progressivem Zukunftsoptimismus bewegten. Ihre reformpädagogischen Bestrebungen richteten sich zumeist auf die kulturelle Emanzipation bzw. Selbstbestimmung des Menschen und die Festigung nationaler Volksgemeinschaft (ebd.:18). In den Reformbewegungen finden sich relevante Spuren und Einflüsse, die in den „Prinzipien Kultureller Bildung“ ihren Niederschlag gefunden haben, wie auch in einer damit korrespondierenden Musikerziehung. Mit dem späteren Rückgriff auf den musischen Erziehungsmythos stellten die betreffenden Reformbewegungen Ende der 1920er Jahre eine weitere gesellschaftskritische Antithese auf. Der rhythmusbezogene Konnex von Musik, Tanz und Sprache bot hierzu, in Verbindung mit dem gemeinschaftserzieherischen Aspekt wie auch der Bedeutsamkeit des Spiels und der persönlichkeitsbildenden Wirkung bewegungsbezogener Künste für die jugendliche Entwicklung, die wesentlichen Anknüpfungspunkte (Seidenfaden 1966:36).

Jugendmusikbewegung und die Renaissance der musischen Erziehungsvorstellung

Für die Jugendbewegung und der aus ihr hervorgegangenen Jugendmusikbewegung waren dabei Platons Erziehungsdenken und die hierin aufgezeigte unmittelbar ethisch-moralische Erziehungswirkung der Musik von besonderer Bedeutung (ebd.:16). Das Musische avancierte innerhalb der Reformbewegungen ebenso zum gemeinsamen Nenner, wie das daraus folgende Hineintragen der Künste in die Gesellschaft (Tetzner 1994:9). Währenddessen entwickelte sich die musische Erziehungsvorstellung zu einem Bildungsansatz, der nun für eine Palette differenzierter kulturpädagogischer Praxen stand. Die Nationalsozialisten vereinnahmten die musische Bildung für die körperliche Ertüchtigung einschließlich Indoktrination einer rassistischen Diktatur und Kriegsbereitschaft, zu der eine entsprechend ausgerichtete Musikerziehung in besonderem Maße beizutragen hatte (ebd.:10). Nach Kriegsende nahmen verschiedene musisch geprägte Gruppierungen, darunter auch einige der Jugendmusikbewegung, erneut ihre Arbeit auf und schlossen sich zur Arbeitsgemeinschaft für Musikerziehung und Musikpflege (AGMM) zusammen, um den Wiederaufbau und die Fortschreibung musikalischer Bildung in Schule, Jugendarbeit, Volksmusik und Berufsausbildung vorantreiben zu können (Arbeitsgemeinschaft für Musikerziehung und Musikpflege 1953:16)

Adornos Kritik an der Jugendmusikbewegung und ihrer musischen Erziehungsideologie

In diesem Zusammenhang ist auch Theodor W. Adornos Ideologievorwurf zu sehen, mit dem er sich gegen die unkritische musische Tradition der Jugendmusikbewegung und ihrer Nachfolger wandte (Adorno 1956:69). Er warf ihnen blinden musikalischen Aktionismus im Bereich der Laienmusik vor und widersprach der Ansicht, dass es sich hierbei um ein menschliches Grundbedürfnis handle (ebd.:62). Außerdem monierte Adorno die erkennbare geschichtliche Rückwärtsgewandtheit und die somit fehlende Anerkennung der gesellschaftlichen Realität. Utopisch erschien ihm dabei insbesondere, dass von der Musikerziehung und der damit weiterhin transportierten Gemeinschaftsideologie ein positiver Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung ausgehen könnte (ebd.:63). Diesbezüglich würden, wenn überhaupt, nur die autonome Kunst und ihre Eigengesetzlichkeit wirksam sein können. In dieser Hinsicht müsse die Musikpädagogik Adorno zufolge tatsächlich zum Verständnis von Musik beitragen und deshalb eine angemessene Ausübung ihrer wesentlichen Werke vermitteln (ebd.:115).

Hierzu gehört laut Adorno ausdrücklich die Entwicklung musikalischer Vorstellungskraft, die in eine sinnliche Erfahrung führt (ebd.:76). Elementare Musikerziehung muss daher die Kinder von Anbeginn als Musikerinnen und Musiker respektieren und zur Aneignung musikalischer Kunstwerke emanzipieren (ebd.:111). Dabei gilt es, den Dualismus von erzieherischen und künstlerischen Belangen produktiv ausgestalten zu können (ebd.:114). Dem folgend bezeichnete Adornos profilierter Gegenredner Wilhelm Twittenhoff Bildung grundsätzlich als das Ergebnis einer Erziehung, in der sich die Autonomie des Menschen und der Kunst stets gleichberechtigt begegnen (Twittenhoff 1961:141). Dazu verwies er schließlich auf die neuen Jugendmusikschulen als bildungsrelevanter Einrichtungen, die indes mit ihrem musikalischen Leistungsanspruch und dem nicht minder schülerinnen- und schülerorientierten Musizieren lernen über die einschlägigen künstlerischen Ausbildungsziele hinausreichen (Twittenhoff 1966:167).

