(Un-)Sichtbares Design und ‚Gesten der Freiheit': Zu technomedial bedingten Transformationen in der Ästhetischen Bildung
Abstract
Im Rahmen von Digitalisierung und ubiquitous computing kommt dem Thema Design eine zentrale Rolle zu. Vor dem Hintergrund von Lucius Burckhardts Idee eines unsichtbaren ‹Soziodesigns› schlägt der Text vor, sich dem Thema zunehmend ubiquitärer Interfaces in pragmatischer Hinsicht über die Gestenrepertoires zu nähern, die mit ihnen realisiert werden, und in denen – so die These – das Unsichtbare des Designs sichtbar wird. Dabei eröffnet der von Rancière entlehnte Begriff des ‹Sinnlichkeitsregimes› eine fruchtbare Perspektive auf eine Ebene nichtsprachlicher Körperpolitik. Illustriert werden diese Zusammenhänge anhand eines kurzen exemplarischen Einblicks in zwei Fälle des BMBF-Verbundprojekts Musikalische Interface-Designs: Augmentierte Kreativität und Konnektivität. Vor dem Hintergrund der dargelegten Perspektive wird schließlich erläutert, wie eine integrative Kulturelle Bildung dazu beitragen könnte, digitale Souveränität zu fördern.
(In-)Visible Design and ‹Gestures of Freedom›. On Transformations within the Field of Aesthetic Education Induced by Media Technology
Within the context of digitisation and ubiquitous computing the subject of design is playing a vital role. Against the backdrop of Lucius Burckhardt’s idea of an invisible ‹socio-design› the text suggests to approach the topic design from a pragmatic point of view via the realised gestural repertoires in which the invisible of the design becomes visible. In this context the concept of ‹regimes of the sensuousness›, derived from Rancière introduces a fertile perspective on a layer of nonverbal body politics. To show that in an exemplary way two cases of the BMBF funded joint project Musical Interface-Designs: Augmented Creativity and Connectivity are discussed briefly. In the light of that the text outlines how an integrative cultural education could contribute to foster digital sovereignty.
Dieser Beitrag basiert auf Reflexionen von Martin Donner, vorgetragen im PANEL 7 „Medialitäten und Materialitäten ästhetischer Bildung“ der 11. Tagung des Netzwerks Forschung Kulturelle Bildung zu „Ästhetik – Digitalität – Macht", März 2021.
Einleitung: MusikmachDinge, Design und ubiquitous computing
Im Rahmen von Digitalisierung und ubiquitous computing – also der in den 1990er-Jahren im Silicon Valley entwickelten Idee, dass chipgesteuerte Artefakte sinnlich, kommunikativ, allanwesend und unsichtbar in unseren Alltag eingebettet sein sollen (Gold 2002, 110ff. u. 206f.; Lewis 2017, 106f.) – kommt dem Thema Design, z. B. von smarten Dingen, Software und Interfaces, eine zentrale Rolle zu. Rich Gold, der wesentlich an der Entwicklung des ubiquitous computing beteiligt war, konstatiert:
«Ubi-Objects are Embedded Socially in our lives. They are simply part of the world. We don’t think of them as computers. We don’t stop, and then work on them. They are part of our daily interactions. Lastly, they are Colonizing in that they take the forms of already existing, historically-determined, objects of the Plenitude.» (Gold 2002, 207)
Auf diese Weise wirken sie zunehmend an der Ausbildung unserer Selbst- und Weltverhältnisse mit. Auch viele der im BMBF-Verbundprojekt Musikalische Interface Designs: Augmentierte Kreativität und Konnektivität (Jörissen et al. 2019) beforschten «MusikmachDinge» (Ismaiel-Wendt 2016, 3f.) können als «Ubi-Objects» betrachtet werden. (Anm.: Ismaiel-Wendt prägt den Begriff der MusikmachDinge im Jahr 2016, um «damit Dinge, Apparate, Audio Workstations und ähnliches» zu bezeichnen, «mit denen heute oftmals Musik GEMACHT werden kann», ohne dabei «den Eindruck zu erwecken, diese seien nur als Klangwerkzeuge im Sinne der Verlängerung des menschlichen Arms» zu verstehen. Der Begriff soll vielmehr auf den spezifischen Akteurs-Charakter dieser Dinge hinweisen und betonen, dass sie «auch als eigenständige Musikmachende wahrzunehmen» sind, die rastern, die Formung von Klang und Rhythmus beeinflussen und Musik(-kultur) archivieren und ausgeben, sodass sie in Kompositions- und Aufführungssituationen unter Umständen sogar mehr Musik machen als die involvierten menschlichen Akteure (vgl. Ismaiel-Wendt 2016, 3f.).) Denn es waren nicht zuletzt die Eindrücke und Erfahrungen mit den Designs von frühen MusikmachDingen avant la lettre, die Gold bei der Entwicklung des ubiquitous computing inspiriert hatten (vgl. Lewis 2017, 94f.). Insofern stehen MusikmachDinge in prototypischer Weise für das Entstehen neuer mediatisierter Sozialitäts- und Subjektivierungsformen, die sich – qua Design – anfangs vor allem in künstlerisch-ästhetischen Kontexten und dann durch die zunehmend alltäglich werdende Kollaboration von Menschen und ‹computerisierten Dingen› entwickelt haben, und die auch die Pädagogik vor neue Herausforderungen stellen.
Design, Herrschaft und Ästhetik: Zum Wandel eines Diskurses
Trotz seiner grossen Bedeutung ist das Thema Design im Kontext der Kulturellen Bildung jedoch bislang eher unterrepräsentiert. Dabei werden in seinem Rahmen seit den 1960er-Jahren Macht- und Partizipationsfragen verhandelt. Schon früh wurden Designideen auch mit erzieherischen Anliegen verknüpft, die gewissermassen an dinghafte Umgebungen delegiert werden sollten, wie man heute im Rahmen akteur-netzwerk-theoretischer Terminologien sagen würde. Bereits im Bauhaus gab es die Idee, die Menschen mithilfe von Design zu einer aufgeklärten und rational-demokratischen Nüchternheit zu erziehen (vgl. Jörissen 2015a, 222; Röhl et al. 2021). Noch nicht machttheoretisch hinterfragt wurde dabei vorerst die übergeordnete Position der Designenden selbst.
