Wissen in Bewegung – Wissenstransfer in der Kulturellen Bildung gemeinsam gestalten
Abstract
Kulturelle Bildung lebt von der Vielfalt ihrer Akteur*innen und Praktiken – diese scheinbar profane Aussage führt unweigerlich zu einer weiteren Feststellung: Kulturelle Bildung lebt von der Vielfalt der Wissensformen, die diese Akteur*innen und Praktiken mitbringen bzw. in sich tragen. Um welche Wissensformen es sich dabei handelt, wodurch Wissenspositionen (mit-)bestimmt werden, wie diese Vielfalt und Komplexität an Wissensformen nicht nur in Dialog miteinander gebracht werden kann, sondern wie durch Wissenstransfer Kulturelle Bildung als Wissenschaftsdisziplin, als professionelles Handlungsfeld und Praxis weiterentwickelt werden kann - damit beschäftigte sich die Wissensplattform kubi-online bereits 2017 im Rahmen ihrer Jahrestagung. In einem mehrjährigen explorativen Forschungs- und Formatentwicklungsprozess (vgl. Harnisch-Schreiber et al. 2023) setzte sich das Projekt Witra KuBi (Wissenstransfer in der Kulturellen Bildung) systematisch mit dem Querschnittsthema Wissenstransfer auseinander. „Wissenstransfer in der Kulturellen Bildung gemeinsam gestalten“ war schließlich die handlungsleitende Perspektive für die gemeinsame Tagung des Netzwerks Forschung Kulturelle Bildung und des Projekts Witra KuBi im Jahr 2023, an die ein abschließendes Dossier anknüpft, an die ein abschließendes Dossier anknüpft, in das sich dieser Beitrag einbettet. Er führt verschiedene Stränge zum Thema Wissensformen und -transfer in der Kulturellen Bildung zusammen und lädt dazu ein, den begonnenen Diskurs weiterzuführen.
Unsere Perspektive: Anne Hartmann (für das Projekt Witra KuBi - Wissenstransfer in der Kulturellen Bildung) und Kerstin Hübner (für das Netzwerk Forschung Kulturelle Bildung) waren hauptverantwortlich für die Konzeption und Durchführung der Tagung und für die Erarbeitung des Dossiers. Sie brachten dazu ihre Perspektiven aus Forschung, Mittler*innen-Organisationen und Praxis ein. Viele der Texte sind dialogisch entstanden bzw. (weiter-)entwickelt worden.
Wissen und Wissensformen in der Kulturellen Bildung
Im Alltagsgebrauch ebenso wie in der öffentlichen Debatte spielt das kognitive – und i. d. R. wissenschaftliche – Wissen eine prägende und weithin anerkannte Rolle. Dieser von vielen Seiten kritisierte enge Wissensbegriff steht einem weiten Wissensbegriff gegenüber, der für die Betrachtung der Kulturellen Bildung relevant ist und der die große Kontextabhängigkeit von Wissen hervorhebt. Ein weiter Wissensbegriff berücksichtigt, dass es viele Wissensverständnisse gibt, die mit unzähligen unterschiedlichen, z. T. jahrhundertealten Diskursen verknüpft sind und keine eindeutige Definition des Wissensbegriffs erlauben. Eine eindeutige Definition des Wissensbegriffes ist auch nicht zielführend und zweckdienlich, weil dadurch die verschiedenen Dimensionen, die Wissen umfasst und unter Transferperspektive zu berücksichtigen sind, nicht mehr sichtbar wären.
Max Fuchs (2017) hat dazu aus wissenstheoretischer Perspektive folgende Systematisierungen zum Wissensbegriff zusammengefasst:
- nach Max Scheler die Dreiteilung von Leistungs- und Herrschaftswissen, Bildungswissen und Erlösungs- und Heilswissen;
- die Unterscheidung von Professionswissen, Alltagswissen und Laienwissen;
- die Differenzierung von theoretischem, historischem und Praxiswissen;
- die Gegenüberstellung von explizitem und implizitem Wissen – letzteres auch als inkorporiertes Wissen (nach Polanyi 1966)
An diesen durchaus groben Systematisierungen eines weiten Wissensbegriffs zeigen sich bereits unterschiedliche Dimensionen von Wissen und die jeweilige „Brille der Betrachtung“, d. h. die Perspektive, aus welcher der Begriff fokussiert wird (erkenntnis- oder wissenschaftstheoretisch, praxeologisch etc.). Aus wissenssoziologischer Perspektive rückt damit Wissen als kulturelle und soziale Praxis in den Blick, eine Perspektive, die Wissen als Konstruktion von Sinn versteht, die im Wesentlichen sozial vermittelt und in verschiedene soziale Praktiken eingebunden ist (vgl. Pinkert/Hentschel 2017, Unterberg 2023:25). Dass unterschiedliche Wissensformen gleichermaßen – und gleichberechtigt - ihre Berechtigung haben, darauf geht Ulrike Hentschel (2023) ein: „damit [geht] ein relationales und situatives Verständnis von Wissen […] einher, das gebunden ist an eine konkrete körperliche Aus- und Aufführung. Auf der Basis dieses Denkens können verschiedene Wissensordnungen (der Künste, der Wissenschaften, des Alltags) weder nivelliert noch in eine hierarchische Ordnung gebracht werden. Sie sind vielmehr an die jeweiligen Praktiken gebunden. Nach praxistheoretischem Verständnis soll damit zugleich ein binäres Denken von Theorie und Praxis vermieden werden.“ (Hentschel 2023:238).
