Zirkus

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von Wolfgang Pruisken , Gisela Winkler

Erscheinungsjahr: 2013/2012

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Zirkusarbeit mit Kindern und Jugendlichen

Zirkus ist ein Kunstgenre, das für Kinder und Jugendliche eine besondere Attraktivität und Faszination besitzt und einen idealen Spielraum zur Persönlichkeitsentwicklung bietet.

Zirkus zeichnet sich durch eine große Breite an künstlerischen Gestaltungsmöglichkeiten aus: von den Bewegungskünsten Akrobatik, Jonglage und Balance bis zu Theaterelementen, Musik, Tanz, aktuellen Jugendtrends und ­-sportarten. Neben eine körperliche Dimension, die Entwicklung motorischer Fähigkeiten, Geschicklichkeit und Koordination, treten soziale und ästhetisch-­künstlerische Dimensionen. Mit seiner breiten Angebotspalette bietet der Zirkus für jeden etwas, das ihm Freude macht, seinen Fähigkeiten und Interessen entspricht, eine Herausforderung darstellt und Erfolgserlebnisse verspricht. Zirkus richtet sich an alle Alters­stufen, alle kulturellen Identitäten und ist ein anregendes Feld in der Arbeit mit Behinderten.

Die Kunst des Zirkus in der Kinder- und Jugendkultur

Mit dem Begriff des Zirkus weiß jeder etwas anzufangen; eigene Erfahrungen und Erlebnisse prägen das persönliche Bild vom Zirkus. Und doch ist es nicht einfach zu definieren, was denn nun das Unverwechselbare ist, was ihn ausmacht, und vor allem, was ihn zur Kunst macht. Als „Einheit der Vielfalt“ bezeichnete ihn der russische Zirkushistoriker Jewgeni Kusnezow (Kusnezow 1970:7), und diese bündige Definition trifft wohl am ehesten den Kern. Verschie­dene artistische Genres werden zu einer gemeinsamen Kunstform, dem Zirkus verschmolzen, können durch Elemente anderer Künste wie Tanz, Musik, Theater ergänzt und bereichert werden und sind damit bei weitem mehr als die bloße Summe der Einzelelemente.

Der Zirkus ist mit über 200 Jahren eine relativ junge Kunstform, die Artistik dagegen kann auf jahrtausende alte Traditionen zurückblicken. Akrobaten, Jongleure, Dresseure, Spaßmacher und Ta­schenspieler gab es schon in den alten Hochkulturen. Und die Artistik ist nicht nur im Zirkus zuhause, sondern ebenso im Varieté und in vielen anderen Veranstaltungsarten. In der Gegenwart haben sich mit dem Cirque Nouveau neue Formen entwickelt, die das Spielerische, auch Artifizielle betonen und stark auf Theater, Pantomime und Musik orientiert sind. Gleichzeitig haben viele PädagogInnen den Wert und die Potentiale des Zirkus für die Persönlichkeitsbildung von Heranwachsenden, die Herausbildung sozialer Kompetenzen und die Förderung von Schlüsselqualifikationen entdeckt (siehe Alexander Wenzlik „Schlüsselkompetenzen in der Kulturellen Bildung“). Als relativ niedrigschwelliges Angebot erreicht der Zirkus auch Kinder, die anderen Künsten eher fern stehen.

„Die tradierte Lebensform des Zirkus zieht als uraltes Kulturgut, als echte Volkskunst seit jeher Alt und Jung in seinen Bann. Zirkus, das bedeutet Faszination, Erlebnis und spannendes Abenteuer. Es ist ein farbenprächtiges Gegengewicht zur Nüchternheit und zur emotionslosen ‚Verkopfung’ unseres überreglementierten Alltags. Gerade Kinder fühlen sich angezogen von dieser glitzernden Märchenwelt. Sie nehmen sie mit allen Sinnen wahr. Zirkus beflügelt ihre Fantasie und reizt zum Nachmachen“ (Kiphard 2000:51).