Dies begann sich insbesondere mit den gesellschaftlichen Umbrüchen Ende der 1960er-Jahren zu ändern. Exemplarisch sei hier die Einsicht des Designtheoretikers Horst Rittel genannt: Sein Begriff der «bösartigen Probleme» bezeichnet die Erkenntnis, dass die «Suche nach wissenschaftlichen [bzw. rein objektiven] Grundlagen zum Umgang mit gesellschaftspolitischen Problemen wegen der Natur dieser Probleme zum Scheitern verurteilt» sei (zitiert nach Mareis 2014, 178). Bereits die Definition eines Problems bilde ein tendenziöses Framing, weshalb es bei gesellschaftspolitischen Fragen keine übergeordneten Spezialisten geben könne, sondern die Problemlösungsexpertise sich auf all diejenigen verteile, die von einem ‹Lösungsdesign› betroffen seien. So entstand die Idee, dass schon der Designprozess selbst Aushandlungsprozesse mit allen von einem Design Betroffenen zu beinhalten habe. Dies spiegelt sich in Folge in der Entwicklung partizipatorischer Designmethoden (vgl. Burckhardt 2012, 37 u. 56; Mareis 2013; Mareis 2014, 183 u. 202ff.) sowie in der Idee eines Meta-Designs (Ehn 2013, 91ff.), in dem die Designenden und diejenigen, die ein Design nutzen, gleichermassen als Gestaltende betrachtet werden (vgl. dazu auch Brandes, Stich, und Wender 2008; Allert und Richter 2010, 6 u. 8; Nohl 2021, 173). Eine vom Designplan abweichende Nutzung wird hier nicht mehr implizit negativ konnotiert und wahlweise schlechtem Design oder falschem Gebrauch zugeschrieben, sondern Design sollte die Möglichkeit solcher Abweichungen möglichst mitdenken und auch erlauben. Die Entwicklung des ubiquitous computing stellt dabei eine neue Herausforderung für partizipatorische Designprozesse dar (vgl. Brereton und Buur 2008).
Ein früher prominenter und in Deutschland tätiger Vertreter partizipatorischer Designansätze war der Schweizer Lucius Burckhardt, Mitbegründer der Fakultät für Gestaltung an der Hochschule für Architektur in Weimar. In seinem vielseitigen Wirken machte sich Burckhardt explizit Gedanken über den Zusammenhang von Design, Gesellschaft, Pädagogik und Lehre. Sein Claim «Design ist unsichtbar» (Burckhardt 2012, 13) steht prototypisch für ein Designverständnis, das Design nicht mehr am Erscheinungsbild von Artefakten festmacht, sondern es explizit als «Soziodesign» versteht, d. h. als ein «Nachdenken über Problemlösungen, die dadurch entstehen, dass sowohl Rollen wie Objekte aufeinander abgestimmten Veränderungen zugeführt» werden (ebd., 28). Dabei seien soziale und ökologische Fragen ebenso zu berücksichtigen wie Prozesse kulturellen und technologisch bedingten Wandels, denn «auch das Nicht-Verändern der Institutionen ist ja bei sich entwickelnder technischer Gegenstandswelt eine Gestaltung» (ebd., 19). Burckhardts Designverständnis ist ein strikt relationales. Daher reflektiert seine Vision eines ‹integrierten Entwerfens› insbesondere die Regeln, die in Designdingen verkörpert werden. Denn diesen Regeln, «die eigentlich unsere Umwelt sind» (ebd., 38), sind nicht zuletzt implizite Sozialitätsvorstellungen bzw. Macht- und Herrschaftsformen eingeschrieben.
Mit seiner Idee eines ‹integrierten Entwerfens› wendet sich Burckhardt nicht nur explizit gegen jene wissenschaftlichen «Extrapolateure», die sich von einer vermeintlich objektiven Beobachterposition aus durch den Glauben auszeichneten, «die Zukunft bestehe darin, dass alles gleich bleibe» (ebd., 158). Mit Bezug auf Bourdieu wendet er sich auch gegen eine arrivierte Bürgerklasse, der Begriffe wie Geschmack und Ästhetik nunmehr zur «Distinktion nach unten» dienten (ebd., 136). Bei dieser arrivierten Klasse handle es sich demnach um «Leute, die wissen was schön ist» (ebd., 138), und die auf «Grundlage der praktischen Ästhetik Instrumente» schaffen wollen, um unsere «verkümmerten Organe [zu] schärfen» und sie «für feinere Qualitätsunterschiede, auf die es doch so sehr ankommt, empfänglicher [zu] machen». Und für diese «‹vornehmsten Kulturaufgaben›» wollten sie «‹alles zur Seite schaffen, was nicht hingehört›» (ebd., 137). (Anm.: In der allgemeinen Wortbedeutung bleibt das Ausbilden und Trainieren eines feinen sinnlichen Sensoriums natürlich weiterhin wichtig. Der Begriff der ‹feinen Unterschiede› bezieht sich hier auf Bourdieu.)
Design und Digitalität: Risiken und Chancen
Burckhardts eigener Ansatz steht gewissermassen konträr zu derartigen Ansinnen. Für ihn ist auch die Hochkultur längst nurmehr eine Subkultur neben anderen (ebd., 143). Und da er sich für kulturellen Wandel interessiert, wendet er sich in Gedanken lieber den Jugendkulturen zu, die für ihn mit ihrer kreativen Umwertung von Zeichen und Formen «die grösste geistige Bewegung seit 1945» (ebd., 36) sind, und die zudem die Tendenz haben, sich nicht mehr auf einen Lebensabschnitt zu beschränken, sondern die gesamte weitere Biografie zu prägen. Neben den damit verbundenen ästhetischen und politischen Fragen betont Burckhardt auch deren Thematisierung von Umwelt- und Environment-Fragen, die mit der Evolution technologischer Infrastrukturen zusammenhängen. So weist er lange vor der Idee eines ubiquitous computing darauf hin, dass die Welt sich «nicht mehr als ein Baukasten aus Einzeldingen, sondern als ein Netz von Systemen» darstelle (ebd., 30), und dass es beispielsweise «einem grauen Blechkasten» nicht mehr anzusehen sei, ob er nun «Musik machen oder Daten verarbeiten kann» (ebd., 36). Insbesondere bei elektronischen Geräten sei die Zweckmässigkeit eben nicht mehr unmittelbar sichtbar, wie das vorherrschende Design-Credo ‹form follows function› nahegelegt hatte. Deshalb, so Burckhardt, müssen wir «eine zweite Sprache […] drumherum erfinden» (ebd., 113), also Interaktionsmöglichkeiten wie Tastaturen, Knöpfe, Fader; – kurz: Programmier- und Performance-Interfaces.