Die vorgenannte AGMM schloss indes auch eine Allianz mit dem Arbeitsausschuss zur Förderung von Musik, Spiel und Tanz. Diese setzte sich bundesweit für die Förderung und den Ausbau musischer Jugendbildung ein, in deren Mittelpunkt zunächst eine zeitgemäße Musikerziehung stand (Arbeitskreis Junge Musik 1954:o.S.). Danach bezog der Arbeitsausschuss weitere Kultursparten wie darstellendes Spiel, Film, Foto und bildnerisches Gestalten ein sowie den korrespondierenden Bereich der Jugendpflege. Das generelle Erziehungs- und Bildungsziel bestand dabei in der Persönlichkeitsentfaltung als grundlegender Voraussetzung für einen gelingenden Lebensvollzug, in dem der Mensch selbstbestimmt und kritikfähig in Beziehung zur Welt und zu seinem unmittelbaren Umfeld treten kann (Arbeitsausschuss zur Förderung von Musik, Spiel und Tanz in der Jugend 1957:2). Während der 1960er Jahre wurde die so geartete musische Bildung zum wesentlichen Faktor für die freiheitliche demokratische Gesellschaftsentwicklung bestimmt, bei der erst die Ausgewogenheit von kognitiver und emotionaler Dimensionalität zu lustbetonter Leistungsbereitschaft und Verantwortungsübernahme führen kann (Bundesvereinigung Musische Jugendbildung e.V. 1966:164). Ab den 1970er Jahren setzte sich hierfür schließlich die Bezeichnung Kulturelle Bildung durch, die heute zwischen allgemeiner Bildung unter Anwendung kulturpädagogischer Methoden, künstlerischer Ausbildung und beruflicher Qualifikation entsprechender Vermittlerinnen und Vermittler differenziert (Deutscher Kulturrat 2005:11).

Herausbildung der „Prinzipien Kultureller Bildung“ und ihr Niederschlag in der öffentlichen Musikschulidee

Ideengeschichtlich lassen sich die Ursprünge der „Prinzipien Kultureller Bildung“ also in der Reformpädagogik und dem später wiederkehrenden musischen Erziehungs- bzw. Bildungsansatz auffinden. Beides wurde von einer Reihe korrespondierender Reformbewegungen in die Praxis umgesetzt. Dazu zählen die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert agierende Kunsterziehungsbewegung und die zur gleichen Zeit bestehende Volksbildungs- und Volkshochschulbewegung ebenso wie die Landerziehungsheimbewegung. Ferner gehören die Jugendbewegung sowie die Rhythmus- und Tanzbewegung dazu, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts formierten, wie auch die in der Zwischenkriegszeit zeitgleich auftretende Sozialpädagogische Bewegung und die Jugendmusikbewegung (Rieß 2019:97). In den Zielen der aufgeführten Gruppierungen finden sich bereits wesentliche Aspekte, die später im Rahmen der öffentlichen Musikschulkonzeption zusammengeführt und von ihr spezifisch weitergetragen wurden. Dies bezieht sich u. a. auf die Idee

  • aktiver ästhetischer Jugendbildung und den damit verbundenen erlebnispädagogischen Ansatz sowie die Forderung einer zugangsfreien künstlerischen Breitenarbeit, die von der Kunsterziehungsbewegung stammt. Gleiches gilt für die Anleitung zum bewussten Singen und Hören und die Förderung musikalischer Selbsttätigkeit durch möglichst qualifizierte Fachlehrkräfte (Kolland 1979:105).
  • vertiefender Vermittlung von allgemeiner Bildung in der Bevölkerung, die über die einschlägigen Unterrichtsinhalte der Schulen hinausgeht. Die Volksbildungs- und Volkshochschulbewegung erweiterte hierfür das Bildungssystem durch die Schaffung eigenständiger öffentlicher Einrichtungen, die wiederum auch Pate für eine institutionalisierte, außerschulische, musikalische Volksbildung standen (Reimers 1998:358).
  • reformpädagogisch orientierter Musikerziehung im Rahmen einer fachlich übergreifenden Unterrichtsstruktur, die in der Landerziehungsheimbewegung entwickelt wurde (Kolland 1979:123).
  • gemeinschaftlichen Singens und Musizierens wie auch der Aspekte diesbezüglicher Selbstbestimmung und Selbstverantwortung, die von der Jugendbewegung transportiert wurden (Kolland 1979:26).
  • elementarer Musikerziehung, die von der Rhythmus- und Tanzbewegung in Form einer kombinierten Bewegungserziehung einschließlich Gehör- und Stimmbildung sowie Improvisation ausgearbeitet wurde (Jaques-Dalcroze 1921:72).
  • zugangsfreier kind- und jugendgerechter Bildungsangebote, für die sich die Sozialpädagogische Bewegung mit den Prämissen der Selbsterziehung und der Selbstentfaltung einsetzte (Kolland 1979:103).
  • versierter laienmusikalischer Breitenarbeit durch chorisches Singen und Musizieren, die zugleich als demokratisierender bzw. volksbildnerischer Kontrapunkt zur gesellschaftlich ausgrenzenden Berufsmusik verstanden wurde. Die Jugendmusikbewegung reagierte damit auch auf den diesbezüglich unzureichenden schulischen Musikunterricht und die finanziell bedingte Selektivität der privaten instrumentalen bzw. vokalen Unterrichtsangebote (Jöde 1924:15).