Der soziale Aspekt der Zirkusarbeit mit Kindern und Jugendlichen spielte schon eine zentrale Rolle, als 1949 in Amsterdam der „Zirkus Elleboog“ begann, die Nachkriegskinder von der Straße zu holen und mit ihnen artistische Künste zu üben. Auch der spanische Zirkus „Los Muchachos“, der seit den 1960er Jahren bekannt wurde, entstand aus dem sozialen Projekt der „Kinderrepublik Bemposta“, die Straßenkindern eine Heimstatt bot. Zu einer weltweiten Bewegung wurde der Kinderzirkus jedoch erst in den 1980er Jahren, als die pädagogischen und sozialen Möglichkeiten dieses künstlerischen Mediums erkannt wurden und sich viele verschiedenartige Kinderzirkusprojekte entwickelten. Das stand auch im Zusammenhang mit dem „Cirque Nouveau“ und dem „Alternativzirkus“, mit denen die Zirkuskunst von KünstlerInnen verschiedener Genres wiederentdeckt und aufgewertet wurde. Die Besonderheiten der Zirkuskunst haben den Kinderzirkus in kurzer Zeit in vielen Ländern zu einem ganz we­sentlichen Bestandteil der Jugendkultur gemacht (vgl. Winkler 2007:4).

Eine große Vielfalt

Kinderzirkus gibt es in der Gegenwart in ganz verschiedenen Formen und Strukturen. In Schulen bereichert er den Schulalltag als Arbeitsgemeinschaft aber auch zeitlich begrenztes Projekt – beispielsweise als Schulprojektwoche in Kooperation mit einer zirkuspädagogischen Einrichtung. Als Schulzirkus mit längerfristig Mitwirkenden und regelmäßigen Aufführungen wirkt er oft weit über die Grenzen der Schule hinaus. Zirkusprojekte sind aber auch in Kitas und Horten angesiedelt. Viele Zirkusgruppen sind ein Ort der Freizeitgestaltung, an dem sich Kinder und Jugendliche regelmäßig treffen, um ganz unterschiedliche artistische Genres zu trainieren, Inszenierungen und Auftritte vorzubereiten und einfach Spaß an dieser Betätigung zu haben, die körperlich­-sportliche Bewegung mit kreativer künstlerischer Gestaltung verbin­det. Es gibt Vereine als freie Träger, die öffentlich gefördert werden oder aber sich nur über Beiträge, Einnahmen und Spenden finanzieren. Kinderzirkusse werden von kirchlichen und sozialen Einrichtungen betrieben und sind an Jugendkunst­ und Musikschulen angeschlossen.

Es gibt Mitmachzirkusse, die Kindern für einen begrenzten Zeitraum, der von wenigen Stunden bis zu mehreren Wochen dauern kann, die Möglichkeit des Zirkusmachens, Zirkus­spielens bieten. Es existieren Zirkusse mit eigenen Zelten, Wagen und BetreuerInnen, die manchmal selbst als Kinder in „ihrem“ Zirkus angefangen haben und nun im Erwachsenenalter die nächste Generation trainieren.

Und es gibt Mischformen zwischen Kinderzirkus und Artistenschule, die durchaus eine Ausbildung zu professionellen ArtistInnen vermitteln. In den Artistenschulen kommt ein sehr großer Anteil der SchülerInnen aus Kinderzirkussen. Sie haben hier die Liebe zum Zirkus entdeckt und eine artistische Vorbildung erhalten.

Kinderzirkusse werden von ehrenamtlichen Enthusiasten geleitet, aber auch von ange­stellten MitarbeiterInnen, unter denen ausgebildete ArtistInnen, PädagogInnen und auch KünstlerInnen anderer Bereiche sind.

So wie es im modernen Zirkus ein breites Spektrum künstlerischer Spielarten vom traditi­onellen Zirkus mit der „klassischen“ Dreiteilung von Akrobatik – Dressur – Clownerie bis zum Theaterzirkus gibt, hat auch der Kinderzirkus sehr unterschiedliche Formen zu bieten: von Nummernprogrammen mit vorwiegend klassischen Zirkusdisziplinen bis zu Theaterstücken mit artistischen Darbietungen und der Einbeziehung von Tanz-­ und Musiktheater.

