Wenn Kinder sich einmischen: Schulische Experimente ästhetischer Bildung
Abstract
Wie können junge Menschen ermächtigt werden? Wie kann Bildungsgerechtigkeit erreicht werden? Wie kann kulturelle Teilhabe gelebt werden? Im Rückblick nach Frankreich Mitte der 1960er Jahre stellt dieser Artikel ein Format des sozialen Lernens und ästhetischer Bildung anhand der Schüler*innenzeitung „Des enfants s’en mêlent“ (Kinder mischen sich ein) vor, die zwischen 1989 und 2001 an der École des Charmes in La Villeneuve in Grenoble erschien. Mit dem Untertitel „Journal d’Opinions“ – das sich sowohl auf den Meinungsjournalismus bezog als auch auf die kollektive Produktion der Schüler*innenzeitung – wurde sie mit einer Auflage von drei- bis vierhundert Exemplaren veröffentlicht. Für den ehemaligen Lehrer der Schule, Albert Sousbie, steht sie neben „gemeinnützigen oder aktivistischen Zeitungen: Organen von politischen Gruppen, Gewerkschaften, Verbänden“ als Stimme „einer Minderheit, die sie unterstützen will, aktiver zu werden und mehr Gehör zu finden“. Die mit der Herausgabe der Zeitung einhergehende publizistische Erfahrung, die kollektives Schaffen, emanzipatorische Pädagogik, Selbstverwaltung und den Wunsch nach sozialer Transformation mit libertärem Geist verbindet, ist reich an Erkenntnissen für aktuelle künstlerische Praktiken der Mitgestaltung und Vermittlung.
„Des enfants s’en mêlent“ (Kinder mischen sich ein) ist der Titel einer Schüler*innenzeitung, die von Mai 1989 bis Mai 2001 an der École des Charmes in La Villeneuve in Grenoble, erschienen – ist ein Experiment, das ich im Folgenden zunächst in die politischen Zusammenhänge der damaligen Zeit und in die Geschichte der Schüler*innenzeitung einordne, um anschließend auf ihren Inhalt und die damit verbundenen Fragen einzugehen.
Setzt man sich mit dem Erbe der libertären Pädagogik und der progressiven Erziehung auseinander, werden Verbindungen zu kollaborativen künstlerischen Praktiken im sozialen Bereich deutlich. Während sich manche Kolleg*innen von der Philosophie von Jacques Rancière, der Befreiungspädagogik von Paulo Freire oder der radikalen Pädagogik von bell hooks leiten lassen, folgt mein Interesse einer Forschung zu einer öffentlichen Bildungseinrichtung in Frankreich zwischen 1972 und 1983. Die damals am Experiment beteiligten Lehrer*innen haben eine kollektive Herangehensweise entwickelt, anstatt eine bestehende Methode nur anzuwenden: Auf der Grundlage der libertären Pädagogik, des von Célestin Freinet entwickelten Druckens in der Schule und der institutionellen Pädagogik von Fernand Oury und Raymond Fonvieille, erfanden sie die „Schule“ als pädagogische Einheit neu, die gemischte Gruppen – Kinder, Eltern, erweiterte Lehrer*innenteams – zusammenführt und mit ihrer Umwelt im Sinne eines Umweltaktivismus: dort, wo Menschen arbeiten, wo sie leben, wo sie spielen, verbindet. Diese Bildungstheorien sind emanzipatorisch. Sie rufen zu sozialer Transformation durch die Einführung einer auf Selbstverwaltung zielenden Mitverwaltung (Co-Gestion) durch Produktionsaktivitäten, durch die Reflexion der Institutionen und ihrer demokratischen Praxis auf. Sie zielen auf die Vermittlung von Wissen, die Entwicklung von Fähigkeiten und die Arbeit an Formen.