Vordenker und Ideengeber für die öffentliche Musikschularbeit

In die Reihe der wesentlichen Vordenker und Ideengeber für die öffentliche Musikschularbeit gehören Hermann Kretzschmar, Leo Kestenberg und Fritz Jöde. Sie fanden zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Regel nur chorischen Singunterricht in den allgemeinbildenden Schulen sowie das selbst zu finanzierende Angebot instrumentaler und vokaler Ausbildung von privaten Unterrichtsanbietern vorfanden. Hierzu zählten u. a. Einzelpersonen, Institute und Unterrichtsanstalten. Außerdem gab es bestenfalls noch Gelegenheit zur musikalischen Betätigung in laienmusikalischen Vereinigungen. Das daraus resultierende Dilemma einer unzureichenden aktiven Musizierpraxis in der Bevölkerung stieß nun Überlegungen zur Einrichtung von öffentlichen Musikschulen an. Diese sollten, versehen mit dem Auftrag musikalischer Volksbildung, zugleich die Qualität des schulischen Musikunterrichts verbessern, wie auch die finanziell bedingte Selektion beim Zugang zu einer möglichst umfassenden Musikerziehung abbauen.

Hermann Kretzschmar und der Ausbau musikalischer Volkserziehung

Allen voran lieferte Kretzschmar in seinen 1903 veröffentlichten Aufsätzen über das musikalische Zeitgeschehen schon die bestimmenden Ausgangspunkte, die von seinen Nachfolgern in jeweils unterschiedlicher Gewichtung übernommen und modifiziert wurden. Kretzschmar verdeutlichte, dass die Musikwissenschaft und das musikberufliche Ausbildungswesen prinzipiell zur Förderung einer fundierten musikalischen Volkserziehung verpflichtet seien, da sich die Qualität der Musikpflege und das Ausmaß musikalischer Befähigung der Allgemeinheit gegenseitig bedingen (Vetter 1989:1770). Hierzu bedarf es einer entsprechenden musikpolitischen Steuerung (Kretzschmar 1903:132). Zugleich warnte Kretzschmar sowohl vor einer geistigen Überfrachtung der Musik als auch vor ihrer dilettantischen Trivialisierung. Er favorisierte demgegenüber eine sachlich-kritische Haltung, die zugleich die künstlerische Freiheit der Musik angemessen in den Dienst des Menschen stellt (ebd.:103).

Ausgehend von einer unmittelbaren ethisch-moralischen Wirkungsweise der Musik forderte Kretzschmar erzieherisch und künstlerisch befähigte Musikerinnen und Musiker, die ein solides und zugleich authentisches Musizieren vermitteln können (ebd.:22). Kretzschmar erhob den Musikunterricht der Volksschulen zu einem zentralen kulturellen Entwicklungsfaktor für die damalige Gesellschaft, der folglich die musikalischen Grundlagen für die weiterführende künstlerische Unterweisung im privaten Musikunterricht schaffen müsse. Dort würden dann die Laienmusikerinnen und -musiker ausgebildet, um sie ggf. zur beruflichen Ausbildung am Konservatorium überleiten zu können. In diesem Zusammenhang beklagte Kretzschmar, dass der skizzierte musikalische Ausbildungsweg bisher nur einer Minderheit offen stand, die sich den erforderlichen kostenpflichtigen Privatunterricht finanziell leisten konnte. Hierzu erhoffte er sich bereits möglichst kostenlos zu besuchende Singschulen, in diesem Fall bislang nur für erwachsene Mädchen, und Singkurse im weiterführenden Schulwesen (ebd.:38).