Für die Kulturelle Bildung, wie auch im Witra KuBi Projekt und auf der Netzwerktagung geschehen, können daran anschließend weitere Differenzierungen und Dimensionen ergänzt und spezifiziert werden, die insbesondere markieren, wo, von wem und wie Wissen generiert wird bzw. worin es sich ausdrückt – nicht zuletzt im Spannungsfeld von Praxis und Theorie Kultureller Bildung als spezifische Wissensproduktionen (Pinkert 2017) :
- So bezieht sich Wissen der Akteur*innen auf unterschiedliche Erfahrungs- und Handlungskontexte, z. B. auf künstlerische, pädagogische, organisatorische, strategische etc. Wissensformen.
- Durch die Breite der Praxisfelder Kultureller Bildung und ihrer ästhetischen Ansätze ist das spezifische Wissen unterschiedlicher künstlerischer und kultureller Praktiken relevant, d. h. die verschiedenen ästhetischen und künstlerischen Zugänge von Musik, Theater, Tanz, Bildender Kunst, Zirkus, Spiel, Baukultur, Design etc.
- Im wissenschaftlichen Kontext ergibt sich durch den hohen Querschnittscharakter Kultureller Bildung der Hinweis auf die Wissensvielfalt und Heterogenität ihrer Bezugsdisziplinen, z. B. den Kulturwissenschaften, auf die Künste bezogenen Wissenschaften und ihren angewandten Disziplinen (z. B. Kulturpädagogik, Theater-, Kunst-, Musikpädagogik), Sozialwissenschaften und Bildungswissenschaften, Ethnologie, Anthropologie und Psychologie und viele weitere.
- Zur wissenschaftlichen Wissensproduktion wird Wissen nicht nur aus Theorien, sondern auch aus und in unterschiedlichen Forschungsprozessen und -methoden herangezogen, grob z. B. sichtbar in der Unterscheidung von quantitativen und qualitativen Forschungsansätzen im Bereich der empirischen (kulturellen) Bildungsforschung.
- Spätestens die Cultural Studies verweisen auf die kulturelle Bedingtheit von Wissen (und seiner Anerkennung) und kontrastieren hegemoniale (insbesondere eurozentristische) Perspektiven zu vielen anderen Wissensverständnissen zu Kultur und Künsten oder auch Bildung. Einbezogen werden dekoloniale bzw. postkoloniale Perspektiven und Positionen vor dem Hintergrund einer macht- und herrschaftskritischen sowie einer intersektionalen Auseinandersetzung mit Wissensproduktion und der Anerkennung von Wissen (vgl. insbesondere die Beiträge von Jocelyne Stahl und Sofie Olbers in diesem Dossier).
- Auch die Art und Weise, in der sich Wissen materialisiert/zeigt, ist sehr unterschiedlich und umfasst auch viele nicht-verbalsprachliche oder nicht-schriftliche Möglichkeiten. In der Kulturellen Bildung zählen dazu insbesondere ästhetische und künstlerische Prozesse und Produkte/Produktionen, die beispielsweise leibliche, bildliche oder klangliche Ausdrucksweisen einschließen.
- Gerade dem Wissen der Künste kommt in der Kulturellen Bildung eine besondere Aufmerksamkeit zu: Aus einer praxeologischen Perspektive finden die Spezifika und die Komplexität von unterschiedlichen künstlerischen Praktiken ebenso zunehmend Beachtung wie die an der Praxis beteiligten Subjekte (vgl. insbesondere die Beiträge von Astrid Lembke-Thiel/Lea Spahn und Mona Jas in diesem Dossier; Hartmann/Kleinschmidt/Schüler 2021, Pinkert et al. 2021, Busch/Gronau/Peters 2023).
Damit sei zugleich auf die Reflexivität von Wissen verwiesen: Den unterschiedlichen Wissensformen und damit verbundenen Praktiken kommt ein je spezifisches und eigenes Erfahrungs- und Erkenntnispotenzial zu, das sich in seiner Vielfalt insbesondere in Bezug auf künstlerische Prozesse (z. B. als körperliches, performatives, sinnliches Wissen) und Erfahrungs-/Praxiswissen nicht auf ein rein kognitives Denken oder wissenschaftliches Wissen reduzieren lässt (vgl. Hentschel 2023:248f.). Wissen ist somit einerseits dynamisch und kontingent: Wissensproduktion und damit auch Wissenstransfer in der Kulturellen Bildung ist durch vielfältige Austausch- und Reflexionsprozesse in und zwischen den Dimensionen geprägt. Andererseits, auch das wurde bereits angedeutet, ist diese Wissensvielfalt untrennbar mit unterschiedlicher Anerkennung und einer Hierarchisierung von Wissensformen verbunden. Denn: Wissen ist Macht und Wissen ist politisch (Fuchs 2017) bzw. wird politisch genutzt. Somit rücken die Akteur*innen der Kulturellen Bildung als Wissensakteur*innen und ihr spezifisches situiertes Wissen in den Fokus.
Wissensakteur*innen in der Kulturellen Bildung und ihre Situiertheit
Wissen in dem bereits erläuterten Sinne ist kein „neutraler“ oder „unabhängiger“ Gegenstand, sondern eng mit Akteur*innen als Wissensträger*innen verbunden. Für diese Akteur*innen sind zwei zentrale Aspekte/Verhältnisse besonders in den Blick zu nehmen: ihre Situiertheit einerseits und ihr Agieren in spezifischen Kontexten und Rollen andererseits.
