Wahrnehmung von zeitgenössischem Tanz aus Sicht von Zuschauer*innen - eine qualitative Studie

Dadurch, dass ich so viel versucht habe, eine Botschaft etc. zu erkennen, konnte ich mich nicht richtig mitreißen lassen.

Artikel-Metadaten

von Verena Freytag, Susanne Dreßler, Julia Brennecke

Erscheinungsjahr: 2024

Peer Reviewed

Abstract

In dem Beitrag werden Ergebnisse einer qualitativen Studie zu Wahrnehmungs- und Rezeptionsweisen mit zeitgenössischem Tanz dargestellt. Die Studie versteht sich als Beitrag zur Rezeptionsforschung und zur kulturellen Bildungsforschung im Tanz und ist Teil des Forschungsprojekts „Watchin`Dance – Wie Jugendliche Tanz rezipieren“, das am Institut für Musik der Universität Kassel angesiedelt ist. Auch wenn in den vergangenen Jahren die kulturelle Bildungsforschung im Tanz an Bedeutung gewonnen hat, lag der Schwerpunkt deutlich auf den gestalterisch-kreativen Tätigkeiten und der Tanzvermittlung (u.a. Ludwig/Thomsen 2020; Neuber et al. 2020; Pürgstaller et al. 2020). Die Perspektive auf die Rezeption von Tanz ist dagegen unbeachtet und flankiert höchstens allgemeinere Aussagen zu kulturellen Interessen und Aktivitäten Jugendlicher und junger Erwachsener (Theurer et al. 2020; Keuchel/Riske 2020). Auch die Frage nach Bildungspotenzialen im Tanz beziehen sich bislang vor allem auf gestalterisch tänzerische Tätigkeiten (Klinge 2017). Die vorliegenden Ergebnisse basieren auf einer Fragebogenerhebung mit Zuschauer*innen nach dem Besuch des Stücks Urlicht I Primal Light I πρωταρχικό φως des Choreografen Andonis Foniadakis (TANZ_KASSEL, Staatstheater Kassel). Wir kommen zu dem Schluss, dass die Äußerungen der befragten Zuschauer*innen im Spannungsverhältnis von Verstehensbemühungen und pathischem Miterleben zu verorten sind und sehen gerade in dem „Nichtverstehen“ die besonderen Bildungspotenziale.

Einleitung

Der Besuch von zeitgenössischem Tanz geht nicht selten mit Befremdung einher. Dies zeigen uns Erfahrungen in der universitären Lehre, wenn wir mit Studierenden eine Tanztheateraufführung besuchen. Manchmal sind die Reaktionen der Studierenden begeistert und angeregt, meist aber eher höflich im Sinne von „das war eine interessante Erfahrung“ oder auch schweigend distanziert. Der Tanztheaterbesuch wird dann als Irritation und auch als „Zumutung“ (Bereswill/Freytag 2019) erfahren. Im Kasseler Forschungsprojekt Watchin`Dance versuchen wir, den verschiedenen individuellen Erlebnisqualitäten, die mit der Rezeption von zeitgenössischem Tanz verbunden sind, näherzukommen. Wir verstehen das Projekt als einen Beitrag zur Rezeptionsforschung im Tanz sowie zur kulturellen Bildungsforschung im Tanz. Ziel ist es, aus der Mikroanalyse von Erlebnisdimensionen bei der Tanzrezeption Bildungspotenziale für junges Publikum abzuleiten. Wir versuchen dabei, die individuellen, situativen und auch flüchtigen Erlebnisqualitäten, die sich während des Besuchs eines Tanztheaterstücks einstellen, zu rekonstruieren. Dabei stellt sich auch die Frage, wie die Zuschauer*innen mit der abstrakten und manchmal schwer kodierbaren Bewegungssprache im Tanz umgehen.

Denn nicht nur in der Produktion, sondern auch in der Rezeption von Tanz können wertvolle Bildungserfahrungen emotionaler und sozialer Art liegen. Rezeption als ein Bereich ästhetisch-kultureller Bildung erfordert eigene Stellungnahmen zu künstlerisch­en Produkten, Urteilsbildungen und Artikulationen. „Indem freie Stellen im Werk durch ein individuelles Zugangsrepertoire gefüllt werden, verbinden Betrachtende vorliegende Aspekte des Werkes aus eigenen Perspektiven“ (Reuter et al 2020:249). Im Tanz liegen hier als leiblich fundierter Kunstform besondere Möglichkeiten (Klinge 2017). Der derzeit an Bühnen dominierende ‚zeitgenössische‘ Tanz zeigt sich in besonderer Weise bedeutungsoffen und wird oft als schwer zugänglich erfahren. So sind die Stücke in der Regel offen „für eigene Wahrnehmungen, Lesarten und Sichtweisen auf das Stück“ (Klein 2019:317). Weiter verbindet sich mit zeitgenössischem Tanz kein spezielles Bewegungsvokabular oder choreografisches Verfahren (Traub 2001). Es finden sich heterogene Tanzstile, wie klassisches Ballett, Postmoderner Tanz, Kontaktimprovisation, Tanztheater, HipHop, aber auch Alltagsbewegungen wie Gehen, Laufen, Fallen und Improvisation. Die Stücke wirken oft unabgeschlossen und fragmentarisch. Nachvollziehbare Handlungsstränge sind selten erkennbar. Zeitgenössischer Tanz wird von Susanne Traub (2001) mehr als Haltung denn als Bewegung charakterisiert. Dabei versuchen die Stücke im zeitgenössischen Tanz oft, gesellschaftlich relevante Themen sichtbar zu machen und zum Nachdenken anzuregen. Denn „[die] Unabgeschlossenheit der Stücke provoziert einen Denkprozess beim Zuschauer, die Grenzen zwischen Kunstproduktion und Kunstrezeption lösen sich auf“ (Klein 2005:25). Zeitgenössischer Tanz hat nach Gabriele Brandstetter (o.J.) außerdem eine kritische und politische Dimension und ermöglicht eine kritische Positionierung gegenüber Normen. Es werde versucht, im zeitgenössischen Tanz „in Bewegung und Musik aktuelle politische Themen widerzuspiegeln, wie zum Beispiel Migration, Fragen der Identität, der Fremdheit“ (ebd.). Damit bietet der zeitgenössische Tanz grundsätzlich ein Feld zur Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Themen, mit Rollen- und Weltbildern, Identitätsentwürfen und Körperlichkeit. Anders als in Literatur oder Theater spielt das Sprachverständnis bei der Tanzrezeption dabei keine Rolle.

Während für verschiedene künstlerische Felder Bildungspotenziale herausgearbeitet wurden (z.B. Mollenhauer 1996), ist speziell die Tanzrezeption mit Blick auf die Frage, was (junge) Menschen daran bildend erfahren können, bislang unerschlossen. Das Kasseler Forschungsprojekt Watchin`Dance widmet sich diesem Desiderat. Es verfolgt das Ziel, den verschiedenen individuellen Erlebnisqualitäten, die mit der Rezeption von Tanz verbunden sind sowie den damit einhergehenden Bildungspotenzialen in einer Mikroanalyse näherzukommen und Bildungspotenziale für junges Publikum abzuleiten. Wir orientieren uns dabei an theatertheoretischen und kunstphilosophischen Diskursen (z.B. Lehmann 1999; Fischer-Lichte 2004; Deck/Sieburg 2004; Carduff et al. 2015; Weiler/Roselt 2017; Wihstutz 2022) sowie tanzwissenschaftlichen Perspektiven auf Publikum (z.B. Berger 2006; Husel 2014; Wörner 2015; Wieczorek 2017; Klein 2019) und legen – wie folgend dargestellt wird – rezeptionsästhetische Annahmen für unsere Analyse zugrunde. Wir orientieren uns dabei außerdem an einem Verständnis von Tanz und Theater als ein komplexes, situatives und „ereignishaftes“ Geschehen (Fischer-Lichte 2004:284).