Offene Schulen von La Villeneuve in Grenoble
Mitte der 1960er Jahre nahm die Gründung von La Villeneuve in Grenoble auf der Grundlage eines Plans des Atelier d’urbanisme et d’architecture (Werkstatt für Stadtplanung und Architektur – eine 1960 gegründete Arbeiter*innengenossen*innenschaft) Gestalt an. Zusammen mit der Gemeinde sollte die Werkstatt ein neues Stadtmodell erfinden. Ziel war es, „die Entstehung eines Schlafstadtviertels zu vermeiden, ein Gleichgewicht zwischen Arbeit und Wohnen herzustellen, eine hohe Bevölkerungsdichte zu erreichen, die soziale Segregation abzubauen, dem Gemeinschaftsleben Vorrang einzuräumen, Grünflächen zu integrieren, Fußgänger*innen und Autos zu trennen, Wohn- und Quartierseinrichtungen zu vermischen und ein starkes Stadtbild zu schaffen“ (Blin 1988:82). In diesem Kontext wurden, noch bevor das Viertel überhaupt gebaut worden war, die Schulen von La Villeneuve gegründet. Diese hatten das Ansinnen, „Aktionseinheiten unter allen Organisatoren, (...) unter allen Beteiligten zu erfinden, zu denen alle gehören bzw. um zu verhindern, dass Menschen nicht zusammenarbeiten können“ (Toulotte 1991:4).
Während einer Studienreise über die Selbstverwaltung in Jugoslawien, die vom Arbeiter*innenbildungsverband Culture et liberté organisiert worden war, lernten Vertreter*innen aus Grenoble Rolande und Raymond Millot kennen, die beiden zukünftigen Koordinator*innen und pädagogischen Berater*innen für die Schulen in La Villeneuve. Sie trafen zwei Jahre vor der Eröffnung der Schulen ein und schlossen sich der Kommission an, die sich aus Organisator*innen von FRANCAS und Peuple et culture – zwei Arbeiter*innenbildungsverbände – und von Jugend- und Kulturzentren (MJC) sowie aus Grundschullehrer*innen der Freinet-Bewegung zusammensetzte, die diese Schulen entwerfen sollten.
In La Villeneuve wurden zehn Schulen gegründet, fünf Kindergärten und fünf Grundschulen – als Maisons de l’enfance (Häuser der Kindheit). Das staatliche Bildungssystems Frankreichs stufte sie als „experimentell“ ein. Raymond Millot beschreibt ihre spezifischen Qualitäten wie folgt: Koedukation, Erweiterung des Lehrer*innenteams, Durchlässigkeit, projektbezogenes Lernen, Beteiligung der Kinder an der „Umwandlung der Schule in eine Erziehungsgemeinschaft, um Verantwortung zu fördern“ und „Aktionen im und in Bezug zum Sozialraum (Nachbarschaft, Familie usw.)“ (Millot 1992:o.S.). Begleitet von der Französischen Lesevereinigung (AFL) und gemeinsam mit den anderen experimentellen Schulen schufen sie „die erste BCD“ (bibliothèque centre documentaire) und förderten „Schüler*innenzeitung, Staatsbürger*innenkunde, freie Bewegung, Selbstdisziplin, die Auflösung von Fachklassen, das Arbeiten in Zyklen, [...] Computer als Lesehilfe, [...] die Öffnung der Schulen und die Heterogenität, Individualisierung und Personalisierung des Lernens“ (Blanchard 1999:o.S.).
Der hier beschriebene Gesamtzusammenhang erscheint mir grundlegend und fasziniert mich, aufgrund seiner Fähigkeit, konkrete neue Wege zu erfinden, Gesellschaft zu gestalten. Vier Punkte haben mich aber besonders interessiert, weil sie Verbindungen zu kollaborativen künstlerischen Praktiken aufweisen:
- Erstens der Einsatz von gruppenbasierten, kooperativen Ansätzen, die auf mehreren Ebenen stattfinden: unter den Kindern, zwischen den Kindern und dem Lehrer*innenteam – in einem weiten Sinne verstanden, zwischen Schule und Nachbar*innenschaft.