Grundlegend für die Diskussionen im Witra KuBi Projekt und während der Netzwerktagung war die erste sehr wesentliche Perspektive: Subjekte sind situiert und haben daher spezifisches „situiertes Wissen” (nach Donna Haraway), was ein Wissen meint, das partial, lokal, verkörpert und an materielle Bedingungen gebunden ist (Haraway 1995). Haraway dekonstruiert aus einer feministischen wissenschaftstheoretischen Perspektive, dass Wissen als objektiv gelten und verstanden werden kann oder Wahrheitsansprüche erheben kann. Auch im Feld der Wissenschaft gebe es daher kein universelles Wissen (ebd.:77). Dem stellt sie den Grundsatz gegenüber, die Differenz und radikale Vielfalt (lokalen) Wissens anzuerkennen und Wissen immer nur in seiner Verortung und spezifischen Verkörperung zu sehen (ebd.:82). Erst dadurch werden Positionierungen, aber auch Resonanzen und Entwicklungen, Bedeutungen und Begegnungen möglich: „Verkörperung handelt also nicht von einer fixierten Lokalisierung in einem verdinglichten Körper [...] sondern von Knotenpunkten in Feldern, Wendepunkten von Ausrichtungen, und der Verantwortlichkeit für Differenz in materiell-semiotischen Bedeutungsfeldern” (ebd.:88/89). Damit wird die dynamische/bewegliche Positionierung von (Wissens-)Subjekten hervorgehoben, die eine bewusst verantwortete partiale Perspektive einschließt und deshalb „fähig zur Verbindung mit anderen [ist] und zu einer gemeinsamen Sichtweise ohne den Anspruch, jemand anderes zu sein” (ebd.:86). Damit wird einerseits die Notwendigkeit hervorgehoben zu benennen, von wo aus wir (in dem Moment) sprechen. Andererseits erkennt dieses Wissensverständnis die Multiperspektivität und Vielfalt von Wissen und seiner Verkörperung an sowie die Möglichkeit, davon ausgehend Wissensperspektiven in Netzwerken in Austausch zu bringen.
Mit diesem Verständnis von der Fluidität, Situiertheit und Positionierung kann zugleich eine machtkritische Perspektive auf Wissensproduktion und -praktiken eingenommen werden, die dichotome Gegenüberstellungen (bspw. zwischen Wissenschaft und Praxis) oder eine Hierarchisierung von Wissen grundsätzlich infrage stellt. Mit Haraway gesprochen impliziert Positionierung eine „Verantwortlichkeit für die Praktiken, die uns Macht verleihen” (ebd.:87). Auf dieser Grundlage wird es möglich, dominierende, vor allem westliche/eurozentristische Perspektiven und mit ihnen verbundene machtvolle Prozesse von Wissensproduktion und -anerkennung zu benennen und kritisch zu reflektieren. Zugleich sind wir „gefordert, die Perspektive solcher Blickwinkel anzustreben, die niemals im voraus bekannt sein können und die etwas sehr Ungewöhnliches versprechen, nämlich ein Wissen, das die Konstruktion von Welten ermöglicht, die in geringerem Maße durch Achsen der Herrschaft organisiert sind” (ebd.:85). Daraus ergibt sich die Notwendigkeit und Möglichkeit, Wissen zu pluralisieren und zugleich ein Denken in Verbindungen zu üben (siehe ausführlich den Beitrag von Sofie Olbers in diesem Dossier).
Bezogen auf Kulturelle Bildung bedeutet das zum einen, dass sich die Akteur*innen kritisch und reflektierend mit der eigenen (forschenden, künstlerischen, pädagogischen, vermittelnden...) Praxis und damit verbundenen Wissenspraktiken bzw. Blickweisen auf andere Wissenspraktiken auseinandersetzen (vgl. Alfandari 2023). Der zweite notwendige Prozess ist es, Haltungen zu entwickeln, um „die eigene Verortung in einem System von kulturell bedingten Sinn- und Bedeutungsordnungen“ (Hentschel 2021:59) verstehen und sich bewusst machen zu können. Ulrike Hentschel (2021) schlägt in Anlehnung an Haraway daher den Begriff der situierten Haltungen für das Handeln von Lehrpersonen/Anleitenden in der theaterpädagogischen Praxis vor.
Mit dem Handeln ist auch das zweite genannte Verhältnis berührt: Die Situiertheit von Wissen und seinen Akteur*innen ist stark geprägt von den verschiedenen Systemen und Kontexten Kultureller Bildung, in denen die Akteur*innen agieren und aus denen Selbstverständnisse, Machtpositionen und Rollen hervorgehen. Unterscheiden läßt sich z. B. das Wissenschaftssystem vom politischen System oder vom System der Träger, das öffentliche System von der Zivilgesellschaft und der Wirtschaft, die Bereiche der Kultur oder der Bildung von der Kinder- und Jugendhilfe oder Geragogik etc. Daraus ergeben sich bezüglich Kultureller Bildung nicht nur unterschiedliche Diskurse und Verständnisse, sondern eben auch Arbeits- und Sprechweisen sowie Haltungen und Orientierungen (vgl. Hartmann/Kleinschmidt/Schüler 2021) beispielsweise zu dem, was Kulturelle Bildung ist. Akteur*innen in der Kulturellen Bildung sind auf individueller Ebene häufig in verschiedenen der genannten Wissensdimensionen und -systeme „beheimatet“ und tragen i. d. R. verschiedene Perspektiven und Wissensformen, mit denen sie sich identifizieren und interagieren, in sich: Es gibt kaum Akteur*innen, die sich ausschließlich als Akademiker*in oder Praktiker*in, als Pädagog*in oder Künstler*in, als ausschließlich in Kultur/Künsten oder in der Bildung/Vermittlung etc. verorten, um hier dichotome Kategorien aufzumachen. Dennoch prägt die jeweilige professionsbezogene Verortung, das Hauptarbeitsfeld, sehr stark, als Träger*innen welcher Wissensformen sie sich selbst wahrnehmen bzw. „gelesen“ werden.