Rezeptionsästhetische Perspektiven

Nach den Vertreter*innen der Rezeptionsästhetik (Iser 1975; Ingarden 1975) sind Kunstwerke grundsätzlich auf die Betrachtenden hin ausgelegt und entwickeln ihre Bedeutung erst im subjektiven Prozess der Rezeption. „Unbestimmtheitsstellen“ (Ingarden 1975) bzw. „Leerstellen“ (Iser 1975) im Werk regen dazu an, diese mit eigenen Vorstellungen, Erfahrungen, Bildern oder Fantasien zu komplettieren. Sowohl der von dem Philosophen Roman Ingarden geprägte Begriff der „Unbestimmtheitsstelle“ wie auch die sich daran anschließende Idee der „Leerstelle“ des Literaturwissenschaftlers Wolfgang Iser heben damit die grundsätzliche Unabgeschlossenheit von Texten oder Kunstwerken hervor: „beide wollen damit sagen, dass Kunstwerke punktuell unvollendet sind, um sich im Betrachter zu vollenden. Diese Unvollendetheit ist eine konstruktive, „intendierte“ (Kemp 1986:254). Die Bedeutung literarischer Texte entwickelt sich erst im Leseprozess: „sie sind das Produkt einer Interaktion von Text und Leser und keine im Text versteckte Größen, die aufzuspüren allein der Interpretation vorbehalten bleibt.“ (Iser 1975:229) Leerstellen im Text sind eine Art Bedeutungsangebot für Leser*innen, die diese ausgelöst von der literarischen Darstellung individuell mit Bedeutung füllen. Der ursprünglich in der Literaturwissenschaft entwickelte rezeptionsästhetische Ansatz ist nachfolgend für andere ästhetische Bereiche weiterentwickelt worden (z.B. Kemp 1986).

Auch in den theater- und tanzwissenschaftlichen Debatten ändert sich seit den 1990er Jahren der Blick auf das Verhältnis von Werk und Publikum und der Ereignischarakter von Aufführungen rückt in den Fokus (z.B. Lehmann 1999; Fischer-Lichte 2004; Roselt 2008; Weiler/Roselt 2017). Vorbereitet durch Autoren wie Ranciere, Artaud, Brecht und der Performancekunst werden Begriffe wie Ereignishaftigkeit, Aktion, Situation, Unwiederholbarkeit konstitutiv für den performativen Akt der Aufführung (Klein 2019; Wihstutz 2022) und Wahrnehmungen beispielsweise von Raum, anderen Rezipient*innen etc., spielen hiernach eine Rolle. Aufführungen unterscheiden sich dabei von Inszenierungen als sich nie wiederholende Ereignisse und werden aus Perspektive der Zuschauer*innen miterfahren. Als Folge lässt sich auch eine polare Einteilung von agierenden Darsteller*innen und passiv reagierendem Publikum nicht aufrechterhalten: „Was immer die Akteure tun, es hat Auswirkungen auf die Zuschauer, und was immer die Zuschauer tun, es hat Auswirkungen auf die Akteure und die anderen Zuschauer“ (Fischer-Lichte 2010:26). Die Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte bringt in diesem Zusammenhang das Konzept „leibliche Kopräsenz“ (Fischer-Lichte 2004) in Stellung. Damit ist gemeint, dass im Unterschied beispielsweise zu medialen Kinovorstellungen Darstellende und Publikum bei Live-Aufführungen ihre Anwesenheit teilen und in ihrer Wahrnehmung unmittelbar aufeinander bezogen sind. Dabei wird die leibliche Kopräsenz durch verschiedene Faktoren wie Aufführungssituation, Räumlichkeiten, Atmosph­ären, Habitusformen, Sehgewohnheiten, situative Bedingungen und Wissen der Zuschauer*innen beeinflusst (Klein 2019). Nach diesem Ansatz sind in dem komplexen Geschehen „Aufführung“, welche nicht als Produkt, sondern als das situative, gemeinsam erfahrene Ereignis verstanden wird, Zuschauende, Aufführungssituation und Inszenierung kaum voneinander zu trennen. Während der Aufführung werden die Zuschauer*innen dann zu einem Teil eines gemeinschaftlichen und individuellen Wahrnehmungsprozesses (Benthien 2002; Husel 2022). Das Zusammenspiel von Vorerfahrungen, Erwartungen und situativen Bedingungen „kann wiederum selbst als eine Art »diskursive Praktik« angesehen werden, die durch eigene, subjektive Assoziationen und persönliche-ästhetische Erfahrungen in der Zuschauer*innenpraxis unterlaufen oder bestätigt wird. Die Zuschauer*innen bringen also sich (und ihre individuellen Vorstellungen, Assoziationen) in die gemeinsame Zuschauer*innenpraxis ein, nehmen daran teil und werden gleichzeitig durch diese Praxis fortwährend als Subjekte und handelnde Individuen hervorgebracht.“ (Wieczorek 2017:95)

Forschungszugänge

Mit der Hinwendung zur Rezeption als aktiven Prozess erhalten ab den 1990er Jahren auch die Zuschauer*innen in theaterwissenschaftlichen Debatten wachsende Aufmerksamkeit. Ebenfalls in den Fokus rückt damit die Frage, wie man sich forschungsmethodisch der Situativität von Aufführungssituationen aus Perspektive der Zuschauer*innen überhaupt nähern kann (Klein 2019). Methoden der qualitativen Sozialforschung sind bei der Annäherung an Zuschauer*innen kaum genutzt: „Während hier und für andere Veranstaltungen, beispielsweise des Sports, Zuschauer*innen-Befragungen gängig sind, hat sich die Theater- und Tanzforschung mit einem empirischen Methodenzugang zur Publikumsforschung bislang schwergetan.“ (Klein 2019:321) Einige jüngere ethnographische und praxistheoretische Annäherungen an Tanz/Performance liegen vor (Husemann 2009; Klein 2014; Husel 2014; Wieczorek 2017; Klein 2019). Für den Besuch von Theateraufführungen wird beispielsweise die Anfertigung von Erinnerungsprotokollen vorgeschlagen, um Wahrnehmungen von Zuschauer*innen zu ermitteln (Roselt 2004; Weiler/Roselt 2017). 

Husel (2014) wählt für ihre Analyse der Performancegruppe Forced Entertainment einen ethnografischen Ansatz und analysiert als auditive Publikumsbeforschung Audioaufnahmen von Aufführungen, in denen Publikumstätigkeiten wie Lachen, Klatschen, Husten oder Flüstern aufgenommen wurden und mit dem Stück in Beziehung gesetzt wurden. Klein (2019) und Wiezcorek (2017) nutzen für ihre Untersuchung des Werks von Pina Bausch eine eigens entwickelte praxeologische Produktionsanalyse. Das Forschungsprojekt legt dabei einen Schwerpunkt auf die Publikumswahrnehmung bzw. die Affizierung der Zuschauer*innen und befragt dafür insgesamt 417 Zuschauer*innen in Kurzinterviews zu Bauschs wiederaufgeführtem Stück Masurca Fogo („»Was sind Ihre Eindrücke von dem Stück? Können Sie mir bitte drei Stichworte nennen?«, »Was glauben Sie, woran Sie sich später noch erinnern werden?« und »Das Stück ist eine Ko-Produktion mit Lissabon, Portugal. Was glauben Sie, haben Sie über die Kultur der Portugiesen oder die Stadt Lissabon erfahren?«“ (Wiezcorek 2017:99). Außerdem wurden die Zuschauer*innen vor der Aufführung zu ihren Erwartungen und Vorerfahrungen befragt (Wiezcorek 2017; Klein 2019). In den Äußerungen der befragten Zuschauer*innen zeigt sich zum einen die Sprachlosigkeit unmittelbar nach der Aufführung und zum anderen die große Überwältigung, die sich in Begriffen wie unbeschreiblich, überwältigend und überragend (Wiezcorek 2017:104) spiegelt. Es wird auch darauf hingewiesen, dass sich die Zuschauer*innen noch im Prozess des Verarbeitens befunden haben, da sie im Zuschauerraum quasi „abgefangen“ wurden. „Das Publikum rückt somit in eine Position zwischen der individuellen ästhetischen Erfahrung und einer kollektiven Haltung des »Betroffen-Seins«, oder besser – mit Blick auf die Publikumsbefragungen – in einen Zustand des »Betroffen-Sprechens«, denn die Betroffenheit zeigt sich erst in der sprachlichen Übersetzung, die in ihrer Nachträglichkeit nur eine Übersetzung der ästhetischen Erfahrung bleiben kann.“ (Wiezcorek 2017:106) Nach Wiezcorek zeigt sich gerade in der Überforderung und in dem Aussetzen der eigenen Sprachfähigkeit das „»Unübersetzbare« der ästhetischen Erfahrung“ (ebd.) in seinen individuellen Ausprägungen.