- Zweitens der Wunsch, Einfluss auf das Leben des Kollektivs zu nehmen und sich in Praktiken gesellschaftlicher Veränderung zu engagieren.
- Drittens die Tatsache, dass die Umsetzung dieser Veränderung über eine Reflexion ihrer eigenen Arbeitsweise aus individueller Sicht erfolgt, d.h. konkret über die Organisation der gemeinsamen Verwaltung und über die Entscheidungsfindung, über eine Reflexion der Beziehungen zwischen den einzelnen Akteur*innen und über eine Auseinandersetzung mit den Zusammenhängen zwischen Wissen und Können, zwischen Wissen und Macht.
- Und viertens interessiert mich die Tatsache, dass es produktionsbasierte Aktivitäten der Gruppe sind, anhand derer die sozialen Transformationen und das gemeinsame Verwalten geschieht – und zwar mithilfe von vermittelnden Medien. Von den vielen Medien, um die es hier geht, erscheint mir eines bei La Villeneuve besonders vorbildlich: die Schüler*innenzeitung.
Schüler*innenzeitungen: Ein historischer Abriss
Die Praxis der Herstellung einer Schüler*innenzeitung gilt als Freinet-Technik. Sie steht in direktem Zusammenhang mit der Methode des Druckens in der Schule, die der Reformpädagoge Célestin Freinet 1923 mit einer Druckerpresse entwickelte, die er für die Schule erwarb, um die kollaborative Arbeit mit Kindern an gemeinsamen Publikationen zu ermöglichen. Er definiert die Schüler*innenzeitung als „eine Sammlung von frei formulierten Texten, die Tag für Tag nach der Freinet-Technik realisiert und gedruckt und am Monatsende mit einem speziellen Umschlag für Abonnent*innen und Korrespondent*innen zusammengestellt werden“ (Freinet 1957:15).
Die Schüler*innenzeitung war nicht Freinets eigene Erfindung, obwohl er sie vorangetrieben, organisiert und weit verbreitet hat. Freinet selbst erwähnt Ovide Decroly als Vorläufer, einen belgischen Pädagogen und Arzt, der 1910 in seiner Schule L’Hermitage, die Zeitung „L’écho de l’école“ ins Leben gerufen hatte (Poslaniec 1990:o.S.). Der wesentliche Unterschied besteht jedoch darin, dass diese Zeitung, obwohl von den Kindern geschrieben, nicht von ihnen selbst, sondern mithilfe ihrer Eltern gedruckt wurde. Laut Christian Poslaniec, einem auf Jugendliteratur spezialisierten Schriftsteller, gibt es noch ältere Praktiken. In seinem Buch „Schools of To-Morrow“ beispielsweise berichtet John Dewey von Praktiken an US-amerikanischen Schulen, von denen einige den Druck als Technik verwendeten.
Wenn die Praxis des Schreibens und Druckens von Schüler*innenzeitungen insgesamt ein Merkmal der alternativen Pädagogik zu sein scheint, so ist sie doch insbesondere in libertären Modellen verwendet worden. Die von dem Anarchisten Paul Robin im Waisenhaus von Cempuis bei Paris gegründete Schule, die als erste eine Form der „integrierten Erziehung“ (Bremand 1992:119) einführte, die auf Aktivität setzende Methoden vorwegnimmt, verfügte ebenfalls über eine Druckerei: „1885 führte Robin in der Schule eine Schreibmaschine ein und leitete einen Druck-Workshop, der sich auf die Lese- und Schreibfähigkeiten mithilfe von Bleisatz konzentrierte.“ (ebd.:72). An dieser Schule wurden den Kindern viele verschiedene Workshops angeboten, wobei jeder zur Verwirklichung spezifischer Dinge führte, die für die Gemeinschaft von Nutzen waren (ebd.:78). Das Drucken wurde auch in anderen libertären oder anarchistischen Schulen verwendet, so auch von Tolstoi und von Bakule beeinflusst – von Bakule begann 1898 in der Tschechoslowakei mit dem Druck von Druck- und Schüler*innenzeitungen. Auch Janusz Korczak gab von 1926 bis 1930 in Warschau die Kinderzeitung Mały Przegląd (Kleine Rundschau) heraus ebenso wie reformpädagogische Schulen in Hamburg eine eigene Schüler*innenzeitung publizierten.