Positionierungen ergeben sich entsprechend nicht nur aus Situiertheit, sondern sind bedingt durch Systeme, in denen Akteur*innen Rollen zugeschrieben bzw. Rollenerwartungen entgegengebracht werden, die sie dann wieder in Habitus „übersetzen“. Rollenzuschreibungen und -erwartungen werden verstärkt bspw. durch Reputationsdruck in der Wissenschaft, durch politischen Handlungsdruck von Verbänden oder durch hohen Erwartungs- und Legitimationsdruck, mit dem Praxis konfrontiert ist. Das trägt immer wieder zu Zuschreibungen und Markierungen bei, die einem offenen, fluiden Wissensbegriff und der gegenseitigen Anerkennung als gleichwertig gegenüberstehen. Hierfür Bewusstsein zu schaffen, d. h. die eigene Situierung und Positionierung zu erkennen und transparent zu machen, ist unbedingt notwendig. Ulrike Hentschel beschreibt im Kontext theaterpädagogischen Vermittlungshandelns eine situierte Haltung als Bestandteil einer künstlerischen Wissenspraxis, die „gleichzeitig eine kritische und verantwortliche Positionierung innerhalb der eigenen Praxis ermöglichen kann“ (Hentschel 2021:49).
Hier setzte das zentrale Anliegen des Projektes Witra KuBi und der 14. Netzwerktagung an, das den Ausgangspunkt für dieses Dossier bildet: ein reflexives und dialogisches Verständnis von Wissenstransfer zu entwickeln und umzusetzen, welches die Multiperspektivität der beteiligten Akteur*innen in der Kulturellen Bildung anerkennt und adressiert.
Wissenstransfer: Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Praxis
Die Bildungsforschung widmet sich in den letzten Jahren zunehmend Transferfragen und stellt sie ins Zentrum einer diskursiven Auseinandersetzung. Wurde Transfer im Wissenschaftsdiskurs unter einer unidirektionalen Verwendungs- und Nutzbarkeitslogik vor allem als Dissemination, Erkenntnistransfer bzw. Wissenschaftskommunikation verstanden, mit der Vorstellung, wissenschaftliche Erkenntnisse für die Praxis (einschließlich Politik und Ökonomie) zugänglich und nutzbar zu machen (vgl. Schmiedl 2022:4f.), liegt der Fokus nun zunehmend auch auf der Zusammenarbeit und dem Zusammenwirken von Wissenschaft und Praxis. Somit rücken unweigerlich neben strukturellen Rahmenbedingungen und den spezifischen Handlungslogiken der Felder Wissenschaft und Praxis auch die Haltungen, Denkmuster und Orientierungen der Akteur*innen in den Blick, wenn es um das Gelingen von Wissenstransfer geht. Damit verbunden sind unterschiedliche Transferverständnisse und Begriffe, die den gegenwärtigen Diskurs, insbesondere in der (kulturellen) Bildungsforschung prägen (vgl. Gräsel 2010, Nickolaus et al. 2010, Oestreicher 2014, Prenzel 2010, Unterkofler/Oestreicher 2014, Waffner/Sander/Kerres 2022a). Sie reichen
- von einem wechselseitigen Transfer von Erkenntnissen im Sinne der Zweibahnstraße (gegenseitiger Austausch)
- über die Transformation von Wissen mit der Anerkennung der strukturellen Unterschiede zwischen wissenschaftlichen Erklärungs- und praktischen Handlungswissen und der damit einhergehenden Notwendigkeit, das Wissen müsse für die Anwendung in Praxis transformiert werden (vgl. Schmiedl 2022:6f.)
- bis hin zu einem dialogisch-reflexiven Ansatz, der im Wissenschaftsdiskurs unter einem relationstheoretischen Verständnis von Wissenstransfer ausdifferenziert wird (vgl. ausführlich für einen theoretischen Überblick Schmiedl 2022).
Auf handlungsleitender und forschungsmethodischer Ebene sind es u. a. dialogorientierte und gestaltungsorientierte Forschungsansätze (vgl. Waffner/Sander/Kerres 2022b, Breitschwerdt/Egetenmeyer 2022), diverse Konzepte von Ko-Kreation und Kooperation (vgl. u. a. Ehm/Weigl 2020) bis hin zu teambasierten und partizipativen interdisziplinären Forschungsansätzen, wie sie vor allem auch in den künstlerischen/künstlerisch-pädagogischen Kontexten entwickelt und umgesetzt werden (u. a. Gruber et al. 2020, Participatory Art Based Research) um nur einige Ansätze zu nennen. Sowohl die Wissensplattform Kulturelle Bildung Online als auch das Netzwerk Kulturelle Bildung bilden diese Interdisziplinarität und Vielfalt von Ansätzen ab.