Ferner monierte Kretzschmar die eingetretene Unterscheidung zwischen Laienmusizieren und musikberuflicher Ausbildung (ebd.:40). Problematisch erwies sich für ihn die verlorengegangene Praxis des Ensemblemusizierens (ebd.:41) und die daraus resultierende fachliche Dominanz von Klavier- und Gesangsunterricht, der zudem nicht mehr möglichst umfassend befähigte Musikerinnen und Musiker zum Ziel hatte, sondern den instrumentaltechnischen Perfektionismus favorisierte (ebd.:43). Diesem Dilemma wollte Kretzschmar durch eine vorbereitende Musikerziehung einschließlich Gehörbildung im schulischen Gesangsunterricht begegnen, die zugleich als unabdingbare Zugangsvoraussetzung für den Klavierunterricht und für jeglichen Instrumental- und Vokalunterricht überhaupt zu gelten hatte (ebd.:48). Diesbezüglich verwies Kretzschmar auch auf die spezifische Arbeitsweise der einschlägigen Musikschulen, die bei ihren Schülerinnen und Schülern, im Unterschied zu den privaten Musiklehrkräften, durch die Organisation gemeinsamer Lernmöglichkeiten und das vielfältigere Unterrichtsangebot eine weiterreichende Auseinandersetzung mit Musik anstießen (ebd.:61). Allerdings sollte in den betreffenden Musikschulen nicht mehr das künstlerische Virtuosentum verabsolutiert werden, für das ohnehin nur 10% der Schülerinnen und Schüler infrage kamen, sondern die selbstbewusste Lehrkraft zur Vermittlung einer versierten musikalischen Volkserziehung. Schließlich forderte Kretzschmar sämtliche Musikerinnen und Musiker zum politischen Zusammenschluss auf, um mit möglichst einer Stimme für die Verbesserung der aufgezeigten Missstände wirksam eintreten zu können (ebd.:65).

Leo Kestenbergs musikalische Bildungsreform unter demokratischen Vorzeichen

Kretzschmars Überlegungen finden sich später in Leo Kestenbergs musikalischer Bildungsreform wieder. Vor dem Hintergrund der angestrebten Demokratisierung von Kunst und Kultur betonte auch er zugleich die gesellschaftspolitische Bedeutung von musikalischer Erziehung, die nun im Rahmen einer reformpädagogisch ausgerichteten Volksbildung zum Tragen kommen sollte (Kestenberg 1952:72). Kestenberg bezeichnete mit der von ihm propagierten Erneuerung der Schulmusik übrigens nicht nur den Musikunterricht an den Schulen im engeren Sinn, sondern die Vermittlung allgemeiner Musikerziehung in allen Bildungseinrichtungen, einschließlich Kindergarten, Volkshochschule und Universität. Den Terminus Musikschule verwendete er demgegenüber als Oberbegriff für die freie Musikpflege in der privaten Musikerziehung, der Volksmusikschule und in den beruflichen Ausbildungsinstituten (Kestenberg 1921:91). Kestenberg sah eine zugleich ethisch und künstlerisch ausgerichtete Musikausübung als unerlässliches Mittel für die menschenwürdige Prägung der Allgemeinheit an. Dieser gesellschaftlichen Verantwortung war aber das Bildungssystem bisher nicht gerecht geworden.

Die Musiklehrkräfte mussten daher befähigt werden, gleichermaßen die künstlerischen und persönlichkeitsbezogenen Anlagen entsprechend den Bedürfnissen der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen zur Entfaltung bringen zu können (ebd.:28). Hierzu war eine umfassend zu strukturierende Fachausbildung somit unerlässlich (ebd.:45). Außerdem beklagte Kestenberg den Verlust des einstig verbreiteten Volksliedsingens im alltäglichen Lebensvollzug, das einem zwar ausdifferenzierten, aber für viele zugleich ausschließenden Musikbetrieb gewichen war (ebd.:28). Das in dieser Hinsicht wiederkehrende Musikalisierungsbedürfnis in der gesamten Bevölkerung unterlag allerdings zu sehr merkantilen Interessen. Die Autonomie der Musikkultur sollte deshalb durch eine öffentlich zureichend geförderte Musikpflege gewährleistet werden (ebd.:29). Kestenberg strebte hierbei eine methodisch voranschreitende musikalische Volksbildung an, die zunächst mit der elementaren Musikerziehung in den Kindergärten und Volksschulen zu beginnen hätte (ebd.:31). Zu ihren wesentlichen Inhalten gehörten prinzipiell die rhythmische Gymnastik in Verbindung mit Gehörbildung und Improvisation, sowie das Singen von Kinderliedern und weiteren musikalischen Spielformen (ebd.:34).

Die damit angestrebte Förderung musikalischer Wahrnehmungs- und Ausdrucksfähigkeit sollte auch den Musikunterricht der Volksschulen über das einfältige Chorsingen hinaus zu einer umfassenderen Musikerziehung erweitern (ebd.:37). Gleiches galt für die weiterführenden Schulen, deren primär theoretische Vermittlung von Musik und ihren kulturellen Bezügen durch tatsächliches musikalisches Erleben zu untermauern war (ebd.:42). Vor dem Hintergrund des musikbezogenen Volksbildungsgedankens maß Kestenberg ebenso der Volkshochschule eine wichtige Aufgabe bei, da sie, versehen mit öffentlicher finanzieller Unterstützung, allen offenstand, die ihre schulischen Kenntnisse, gleich welcher Art, erweitern oder ergänzen wollten. Dort sollten musikalische Übungen und Vorträge im Rahmen von Arbeitsgemeinschaften systematisch zu einem kritikfähigen Umgang mit dem Musikleben führen (ebd.:53).