Wir knüpfen in Watchin‘ Dance an die Befunde an und fragen, inwiefern sich mit mehr Abstand ästhetische Erfahrungsmomente in den Äußerungen von Zuschauer*innen rekonstruieren lassen. Dabei wird bewusst kein Publikumsmagnet wie die Stücke von Pina Bausch gewählt, sondern eine Choreografie eines weniger bekannten Choreografen. Um die Zuschauer*innen nicht zu überfordern und ihnen Raum für ihre Antworten zu geben, nutzen wir hierfür die Form der schriftlichen Befragung, wie in dem folgenden Kapitel ausgeführt wird. Wir knüpfen außerdem an die dargestellten rezeptionsästhetischen Vorannahmen an, in dem wir davon ausgehen, dass sich eine Tanzaufführung grundsätzlich als unabgeschlossen zeigt und sich erst in der Wahrnehmung der Rezipierenden vollendet. Wir legen außerdem das Ereignishafte und Situative von Tanzaufführungen zugrunde, was forschungsmethodisch die Konsequenz hat, dass auch Momente der Außenwahrnehmung (Raum, Atmosphäre, Publikum, Situation) einbezogen werden.

Forschungssetting: Datenerhebung und -auswertung

Anfang 2023 wurden im Rahmen einer Examensarbeit an der Universität Kassel sechs Zuschauer*innen nach dem Besuch des Stücks Urlicht I Primal Light I πρωταρχικό φως des Choreografen Andonis Foniadakis (TANZ_KASSEL, Staatstheater Kassel) zu ihren individuellen Wahrnehmungen und Eindrücken befragt (Brennecke 2023). Die befragten Personen waren im Alter zwischen zwanzig und Mitte sechzig und haben alle kaum Vorerfahrungen im Tanz. Eine Person gibt an, sich gerne frei tanzend zu Musik zu bewegen, andere Personen praktizieren Standard- und Lateinamerikanischen Tanz sowie Fitnesstänze wie Zumba. In Bezug auf ihre Rezeptionserfahrungen geben sie an, Musicals oder klassisches Ballett zu kennen. Rezeptionserfahrungen im zeitgenössischen Tanz hat keine der befragten Personen. Überwiegend erwarten sie in „Urlicht“ eine Erzählung, eine Geschichte zu sehen. Es wird aber auch angegeben, neugierig auf zeitgenössischen Tanz zu sein. Insgesamt können die Teilnehmenden als homogen in Bezug auf ihre Erwartungshaltungen und Vorerfahrungen beschrieben werden. Für den vorliegenden Beitrag ist eine Sekundäranalyse der Daten der Fragebogenstudie vorgenommen worden. Eine Sekundäranalyse bezeichnet einen „Rückgriff auf bereits vorhandene Forschungsdaten, wenn es gilt, Ergebnisse zu überprüfen oder eine neue oder ergänzende Fragestellung zu beantworten.“ (Richter/Mojescik 2021:1) Dafür wurden keine weiteren Fälle hinzugezogen. Vielmehr wurden im Sinne einer explorativ angelegten Einzelfallstudie (Yin 2003) drei der sechs befragten Personen als Einzelfälle einer vertiefenden Analyse unterzogen. Die Auswahl erfolgte kategorienbasiert, insofern Personen in die Einzelfallstudie aufgenommen wurden, die im Zuge der Erstanalyse im Kategoriensystem der Qualitativen Inhaltsanalyse als besonders interessant im Hinblick auf die Kategorie der „Schwellenerfahrung“ interpretiert worden sind. Fischer-Lichte bezeichnet mit Schwellenerfahrung einen verdichteten, intensivierten, krisenhaften Zustand im ‚Zwischen‘, der mit einer Destabilisierung von Selbst-, Welt- und Fremdwahrnehmungen einhergeht (Fischer-Lichte 2004:313). Für die vorliegende Einzelfallstudie sind die Daten mit dem Ziel einer Schärfung des Konstrukts „ästhetische Erfahrung im Modus der Tanzrezeption“ vertiefend analysiert worden. Von leitendem Interesse war hierbei, spezifische Dimensionen einer ästhetischen Erfahrungssituation bei der Tanzrezeption zu rekonstruieren. Die Ergebnisse dieser Einzelfallstudie können Ausgangspunkt für weiterführende Forschungsarbeiten mit einem breiteren Sample im Sinne einer theoretischen Sättigung sein (Strauss/Corbin 1996). Das bedeutet, es sind zukünftig Teilnehmende einzubeziehen, die beispielsweise über mehr praktische Tanzerfahrung auch im zeitgenössischen Tanz verfügen und außerdem häufiger zeitgenössischen Tanz rezipieren. Daten zum Bildungshintergrund der befragten Personen wurden nicht erhoben. Auch dies kann in anschließenden Erhebungen berücksichtigt werden.

Das Stück Urlicht I Primal Light I πρωταρχικό φως hatte am 28. Januar 2023 am Staatstheater Kassel Uraufführung. Die Süddeutsche Zeitung charakterisiert das Stück als „physische Techno-Symphonie, ein mit den Mitteln des zeitgenössischen Tanzes komponiertes, in verstörende Bilder gerinnendes Requiem auf die menschliche Spezies. 75 Minuten dann bleibt das Publikum wie erschlagen zurück.“ (Weickmann 2023:o.S.) Das Stück erscheint wie eine gewaltige Körper-, Bild- und Soundcollage, ist kraftvoll, dunkel, pulsierend, triebhaft und martialisch. Andonis Foniadakis erläutert, dass er in seinem Stück die Entwicklung aus einem beklemmenden, klaustrophobischen Sein hin zu einem hoffnungsvollen, lichtvolleren Zustand des Menschen thematisiere (Staatstheater Kassel 2023).

Die Teilnehmenden erhielten nach dem Besuch der Tanzaufführung per E-Mail einen Fragebogen mit geschlossenen und offenen Fragen. Diese Vorgehensweise sollte sicherstellen, dass sich die Befragten zunächst unbeeinflusst auf das Stück einlassen und nicht bereits während der Aufführung nach möglichen Antworten suchen. Weiterhin wurde die schriftliche Befragung als Alternative zum Interview gewählt, um den Teilnehmer*innen eine individuelle Bearbeitung der Fragen in Ruhe zu ermöglichen. Sie sollten sich nicht von der Spontaneität und zeitlichen Begrenztheit einer Interviewsituation unter Druck gesetzt fühlen. Die schriftliche Form der Befragung sollte gewährleisten, die eigenen Wahrnehmungen genauer zu betrachten, das Erlebte zu reflektieren und mit passenden Worten festzuhalten. Aufgrund der wenigen vorliegenden Befunde wurde bei der Konzeption des Fragebogens explorativ vorgegangen. Die inhaltlichen Schwerpunkte der Fragen verteilten sich wie folgt: neben einem einführenden geschlossenen Fragenkomplex zu den Vorerfahrungen mit zeitgenössischem Tanz lagen die Schwerpunkte der Fragen bei den Wahrnehmungen der Zuschauer*innen. Es wurden beispielsweise Fragen formuliert wie: „Wie hat das Stück auf dich gewirkt? Welche Empfindungen, sowohl positive als auch negative, hattest du? Was hat dich besonders beeindruckt, fasziniert, begeistert, beschäftigt, irritiert, gestört? Welche Assoziationen, Bilder, Wörter sind dir beim Schauen durch den Kopf gegangen?“ (Brennecke 2023). Die Fragen hatten das Ziel, die Zuschauer*innen zu einem möglichst offenen Nachspüren über ihre Wahrnehmungen und Erfahrungen während und nach der Aufführung anzuregen. Dabei wurde der Fokus auf die Selbstwahrnehmung gelenkt. Aber auch Fragen zur äußeren Wahrnehmung wurden gestellt (z.B. Wie war die Atmosphäre beim Schauen des Stücks? Wie haben das Gebäude, die Zuschauer, die Sitze etc. auf dich gewirkt? Welchen Einfluss hatten für dich die Musik sowie das Hören weiterer Geräusche, Stimmen, Laute? (z.B. intensivierend, störend… (ebd.). Ziel war es, mit der Multidimensionalität der Fragen dem Ereignischarakter der Aufführung gerecht zu werden. Den Teilnehmenden wurde insgesamt freigestellt, wie viele der Fragen sie beantworten wollen. Sie sollten keinen Zwang verspüren, alle Fragen ‚abzuarbeiten‘, vielmehr sollten sie sich durch die Frageimpulse zur Reflexion angeregt fühlen. Es wurde um eine Bearbeitung der Fragebögen innerhalb von fünf Tagen gebeten, damit aktuelle Wahrnehmungen und Empfindungen während des Aufführungsbesuchs noch präsent sind.