Im Rahmen der Förderpolitik des Bundes wird in den Forschungsrichtlinien im Bereich der empirischen Bildungsforschung explizit das Zusammenwirken von Forschung und Praxis adressiert. Beispielsweise die Metavorhaben der BMBF-Forschungsrichtlinien im Bereich Kulturelle Bildung (zuletzt z. B. „Digitalisierung in der Kulturellen Bildung“, „Kulturelle Bildung in ländlichen Räumen“) sollten zu einem dialogorientierten und relationalen Transferverständnis beitragen (Fischer/Kolleck 2023a). Reflexivität, Beziehungsprozesse und -konstellationen stehen im Fokus bei der Auseinandersetzung eines Theorie-Praxis-Verhältnisses. Sie adressieren zugleich eine Pluralität von Begriffen und Verständnissen (siehe oben) und verweisen auf die Notwendigkeit von kontext-spezifischen Betrachtungen (Fischer/Kolleck 2023b:354f.) und einer kritischen Reflexion dieses Verhältnisses, will man die Zusammenarbeit weiterentwickeln (ebd.:356f., Waffner/Sander/Kerres 2022b:4, Luise Fischer in diesem Dossier). Grundsätzlich ist es eine sehr wichtige Entwicklung, dass Wissenstransfer Teil der geförderten Forschungsprojekte ist und – bspw. in der neuesten Forschungsrichtlinie zum Thema „Kulturelle Bildung und gesellschaftliche Transformationen“ – Forschung aufgefordert wird, Praxis dezidiert einzubeziehen: „In den Forschungsprojekten und im Metavorhaben wird ein gegenseitiger Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis als Grundlage für gesellschaftlich relevante Forschung vorausgesetzt. Möglich sind je nach gewähltem Forschungsdesign beispielsweise frühzeitige und regelmäßige Einbindung von Akteurinnen und Akteuren der Praxis, Kooperationen, die eine innovative Verschränkung der unterschiedlichen Perspektiven darstellen oder Formate der Ko-Konstruktion zwischen Wissenschaft und Praxis“ (BMBF 2022). Dennoch verbleiben die bisherigen Forschungsrichtlinien in der zentralen Logik von Forschung und Wissenschaft verhaftet: In ihrer Sprache werden Anträge formuliert, sie sind jene, die als Zuwendungsempfänger agieren (können) und die darüber bestimmen, in welcher Form Praxis und ihr Wissen einbezogen werden. Im Dossier „Wissenstransfer in der Kulturellen Bildung“ sind sie auch jene, die ihre Perspektiven auf entsprechende Transferprozesse und Erkenntnisse verschriftlichen (vgl. Kranixfeld/Warburg/Sterzenbach, Kühn/Franz/Scheunpflug, Bender/Rennebach) und – bei aller Selbstreflexion zu Rollen und dem Wunsch nach gegenseitiger Anerkennung – tendenziell sich in wissensgebenden bzw. beratenden Rollen zeigen.
Eine Blickrichtung auf Wissenstransfer in der Kulturellen Bildung, die bislang nur unzureichend eingenommen wird, ist Wissenstransfer von Seiten der Praxis aus zu denken und Praktiker*innen als Wissensträger*innen/-produzent*innen zu stärken. Eine solche Perspektive bedeutet, mit Blick auf die Zusammenarbeit in Forschungskontexten zum einen zu fragen: An welchen Forschungsfragen und -prozessen ist Praxis interessiert? Wie findet das Praxiswissen produktiver Eingang in Forschungsprojekte und -designs? Zum anderen beinhaltet diese Perspektive auf Wissenstransfer auch, die Forschungspraxis und ihre Akteur*innen selbst im Anwendungsfeld Kulturelle Bildung kritisch zu reflektieren.
Diese bisherigen Logiken mit ihren Erfahrungen und Konsequenzen zu reflektieren und zu verändern sowie Räume und Formate für die Gestaltung von gelingenden Transferprozessen zu öffnen – daran setzten das Witra KuBi Projekt und die 14. Netzwerktagung an.
Gestaltung von Transferprozessen in der Kulturellen Bildung: Möglichkeitsräume und liminale Akteur*innen
Mit Blick auf die Vielfalt an Wissensformen und die Situiertheit des Wissens und der Akteur*innen im Feld der Kulturellen Bildung braucht es nicht nur einen offenen und situierten Wissensbegriff, sondern auch einen offenen Transferbegriff, der unterschiedliche Dimensionen von Transfer gleichwertig impliziert und kontextspezifisch anwendet. Akteur*innen der Kulturellen Bildung (bspw. in Wissenschaft, Politik und Praxis) haben ganz unterschiedliche Transferverständnisse und damit Motivationen für die Beschäftigung mit Wissenstransfer.
In einem pluralen Transferverständnis können Dimensionen von Transfer sein (vgl. Call zur 14. Netzwerktagung, Hartmann/Scheuer 2023):
- Austausch-, Begegnungs- und Vernetzungsprozesse, welche das jeweilige Wissen anerkennen, bestehende Wissensordnungen und Kanonbildung befragen und das gemeinsame Teilen fokussieren
- Kollaboration und Ko-Kreation, z. B. in kollektiven, partizipativen und/oder innovativen Formaten zur gemeinsamen Wissensgenerierung und Forschung (wie praxis-, team-, dialog- und kunstbasierte sowie künstlerische Forschung)
- Kollegiale Beratung und Feedback (in interdisziplinären, multiprofessionellen Zusammensetzungen)
- wechselseitige dialogische und reflexive Transferprozesse von Erkenntnissen zwischen Praxis und Forschung im Prinzip der Zweibahnstraße
- Wissensvermittlung und -austausch, z. B. Dissemination von Informationen in Praxis und Forschung bzw. als Wissenschaftskommunikation, fachlicher Austausch und Diskursformate
- Vermittlungspraxis zwischen Lehrenden und Lernenden, zwischen Begleitenden und Teilnehmenden
So generisch die Aufzählung erscheinen mag, zeigt sie doch, wie vielfältig Transfer gedacht oder realisiert werden kann und teilweise bereits Teil alltäglicher professioneller Praxis ist. Ein solches offenes Transferverständnis hebt insbesondere die prozessuale Ebene von Wissenstransfer hervor und versteht Transfer vor allem als eine Gestaltung von Beziehungen, die auf Vertrauen, Transparenz, gegenseitigem Interesse und im besten Fall Kontinuität fußt (vgl. ausführlich Oestreicher 2013) - eine eigentlich nicht unbekannte Perspektive in der Kulturellen Bildung, wenn es bspw. um Bildungsprozesse und Vermittlungsansätze geht.