Kinder engagieren sich: Die Schüler*innenzeitung „Des enfants s’en mêlent“
Das Beispiel, über das ich hier schreibe, ist die Schüler*innenzeitung an der École des Charmes in La Villeneuve, Grenoble, die 1973 eröffnet und 2006 geschlossen wurde. Der Schulalltag organisierte sich rund um ein Radio herum, das jeden Morgen eine Nachrichtensendung über die Schule, die Nachbarschaft und die Stadt sowie über die Erstellung von persönlichen und Klassentagebüchern, über selbstverwaltete Ausflüge, den Schüler*innenrat und über die Schüler*innenzeitung „Des enfants s’en mêlent“ ausstrahlte.
In zwölf Jahren, von Mai 1989 bis Mai 2001, wurden 39 Ausgaben der Schüler*innenzeitung „Des enfants s’en mêlent“ produziert. Mit dem Untertitel „Un Journal d’Opinion“ – eine Zeitung der Meinungen, was sich sowohl auf den Meinungsjournalismus als auch auf die kollektive Produktion der Schüler*innenzeitung bezog – erschien sie etwa alle sechs Wochen mit einer Auflage von drei- oder vierhundert Exemplaren.
Das Zeitungsprojekt erhielt einen Zuschuss vom französischen Bildungsministerium und von der Stadt Grenoble. Sie bestand aus vier DIN A4-Seiten – ein gefaltetes DIN A3-Blatt – in Schwarzweiß, die auf dem zentralen Doppelbogen um ein bestimmtes Thema herum angeordnet waren – mit einem Leitartikel des Redaktionskomitees und „Kurzmeldungen“ aus der Nachbar*innenschaft. Die Produktion wurde von einem Redaktionskomitee koordiniert, das sich aus Schüler*innen, einer*einem verantwortlichen Lehrer*in und Denis Requillard, einem Journalisten, der in der Nachbar*innenschaft wohnte, zusammensetzte. Dieser Ausschuss, der mit jeder Ausgabe wechselte, traf sich zweimal wöchentlich und bündelte die Produktion aller Klassen, von denen Material zum gewählten Thema in Auftrag gegeben wurde. Solche Aufträge konnten für eine Untersuchung, eine Umfrage, ein Interview usw. erteilt werden. Der Ausschuss behielt sich das Recht vor, das Eingebrachte zu kritisieren und bestimmte Artikel umzuschreiben, die dann wieder von den ursprünglichen Autor*innen autorisiert bzw. geändert wurden. Nach Abschluss der redaktionellen Arbeit wurde die Ausgabe – bis zur 35. Auflage – von der Grafikerin Béatrix Burlet gestaltet. Jede Ausgabe wurde mit Fotos, Illustrationen aus anderen Publikationen oder Strichzeichnungen bebildert, die (meistens) die Grafikerin anfertigte. Auch das Verhältnis zwischen Form und Inhalt wurde gemeinsam bearbeitet. Die Zeitung wurde auf der Straße verkauft, in Verkaufsstellen in der Nachbar*innenschaft ausgelegt und an die Abonnent*innen verschickt.