Die mittels der Software Atlas.ti gestützte Sekundäranalyse der ausgewählten Einzelfälle erfolgte nun in Anlehnung an die mehrschrittige Forschungsstrategie der Grounded Theory Methodologie (GTM) (Strauss/Corbin 1996). Es wurde dabei wie beschrieben kein Einfluss auf eine erweiterte Gestaltung des Samplings genommen. Die induktiv entwickelten Kategorien wurden in Interpretationswerkstätten diskutiert. Im Ergebnis zeigen sich in den erhobenen Daten unterschiedliche Wahrnehmungs- und Umgangsweisen mit dem Stück Urlicht I Primal Light I πρωταρχικό φως. Wie die drei Einzelfälle auf das Stück reagieren und was sie während der Aufführung empfunden haben, spiegelt ein breites Spektrum zwischen Interesse, pathischem Miterleben, Distanz bis hin zu Ablehnung. Demnach pendeln die befragten Zuschauer*innen zwischen Verstehensbemühungen einerseits und Formen des pathischen Miterlebens andererseits im Moment der Tanzwahrnehmung. Unter „pathischem“ Miterleben wird in diesem Beitrag eine starke Affizierung in dem und durch das Tanztheaterereignis verstanden. In Anlehnung an Bernhard Waldenfels bezeichnet Pathos ein „Widerfahrnis“ (2010:165), eine starke Affizierung, ein Aufmerken. Eine pathische Erfahrung besteht darin, dass „uns etwas affiziert, stimuliert, uns in Erstaunen oder Erschrecken versetzt, uns anzieht oder abstößt, uns beschwingt oder belastet“ (ebd.:23).

In der folgenden Ergebnisdarstellung betrachten wir zunächst übergreifend, wie die befragten Personen über das Stück sprechen. Im Anschluss stellen wir die von uns identifizierte Kategorie Zwischen Verstehensbemühungen und pathischem Miterleben vor.

Darstellung der Ergebnisse

Wie die Zuschauer*innen über ihre Rezeptionserfahrungen sprechen

Interessant ist, wie die befragten Zuschauer*innen ihre Annäherungen an das Stück sprachlich zum Ausdruck bringen. Übergreifend kann festgehalten werden, dass die Verstehensbemühungen sowohl inhaltlich als auch musikalisch orientiert sind. Das bedeutet, die Befragten versuchen, einerseits die inhaltliche Aussage des Tanzstücks und andererseits die musikalische Gestaltung zu verstehen. Bisweilen überlappen sich die beiden Verstehensbereiche. Im Hinblick auf die musikalische (auch tänzerische Gestaltung) fällt auf, dass die Befragten oft musik- und tanztheoretisches Wissen anführen und mittels Fachterminologie Musik und Tanz zu erfassen versuchen. Takt, Rhythmus, Techno, Hebefiguren – die verwendeten Begriffe bezeugen musikalische und tänzerische Vorkenntnisse. Insgesamt werden häufig Vergleiche angestellt, und zwar sowohl direkte Vergleiche (‚das sieht aus wie …‘) als auch indirekte über sprachliche Bilder und Assoziationen. Die sprachlichen Bilder können in drei Bereiche gefasst werden, die sich auf einem Pol zwischen konkret und abstrakt in folgender Reihung anordnen lassen: vom Menschen hergestellte Produkte, Elemente der Natur bzw. des Lebendigen sowie Facetten einer „Unterwelt“. D.h. die sprachlichen Annäherungen variieren zwischen sehr konkreten Vorstellungsbildern bis hin zu metaphorischen, ja phantastischen Formulierungen und Assoziationen. Als vom Menschen hergestellte Produkte werden konkrete Gegenstände (z.B. Skiunterwäsche, Maschinen) sowie bauliche oder industrielle Gegebenheiten (Unterführungen, industrielle Produktionen) genannt. Elemente des Lebendigen und der Natur sind beispielsweise Licht, Jahreszeiten, Erdung und Wachstum, Leben, Tod bzw. Sterben. Dazu wird eine nicht näher erläuterte Unter- oder Schattenwelt thematisiert. Quer zu diesen drei Bereichen fällt auf, dass die befragten Personen oft Gegensatzpaare benennen, wie Licht und Schatten, Yin und Yang, bewegen und abbremsen, Individualismus und Gemeinschaft, Leben und Sterben. Und schließlich werden die Verstehensbemühungen von den Befragten selbst auf eine Metaebene gehoben, indem sie darüber reflektieren, wie sie versuchen zu verstehen. So beschreiben einige konkret ihre Versuche, Bekanntes im Unbekannten zu finden. Sie erläutern ihre Strategien des Verstehens („eine Geschichte entdecken“) oder sie konstatieren – wie bereits ausgeführt –, dass die Verstehensversuche das völlige Eintauchen verhindert haben.

Bei dem Versuch das gesehene Stück mit nur einem Wort zu beschreiben, wählten die Zuschauer*innen die Worte ‚bedrückend‘, ‚deprimierend‘, ‚intensiv‘, ‚unglaublich‘, ‚temporeich‘ und ‚postmodern‘. Diese einzelnen für das Stück gewählten Wörter überschneiden sich mit den durch das Stück hervorgebrachten Assoziationen, die ebenfalls oftmals als bedrückend, deprimierend und intensiv empfunden wurden.

Auffällig ist insgesamt, dass, obwohl alle befragten Zuschauer*innen betonen, das Stück nicht verstanden zu haben, die Reflexionen etwas Anderes zeigen. Die Art, wie sie über die Choreografie sprechen bzw. schreiben, wie sie Fragen stellen und einzelne Passagen des Stücks reflektieren, zeigt aus unserer Sicht Affiziertheit wie auch durchaus ein Verständnis für das Stück.

Kategorie: Zwischen Verstehensbemühungen und pathischem Miterleben

Wir stellen nun anhand von drei Fallbeispielen vor, dass die Rezeption von Tanz der von uns befragten Zuschauer*innen durch zwei gegensätzliche Wahrnehmungsdimensionen geprägt sind: Sie beschreiben Verstehensbemühungen und Strategien des kognitiven Sich-Einlassen-Wollens und artikulieren demgegenüber aber auch ihr Bedürfnis, in das Geschehen einzutauchen. Die Daten weisen auch daraufhin, dass die Verstehensbemühungen ein Miterleben bisweilen verhindern können (Brennecke 2023). Aufgrund der besseren Lesbarkeit wurden die folgenden Zitate der Zuschauer*innen orthografisch angepasst.