Dem folgend schlug Kestenberg außerdem den Ausbau von Volksmusikschulen im Sinne einer altersübergreifenden musikalischen Volkshochschule vor, die somit eine fachlich und künstlerisch vertiefende Musikerziehung für besonders interessierte Kinder, Jugendliche und Erwachsene anbietet. Damit beabsichtigte er einen möglichst breit angelegten Zugang, der zur qualitativen Verbesserung der Musikausübung in der gesamten Bevölkerung beiträgt, einschließlich spezifischer Förderung besonderer Begabungen (ebd.:66). Mit der Volksmusikschule, die sich je nach örtlichen Gegebenheiten am Modell der rhythmisch-gymnastischen Schule Jaques-Dalcrozes (ebd.:71) oder der Augsburger Singschule Albert Greiners (ebd.:68) orientieren sollte, aber ebenso in der Form einer reinen Instrumentalschule (ebd.:69) ausgestaltet sein konnte, richtete sich Kestenberg auch an jene sozialen Schichten, denen bislang die Teilhabe an einer derartigen Musikerziehung in der Regel verwehrt war (ebd.:66).

Fritz Jödes Streben nach musikalischer Breitenarbeit

In seinen theoretischen Ausführungen zur Musikschule für Jugend und Volk forderte Fritz Jöde den konstruktiven Zusammenschluss aller musikbezogenen Tätigen, um die Musikpflege zur kulturellen Entwicklung des Deutschen Volkes bestmöglich voranbringen zu können (Jöde 1924:7). Nicht nur mit diesem Gedanken steht er offensichtlich in Kretzschmars Tradition, sondern auch mit dem gleichzeitigen Hinweis auf die gänzlich fehlende oder zumindest qualitativ unzureichende aktive Musikausübung in weiten Bevölkerungsteilen (ebd.:19). Von der Idee der Gemeinschaftsmusik ausgehend unterstellte Jöde dabei, dass die Vertreterinnen und Vertreter aller Musikberufe bereits die Organisation einer entsprechenden Initiative erwarteten, die sie zudem von ihrer bisherigen beruflichen Isolierung befreien könnte (ebd.:7). Er beanstandete ferner die inflationäre Zunahme des passiven Musikkonsums in der Bevölkerung, dem aber noch ein ursprüngliches Bedürfnis zum eigenen Singen gegenüberstand. Dies belege allen voran die Jugendbewegung mit ihrem Wunsch nach Selbstentfaltung, der sich besonders in der gemeinschaftlichen Pflege des deutschen Volksliedgutes zeige (ebd.:23).

Hiermit eröffnete sich nach Jödes Ansicht ein zielführender Weg zur Hebung der musikalischen Volksbildung, die das Schulwesen, beides wieder ganz in Kretzschmars Sinne, in besonderer Weise voranzubringen habe. In diesem Zusammenhang hielt er allerdings Kestenbergs Forderung einer gleichermaßen vokalen und instrumentalen Musikerziehung in der Schule bestenfalls auf lange Sicht erfüllbar. Deshalb forcierte Jöde den Rückgriff auf die bereits bestehenden musikalischen Aktivitäten der Jugendorganisation und Musikkreise sowie der Volkshochschulen und der verschiedenartigen Volksmusikschulen (26). Allerdings bedurfte gerade der Jugendbereich einer über den bisherigen schulischen Musikunterricht hinausgehenden musikerzieherischen Anleitung, für die sich aber der kostenintensive Privatunterricht und seine primär instrumentaltechnisch ausgerichteten Ausbildungsziele nicht eigneten (ebd.:28). Die folglich anzustrebende musikpädagogische Weiterentwicklung war nach Jödes Überzeugung nur durch die konstruktive Zusammenarbeit von Musiklehrkräften sowie Berufsmusikerinnen und -musikern im Rahmen der Musikhochschule voranzubringen (ebd.:37).

Jugendmusikschulen und Volksmusikschulen als institutionelle Dreh- und Angelpunkte für die musikalische Volksbildung

Darum plädierte er für die dortige Angliederung einer Jugendmusikschule, in der die angehenden Schulmusiklehrkräfte ihre Unterrichtspraxis an der Schnittstelle zwischen schulischer und außerschulischer Musikerziehung einüben konnten. Diese sollte zudem für musikinteressierte Kinder aus allen sozialen Schichten frei zugänglich sein und daher auch über weitere, fachlich begleitete Dependancen im Stadtgebiet und der Region verfügen (ebd.:38). Dazu gehörte ebenso die korrespondierende Einrichtung von Volksmusikschulen für die berufstätigen Jugendlichen und Erwachsenen (ebd.:40). Ähnlich wie Kestenberg betrachtete Jöde die Jugendmusikschule und die Volksmusikschule als institutionelle Dreh- und Angelpunkte für die musikalische Volksbildung. Dort favorisierte er den Singunterricht und die Hinführung zu dessen instrumentaler Begleitung. Die angebotene Unterweisung in den Streicherfächern oder auf Flöte, Laute und Klavier war allerdings nur ausgewählten begabten Schülerinnen und Schülern vorbehalten. Zur Unterrichtsstruktur gehörte der vorhergehende obligatorische Besuch des elementaren Musikunterrichts auch unter Anwendung einer von Jöde eigens entwickelten Melodielehre einschließlich Rhythmik, Gehörbildung und Musiktheorie (ebd.:42).