Albert Sousbie, ehemaliger Lehrer der École des Charmes, verfasste eine Studie über die ersten 24 Ausgaben der Zeitung (Sousbie 1997:o.S.). Er stellte die Schüler*innenzeitung neben „gemeinnützige oder aktivistische Zeitungen: Organe von politischen Gruppen, Gewerkschaften, Verbänden“ als Stimme „einer Minderheit, die sie unterstützen will, aktiver zu werden und mehr Gehör zu finden“. Die vielfältigen Themen, die die Schüler*innenzeitung „Des enfants s’en mêlent“ behandelte, umfassten: Lesen, Fernsehen, Angst, Gewalt, Parteien, Solidarität, Werbung, Arbeit in der Nachbarschaft, Reden halten, Fahrstühle, Fußball, Frieden, Videospiele oder die Zeitung selbst.
Emmanuelle Buffin und André Béranger – zwei ehemalige Lehrer*innen der École des Charmes – erwähnten 2017 in einem Interview mit mir mehrere Ausgaben der Zeitung „Des enfants s'en mêlent“ (DESM) als Beispiel für den Wunsch der Kinder, sich auszudrücken und zu verstehen, was in der Nachbar*innenschaft vor sich geht, hoben sie besonders die 5. Ausgabe hervor. Ein Einkaufswagen war aus der Durchfahrt eines Gebäudes auf ein Polizeiauto und einen Polizisten geworfen worden, worüber diese Ausgabe aus verschiedenen, sich widersprechenden Perspektiven berichtete. Die mit dem Ereignis verbundene Gewalt hinterließ bei den Kindern tiefen Eindruck. Die Zeitung ermöglichte es ihnen zu versuchen, das Geschehene und vor allem ihre Gefühle vor dem Hintergrund des Konflikts zwischen Polizei und Jugendlichen in der Nachbar*innenschaft, des Rassismus und der verfälschten Medienberichterstattung zu verstehen.
In ihrem Vorwort zur Ausgabe über den Einkaufswagen schrieben die Lehrer*innen: „Die Lehrer*innenschaft half ihnen, sich mit allen Standpunkten auseinanderzusetzen: Presse- und Augenzeugenberichte, Gerüchte [...] Die Kinder waren somit in der Lage, sich ein eigenes Urteil über die Fakten zu bilden. Auf diese Weise boten sie eine neue und bereichernde Perspektive für die Zukunft des Viertels“ (ebd:Interview). Mithilfe ihrer Lehrer*innen haben sie die verschiedenen Presseartikel einer vergleichenden Lektüre unterzogen, kritisierten die Lokalzeitung „Le Dauphiné Libéré“, verurteilten die Tat und ihre Gewalt, stellten aber auch die Gewalt der Sprache infrage, in der über ihr angeblich geliebtes Viertel gesprochen wurde. Sie brachten ihre Wut sowohl gegen „diejenigen, die das Viertel entwürdigen“, als auch gegen „diejenigen, die schlecht reden“ (ebd:Interview) zum Ausdruck. Die Frage der Gewalt, auch der Gewalt gegen Kinder, wurde Gegenstand eines Sonderthemas. Die Ausgabe mit dem Einkaufswagen und die Ausgabe über Drogen waren die Favoriten der Kinder (Umfrage in Ausgabe 16).
In meinem Interview, das ich mit den ehemaligen Lehrer*innen führte, wie auch im Text von Albert Sousbie betonten alle, dass La Villeneuve ein Ort sei, an dem bereits ein dichtes Netz von Textproduktionen existiere. Es gäbe Zeitungen für Erwachsene, Zeitungen für einzelne Immobilien, Rundbriefe lokaler Vereine sowie das Experiment einer lokalen TV-Video-Gazette. Das Interessante an der Schüler*innenzeitung bestand also nicht darin, dass sie von Kindern geschrieben wurde, sondern dass sie deren Standpunkte und Meinungen wiedergab. Dies wiederum trug dazu bei, ihren Platz in der Gesellschaft zu verändern, ebenso wie die öffentliche Wahrnehmung dessen, was sie zu sagen hatten. Albert Sousbie schrieb: „Was wir hier sehen, ist der Versuch, eine Bevölkerungsschicht zu charakterisieren und zu differenzieren. Aus der Lektüre von DESM scheint klar zu werden, dass hier eine Lücke zu füllen ist, Territorien, die es zu erforschen und abzustecken gilt.“ (Sousbie 1997:o.S.) Und dieser Wandel des Platzes der Kinder in der Gesellschaft wurde von den Kindern selbst begleitet und reflektiert.