Aus ‹form follows function› wird so ‹form follows fiction›, wie ein Credo des ubiquitous computing lautet. Dies birgt Chancen und Risiken zugleich: Chancen, weil ganz neue Fiktionen denkbar und unhinterfragte naturalistische bzw. essenzialistische Vorstellungen infrage gestellt werden können; und Risiken, weil durch das «Umweltlich-Werden von Medien und Technologie» (Leeker 2019, 2) sowie durch die technomathematische Präfiguration von Interaktionsmöglichkeiten nicht nur die erwähnten Extrapolateure wieder diskursiven Aufwind bekommen, sondern weil auch die Möglichkeit im Raum steht, Herrschaftsmechanismen noch unsichtbarer und ubiquitärer zu machen (vgl. auch Hörl 2021; Kuhn 2021). Zudem verlangen die neuen Möglichkeitsräume uns ab, sie auch zu nutzen und ihnen möglichst einen individuellen Sinn abzutrotzen. Wir sind tatsächlich in ganz neuer Weise selbst gefordert und dies hat nicht zuletzt auch Konsequenzen für die Pädagogik. An diesem Punkt bekommt das Wort ‹Disruption› auch für den Bereich der ästhetischen Bildung eine ganz konkrete Bedeutung. Blieb die Fiktion in kulturgeschichtlicher Perspektive bislang weitgehend auf die Ebene dargestellter Inhalte beschränkt, so wird sie nun vermittels neuer Interfaces bzw. ihrer Performance-Möglichkeiten auf die Ebene faktischen Tuns oder ‹doings› verschoben und damit ganz konkret, geht also gleichsam aus der Domäne reiner Gedankenspiele in die Domäne des Realen über. Und im Rahmen dieser Transformation wird das Ästhetisch-Fiktive nicht nur demokratisiert, sondern auch der Mensch selbst, der bislang als sein alleiniger Schöpfer galt, wird als Teil von Human-Computer Interaction Systems gleichsam dezentriert, was wiederum an die Basis moderner Grundüberzeugungen bzw. an die Vorstellung autonomer Subjekte (vgl. etwa Ricken 2020, 23; Alkemeyer und Brümmer 2017, 700) rührt. – Deus ex machina ist längst kein blosser Theatertrick mehr, sondern vielfach gelebte und praktizierte Realität. Für Christina Vagt ist Design daher in Anlehnung Rancière und Schiller gar eine neue Form kollektiver ästhetischer Erziehung (Vagt 2018, 57f.).
Interfaces als Sinnlichkeitsregimes
Auch die ‹zweite Sprache› des Interface-Designs macht das Unsichtbare des Designs noch nicht sichtbar. (Anm.: Der Design-Diskurs bietet auch in Bezug auf Interfaces eine fast unüberschaubare Vielfalt an Ansätzen, sodass hier kein detaillierter Überblick gegeben werden kann. Grob gesagt reicht das Spektrum von technizistischen Verständnissen, in denen Userinnen und User quasi als funktionale Erweiterungen von Maschinen respektive geplanten Gebrauchsweisen betrachtet werden, bis hin zu kulturalistischen Ansätzen, in denen der individuelle Gebrauch und die kulturelle Bedeutung von Interfaces in den Mittelpunkt gestellt werden. In historisch-reflexiver Perspektive unterscheidet Tanaka (2020, 140f.) drei Wellen des Interface-Designs, die er unter den Begriffen «konservativ», «pragmatisch» und «romantisch» subsumiert. Während die erste Welle vom rationalen Blick der Ingenieure und Ingenieurinnen geprägt ist, nimmt die zweite Situierungen und Kontexte in den Blick. In der dritten geht es schliesslich nicht mehr vorrangig um optimale Problemlösungen für spezifische Aufgaben, sondern um den visionären bzw. transformativen Charakter von Interface-Designs.) Als symbolisch-materieller Layer über den technischen Regelungsprozessen im Maschineninneren stellt die Mensch-Maschine-Schnittstelle lediglich eine weitere Ebene von Regeln dar, welche die mathematische Universalität der Maschine dahinter eingrenzen. Worin aber wird das Unsichtbare der Interface-Designs dann sichtbar? Die hier vertretene These ist, dass das Unsichtbare solcher Designs in massgeblicher Weise in gestischen Praktiken zum Ausdruck kommt, die sich im Umgang mit Interfaces entwickeln.
Dieser Sprung vom Interface-Design zur Geste bedarf einer Erläuterung, denn er ist keineswegs friktionslos. Zwar determinieren Interface-Designs die Gesten nicht, doch sie spielen natürlich eine zentrale Rolle für das, was im Sinne ihrer Bedienung sinnvollerweise gestisch möglich ist, wenn man etwa mit einem hybriden MusikmachDing, das für spezifische Einsatzszenarien konzipiert wurde, musizieren will. Interfaces fordern bestimmte Kompetenzen ein und legen bestimmte Gebrauchsweisen nahe, die von Design zu Design variieren: Wie strukturanalytisch gezeigt werden kann (vgl. Donner 2020), gibt es einfachere und komplexere sowie offenere und geschlossenere Designs, die jeweils verschiedenes Wissen und Können voraussetzen, und die – Musikinstrumenten nicht unähnlich – unterschiedliche Habitus evozieren. Dabei hängt das Zustandekommen von interaktiven Prozessen nicht allein vom kognitiven Verstehen der Interface-Logik ab, sondern es umfasst in ganz zentraler Weise auch Aspekte der Verkörperung (Svanaes 2000; Svanaes 2013; Kim und Seifert 2017; Donner 2022) bzw. ein spezifisches Körperwissen, das mit zunehmendem Gebrauch in Form von habits (vgl. Nohl 2011, 136 u. 179; Nohl 2018) zutage tritt. Ohne entsprechendes kinästhetisches Erfahrungswissen, das von Alkemeyer und Brümmer (2017, 705; 2020, 7) auch als ‹Nachspüren› im Sinne eines praktischen Reflektierens begriffen und mit dem Konzept der Vollzugskörperlichkeit assoziiert wird, stellt sich kein Flow-Zustand (Csikszentmihalyi 2008; Baalman 2017, 234) ein, wie er für künstlerisch-ästhetische Praktiken oft typisch ist. Und erst dieser Flow-Zustand bildet in Bezug auf hybride MusikmachDinge die Basis für das Entstehen einer spezifischen ‹Instrumentalität›, – ein Begriff, mit dem Hardjowirogo (2017) und andere das ‹Musikinstrument-Werden› technischer Medien bezeichnen. (Anm.: Der Begriff des Flows wurde in seiner Verallgemeinerung auch ‹neoliberal› ausgedeutet, worauf die hiesige Verwendung explizit nicht verweisen will. Ursprünglich entstanden ist er aus der Beobachtung künstlerisch-ästhetischer Praxen. In diesem Sinne wird er auch etwa von Baalman (2017) und Simon (2018) verwendet.)