Das musikpraktische Gesamtziel bestand im chorischen Vokal- und Instrumentalmusizieren. Auf der Basis eines fachlich übergreifenden musischen Erziehungsansatzes, der den Menschen mit seinen Bedürfnissen in den Mittelpunkt des Geschehens stellt, entwickelte sich die Jugendmusikbewegung gewissermaßen zum zivilgesellschaftlichen Partner und Multiplikator von Kestenbergs beabsichtigter Musikalisierung der Bevölkerung. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass Kestenberg die angestrebte musische Erziehung ausdrücklich mit einer profilierten künstlerischen Musikausbildung bzw. -ausübung verband, während die Jugendmusikbewegung damit in erster Linie ihre Anschauung der Gemeinschaftsmusik transportierte. Kestenbergs vorgeschlagene Einrichtung von Volksmusikschulen wurde dabei von Jöde und seinen Musikantengilden in eigener Weise realisiert. Die unterschiedlichen Vorzeichen lassen sich bereits an der Art und Weise der hierzu vorgesehenen Lehrkräfteausbildung ablesen. Jöde griff auf beruflich bereits qualifizierte Volksschullehrkräfte und private Musiklehrkräfte zurück, die unter seiner Federführung zunächst an der Akademie für Kirchen- und Schulmusik in Berlin Charlottenburg im Rahmen einer zweisemestrigen Weiterbildung mit der Methodik gemeinschaftlicher Musikerziehung vertraut gemacht wurden.

Kestenberg initiierte an der Berliner Musikhochschule hingegen ein Seminar für Musikerziehung, das die grundständige und vor allem fachlich umfassendere Ausbildung von Lehrkräften vorsah (Rieß 2019:366). Diese reichte von einer nach neuesten Erkenntnissen ausgerichteten elementaren Musikerziehung bis hin zur künstlerischen instrumentalen und vokalen Ausbildung, einschließlich ausgiebiger Unterrichtspraxis. In diesem Zusammenhang ist Kestenbergs ursprüngliche Idee einer eigenständigen musikpädagogischen Akademie samt Forschungsabteilung bis heute relevant geblieben (ebd.:367).

Elementare Musikpädagogik als Ausformung der „Prinzipien Kultureller Bildung“ in der öffentlichen Musikschularbeit

Die Etablierung öffentlicher Musikschularbeit ist seither eng mit der Verbreitung und zunehmenden Ausdifferenzierung elementarer Musikerziehung bis heute verbunden. Darin drückt sich eine neuzeitliche Unterrichtsweise aus, die der Entwicklung des persönlichen, musikalisch-künstlerischen Handlungsspektrums nicht nur den Vorrang gegenüber der instrumentalen Ausbildung einräumt, sondern sie darüber hinaus zu ihrem didaktischen und methodischen Orientierungspunkt erhebt. Darin ist auch die musische Erziehungsidee von Anbeginn als Impulsgeber zu verstehen, welche kulturelle Ausdrucksformen, wie beispielsweise Musik, Bewegung, Sprache und weitere bildnerische Künste, miteinander verbindet. Leo Kestenberg forderte hierzu im Vorschulbereich die prinzipielle Verknüpfung von Jaques-Dalcrozes rhythmischer Erziehung mit Fröbels Erkenntnissen über das kindliche Lernen. Damit stießen er wie auch Fritz Jöde die Ausweitung des einfältigen Chorsingens in den Volksschulen hin zu einer umfassenderen Musikerziehung an (Rieß 2019:374). In den nationalsozialistischen Musikschulen für Jugend und Volk gehörte die elementare Musikerziehung zum Unterrichtsangebot der Vorschule für Kinder ab sechs Jahren.

Professionalisierung der elementaren Musikerziehung

Daran knüpften die in der Nachkriegszeit wiedererrichteten Jugendmusikschulen an und entwickelten hierzu einen ausführlichen Lehrplan für die Musikalische Grundausbildung (MGA). Gegen Ende der 1960er Jahre geriet die MGA wie auch die darin aufgehobene elementare Musikerziehung in einen Widerstreit zwischen der Funktionalisierung zum bloßen Zubringer sowie zur Auslese von Hochbegabungen für die Instrumental- bzw. Vokalausbildung und der fachlichen Emanzipation als eigenständigem musikalischen Erziehungsziel. Mitauslöser war auch das zunehmende Interesse an frühkindlicher Bildung und die damit einhergehende Entwicklung der Musikalischen Früherziehung (MFE). Diese entsprach im Wesentlichen der bereits bekannten elementaren Musikerziehung, richtete sich aber an die Kinder im Vorschulalter ab vier Jahren. Letztlich wurden die Fächer Musikalische Früherziehung und Musikalische Grundausbildung zur Grundstufe der öffentlichen Musikschulstruktur zusammengeführt.