Muster 1: Ein Affiziert-Werden abwehren (Fallbeispiel E)

Ankerbeispiel: „Es war schön, mal die Erfahrung eines Tanztheaters zu machen, aber ich habe für mich herausgefunden, dass mir „normale“ Theaterstücke mit Texten und Schauspiel lieber sind, weil ich da die Storyline verstehe.“ (FB E)

Zuschauerin E behält Distanz zum Bühnengeschehen und bemüht sich, diese Rolle aufrechtzuerhalten. Zuschauerin zu sein, scheint sie mit einer passiven und distanzierten Haltung zu verbinden. E hat bereits vor dem Stück eine skeptische Erwartungshaltung: „Ich habe mich vorher nicht über das Stück oder Tanztheater im Allgemeinen informiert und hatte daher auch keinerlei konkrete Erwartungen. Ich habe jedoch vermutet, dass es mir nicht gefallen könnte, da ich keinerlei Erfahrung mit Tanz habe.“ Sie bleibt auch nach dem Besuch der Aufführung bei der Vermutung, dass ihr Tanz nicht gefalle. Sie sagt im oben genannten Ankerbeispiel, dass ihr „normale“ Theaterstücke mit einer für sie verständlichen Storyline lieber seien. Tanz entspricht aus ihrer Sicht nicht der Norm, da er keine verständliche Geschichte transportiert. E wirkt ein bisschen wie ein Partygast, der auf eine Feier geht, aber von vornherein weiß, dass es ihm nicht gefallen wird. Während des Abends sucht der Gast nach Bestätigung der Vorannahmen. Es scheint, als wolle E ein Affiziert-Werden abwehren und sich schützen. Ebenfalls abwehrend wirkt die Formulierung „Es war schön mal die Erfahrung eines Tanztheaters zu machen, aber ich habe für mich herausgefunden ...“. Auch in anderen Kontexten würde diese Formulierung Abwehr signalisieren: es war schön mal die Erfahrung ... einer Bergwanderung, eines Violinkonzerts, eines Sushi-Essens, eines xy zu machen. Man gibt vor, dass man die Erfahrung wertschätzt, sagt aber im Grunde, dass man auf selbige verzichten kann.

E betont außerdem, dass das Stück bei ihr keine Gefühle ausgelöst habe, sondern nur ein „Hinterfragen“: „Gefühle hat das Stück bei mir nicht ausgelöst, sondern eher ein Hinterfragen, was die Szenen mir sagen wollen, was mal besser und mal schlechter funktioniert hat.“ Selbst wenn E verbalisiert, dass das Stück bei ihr keine Gefühle ausgelöst habe, beschreibt sie an vielen Stellen ihre Emotionen: „Auf mich hat das Stück in weiten Teilen sehr bedrückend und negativ gewirkt, da viele scheinbar reißende oder ziehende Bewegungen stattgefunden haben (...).“ Oder an einer anderen Stelle: „Jedoch war hier das Tempo, sowohl der Musik und der Bewegungen sehr schnell und wurde gefühlt auch immer schneller, dies hat für mich sehr gestresst gewirkt, als würde es viel Arbeit erfordern, um diesen Zustand der Zufriedenheit und des Einfügens in die Gesellschaft viel Arbeit erfordern.“ Auffällig ist weiter, dass sich E oft auf die Musik bezieht. Die Wirkung des Stücks scheint bei ihr wesentlich durch die Musik unterstützt worden zu sein. Der Sound wirkt auf sie auf der einen Seite befremdlich, da sie keine bekannten Strukturen erkennt, auf der anderen Seite beschreibt sie, dass die Klangfolgen zur Stimmung beigetragen haben: „Die Musik hat für mich das Geschehen auf der Bühne unterstützt, da weit überwiegend kein Text vorhanden war. Das Einsetzen eines Rhythmus hat die Stimmung verändert. (...) Die Musik hat mich überrascht, weil in vielen Teilen für mich kein Rhythmus zu erkennen war. Es war eher eine Abfolge von Tönen/ Akkorden, als das, was für mich Musik ausmacht. Sie hat die insgesamt eher bedrückende/negative Stimmung aus meiner Sicht erzeugt bzw. zumindest verstärkt.“

Auch wenn E herausstellt, dass sie das Stück nicht verstanden habe, beschreibt sie auf der anderen Seite ausführlich ihre Gedanken, Assoziationen und Eindrücke zum Stück: „Auf mich hat der vorhergehende erste Teil des Stücks sehr kämpferisch und aggressiv gewirkt. Als würden die Tänzer gegen alles ankämpfen, sowohl gegen die eigenen Ängste, die einen zurückhalten, als auch gegen die Gesellschaft, die versucht, jemanden in eine bestimmte akzeptierte Richtung und die gesellschaftlichen Normen zu zwängen.“

Ihre Eindrücke sind gut nachvollziehbar. Es zeigt sich, dass sie, obwohl sie von sich behauptet, das Stück nicht erfasst zu haben, einen durchaus verstehenden Zugang entwickelt hat. Auch zieht sie immer wieder Bezüge und verknüpft das Gesehene mit eigenen Erlebnissen: „Das gesamte Geschehen hat mich an Momente im eigenen Leben erinnert, in denen mir einfach alles zu viel geworden ist und ich das Gefühl hatte, dass 24 Stunden am Tag nicht ausreichen, um alles zu schaffen. Ich brauchte dann auch immer einfach nur Zeit ohne, dass irgendwas erledigt werden musste und ich wollte dann einfach alleine sein und durchatmen.“

E wurde im Anschluss an die Aufführung angeregt, diese im Rahmen der Befragung zu reflektieren. So konnte sie mit Abstand zur Aufführung auf diese zurückblicken und sich erneut mit ihren Wahrnehmungen und Erfahrungen auseinandersetzen. Wir nehmen an, dass durch die Reflexion, den Versuch, ihre Erfahrungen zum Ausdruck zu bringen, und durch das Übersetzen dieser in Sprache es E gelungen ist, das Gesehene neu zu ordnen, Sinnzusammenhänge herzustellen und für einzelne Szenen nachvollziehbare Interpretationen zu bilden. Der Ausdruck des Nichtverstehens und das dennoch Bilden von Interpretationsansätzen zeigt, dass das Verstehen zeitgenössischer Tanzaufführungen ein fortlaufender und individueller Prozess ist, der nicht mit dem Fallen des Vorhanges fertig vollzogen ist.

Zusammengefasst ist die Darstellung von E widersprüchlich. Auf der einen Seite scheint sie dem Genre Tanztheater abwehrend gegenüberzustehen und empfindet es als nicht „normal“. Sie betont mehrfach, dass sie die Aufführung nicht verstanden habe und dass ihr ein Theaterstück mit Sprache und Storyline lieber sei. Sie sagt weiter, dass das Stück keine Gefühle bei ihr ausgelöst habe. Auf der anderen Seite deuten Passagen in ihrer Reflexion darauf hin, dass sie emotional berührt war und das Stück auf sie eine emotionale Wirkung hatte. Dazu haben in besonderer Weise die dominanten Soundcollagen und rhythmischen Strukturen beigetragen. Sie gibt außerdem Interpretationsansätze zum Stück, die deutlich machen, dass sie durchaus ein Verständnis für das Stück entwickelt hat, auch wenn sich dieses unter anderem im Anschluss an die Aufführung gebildet hat. Ihre Aussagen deuten aus unserer Sicht darauf hin, dass sie kognitiv wie emotional intensiver in das Stück involviert war, als sie sich zugesteht.