Mit einer Entlehnung von Jacques Rancière möchte ich folgende Betrachtungsweise vorschlagen: Jedes Interface stellt ein spezifisches Sinnlichkeitsregime dar (Rancière 2006; Rancière 2008). (Anm.: Rancière verwendet den Begriff in einem allgemeineren Sinn, um bestimmte ‹Historizitätstypen› (ebd., 39) von Kunst und Ästhetik in Bezug auf das Politische zu bezeichnen, die einander nicht unbedingt ausschließen, sondern auch parallel existieren können, worin sich der Begriff von Foucaults Begriff der Episteme unterscheidet (vgl. ebd., 71ff.). Meines Erachtens kann er jedoch in aisthetischer Hinsicht auch sehr gut für konkrete empirische Fragestellungen fruchtbar gemacht werden und dabei nicht zuletzt einige Probleme ausräumen, die Rancières Denken mit den Neuen Medien und ihren spezifischen Erscheinungsweisen hat. Aus bildungstheoretischer Perspektive ließe sich in Verbindung mit ihm entsprechend von spezifischen sinnlichen ‹Historizitätstypen von Bildung› sprechen, die mit den in einer Epoche dominanten medialen Vermittlungslogiken bzw. -praktiken und ihren Sinnlichkeitsregimes korrespondieren.) Dieses Sinnlichkeitsregime resultiert erstens aus den Vorstellungen der Designenden über die Gebrauchs- und Bedienweisen (vgl. z. B. Weber 2008), zweitens aus den Symboliken und Materialitäten der Schnittstelle sowie drittens aus der Logik der Sensorik und der (digitalen) Signalverarbeitung. Mit diesem Verständnis von Sinnlichkeitsregimes beziehe ich mich auf das, was Rancière als «erste Ästhetik» (Rancière 2008, 37f.) bezeichnet, – also jene Ästhetik, die noch vor jeder Theorie der Kunst durch eine präfigurierende Aufteilung des Sinnlichen einen konsensuellen Raum des Verständnisses sowie spezifische Kompetenzen definiert, wie Gegenstände zu sehen sind, wie sie zur Diskussion zu stellen sind und wie auf sie bezogen zu handeln ist. Entsprechend stellen Sinnlichkeitsregimes eine Art ‹Framing des Sinnlichen› dar, das immer auch bestimmte Ausschlüsse beinhaltet, deren Verhandlung jedoch gar nicht zur Debatte steht, weil sie nicht als Ausschlüsse wahrgenommen werden, solange der Raum des konsensuellen Verständnisses geteilt wird. (Anm.: Maria Muhle fasst dies in ihrer Einleitung zu Rancière (2006) mit folgenden Worten: «Die Aufteilung des Sinnlichen ist also ein System oder ‹Regime› von Normen oder Gewohnheiten, die implizit die Wahrnehmung der gemeinschaftlichen Welt bestimmen […] Ästhetik wird somit weder als individuelle Wahrnehmungsfähigkeit noch als erkenntnistheoretische Grenze oder als Kunsttheorie verstanden, sondern verweist immer schon auf die Frage des Teilhabens und Teilnehmens an einer kollektiven Praxis, die für Rancière in der sozialen und politischen Konstitution der sinnlichen Wahrnehmung entschieden wird» (Rancière 2006, 10f.).) Mit Interfaces lässt sich nicht diskutieren: Sie setzen ein grundlegendes Einverständnis mit ihrer Logik voraus, wenn man sich ihrer bedient. Dasselbe gilt auch für herkömmliche Musikinstrumente, die jedoch prinzipiell anders geartete Sinnlichkeitsregimes verkörpern. (Anm.: Zu einer genaueren Erläuterung dieser Differenz s. auch Donner 2022.) Welche spezifische normative Macht kommt musikalischen Interface-Designs also verglichen mit Letzteren zu? Und was ist ihre Bedeutung für das, was Rancière ‹Politik› nennt, nämlich den Dissens über den sinnlich präfigurierten Raum des Konsensuellen? Oder konkreter gefragt: Formatieren Interfaces mit ihren Designvorgaben und ihrer Algorithmus-basierten Selbsttätigkeit die menschlich-ästhetische Ausdrucksfähigkeit, indem sie den Menschen gleichsam ‹entmündigen› und ihre Design-Normen absolut setzen (vgl. etwa Simon 2018)? Diese Frage muss meines Erachtens auf zwei Ebenen beantwortet werden, nämlich erstens auf der Ebene der konkreten Interface-Praktiken bzw. Gesten, zweitens auf der Ebene ihrer ästhetischen Kontexte und deren diskursiver Bewertung.