Eine multiperspektivische Gestaltung von Wissenstransferpraktiken, wie wir es u. a. im Projekt Witra KuBi und mit der Netzwerktagung verfolgt haben, bedeutet daher, die Heterogenität und Interdisziplinarität der Akteur*innen und die damit verbundenen vielfältigen Perspektiven und individuellen wie systemischen Verortungen in den Blick zu nehmen und konkret zum Gegenstand der Aushandlung und Reflexion zu machen (siehe oben). Eine kritische Auseinandersetzung mit impliziten Deutungshoheiten und Wertigkeiten von Wissensordnungen und Professionen ist dabei eine wichtige Voraussetzung für eine gleichberechtigte Begegnung in hierarchiearmen Räumen.
Die Perspektive auf Wissenstransfer in der Kulturellen Bildung braucht daher, um nachhaltigen Mehrwert zu generieren, ein grundlegendes Umdenken. Die Idee eines Wissenstransfers im technischen Sinne von einer Seite zur anderen, verhindert – egal, ob im Ein- oder Zweibahnstraßensystem – eine gelungene Übersetzungsleistung in einen Kommunikationsprozess. Sie läuft Gefahr, Machtstrukturen zu reproduzieren. Führt man hingegen den Blick weg von einer verengenden Zweipoligkeit (z. B. Wissenschaft vs. Praxis) hin zu einem dynamischen Austauschprozess und fokussiert hierbei einen dazwischen liegenden Möglichkeitsraum, kann Verständigung zwischen Subjekten wirksam werden. Damit ist ein weiterer wesentlicher Aspekt von Transfer angesprochen, der das Wie in den Mittelpunkt rückt, nämlich die Gestaltung von Transferprozessen und -räumen.
Angelehnt an das theoretische Modell des dritten Raums von Homi K. Bhaba (2007, 2011) und der nepantla – eines Raums dazwischen – von Gloria Anzaldúa (1987, 2002) wurde im Projekt Witra KuBi das Bild des liminalen Möglichkeitsraums entwickelt, um die Gestaltung von Transferprozessen zu beschreiben (im Projekt Witra KuBi war das vor allem die Arbeit von Elke Harnisch-Schreiber, die die wissenschaftliche Begleitforschung verantwortete; vgl. ausführlich Harnisch-Schreiber 2023). Mit diesem dritten Raum ist kein faktischer Raum gemeint, sondern die Kontaktzone, in der die beteiligten Subjekte mit ihrem jeweiligen situierten Wissen und in ihrer Differenz in einen gemeinsamen Verständigungsprozess treten. Mit Rückgriff auf den Begriff der Liminalität (nach Victor Turner), wird ein Schwellenraum/-moment des Übergangs beschrieben mit dem ihm innewohnenden Potenzial des Ausprobierens und Experimentierens und der Möglichkeit, neue Bedeutungen zu konstituieren (Turner 1977, 2009). Anne Tober (2020) fasst einen solchen Möglichkeitsraum, in dem die Zusammenarbeit gemeinsam ge- und erfunden werden muss, vor diesem Hintergrund mit dem Begriff des hybriden Raums bzw. Thirdspace treffend zusammen:
„Der Thirdspace ist ein hybrider Raum, der als Denkort, Begegnungsplattform, Verhandlungsraum, Verbindungsraum, oder meeting zone verstanden wird. Menschen kommen mit unterschiedlichen Vorstellungen und Einstellungen zusammen und streiten miteinander um Bedeutungen – immer mit der Möglichkeit im Blick, dass der andere recht haben könnte. Da niemand alleinige Deutungshoheit fordert oder danach strebt, entstehen neue Denkräume, Grenzen werden unterlaufen und umstrukturiert, Hierarchien und Machtverhältnisse verändert (Struve 2017). Forschung und Praxis würden in einem agilen, dynamischen, multiperspektivischen Prozess in einem gemeinsamen Lernlabor [...] zusammen arbeiten. Ein sicherer und gleichzeitig offener Raum, in dem respektvolles Zuhören praktiziert wird und gemeinsames Entwerfen, Entwickeln, Experimentieren, Testen, Scheitern, Verwerfen, Nachsteuern und Neudenken von Forschung in der Praxis möglich ist.” (Tober 2020:206)
Wenngleich sich Tober hier insbesondere auf die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Praxis bezieht, lässt sich das Konzept des liminalen Möglichkeitsraumes für die Gestaltung von Transferprozessen auf jegliches Zusammenarbeiten von (professionellen) Akteur*innen in der Kulturellen Bildung anwenden.