Muster 2: Zwischen Intensität und Distanz schwanken (Fallbeispiel C)

Ankerbeispiel: „Durch die dunkle Umgebung hat das Stück fast schon hypnotisierend gewirkt. Dadurch, dass ich so viel versucht habe eine Botschaft etc. zu erkennen, konnte ich mich nicht richtig mitreißen lassen.“ (FB C)

In dem Ankerbeispiel spiegeln sich zentrale Aspekte der Rezeptionserfahrung von Zuschauerin C. Auf der einen Seite hat das Stück eine fast hypnotisierende und auch bedrohliche Wirkung auf sie. Auf der anderen Seite unternimmt sie den Versuch, sich von der hypnotischen Wirkung zu distanzieren, in dem sie sich um kognitive Interpretationsarbeit bemüht. Wie auch die anderen befragten Zuschauer*innen habe sie versucht, eine Botschaft zu erkennen, diese aber nicht entschlüsseln können: „Ansonsten habe ich versucht, eine Geschichte oder Botschaften zu erkennen, die mit dem Tanz ausgedrückt werden könnten. Das hat aber leider nicht so gut geklappt.“ Wie auch im Fallbeispiel E widerspricht hier die Eigenwahrnehmung aus unserer Sicht den schriftlichen Darstellungen. In den Ausführungen von C zeigt sich ein durchaus verstehender Zugriff auf das Stück. An mehreren Stellen benennt sie nachvollziehbar ihre Eindrücke und Assoziationen. Beispielsweise schreibt sie: „Die Stimmung während des Stücks hat auf mich meist negativ gewirkt. Oft hatte ich das Gefühl, dass Konflikte und in Teilen auch Machtausübung dargestellt wurden.“

Die oben dargestellten Pole von Intensität und Distanz spiegeln sich auch in den sprachlichen Beschreibungen von C, die insgesamt weniger ausführlich beschreibend als stichpunktartig und aufzählend sind. Auf der einen Seite nutzt sie für ihre schriftliche Reflexion Adjektive wie „hypnotisierend“, „düster“ und mehrfach „intensiv“. Auch auf die Frage: „Wenn du das Stück mit nur einem Wort beschreiben dürftest, welches Wort wäre es?“ antwortet sie: „intensiv“. Das Stück habe Gefühle von Überraschung, Spannung, Beklemmung, Verwunderung, Besorgnis und Bewunderung bei ihr ausgelöst. Auch die Wirkung von Musik und Bühnenbild beschreibt C als beunruhigend. Die Musik „war sehr intensiv und laut, teilweise hat sie auch bedrohlich gewirkt“. Auch das Bühnenbild hatte eine für sie beklemmende Wirkung: „Die Tunnel haben etwas beklemmend gewirkt. Allgemein war es eher dunkel auf der Bühne.“ Auf der anderen Seite wirken ihre schriftlichen Reflexionen skizzenhaft und nüchtern. Es scheint, als wolle sie mittels ihrer distanzierten Beschreibung die Eindrücke des Stücks von sich fernhalten. Das Stück beschreibt sie insgesamt als „ein bisschen zu befremdlich“, was auch verhindert habe, dass sie in das Stück habe eintauchen können. Vielleicht traut sich C nicht, sich emotional auf das Stück einzulassen, da es für sie zu fremd und zu verunsichernd wirkt. Es lässt sich vermuten, dass ihr die starke Fremdheitserfahrung im Wege gestanden hat. Bezogen auf das Konzept der Schwellenerfahrung vermuten wir, dass C es (noch) nicht schafft, sich auf die Unsicherheit der Schwellenerfahrung bei der Rezeption einzulassen, diese aber durchaus schon spürt. Hierzu passt auch ihr abschließendes Fazit, in dem sie schreibt, dass der Besuch der Aufführung eine „ganz neue Erfahrung“ war und sich dafür bedankt.

Wir nehmen weiter an, dass das starke Bedürfnis von C, das Stück verstehen zu wollen, damit zusammenhängt, Sicherheit zurückgewinnen zu wollen. Die Interpretationsversuche werden in dem Beispiel von C zu einer Art „Notausgang“ einer als befremdlich, aber auch intensiv wahrgenommenen Rezeptionserfahrung. Dies trifft auch für die anderen Zuschauer*innen zu. Die intensiven visuellen, akustischen Eindrücke, die sich fast körperlich in der Wahrnehmung der Zuschauer*innen niedergeschlagen zu haben scheinen, evozieren bei den Zuschauer*innen eine Art Gegenbewegung. Diese Gegenbewegung deuten wir als Versuch, wieder „festen Boden unter den Füßen“ zu erlangen und sich dem starken Sog der Aufführung entziehen zu wollen. Den hier befragten Zuschauer*innen gelingt dies vor allem durch ihnen bekannte Strategien wie dem Interpretieren. Sie greifen scheinbar auf ihnen vertraute und eingeübte Verfahren im Umgang mit ästhetischen Produkten zurück.

Muster 3: Sich dem Ereignis hingeben (Fallbeispiel B)

Ankerbeispiel: Am Anfang war ich sehr überfordert damit, was ich sehe, höre und fühle. Nach einer kurzen Weile habe ich angefangen, Interpretationen für das Gesehene zu suchen, um das Ganze einzuordnen. Das hat für eine Weile funktioniert, doch nach der Szene, wo die Tanzenden über die Bühne gerannt sind, habe ich den Faden in meiner Interpretation verloren und von da an hatte ich das Gefühl, ich habe „einfach nur“ zugeschaut. Ähnlich ging es mir, wenn die Tanzenden in Gruppen getanzt haben. Selbst wenn sie die gleichen Bewegungen ausgeführt haben, waren sie doch nie ganz synchron. Ich habe das Gefühl, das Stück war anfangs sehr anspruchsvoll für mich, weil es mir immer wieder gleichmäßige und lineare Bewegungen aufgezeigt und diese dann dekonstruiert und verändert hat. Kurzum, mein Kopf hat viel gearbeitet, weil er versucht hat, Bekanntes im Unbekannten zu finden. Später habe ich dann mehr begeistert die Bewegungen verfolgt.“ (FB B)

Zuschauerin B formuliert im oben genannten Ankerbeispiel, wie sie zunächst um eine Interpretation der Tanzaufführung bemüht ist, sich im Verlauf des Stücks aber mehr und mehr dem Geschehen hingeben kann. Trotz oder vielleicht auch wegen der für sie überwältigenden Eindrücke gibt B an einem Punkt auf, das Geschehen auf der Bühne verstehen zu wollen. Es scheint, als würde es ihr gelingen, die Suche nach Botschaft und Bedeutung zu vernachlässigen und sich stattdessen dem Aufführungsereignis hinzugeben. Das Geschehen auf der Bühne ‚schwappt‘ in gewisser Weise auf sie über. Als einen Schlüsselmoment beschreibt B eine Szene, die sie „Rennszene“ nennt. „Ich glaube, ich war von Anfang an gebannt vom Geschehen. Aber nach der Szene, wo so viel gerannt wurde, habe ich mich komplett im Tanz und der Musik verloren.“ Die sowieso schon schnellen Bewegungsabfolgen werden an dieser Stelle von einem gleichförmigen Laufen der Tänzer*innen abgelöst. Die Szene habe sie so mitgenommen, dass sie mit ihren Interpretationsversuchen nicht mehr mitgekommen sei und daraufhin „einfach nur“ zugeschaut habe.

Wie B an einer anderen Stelle ausführt, ist die Szene auch deshalb für sie bedeutend, weil sie hier vertraute Bewegungsmotive wiedererkennen kann: „Die Rennszene fand ich einfach nur sehr schön, sie hat mich gefesselt und vielleicht fand ich sie auch schön, weil es vertrautere Bewegungen waren als die vorherigen.“ Das Anknüpfen an bekannte Formen, das Wiedererkennen von gewohnten Bewegungen verknüpft B mit Gefallen. Die Konfrontation mit der für sie ungewohnten Bewegungssprache des Stücks und auch der fehlenden Synchronität empfindet sie dagegen als herausfordernd. Es scheint, als könne sie sich zunächst gewohnten und für sie geradlinig wirkenden Bewegungen anvertrauen, diese vertrauensvolle Rezeptionserfahrung wird aber permanent gestört und in Aufruhr gebracht. In ihrer Beschreibung vermittelt B den Eindruck, als würde ein zunächst normal erscheinender Spielfilm immer wieder durch irritierende Störbilder verzerrt: „Ich habe das Gefühl, das Stück war anfangs sehr anspruchsvoll für mich, weil es mir immer wieder gleichmäßige und lineare Bewegungen aufgezeigt und diese dann dekonstruiert und verändert hat. Kurzum, mein Kopf hat viel gearbeitet, weil er versucht hat, Bekanntes im Unbekannten zu finden“. Für B ist die Bewegungssprache des Stücks irritierend. Dabei artikuliert sie die Irritation höchst reflektiert als das Identifizieren von Bekanntem im Unbekannten.