Die frühe musikalische Erziehung trägt sowohl zur Entfaltung der musikalischen Fähigkeiten und Fertigkeiten als auch zur gesamten Entwicklung des Kindes bei. Da gerade auf diese Weise Kinder aller Bevölkerungsgruppen angesprochen werden können, hat der Grundstufenbereich der öffentlichen Musikschule eine besondere kulturpolitische Bedeutung. Ihr elementares Unterrichtsangebot zeichnet sich im Vergleich zum Musikgeschehen in den Kindertagesstätten und dem Musikunterricht in den Grundschulen vor allem durch die Ermöglichung einer persönlich emanzipierenden sowie musikalisch und künstlerisch vertiefenden Musikerziehung aus. Im Zuge der zwischenzeitlich innerhalb und außerhalb der öffentlichen Musikschularbeit erfolgten fachlichen Professionalisierung etablierte sich hierfür schließlich der heutige Terminus Elementare Musikpädagogik (EMP), unter dem verschiedenartige elementare Musikerziehungsansätze wie auch spezifische Vorgehensweisen für sämtliche Altersgruppen vom Kleinkind bis zu den Senioren subsumiert werden (ebd.:375).

VdM Bildungsplan Musik für die Elementarstufe / Grundstufe der öffentlichen Musikschulen

Die skizzierte Entwicklung von der elementaren Musikerziehung zur Elementaren Musikpädagogik mündete 2010 in den aktuellen Bildungsplan Musik für die Elementar- bzw. Grundstufe der öffentlichen Musikschulen (Verband deutscher Musikschulen 2010a). Michael Dartsch stellt darin einen bildungsbezogenen Verständnisrahmen voran, der unter Bezugnahme auf die Aspekte von Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmung, Interessen- und Stärkenorientierung sowie selbstgesteuertem Lernen und Ganzheitlichkeit wie auch ästhetischer und künstlerischer Erfahrung offensichtlich mit den „Prinzipien Kultureller Bildung“ korrespondiert. Gleiches gilt für die außerdem angeführten kommunikations-, identitäts-, emotions- und kontemplationsbezogenen Erziehungsperspektiven. Durch das daraus abzuleitende gesellschaftliche Erfordernis einer möglichst breiten Teilhabe an umfassender musikalischer Bildung erhalten insbesondere die Kooperationen von öffentlichen Musikschulen und Grundschulen eine erheblich zunehmende Relevanz. Hierbei empfiehlt sich eine Partnerschaft, die den schulischen Musikunterricht durch eine vielfältige Musizierpraxis im Rahmen elementarer Musikpädagogik erweitert und somit auch den Übergang zum späteren Instrumental- und Vokalunterricht eröffnet.

Fachliches Zusammendenken des Musikunterrichts von allgemein bildender Schule und öffentlicher Musikschule im Ganztag

Vor dem Hintergrund der aufzeigten gemeinsamen Wurzeln des schulischen Musikunterrichts und der öffentlichen Musikschularbeit schließt sich an dieser Stelle somit ein musikpädagogischer Gedankenkreis. Beide haben seither neben- und miteinander die elementare Musikerziehung entsprechend ihrer spezifischen institutionellen Maßgaben etabliert und verbreitet. Damit waren stets Fragen der organisatorischen und fachlichen Koordination des jeweiligen Unterrichtsgeschehens verbunden, die mittlerweile ebenso im Rahmen ganztägiger Schulformen beantwortet werden müssen. In diesem Zusammenhang sind auch zwischenzeitliche Veröffentlichungen des Deutschen Musikrates, der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung oder des Verbands Deutscher Schulmusiker zu sehen, denen zufolge das Schulfach Musik in die generellen Erscheinungs- und Ausdrucksformen der Musik einführt, während die öffentliche Musikschule nur eine vertiefende Vokal- bzw. Instrumentalausbildung anbietet. Hierbei erscheint die öffentliche Musikschule lediglich als ergänzender Kooperationspartner für den reinen instrumentalen und vokalen Ausbildungsbereich. In Anbetracht des vorgestellten Kulturellen bzw. allgemeinen Bildungsverständnisses ist diese fachliche Reduzierung jedoch überholt (ebd.:376).

Seit den 2000er Jahren zwingt die erhebliche Zunahme von Ganztagsschulen noch mehr zur organisatorischen und fachlichen Abstimmung zwischen Schulmusik und öffentlicher Musikschularbeit. Angesichts der „Prinzipien Kultureller Bildung“ sollte dabei unbedingt die Chance zur Schaffung eines gemeinsamen Lernraums für eine umfassende und selbstbestimmte Musikerziehung genutzt werden, der folglich keiner schulischen Zweckbestimmung unterliegt. Hierfür bedarf es allerdings der Ausarbeitung gleichermaßen fachlich, organisatorisch und schulrechtlich fundierter Konzeptionen, die eine konsistente und Institutionen übergreifende Musikerziehung erlaubt (ebd.:377).