Für die Gestaltung von solchen dialogischen Möglichkeitsräumen, in denen sich die Akteur*innen der Kulturellen Bildung gleichberechtigt mit ihren jeweiligen Perspektiven, Praktiken und Wissensformen begegnen können, bedeutet dies insbesondere Grenzen und Machtasymmetrien, in denen Wissensproduktion und -transfer stattfinden, wahrzunehmen und mit zu reflektieren. Mit Bezug auf Anzaldúa beschreibt Elke Harnisch-Schreiber mit Blick auf Wissenstransfer: „Dieser Anspruch bedeutet in der didaktischen Umsetzung, Wege zu finden, welche das Bewusstwerden der Hierarchien und Grenzen unterstützen. Dieses Bewusstsein der Grenzen und der Zwischenräume ist ein Wissen, welches die Teilnehmenden befähigt, sich bewusst in diesen Räumen zu bewegen und in Austausch und Verhandlungen einzutreten. Grenzen zwischen Individuen werden mit diesem Perspektivwechsel streng genommen zu einem verbindenden Element. Indem sie reflektiert und sichtbar gemacht werden, können sie auch überschritten oder verändert werden." (Harnisch-Schreiber 2023:65)
Damit es gelingt, solche hierarchiearmen Möglichkeitsräume des fachlichen Austauschs entstehen zu lassen, braucht es eine Unterstützung, Rahmung und Gestaltung durch Transferakteur*innen oder liminale Akteur*innen. Als liminale Akteur*innen sind einerseits Personen gemeint, die dezidiert Transferformate und Angebote methodisch und didaktisch gestalten und Wissenstransferprozesse begleiten und beraten. Sie lassen sich in ihrer Aufgabe, wie im Projekt Witra KuBi, vielfältig beschreiben als Ermöglicher*innen, Unterstützer*innen, Transmissionsriemen, Prozessbegleiter*innen, Knowledge Broker*innen, Strukturgebende, Mediator*innen, Vermittler*innen, Bündler*innen, Moderator*innen, Übersetzer*innen, Gastgeber*innen, Brückenbauer*innen (vgl. Harnisch-Schreiber 2023:79). Sie sind im Feld der Kulturellen Bildung häufig an Schnittstellen von Professionen und Disziplinen, zwischen Wissenschaft, Praxis, Kunst, Bildung, Politik und Verwaltung verortet (vgl. Interview Kalaitzis/Nordhausen in diesem Dossier).
Darüber hinaus sind als liminale Akteur*innen auch Plattformen, Netzwerke und Strukturen angesprochen, die einen fachlichen Dialog fördern und unterstützen, innovative Diskurs- und Veröffentlichungsformate bereitstellen und entwickeln, um Wissen zu teilen (z. B. die Plattformen collaeb und situierung zwischen.) und multiprofessionelle und interdisziplinäre Zusammenarbeiten stärken oder auch strategisch und politisch Transferbemühungen unterstützen (z. B. Verbände, Weiterbildungseinrichtungen). Einige dieser Transferakteur*innen kommen in diesem Dossier in der Sektion Zwischenräume schaffen: Transferakteur*innen für Vernetzung und Übersetzung zu Wort (vgl. Interview Kuschel/Stoffers, Interview Werner/Jochum, Beitrag de Banffy-Hall).
Fazit: Unterschiedliche Wissens- und Transferakteur*innen in der Kulturellen Bildung im Spiegel von kubi-online und dem Dossier
Das Projekt Witra KuBi, die Netzwerktagung, aber auch die im Dossier versammelten Positionen machen deutlich:
- Nur ein offener und fluider Wissensbegriff kann Kultureller Bildung in Wissenschaft und Praxis und allen Zwischenräumen gerecht werden. Diese Vielfalt ist noch längst nicht ausreichend sichtbar gemacht und reflektiert worden.
- Ein plurales und offenes Wissenstransferverständnis fordert seitens aller Beteiligten eine offene und reflexive (situierte) Haltung, um Transferprozesse, verstanden als Beziehungsarbeit, gelingen zu lassen.
- Darüber hinaus braucht es qualifizierte diverse Transferakteur*innen mit unterschiedlichen Expertisen, Wissensformen und Praktiken für die Gestaltung von Transferräumen und -prozessen in der Kulturellen Bildung, die die spezifischen Motivationen und Anliegen der beteiligten Personen sowie Rahmenbedingungen und Kontexte, in denen Transfer stattfindet, mitdenken und diese produktiv in Resonanz miteinander bringen.
- Ein solches Transferverständnis zeigt zudem auf, dass in eine grundlegende Transferstruktur investiert werden muss, die die Gestaltung nachhaltiger Transferprozesse zum Ziel hat, um damit zu einer gemeinsamen Weiterentwicklung der Praxis- und Forschungslandschaft in der Kulturellen Bildung beitragen zu können. Das bedarf neben aller Offenheit, Expertise und Einsatz der beteiligten Akteur*innen vor allem zeitliche, finanzielle, personelle und strukturelle Ressourcen.
- Akteur*innen in der Kulturellen Bildung müssen sich systematisch und gemeinsam auch mit Machtasymmetrien auseinandersetzen, um in dem beschriebenen Sinne Transferprozesse zu ermöglichen, aber auch die Vielfalt kultureller Bildungspraxis zu unterstützen. Beispielsweise ist Politik stark gefordert, zusätzlich zum wissenschaftlichen Wissen anderen Formen des Wissens und Formaten der Wissensartikulation größere Sichtbarkeit und Anerkennung zu verschaffen. Wissenschaft hat die Aufgabe, ihr Verhältnis zur Praxis neu zu konstituieren und Praxis sollte bewusst den eigenen Hierarchisierungen und Kenntnislücken entgegensteuern, die sich noch immer z. B. aus eingeschriebenen hochkulturellen oder kolonialisierten Sichtweisen ergeben.