B beschreibt außerdem die Fülle der auf sie einwirkenden visuellen, akustischen und kinästhetischen Eindrücke, die sie anfänglich als überfordernd wahrnimmt. Sie formuliert beispielsweise, dass viele Reize auf sie „eingeprasselt“ seien; dass sie sich von dem grellen Licht geblendet gefühlt habe und dass sie nach dem Stück voll neuer Eindrücke gewesen sei, die sie habe verarbeiten müssen. Sie beschreibt auch ihre körperlichen Reaktionen auf das Stück: „Zu Beginn war ich angespannt. Wenn die Musik besonders laut war, hatte ich teilweise Herzklopfen, manchmal habe ich mich zum Takt mitbewegt (vermutlich auch öfter, ohne dass ich es direkt bemerkt habe). Teilweise habe ich mich auch vom grellen Licht des Tischs geblendet gefühlt.“ Bemerkenswert sind die sprachlichen Formulierungen, die B für die Beschreibung ihrer Rezeptionserfahrung nutzt. Formulierungen wie: „sehr eng, beengt, auf mich einprasseln, Enge des Saals, sehr viele Reize, Drang, katalysieren, gespannt, habe ich den Faden verloren, gebannt, habe ich mich komplett im Tanz und der Musik verloren, hat mich gefesselt, Anspannung, Verwirrung, fast zerrissen, verdreht und ausgerenkt“ verweisen auf die intensive körperliche Involviertheit der Zuschauerin. Die sinnlichen Eindrücke des Stücks scheinen sich auch auf B niedergeschlagen bzw. übertragen zu haben.

Der von B beschriebene Akt der Annäherung an das Stück ist anstrengend. Dass sie nach der Aufführung müde ist, ist nachvollziehbar. Es wirkt fast, als habe sie eine schwere körperliche und intellektuelle Arbeit vollzogen: „Und als ich rauskam, musste ich viel gähnen – ich habe mich während der Vorstellung nicht müde gefühlt, aber vermutlich war mein Kopf vom ganzen Verarbeiten müde geworden.“

Zusammengefasst beschreibt B einen intensiven, komplexen, auf emotionaler und kognitiver Ebene sich körperlich auswirkenden, er- und eingreifenden Prozess des Involviertseins in das tänzerische Bühnengeschehen. Eine Art „Feuerwerk“ für Sinne und Verstand und somit exemplarisch für das Wechselspiel aus Diastase und Pathos, wie es Bernhard Waldenfels (2002) in seinem phänomenologischen Erfahrungsbegriff erörtert. (Anm.: Das Changieren ist Ausdruck dessen, was Fischer-Lichte mit dem Wechsel von Stabilität und Instabilität als Grundmomente der ästhetischen Erfahrung beschreibt, was Waldenfels als Zusammenwirken von Pathos und Diastase als Grundmomente eines phänomenologisch orientierten Erfahrungsbegriffs erfasst (Waldenfels 2002:9) oder was Martin Seel (2000:148-149) mit dem Durchlaufen von kontemplativen, korresponsiven und imaginativen Wahrnehmungsvollzügen für eine ästhetische Erfahrung verdeutlicht. Diese Wechselverhältnisse sind Kern von ästhetischen Erfahrungen. Man könnte auch sagen sie zirkulieren zwischen kontemplativen, korresponsiven und imaginativen Wahrnehmungsvollzügen, denn die Grenzen zwischen diesen Vollzügen sind nach Seel (Seel 2000:149) fließend.)

Diskussion der Ergebnisse: Nichtverstehen als Chance

Die vorliegende Studie hat anhand von drei Beispielen untersucht, wie Zuschauer*innen das Stück Urlicht I Primal Light I πρωταρχικό φως wahrgenommen haben. Als explorative Studie wurden zunächst erste Ergebnisse vorgestellt. Für weiterführende Forschungsarbeiten ist eine Erweiterung des Samples im Hinblick auf eine theoretische Sättigung notwendig, beispielsweise indem auch Zuschauer*innen eingebunden werden, die über mehr Erfahrung und Vorwissen in Bezug auf zeitgenössische Tanzaufführungen verfügen. Als erste Ergebnisse kann festgehalten werden: Die Tanzrezeption der von uns befragten Zuschauer*innen ist durch zwei gegensätzliche Wahrnehmungsdimensionen geprägt: auf der einen Seite beschreiben sie Verstehensbemühungen und Strategien des kognitiven Sich-Einlassen-Wollens. Auf der anderen Seite artikulieren sie aber auch ihr Bedürfnis, in das Geschehen einzutauchen. Und sie zeigen durch ihre Beschreibungen, wie Verstehensbemühungen ein Miterleben bisweilen verhindern können. Als Konsequenz changieren die Zuschauer*innen zwischen Verstehensbemühungen und pathischem Miterleben. Die befragten Zuschauer*innen sind mit einem Stück konfrontiert, dass ihre Sehgewohnheiten irritiert und tradierte Rezeptionsweisen infrage stellt. Diese Fremdheitserfahrung bezieht sich auf eine nicht erkennbare Handlung, ungewohnte und dekonstruierte Bewegungen und irritierende Soundcollagen. Die neuen Perspektiven auf Bewegung, Tanz, Theater und Musik wirken in unterschiedlichen Graden befremdlich und die Zuschauer*innen reagieren mit verschiedenen Graden der Abwehr bzw. Offenheit, was wir exemplarisch anhand der schriftlichen Reflexionen von drei Zuschauerinnen erläutert haben. Während Zuschauerin E versucht, ihre Abwehrhaltung aufrechtzuerhalten, zeigt Zuschauerin C in der Wortwahl und Beschreibung ihrer Wahrnehmung Momente intensiven Erlebens. Zuschauerin B artikuliert Fremdheitserfahrungen, scheint sich aber trotzdem für die ungewohnten Seh- bzw. Rezeptionserfahrungen öffnen zu können. Die Daten unserer Studie verweisen darauf, dass es den befragten Zuschauer*innen insgesamt schwerfällt, sich auf das Tanztheatererlebnis einzulassen. Ihr Hauptaugenmerk liegt darauf, eine Botschaft entschlüsseln zu wollen. Wir haben das starke Bedürfnis, eine eindeutige Botschaft erkennen zu wollen, als Rückgewinnung von Sicherheit gedeutet. Die Fremdheitserfahrung scheint so massiv, dass die Interpretationsversuche zu einer Exitstrategie in einem als befremdlich wahrgenommenen Tanztheaterereignis werden. Maßgeblichen Anteil hat dabei das Stück Urlicht I Primal Light I πρωταρχικό φως von Andonis Foniadakis, welches das Verständnis der Zuschauer*innen von Tanz, Bewegung und Musik irritiert. Trotz der Irritation übt das Stück in Teilen einen starken Sog auf die Zuschauer*innen aus, die sich dem multisensorischen Erlebnis nur schwer entziehen können.