Die körperliche Ebene: Interface-Gesten
Wie bereits erwähnt, determinieren Interface-Designs das gestische Handeln nicht, sondern eröffnen mehr oder weniger grosse Spielräume, die sich letztlich nur praxeologisch bestimmen lassen (vgl. Donner 2020; 2022). Ebenso wie die Gesten beim Spiel eines Musikinstruments erschöpfen sich auch die Gesten, die sich beim Spiel mit einem musikalischen Interface-Design entwickeln, nicht in rein instrumentellen Bewegungen zur Klangerzeugung. In beiden kommt eine Aufmerksamkeit und innere Spannung zum Ausdruck, die sich etwa in der Körperhaltung, im ostentativ inszenierten Abheben der Hände von einer Spieloberfläche usw. zeigen. Gesten sind sichtbare Verkörperungen von erfahrenen und habitualisierten Sinnstrukturen, die nicht nur als symbolische Formen zu einem Publikum sprechen sollen, sondern die auch ganz wesentlich der Selbstaffektion dienen, um einen bestimmten Selbst-Zustand zu erzeugen. Auf diese Weise sind sie unabdingbar mit dem Sinnbildungsprozess verbunden. Nach Flusser versuchen Menschen mit ihrer Hilfe, dem «Leben und der Welt, in der [sie] leb[en], Sinn und Bedeutung zu geben» (Flusser 1993, 15; vgl. auch Wulf 2017b, 647). Im Rahmen von ästhetischen Praktiken sind sie mit Foucault zudem in besonderer Weise als «Technologien des Selbst» (vgl. Foucault 2007, 280ff u. 287ff; Alkemeyer und Brümmer 2017, 706f; Maase 2019, 11) zu begreifen. Hinzu kommt, dass sich im Nachempfinden und Verstehen von Gesten eine überindividuelle Ebene der Übereinkunft über den jeweiligen Verständnisrahmen artikuliert. Auf diese Weise tragen sie, wie Christoph Wulf anmerkt, sowohl zur individuellen wie zur kollektiven Bildung bei (Wulf 2011, 10; Wulf 2017b, 654). Und bei alledem handelt es sich zudem in hohem Masse um implizites, sinnlich erworbenes Erfahrungswissen. Gesten können zwar reflektiert, jedoch nicht gelehrt werden wie man etwa die Bedeutung eines mathematischen Symbols lehrt. Sie müssen performativ aufgeführt und in ihrer kontextuellen Wirkung erfahren werden. In Bezug auf Interfaces mag man nun zwar kritisieren, dass die mathematische Quantisierung auf Software-Ebene je nach Sensorik und Programmierung gewisse Feinheiten der Bewegung nicht (bzw. manchmal auch allzu genau) akustisch abbildet, doch dies betrifft nicht die Ebene der Gesten selbst, die mit Foucault «Praktiken der Freiheit» bleiben (Foucault 2007, 256), solange sich in ihnen individuelle Sinngebung mit dem Ziel der Produktion und Reflexion eines ‹ästhetischen Überschusses› ausdrückt.
Sobald Gesten über den reinen Nachvollzug normativer Vorgaben hinausgehen und einer eigenen Sinnhaftigkeit und Sinnlichkeit folgen, sind sie sichtbare Formen praktizierter Körperpolitik, ganz gleich ob sie sich auf herkömmliche Musikinstrumenten oder hybride MusikmachDinge beziehen. Natürlich kann diese Körperpolitik auch die Ablehnung eines Interface-Designs zur Folge haben, wenn sich etwa im körperlichen Aushandlungsprozess kein Passungsverhältnis findet (vgl. Donner 2022). Politik als Dissens wird eben auch körperlich und zwischen Menschen und Dingen ausgehandelt. Im Gegensatz zu herkömmlichen Musikinstrumenten zeichnen sich die Designs von MusikmachDingen jedoch meist durch eine technische Konnektivität aus, die es erlaubt, sensorisch-sensuelle Unpassungen der haptischen Schnittstelle gegebenenfalls zu modifizieren, indem man sich etwa durch den Einsatz von zusätzlichen Controllern individuell passendere Interaktionsweisen und damit ein eigenes ‹Meta-Instrument› designt (vgl. ebd.). In solchen an der eigenen Gebrauchsweise orientierten Designprozessen werden die gestischen Ausdruckswünsche zudem explizit thematisch und als Selbst-Technologien reflektiert. Und dabei wird zugleich eine Medienökologie (Fuller 2005) entwickelt, die mediale Gefüge nicht zuletzt als «zentrale[n] Ort der Aushandlung möglicher anderer Weisen der Existenz» (Rothe 2016, 51) markiert.
Wichtig ist bei alldem, dass sich Dissens im Rahmen des körperlichen Aushandlungsprozesses nicht als ein Gegeneinander von menschlicher Handlungsintention und Maschinendesign realisieren muss, wie man vielleicht meinen könnte. Dissens im Rahmen von Körperpolitik kann sich ebenso gut als individuelle Konfluenz manifestieren, d. h. als ein spezifisches und individuelles Zusammenfließen von Mensch und Maschine, das aus Prozessen verkörperter Interaktivität emergiert (vgl. Donner 2022). Adams und Thompson fassen den Begriff der Konfluenz wie folgt:
«Digital confluency emphasizes the co-constitutional arrangements that are enacted via new mergings and flows with the digital. These confluencies are not merely about knowing how to use new technologies. Rather, they acknowledge the many humans and nonhumans caught up in complex choreographies of knowledge practices.» (Adams und Thompson 2016, 110) (Anm.: Der Begriff der Konfluenz taucht schon in Fullers Medienökologie (2005) gelegentlich auf. Seine explizite Wendung auf subjektivationstheoretische Fragen findet sich in Donner 2022.)
Der Begriff der digitalen Konfluenz bezieht sich demnach auf soziomaterielle Mensch-Maschine-Assemblagen (ebd.; vgl. auch Théberge 2017; Peters 2017) in actu, deren Elemente sich im gemeinsamen praktischen Vollzug in jeweils spezifischer Weise wechselseitig konstituieren, und die mit Hookway keineswegs das «endgame of a technopolitical process of discipline and normalization» (Hookway 2014, 57) darstellen. In einer medienökologischen Perspektive treten vielmehr die massiven dynamischen Wechselwirkungen «of processes and objects, beings and things, patterns and matter» (Fuller 2005, 2) in den Blick, die im Rahmen situierter und emergenter Medienpraktiken eben auch ein ‹Othering der Technologie› (ebd., 92) selbst umfassen. Und dieses Othering kann Effekte hervorbringen, die bei den designtechnischen Konzeptionen im Vorfeld durchaus nicht bedacht oder explizit angelegt worden sind. In Kontexten neuer Medien können tradierte Gestenrepertoires schlicht dysfunktional sein, wenn sich mit ihrer Hilfe aufgrund der Interface-Logiken keine Sinnbildungsprozesse mehr verkörpern lassen. In diesem Fall entstehen auf konfluente Weise neue Gestenrepertoires, ohne dass dabei der ‹Abstand› zwischen den einzelnen Elementen der Mensch-Maschine-Assemblagen jemals aufgelöst würde. Dieser Abstand – verstanden im Sinne einer «Denkfigur nicht der Identifikation, sondern der Exploration, die andere Möglichkeiten zutage fördert» (Jullien 2017, 37) und neue Gestenrepertoires gebiert – bringt uns schließlich zur zweiten Ebene, auf der die Frage des Politischen von musikalischen Interface-Designs zu beantworten ist.