In diesem Sinne erscheint mir die Ausgabe 16, die im November 1992 unter dem Titel „Des enfants s’en mêlent s’en mêle“ veröffentlicht wurde, als grundlegend und kommt einer Form der Praxis, einer Form der Reflexion im Handeln gleich. Den Kindern zufolge entstand diese Ausgabe, „weil es für uns und unsere Leser*innen nützlich ist, zu verstehen, warum und wie diese Zeitung gemacht wird“ (Interview mit Schüler*in). Die Ausgabe dokumentiert somit eine Analyse der Gemeinschaftsproduktion der Schüler*innenzeitung, ihrer Einbettung in ihr soziales Umfeld und ihres Wunsches, über die Schule hinaus auf Institutionen einzuwirken. Generell ist die Schüler*innenzeitung ein Ort, an dem Demokratie und Zivilgesellschaft eingeübt werden können. Sie informiert darüber hinaus auch andere wie Eltern, Nachbar*innen usw. über die Art und Weise, wie Lernen in bestimmten Unterrichtsformaten und in der Schule stattfindet, und – etwa Dank der Ausgabe zum Thema ,das Wort ergreifen‘ – auch über die Arbeit des Kinderrates oder jene des Gemeinschaftsrates.
Retrospektiv: Wirkungen
Jean Le Gal, Dozent für Erziehungswissenschaften und ehemaliger Grundschullehrer, erklärt: „Mit seiner Aktion, ein Erziehungsmodell für das Volk zu schaffen, stellte sich Freinet von Anfang an fest in die Tradition der libertären und sozialistischen Pädagog*innen, für die die Selbstorganisation der Kinder und die gemeinschaftliche Arbeit grundlegende Prinzipien waren“ (Le Gal 2005:30). Aber er fügte hinzu, dass „es nicht ausreiche, Selbstverwaltung zu verordnen, um sicherzustellen, dass jedes Mitglied der Gruppe oder die Gruppe selbst in der Lage ist, sie umzusetzen. Es ist hier ein Prozess des sozialen Lernens durch eine Praxis, die kollektiv analysiert wird, notwendig“ (ebd.:31f.). Raymond Fonvieille, der sich selbst als Pädagoge bezeichnet und einer der Väter der Pädagogik der Selbstverwaltung ist, spricht von der „Arbeitsgemeinschaft“, in der Lehrer*innen und Schüler*innen „wenn nicht gleich an Wissen, Status oder Macht, so doch zumindest gleich an Rechten“ (Fonvieille 1998:16) sind.