Es ist schwer zu sagen, wie viele Kinderzirkusprojekte es gegenwärtig in Deutschland geben mag. Sie sind wegen ihres Amateurstatus und der ganz unterschiedlichen Anbindung nirgends wirklich erfasst. Es existieren Landesarbeitsgemeinschaften Zirkus (LAG) in fünf verschiedenen Bundesländern. Im Herbst 2005 wurde die Bundesarbeitsgemeinschaft Zirkuspädagogik (BAG) gegründet, die die Vernetzung und Zusammenarbeit der zirkuspädagogischen Einrichtungen in Deutschland zum Ziel hat und sich vorrangig um die Aus-­ und Weiterbildung von Zirkuspädago­gInnen und die künstlerische und strukturelle Weiterentwicklung der einzelnen Einrichtungen kümmert. Es kann von einer gegenwärtigen Zahl von über 600 regelmäßig arbeitenden Kinder­zirkusprojekten in Deutschland ausgegangen werden. Darüber hinaus nehmen zigtausende Kinder besonders im Grundschulalter an kurzfristigen Zirkusprojekten teil.

Die Vernetzung und Kooperation findet aber auch über Ländergrenzen hinweg statt. Auf europäischer Ebene gibt es die Vereinigungen Caravan und die European Youth Circus Organisation (EYCO). Regelmäßige Treffen und internationale Jugendzirkusfestivals tragen dazu bei, den interkulturellen Austausch zu befördern. Einen Schwerpunkt der nationalen wie internationalen Vernetzung stellt auch der Ausbau des Europäischen Freiwilligendienstes dar, in dessen Rahmen Jugendliche aus verschiedenen europäischen Ländern in Kinder­- und Jugendzirkussen arbeiten.

Perspektiven und Visionen

Nach den Jahren des Aufbruchs strukturiert sich jetzt das Feld. Die BAG Zirkuspädagogik e.V. entwickelt Leitlinien und Standards für die Arbeit der ZirkuspädagogInnen. Es gibt Ausbildungs­institute, die sich im Rahmen dieser Diskussion auf gemeinsame Ausbildungsrichtlinien und Curricula einigen.

Ziel ist die Anerkennung und Etablierung des Berufs Zirkuspädagoge. Ähnlich wie in den benachbarten Ländern Frankreich und Holland soll es in der Zukunft in Deutschland neben der Ausbildung zum Zirkuspädagogen auch mehr Möglichkeiten für ArtistInnen geben an aner­kannten Schulen mit staatlicher Förderung ausgebildet zu werden. Zirkusensembles, ähnlich den Ensembles freier Theater, werden sich gründen. Die Nachfrage nach Zirkusangeboten wird weiter steigen und mit ihr der Bedarf an qualifizierten AnleiterInnen.

Zirkus wird für noch mehr Kinder als bisher der erste aktive Kontakt zu einer darstellenden Kunstform und somit ein Türöffner zu den verschiedensten Formen der Kulturellen Bildung sein.

Verwendete Literatur

  • Kiphard, Ernst Jonny (2000): Präventive und therapeutische Aspekte der Kinderzirkusarbeit. In: Doku­mentation des Internationalen Kongresses der Kinder- und Jugendzirkusse Berlin 12.-14.7.2000 (50-58). Berlin: Kinder- und Jugendzirkus CABUWAZI e.V.
  • Kusnezow, Jewgeni (1970): Der Zirkus der Welt. Berlin: Henschel.
  • Winkler, Gisela (2007): Kinderzirkus als Bestandteil der internationalen Jugendkultur. In: Dies.: Zirkuspä­dagogik, Versuche einer Standortbestimmung (4-6). Lüneburg: Verlag edition erlebnispädagogik.

Anmerkungen

Dieser Text wurde erstmals im Handbuch Kulturelle Bildung (Hrsg. Bockhorst/ Reinwand/ Zacharias, 2012, München: kopaed) veröffentlicht.

Zitieren

Gerne dürfen Sie aus diesem Artikel zitieren. Folgende Angaben sind zusammenhängend mit dem Zitat zu nennen:

Wolfgang Pruisken , Gisela Winkler (2013/2012): Zirkus. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://kubi-online.de/index.php/artikel/zirkus (letzter Zugriff am 14.09.2021).

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Dieser Artikel wurde dauerhaft referenzier- und zitierbar gesichert unter https://doi.org/10.25529/92552.127.

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