Die Ebene der kontextuellen, (musik-)kulturellen Bedeutung von Interfaces: Sinnlichkeitspolitik
Wenn für Rancière Politik erst der Bruch mit dem Raum eines sinnlich präfigurierten und nicht hinterfragten Konsenses ist, so bezieht sich dies nicht nur auf die Ebene der Interfaces, sondern auch auf ihre kulturelle Bedeutung und auf die diskursive Bewertung ihrer Anwendungskontexte. In Phasen medialer Umbrüche, in denen gewohnte Schemata von Wahrnehmung, Welt- und Selbstzugängen sowie von Sinn und Sinnlichkeit vielfach befremdet und aufgebrochen werden, steht die Stabilität solcher konsensuellen Verständnisse oft infrage (vgl. in Bezug auf Musikinstrumente auch Hardjowirogo 2017, 14). In seinem Aufsatz über transgressive Medialität hebt Jörissen (2015b) insbesondere das diskontinuierliche Moment medial bedingter Transformationsprozesse hervor, die sich in «transgressiven Artikulationen» (ebd., 60) Bahn brechen. Damit eröffnet sich in Anlehnung an Rancière gewissermassen medienbedingt ein politischer Raum des Dissens, in dem die Möglichkeit – ja die Notwendigkeit aber eben auch die Chance – entsteht, die bis dato implizite normative Aufteilung des Sinnlichen neu zu bedenken und auszuhandeln. Und bezogen auf die diskursive Ebene gibt es wohl keinen grösseren denkbaren Dissens als den einer gestisch sichtbar werdenden Körperpolitik, die neue Gestenrepertoires gebiert und dabei nicht mehr auf die cartesische Opposition von Mensch und Maschine setzt, sondern auf deren Konfluenz, in der das Unsichtbare von Designs des ubiquitous computing schließlich sichtbar wird.
Welchen Praktiken wird wo und von wem diskursiv das Recht zugestanden, sich als ästhetisch wertvolles Musizieren zu bezeichnen? Reicht das Drehen und Drücken einiger Knöpfe an einem selbst designten ‹Meta-Instrument› aus verschiedenen elektronischen Klangquellen und Controllern aus, wenn dabei ein Flow-Zustand zustande kommt, oder eher nicht? Woran machen sich Musizieren und ästhetischer Ausdruck fest? Und was wäre womöglich das Gemeinsame eines Musizierens, das sowohl Orchester- als auch Groovebox-Praktiken (die noch zur Sprache kommen) umfasst, ohne dabei eine Wertung vorzunehmen wie diejenigen, die nach Burckhardt «wissen, was schön ist», um so ihren Distinktionsgewinn zu wahren? Und noch etwas allgemeiner gefragt: Ist das oft eng mit den Künsten assoziierte mimetische Lernen in Anbetracht der vielfältigen neuen medialen Formen und Kontexte noch eine rundweg adäquate Strategie oder tendiert es womöglich gelegentlich dazu, Vorstellungen einer vermeintlichen Natürlichkeit und damit verbundener Machtformen zu tradieren, wie sie Jacques Attali beispielsweise für den Orchesterapparat analysiert hat (Attali 1985, 13 u. 65ff.; s. auch Canetti 1980, 468ff.)?
Für Wulf stellen mimetische soziale Handlungen die Basis performativer Pädagogik dar (vgl. Wulf 2017a, 619f.), und entsprechend spielen auch mimetisch angeeignete Gesten eine wichtige Rolle (vgl. Wulf 2017b, 650f.). Dabei sind Gesten einerseits oft in gesellschaftliche und institutionelle Machtstrukturen eingelassen, die durch Nachahmung affirmiert werden. Andererseits enthalten sie jedoch auch ein subversives Potenzial, da sie in der individuellen Aneignung und Aufführung modifiziert werden, sodass sie als performatives Ereignis niemals eine exakte Kopie vorangegangener Gesten darstellen. Auf diese Weise können sich im Lauf der Zeit – durch implizit gestische Körperpolitik – neue Ordnungen ergeben (ebd., 655f.). Gleichwohl gilt, dass «Institutionen ihre Machtansprüche in den Gesten ihrer Repräsentanten ‹verkörpern› [und] diese Machtansprüche auch im mimetischen Nachvollzug dieser Verkörperungen wahrgenommen und aufrecht erhalten» werden (Wulf 2011, 19). Dies trifft nicht zuletzt auf Bildungsinstitutionen zu (Wulf 2017b, 653), selbst wenn deren Gestenrepertoires im Nachvollzug leicht modifiziert werden mögen. Insofern bieten etablierte Gesten zwar einen gewissen Raum für Diskontinuität, doch stets «unter Wahrung der Kontinuität» (ebd., 656). Das Auftreten völlig andersartiger und möglicherweise ‹konkurrierender› Gestenrepertoires, wie sie etwa im Kontext von neuen Medienpraktiken emergieren können, ist in diesem Modell nicht vorgesehen und stellt insofern eine Herausforderung sowohl für institutionalisierte Machtansprüche als auch für das Wissen und Können derjenigen dar, die diese Institutionen vertreten. Dementsprechend werden solche neuen Gestenrepertoires im Sinne einer impliziten Körperpolitik oftmals körperlich abgelehnt und diskursiv entwertet, sobald sie den institutionalisierten, inkorporierten und habitualisierten Sinnlichkeitsregimes in fundamentaler oder ‹disruptiver› Weise widersprechen. (Anm.: Als anschauliches Beispiel ist mir etwa ein Fortbildungsangebot für Lehrende an Musikschulen vor Augen, bei dem die körperliche Aversion gegen das Nutzen eines vorgestellten MusikmachDings im Fall eines älteren, musikalisch sehr ‹klassisch› sozialisierten und in der unterrichteten Gruppe hoch angesehenen Teilnehmers richtiggehend sichtbar wurde. Trotz mehrfacher Aufforderung im Rahmen der erteilten Arbeitsaufträge wurde das Gerät nicht ein einziges Mal angefasst. und durch den gestischen Ausdruck drängte sich der Eindruck auf, der Teilnehmer winde sich geradezu körperlich, weil die vorgeschlagene, völlig harmlose Exploration des MusikmachDings seinem Habitus konträr entgegenstand. Zugleich äusserte er immer wieder intelligent vorgetragene Einwände und verbale Distanzierungen gegenüber der Technologie an sich. Man muss allerdings hinzufügen, dass es sich bei diesem sehr eindrücklichen Fall von Körperpolitik um einen besonders prägnanten Einzelfall handelte.)