Obwohl George Lapassade, französischer Philosoph und Soziologe, behauptet, dass es allen Pädagogiken der Selbstverwaltung an institutioneller Analyse fehle (vgl. Lahimi 1994:81), scheint mir, dass „Des enfants s’en mêlent s’en mêle“ doch einige Ansätze einer solchen Analyse bietet. Jean Le Gal kritisiert im Übrigen die Aussagen von Lapassade über die Grenzen der Selbstverwaltung in den Freinet-Klassen. Der ehemalige Lehrer Emmanuelle Buffin insistierte im Interview mit mir auf der Tatsache, dass dies sicherlich alles andere als eine „Hippie-Pädagogik“ sei, dass es vielmehr sehr wichtig sei, „diese libertäre Pädagogik nicht für schlampig oder lasch zu halten. Im Gegenteil, sie war eine riesige Herausforderung“ (Emmanuelle Buffin). Die Schüler*innenzeitung war, wie Freinet betonte, eine kreative und produktive Tätigkeit mit sozialer Dimension, die sich durch die Verbreitung in der Nachbar*innenschaft einlöste. „Wir machen es, wir bringen es zu Ende, wir gehen den ganzen Weg und tun nicht nur so als ob“, sagte Buffin zu mir: „Es wird dann einfach und versteht sich von selbst: etwas herauszugeben, um etwas zu zeigen.“ (Interview Buffin) Das Überarbeiten nahm dabei einen wichtigen Platz ein und veranlasste Buffin zu sagen: „Es zeugt nicht von Respekt gegenüber Kindern, wenn man sagt: ‚Ihr habt einen kurzen zweizeiligen Text geschrieben, der zwar keinen Sinn macht, aber wir lassen ihn so, weil wir anerkennen, dass ihr ihn geschrieben habt, er ist großartig!‘“ (Interview Buffin).
Die Zeitung wurde also von einer Koordinierungsgruppe, einem für jede Ausgabe erneuerten Redaktionsausschuss erstellt, der das Vermittlungsobjekt vom Anfang bis zum Ende umsetzte. Anhand dieses Objekts war es möglich, Dualitäten wie die Beziehung zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen, Eltern und Kind, Schule und Nachbar*innenschaft wieder ins Spiel zu bringen. Wissenschaftler*innen der institutionellen Pädagogik, die die psychoanalytischen Effekte beim Spielen in Klassen mit Freinet-Techniken untersuchten, haben sich, inspiriert von der institutionellen Psychiatrie, ausführlich mit der Rolle dieser Objekte in Gruppensituationen befasst. Dank der Zeitung können die Beziehungen auf einer höheren Komplexitätsebene analysiert werden, was sich wiederum auf die Realität auswirkt. Auf diese Weise bringt sie neue Sozialkompetenzen hervor. Dies ist eine der Hypothesen, die Albert Sousbie den Leser*innen präsentiert: „Noch bevor es Informationen produziert, ermöglicht dieses kleine Presseorgan, neue soziale Verbindungen hervorzubringen“ (Sousbie 1997:o.S.).
Ähnlich definierte Michel Lobrot das Experiment als eine Pädagogik der Selbstverwaltung von Raymond Fonvieille. Seiner Ansicht nach erhebt Fonvieille „den Anspruch, neue soziale Verbindungen zwischen [den Menschen] herzustellen, eine neue Relationalität“ (Lobrot 1998:9). Die institutionelle Pädagogik der Selbstverwaltung war einer der Bezugspunkte für die Gruppe La Villeneuve, die darauf bestand, unterschiedliche Methoden aufgegriffen und später für sich angepasst zu haben (vgl. Lahimi 1994:45). Dabei ist es unbestreitbar, dass die Zeitung ein Mittel ist, das mehrere Ziele verfolgte – pädagogische, literarische, informative und demokratische. Zugleich strebte sie eine echte soziale Transformation an: die Anwendung der Kinderrechte, die Umsetzung der Koedukation unter Einbeziehung der Eltern oder ganz einfach die Instandsetzung öffentlicher Einrichtungen. Schließlich wird diese Arbeit innerhalb des relativ geschützten Raums einer Institution durchgeführt. Nichtsdestotrotz stimme ich dem Pädagogen Fernand Oury zu, der davon überzeugt ist, dass „die gleichen Phänomene in ganz ähnlichen Formen zu finden sind, sei es bei psychisch Kranken und Pflegepersonal in therapeutischen Vereinen, bei Kindern und Erzieher*innen in kooperativen Klassen oder ganz einfach bei Erwachsenen in Arbeitsgruppen mit einem gemeinsamen Ziel“ (Oury 1994:54).