Ausblick

Die Entwicklung der öffentlichen Musikschularbeit beinhaltet seit jeher eine doppelte Aufgabenstellung: die Vermittlung einer fachlich fundierten Musikerziehung für alle Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen und die damit verknüpfte Ermöglichung der Persönlichkeitsbildung als Beitrag für eine ethisch ausgerichtete Gesellschaftsentwicklung. Mit Ausnahme der völkischen und rassistischen Verkehrung dieses Grundgedankens in den nationalsozialistischen Musikschulen für Jugend und Volk haben Hermann Kretzschmar, Leo Kestenberg, Fritz Jöde sowie Wilhelm Twittenhoff diesen mit ihren jeweils propagierten öffentlichen Musikschulkonzeptionen verfolgt und stets aktiv kulturpolitisch untermauert. In den vergangenen 50 Jahren zog sich die öffentliche Musikschule im Verband deutscher Musikschulen (VdM) jedoch sehr auf die fachliche Fundierung ihres Musikunterrichts, insbesondere im Hinblick auf die Instrumental- und Vokalausbildung, zurück. Oder mit anderen Worten: Das Wozu ist auffallend dem Was ihres musikalischen Bildungsangebotes gewichen.

Die öffentliche Musikschule muss die Inklusion aktiv vorantreiben

Wenn also die öffentliche Musikschule des VdM ihre abschließende Behauptung im Strukturplan Musizieren macht stark für ein gelingendes Leben (Verband deutscher Musikschulen 2010b:12) ernst nehmen will, muss sie sich wieder, in diesem Fall unter den möglichen Vorzeichen der „Prinzipien Kultureller Bildung“, einmischen und zugleich eine entsprechende Musikerziehung offensiv vorantreiben. In diesem Sinne hat sich der VdM mit seiner Potsdamer Erklärung (Verband deutscher Musikschulen 2014) zwischenzeitlich auf den Weg zur inklusiven Musikschule begeben und untermauert dies auch mit der jüngst veröffentlichten Arbeitshilfe Spektrum Inklusion – Wir sind dabei (Verband deutscher Musikschulen 2017), in der konkrete Handlungswege vorgeschlagen werden. Hierbei erscheint die Inklusion als Dreh- und Angelpunkt anzustrebender öffentlicher Musikschularbeit, die sämtliche Hinderungsgründe beseitigt, um allen Menschen die Teilhabe an musikalischer Bildung zu ermöglichen. Dies schließt in der Konsequenz die bildungsbezogene Selbstbestimmung und die ausdrückliche Wertschätzung der persönlichen Bedürfnisse ein und falls erforderlich, auch das Aufbrechen tradierter Vermittlungsformen. Die daraus resultierende Heterogenität der Schülerschaft wie auch die kulturelle Vielfalt im Unterrichtsgeschehen dürfen deshalb, freilich unter der Voraussetzung entsprechender finanzieller Ressourcen sowie fachlicher Vorbereitung und Einführung, nicht mehr als pure negative Belastung, sondern vielmehr als zukunftsweisende Chance begriffen werden. Eine so geartete Strukturentwicklung der öffentlichen Musikschule erfasst damit gleichermaßen die organisatorische und inhaltliche Zugangsfreiheit. Sie wird sich folglich auf die Ausgestaltung des VdM-Strukturplans wie auch der Lehrpläne auswirken müssen. Im Idealfall entwickelt sich die öffentliche Musikschule mit ihren Handlungsweisen sodann zu einem glaubhaften Modell für den von ihr übernommenen allgemeinen Bildungsauftrag: Die individuelle Befähigung der Einzelnen durch Kulturelle Bildung zur Verantwortungsübernahme für sich selbst und in der Gesellschaft (Verband deutscher Musikschulen 2014:1). Die Idee der inklusiven Musikschule weist somit eine deutliche Kongruenz mit den „Prinzipien Kultureller Bildung“ auf. Insofern unterstreicht dieser Fachbeitrag nicht nur die aktuelle Zielperspektive des VdM und der von ihm vertretenen öffentlichen Musikschulen, sondern er möchte unbedingt anfeuern, diese Idee selbstbewusst in die Gesellschaft hineinzutragen.

Verwendete Literatur

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  • Verband deutscher Musikschulen (2010a): Bildungsplan Musik für die Elementarstufe / Grundstufe. Bonn: Verband deutscher Musikschulen
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  • Vetter, Walther (1989): Hermann Kretzschmar. In: Blume, Friedrich (Hrsg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Band 7 (1769-1772). Kassel: Bärenreiter.

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Hans-Joachim Rieß (2019): Zur Ideengeschichte der „Prinzipien Kultureller Bildung“ im Praxisfeld der öffentlichen Musikschule. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://kubi-online.de/index.php/artikel/zur-ideengeschichte-prinzipien-kultureller-bildung-praxisfeld-oeffentlichen-musikschule (letzter Zugriff am 16.07.2024).

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