Doch wem ist geholfen und welche Gesellschafts- und Herrschaftsvisionen werden propagiert und tradiert, wenn man sich etwa im Bereich der künstlerisch-ästhetischen Bildung an institutionalisierte Gestenrepertoires klammert, die mit den ‹feinen Unterschieden› (Bourdieu 1987) assoziiert sind? Und welche Chancen werden damit vergeben? Schon Burckhardt wusste schließlich, dass auch die Nicht-Veränderung eine Form der Gestaltung ist, wobei er zugleich darauf hinwies, dass die Jugendkulturen mit ihrer Umdeutung von Kontexten, Zeichenregimes und Praktiken wohl den verlässlichsten Gegenpol zu extrapolierten top down Planungen und insofern eine wichtige Quelle für die Vitalisierung kultureller Muster darstellen.
Kurzes Filmbeispiel aus MIDAKuK Teilprojekt 1
Veranschaulichen lassen sich diese Fragen anhand eines kurzen kontrastiven Einblicks in zwei Fälle aus Teilprojekt 1 des BMBF-Verbundprojekts Musikalische Interface-Designs: Augmentierte Kreativität und Konnektivität (Jörissen et al. 2019). Das Projekt interessiert sich für die im Rahmen von Digitalisierungsprozessen stattfindenden Verschiebungen in Bezug auf die körperlichen, sinnlichen, ästhetischen, sozialen und kulturellen Bedingungen und Formen ästhetischer Praxis. Konkret beforscht wird die pädagogische Bedeutung hybrider, digital-materieller MusikmachDinge. Teilprojekt 1 (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg) legt den Fokus auf jugendliche Musikinteressierte, Teilprojekt 2 (Leuphana Universität Lüneburg) auf professionelle Instrumentalpädagoginnen und -pädagogen sowie professionell Musizierende. Im Rahmen der Studie wird eine Reihe ausgewählter MusikmachDinge an Freiwillige aus diesen beiden Gruppen verliehen. Der Umgang mit den Dingen wird über einen längeren Zeitraum (auto-)videografisch erfasst, die durch weitere Datenerhebungen wie Interviews usw. flankiert werden. Gefragt wird erstens nach Veränderungen, die im Hinblick auf ästhetische Erfahrungen, Ermöglichungen und Augmentierungen kreativer Prozesse sowie auf musikalische Ausdruckspotenziale mit den Musikmachdingen einhergehen; zweitens nach den daraus hervorgehenden grundsätzlichen Konsequenzen, Potenzialen und neuen Anforderungen für professionelles musikpädagogisches Handeln unter Bedingungen einer (post-)digitalen Kultur; und drittens nach erwarteten Spannungsverhältnissen zwischen digitaler Faszination seitens jugendlicher Klientelgruppen und digitaler Skepsis professioneller Musikpädagoginnen und -pädagogen sowie Musikerinnen und Musiker im Umgang mit neuen musikalischen Interfaces und Technologien. Die beiden vorgestellten Fälle können hier nicht detailliert rekonstruiert werden, sondern dienen nur dazu, die skizzierte Problematik vor Augen führen. Beide Studienteilnehmer haben sich ähnliche MusikmachDinge ausgeliehen und versuchen, sie sich sinnhaft zu erschließen, um damit zu musizieren. Beide haben keine institutionell erworbene musikalische Vorbildung ausser dem üblichen Schulunterricht.
Bei den geliehenen MusikmachDingen handelt es sich zum einen um den Push2-Controller der Firma Ableton, der im Verbund mit der Software Live auf einem Laptop betrieben wird, zum anderen um den Circuit der Firma Novation, ein ‹Standalone›-Gerät, für dessen Betrieb keine weitere Software benötigt wird. Beim Circuit handelt es sich explizit um eine ‹Groovebox›, mit der Loop-basiert musiziert werden kann. Mit dem Gerät können Patterns für mehrere Drum- und Synthesizer- oder Sample-Stimmen eingespielt oder programmiert werden, die dann meist live modifiziert und zu einem Stück arrangiert werden. Dabei lassen sich mithilfe von Dreh-Encodern verschiedene Klang- und Effektparameter verändern und auf diese Weise Klangverläufe aller Art realisieren, die z. B. als musikalische Steigerung oder Ausdünnung usw. wahrgenommen werden. Das Push/Live-Setup ist zwar wesentlich komplexer und nicht auf diese Art des Musizierens beschränkt, legt seinem Design nach aber eine ähnliche Vorgehensweise nahe und wird im beschriebenen Fall auch so genutzt (vgl. dazu auch Donner 2022).
Beide Geräte sind von ihrer Oberfläche her ähnlich aufgebaut: am oberen Rand befinden sich Dreh-Encoder für Klangmanipulationen, die zentralen Silicon-Tasten in der Mitte dienen zum Einspielen oder Programmieren von Notenwerten und -parametern und die darum angeordneten Tasten dienen der Aktivierung verschiedener Funktionen und Betriebsmodi.
Beide Teilnehmer gehen bei ihrer Erschliessung der Geräte sehr unterschiedlich vor. T18 (15 Jahre alt) ahmt bei seinem Erschliessungsversuch des Circuit Gesten nach, die an das Spiel auf einer Klaviatur erinnern, da dies für ihn offenbar das Sinnbild des Musizierens mit einem ‹Tasteninstrument› ist. Seine Handhaltung entspricht derjenigen von Klavier Spielenden und es werden ‹Läufe› und ‹Akkorde› über alle vorhandenen Silicon-Tasten inklusive der Funktionstasten des Geräts gespielt, um dann wieder artifizielle Pausen einzulegen, in denen die Hand effektvoll von den Tasten empor gehoben wird wie nach der Beendigung eines Partiturabschnitts usw. Da der Circuit sich dabei jedoch gar nicht in einem Betriebsmodus befindet, der für solches Spiel geeignet ist, und er prinzipiell auch für andere Vorgehensweisen gedacht bzw. gar nicht für stereotypes Klaviaturspiel designt ist, können dem Gerät auf diese Weise nur gelegentlich und rein zufällig einige disharmonische Klänge entlockt werden. Mit anderen Worten: Es handelt sich um eine reine Gesten-Aufführung; eine Sinnerschliessung findet auf diese Weise nicht statt. Da auch die Bedienungsanleitung für ‹Laien› in diesem Alter mit ihren Anglizismen und technischen Fachbegriffen nicht ganz einfach zu verstehen ist und nicht anderweitig recherchiert wird, um die Grundlogik des Geräts zu verstehen, gibt T18 bald frustriert auf und beendet die Teilnahme im Forschungsprojekt, obwohl er anfangs motiviert war und grosse Lust hatte, mit elektronischen Klangwelten zu experimentieren. Das mimetische Nachahmen kulturell dominanter und mithin oft hegemonial repräsentierter Spiel- und Ausdrucksgesten für Tasteninstrumente erlaubte nicht ansatzweise eine sinnhafte oder gar musikalische Erschliessung des Circuit.