Wenn also im Projekt Witra KuBi und in der 14. Netzwerktagung neben der Situiertheit von Wissen auch hierarchiearme Aushandlungsprozesse im Rahmen von Wissenstransfer im Zentrum standen und wenn sich kubi-online als Wissensplattform für den gelungenen Transfer zwischen Theoretiker*innen, Vermittler*innen und Praktiker*innen der Kulturellen Bildung, Wissenschaftler*innen und Student*innen (vgl. Website kubi online) versteht, dann muss selbstkritisch konstatiert werden: Die Herausforderungen und Grenzen, die bereits Projekt und Tagung aufzeigten, verstärken sich im Dossier auf kubi-online. In einer Auswertung zentraler Diskurse auf kubi-online (vgl. Hübner 2023 ) wurde bereits darauf verwiesen, dass das Format kubi-online starken Einfluss darauf hat, wer schreibt (deutliches Übergewicht an akademischen Positionen, wenige Praxisperspektiven). Es gibt auch Vorgaben von kubi-online, wie geschrieben wird bzw. unter welchen Kriterien Video-Beiträge möglich sind, die allesamt einen „fachlich-wissenschaftlichen Stil“ und damit die Sichtbarkeit wissenschaftlicher Wissenspositionen befördern. Dieser Schwerpunkt ist im Dossier sichtbar. Durch die Schriftform nur in Ansätzen gelungen ist, Arbeits- und Handlungsweisen der kulturpädagogischen und künstlerischen Praxis als non-verbalisiertes Wissen dezidiert sichtbar zu machen.
Was mit dem Dossier gelungen ist: Machtkritische Perspektiven auf Wissen im postkolonialen und transkulturellen Kontext werden artikuliert, Reflexionen von Forschung auf ihre Rolle und Hierarchisierungen werden aufgezeigt, künstlerische Positionen werden integriert und in Austausch mit wissenschaftlichen Grundlagen gebracht, Perspektiven liminaler Transferakteur*innen werden sichtbar. Erfahrungen und Grenzen sollten Anreiz sein, den Diskurs über Wissen, seinen Transfer und die Darstellungsformate fortzusetzen.
Zum Projekt Witra KuBi
Das Vorhaben Witra KuBi hat sich die Frage gestellt, wie Wissenstransfer zwischen Wissenschaft und Praxis im Feld der Kulturellen Bildung gelingen kann. Zwischen Ende 2020 und Anfang 2023 hat sich der Verbund aus Bundesakademie für Kulturelle Bildung Wolfenbüttel (ba·) - Vanessa-Isabelle Reinwand-Weiss, Anne Hartmann und Julian Scheuer - und IU Internationaler Hochschule Stuttgart - Lisa Unterberg und Elke Harnisch-Schreiber - mit dieser Fragestellung explorativ auseinandergesetzt. Gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) haben die zwei Teilprojektgruppen einerseits die Entwicklung und konkrete Umsetzung von Veranstaltungsformaten für den Wissenstransfer und andererseits deren wissenschaftliche Begleitung und Erforschung betrieben. Ziel war es, Konzepte zur methodischen Gestaltung und eine theoretische Perspektive auf Fragen des Wissenstransfers zu entwickeln sowie Gelingensbedingungen zu identifizieren bzw. zu formulieren, die für das Feld der Kulturellen Bildung - aber auch darüber hinaus - Gültigkeit haben. So wurden insgesamt fünf unterschiedliche Transferformate umgesetzt - von Transfertagungen über kollaborative und ko-kreative Workshopformate, Diskursseminare bis hin zu kollegialen Beratungsformaten. Das Anliegen der Formatentwicklung war es, dialogische und reflexive Begegnungsräume im Sinne von Möglichkeitsräumen zu gestalten und dafür unterschiedliche Formate zu entwickeln, die Wissenstransfer als dynamischen und vielschichtigen Prozess verstehen. Die entwickelten und erprobten Transferformate geben im Sinne von promising practices methodische und didaktische Impulse für die Umsetzung in unterschiedlichen Kontexten. Sie verweisen zugleich auf die Notwendigkeit, Methoden, Formate sowie beispielhafte Projekte und Praktiken für die eigene Praxis zu adaptieren und diese reflexiv anzuwenden. Reflexions-, Austausch- und Diskursformate, die Wissenstransfer als die Gestaltung von Beziehungsarbeit verstehen, deren volles Potenzial sich in der offenen Begegnung, der Bewegung und dem gegenseitigen Vertrauen auf Anerkennung der jeweiligen Expertise und des Wissens entfaltet, können so nachhaltige und kontinuierliche Verständigungsprozesse in interdisziplinären Arbeitskontexten und der Zusammenarbeit von Praxis und Wissenschaft fördern und stärken. Die im Verbund gewonnenen Erkenntnisse zeigen darüber hinaus die Notwendigkeit auf, dass in eine grundlegende und nachhaltige Struktur- und Formatarbeit zu Wissenstransfer investiert werden muss, will man das Forschungs- und professionelle Handlungsfeld gleichermaßen und gemeinsam weiterentwickeln. Wissenstransfer im Sinne eines iterativen Austauschprozesses war nicht nur Inhalt und Ziel der didaktisch-methodischen Vorgehensweise im Rahmen der Veranstaltungsreihe, sondern spielte auch innerhalb des Verbundes eine zentrale Rolle. Die unterschiedlichen Perspektiven und Wahrnehmungen der Projektpartner*innen – aus der Perspektive einer Weiterbildungsinstitution einerseits und andererseits aus der Perspektive einer Hochschule – trugen wesentlich zum Erkenntnisgewinn bei.
Die Publikation »Raus aus dem Haus – Wissenstransfer in der Kulturellen Bildung« (Harnisch-Schreiber et al. 2023) trägt die wesentlichen Erkenntnisse aus zwei Jahren Arbeit im Vorhaben Witra KuBi zusammen und zeichnet die explorative Entwicklung eines Transferverständnisses sowie der Formatentwicklung und -erprobung nach. Darüber hinaus spiegelt sich die Multiperspektivität von Wissenstransfer und Akteur*innen in weiteren Beiträgen von Wegbegleiter*innen des Projekts aus dem Feld der Kulturellen Bildung. Der Sammelband ist frei zugänglich: Raus aus dem Haus. Wissenstransfer in der Kulturellen Bildung – pedocs