Damit sind unsere Erkenntnisse anschlussfähig an Ausführungen zu Wahrnehmungsprozessen im Theater, wie sie von Roselt ausgearbeitet werden. Roselt formuliert die These, dass sich die Wahrnehmung ästhetischer Prozesse im Theater im Wesentlichen zwischen den Polen Erleben/Erfahren und Verstehen/Interpretieren bewegt (Roselt 2011). Theater habe dabei nicht nur den Zweck, die Erwartungen des Publikums zu erfüllen, sondern sie eben im Gegenteil mit dem Bruch von Erwartungen und Gewohnheiten zu konfrontieren und somit krisenhaften Situationen auszusetzen (ebd.). Roselt führt weiter aus, dass Wahrnehmungen von Aufführungen daher nicht auf die Herausarbeitung von Intentionen und Aufführungsabsichten reduziert werden können: „Die Konzentration auf diese intellektuelle und auf das Verstehen gerichtete Dimension führt zur Verdrängung all jener ambivalenten Zuschauerhaltungen, von denen die Faszination für das Theater geprägt sein kann: Aufregung, Unterhaltung, Langeweile, Spannung, Aggression, Erotik oder Aspekte wie Gefühle, Assoziationen und Biografisches“ (ebd.:28). Im Theater wie im Tanz sind die Zuschauer*innen gefordert, mit dem, was ihnen in der Aufführung begegnet und widerfährt, umzugehen, es zunächst mehr geschehen zu lassen, statt es an jeder Stelle einzuordnen. Indem unsere Daten Aufschluss über die individuellen Verstehensbemühungen geben, zeigen sie zugleich die Kapitulation vor dem Verstehenwollen auf. Sie verdeutlichen dadurch Prozesse des Nichtverstehens, die in das pathische Miterleben münden können. Erst das Akzeptieren des Nichtverstehens ermöglicht – wie am Beispiel der Zuschauerin B gezeigt - das Eintauchen, ja Versinken in den Wahrnehmungsprozess. Beide Erlebnisdimensionen für sich – Verstehen und pathisches Miterleben – aber auch das Pendeln zwischen ihnen als Wechsel zwischen Stabilität und Instabilität – verweisen auf spezifische Bildungspotenziale, die mit dem Begriff der ästhetischen Erfahrung aufgefangen werden.

Für den Umgang mit Mehrdeutigkeit und Uneindeutigkeit bietet der zeitgenössische Tanz ein vielfältiges Experimentierfeld. Wie auch Lyrik gilt Tanz als sperrig und – so zeigen es die Daten – frustriert oftmals das Bedürfnis nach Eindeutigkeit und Verständlichkeit die Zuschauer*innen. Dies mag unter anderem daran liegen, dass im zeitgenössischen Tanz mit Bewegungsfragmenten gearbeitet wird, dass er häufig assoziativ und metaphorisch ist. Es mag aber auch daran liegen, dass unser gewohntes, instrumentelles Verständnis von Bewegung im Tanz herausgefordert wird (Klein 2017). Die oft schwer kodierbare Bewegungs- und Bildsprache macht es in besonderer Weise notwendig, eigene Wahrnehmungen, Perspektiven und Lesarten auf das Stück zuzulassen. Der Theaterwissenschaftler Hans Thies Lehmann plädiert in Bezug auf das Theater auf ein „Lernen des Nichtverstehens“ (1994) und beschreibt in Anlehnung an den Brechtschen V-Effekt den NV-Effekt: „Nicht erst in der (Post-)Moderne ist das Theater der Ort einer Kunst, wo man etwas über das Nichtverstehen erfährt, und zwar in einer solchen Weise, daß nur eine Wahrnehmungsweise dieser Erfahrung sich gewachsen zeigt, die nicht die Mühe scheut, sich in der Kunst zu üben, nicht zu verstehen.“ (ebd.: 431) Für Lehmann ist diese Fähigkeit sogar eine „Grundbedingung der ästhetischen Erfahrung“ (ebd.: 429). Zuschauer*innen rät er daher eine aufmerksame, aufmerkende, wahrnehmungssensible Haltung, die „eine flüchtige Einschreibung im Wahrnehmungsapparat ermöglicht, ohne ihn im Akt des Verstehens verpuffen zu lassen.“ (ebd.)

Aber wie geht ein Üben, nicht zu verstehen? Hier ist nicht zuletzt die Schule gefordert, Kindern und Jugendlichen das Vertrauen zu vermitteln, ästhetischen Produkten mit Offenheit gegenüberzutreten, eigene Assoziationen, Bilder, Einfälle zuzulassen. Sich einem Gedicht, einer Musik, einem Bild nicht nur beschreibend, analytisch, sondern eben auch emotional, suchend anzunähern und verschiedenen Lesarten offen zu begegnen. Geübt werden sollte dann weniger die Herausarbeitung einer eindeutigen „Botschaft“, sondern die eigenen Sichtweisen auf das Produkt zu artikulieren und das Selbstvertrauen zu entwickeln, dass die eigene Faszination, Abwehr, Irritation, Langeweile oder Lust nicht nur „okay“, sondern auch Teil ästhetischer Erfahrungsprozesse ist. Man sieht sich so als „Teil des Ereignisses und verabschiedet sich von der Vorstellung, es gäbe ein objektives Ergebnis der Analyse, das allen Anfeindungen standhält.“ (Weiler/Roselt:27) Dies bedeutet auch, sich als Lehrperson bewusst zu machen, dass ästhetische Sinnbildungsprozesse oft eben schwer verbalisierbar und eher mit sprachlichen Suchbewegungen als mit eindeutigen Darstellungen verbunden sind. Diesen Suchbewegungen kann aber Raum gegeben werden, zum Beispiel in einem offenen Gespräch, in der Artikulation von Assoziationen, in handlungs- und produktionsorientierten Verfahren, wie sie die Deutschdidaktik schon seit langem ausgearbeitet hat. Auch die in unserer Studie herausgegebenen Fragebögen haben Reflexionsprozesse der Zuschauer*innen angeregt. Dafür mussten die Fragen aber sehr offen formuliert werden und persönliche Bezüge erlauben (Brennecke 2023). Eine Zuschauerin hat ihren Reflexionsprozess so beschrieben: „Ich war selbst fasziniert von der Reflexion, die ich jetzt über den Fragebogen durchlaufen habe und bin gespannt, ob ich in meinem nächsten Tanztheaterstück dann schon deutlich anders empfinde, insbesondere ob ich mich am Anfang dann nicht mehr so überfordert fühle.“

Fazit

Die Perspektive auf Tanzrezeption von Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist bislang in der kulturellen Bildungsforschung kaum beachtet. Das Forschungsprojekt Watchin‘ Dance leistet einen Beitrag dazu, verschiedenen Rezeptionsweisen von Zuschauer*innen im zeitgenössischen Tanz näher zu kommen und das Konstrukt der ästhetischen Erfahrung im Kontext der Tanzrezeption zu konkretisieren. Wir haben gezeigt, dass die Äußerungen der befragten Zuschauer*innen im Spannungsverhältnis von Verstehensbemühungen und pathischem Miterleben zu verorten sind und sehen hierin besondere Bildungspotenziale. Wir haben dargestellt, dass gerade in dem Umgang mit dem Nichtverstehen und der Irritation von tradierten Sehgewohnheiten wichtige Bildungspotenziale liegen und schließen uns damit auch an erziehungswissenschaftliche Diskurse an, die Lehr- und Lernprozesse generell als krisenhaft und widerständig verstehen (z.B. Marotzki 1988; Koller 2012). Für Tanzvermittlung und Unterricht ergeben sich verschiedene Konsequenzen, die wir im Rahmen des Beitrags angedeutet haben. Dabei ist es aus unserer Sicht erforderlich, auch in Schule und Unterricht den Blick nicht ausschließlich auf analytische Kompetenzen zu lenken, sondern auch intersubjektiven Prozessen und individuellen Erfahrungsdimensionen Raum zu geben. Ästhetische Produkte wie Tanz gilt es weniger als ausschließlich interpretierbares Werk zu verstehen, sondern als „Ermöglichungsräume“ (Wallbaum 2008:106; Dauth 2023:230-232) für ästhetische Sinnbildungsprozesse.

Verwendete Literatur

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Verena Freytag, Susanne Dreßler, Julia Brennecke (2024): Wahrnehmung von zeitgenössischem Tanz aus Sicht von Zuschauer*innen - eine qualitative Studie. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://kubi-online.de/index.php/artikel/wahrnehmung-zeitgenoessischem-tanz-aus-sicht-zuschauer-innen-qualitative-studie (letzter Zugriff am 27.07.2024).

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