T25 (21 Jahre alt) geht schon seinem Alter gemäss strukturierter vor und verfügt auch bereits über autodidaktisch erworbenes Wissen bzw. über einige Erfahrung im Produzieren von elektronischer Musik. Auch bei ihm sieht man Ausdrucksgesten im Spiel mit seinem ‹selbst designten› erweiterten Geräte-Setup, das neben dem Push weitere Controller enthält, die einander ergänzend konfiguriert werden, um dem eigenen Gefühl nach bessere Ausdrucksmöglichkeiten zu haben als sie alleine mit dem Push möglich wären. Seine Gesten sind ganz anderer Art und erinnern nicht im Entferntesten an das herkömmliche Gestenrepertoire von Tasteninstrumenten. Der Teilnehmer agiert oft fast dirigier-artig, kommentiert eingestartete Patterns oder auch den Einsatz von Breaks gestisch, geht dann wieder in exzessives Tanzen über, wenn die Hände beim Kontrollieren der Maschinen kurz frei werden usw. Dabei bleibt jedoch stets eine hohe Konzentration und körperliche sowie aisthetisch-ästhetische Involviertheit sichtbar, sodass die Szenen ohne jeden Zweifel als intensiver Flow-Zustand beschrieben werden können. (Anm: Eine detaillierte Aufarbeitung dieses Falls findet sich in Donner 2022.) Sicherlich ließe sich noch sehr viel mehr sagen, doch das kurze kontrastive Beispiel soll hier nur verdeutlichen, dass ein mimetischer Ansatz, der sich auf ein Musikverständnis bezieht, das von musizierenden ‹Laien› aufgrund der kulturell-repräsentativen Hegemonialitäten oft mit Klavierspiel in Verbindung gebracht wird, im Fall von Grooveboxes und Artverwandtem keine Sinnerschliessung ermöglicht. Hier sind offensichtlich ganz andere Gesten und Wissensformen gefragt, die sich in den herkömmlichen musikalischen Bildungsangeboten, die eine gewisse musikalisch-ästhetische Ernsthaftigkeit für sich in Anspruch nehmen, in der Regel nicht wiederfinden, – und zwar obwohl ein Grossteil der Musik(ästhetik), die uns tagtäglich umgibt, nicht zuletzt mit solchen algorithmisch basierten MusikmachDingen entsteht, deren Logiken längst weit über das noch recht einfach zu erlernende Verkabeln von Lautsprechern und Verstärkern hinaus gehen.
Kulturelle Bildung und digitale Souveränität
Auch die autodidaktisch entwickelte Praxis von T25 enthält mimetische Aspekte. So erinnert das Gestenrepertoire in den Performance-Situationen oft an das von DJs – also an eine Subkultur –, ohne damit jedoch identisch zu sein. Dies resultiert in diesem Fall aus dem individuell entwickelten ‹Eigen-Design›, das der Teilnehmer mithilfe der zusätzlichen Controller-Konfigurationen selbst erstellt hat. Wenn Gesten nun nach Wulf auf Gemeinschaftsbildung und die Kontinuität von Gemeinschaften zielen (Wulf 2017b, 655) und sie dergestalt auch Auskunft über Mentalitätsstrukturen geben (ebd., 648), so wird an den divergierenden Gestenrepertoires des Beispiels nicht zuletzt deutlich, dass es im Bereich der ästhetischen Bildung offenbar medienbedingt divergierende Mentalitätsstrukturen gibt, die jeweils ihre eigenen Kontinuitäten erzeugen, ohne dass es etablierte Schnitt- oder Austauschpunkte zwischen ihnen gäbe. Und es sind nicht die institutionalisierten respektive hegemonialen Gestenrepertoires, welche die mediatisierten Lebenswelten von heute abbilden. Bei Letzteren handelt es sich mit Jörissen im kulturtheoretischen Sinn vielmehr um
«nicht-transgressive Artikulationsformen […], bei denen ästhetische Prägnanzmuster und mediales Moment nach geltenden Konventionen affirmativ aufeinander bezogen sind.» (Jörissen 2015b, 61)
Was aber heißt das für Angebote der Kulturellen Bildung? Welche Kompetenzen sollten sie vor dem Hintergrund des ubiquitous computing bzw. der zunehmenden Entwicklung von ‹Ubi-Objects› und den damit einhergehenden neuen künstlerisch-ästhetischen Praktiken vermitteln? T18 hatte durchaus Lust, sich mit elektronischen Klangwelten auseinanderzusetzen, doch ihm fehlte die Expertise bzw. ein entsprechendes Angebot, wo er sie hätte erwerben könnte. Im Rahmen von ästhetischen Praktiken handelt es sich bei solcher Expertise auch nicht schlicht um ein wenig zusätzliches technisches Bedienwissen, das die ästhetisch-kreativen Prozesse ansonsten nicht weiter tangiert. Das benötigte Medienwissen ist vielmehr selbst ein intrinsischer Teil des ästhetischen Gestaltungsprozesses, mit dem nicht selten ganz neue Kunst- und Ausdrucksformen einhergehen (vgl. etwa Ruschkowski 1998; Baumgärtel 2015; Lewis 2017). Das heißt, es will auch entsprechend vermittelt und verstanden werden, um ästhetisch implementierbar zu sein, wenn es zu Sinnerschliessungen führen soll, die längerfristig spannend und tragfähig sind. Hinzu kommt, dass die in Interfaces verkörperten User-Vorstellungen (vgl. Weber 2008) mit ihren Normen und impliziten Machtstrukturen nur aufgebrochen und konstruktiv gewendet werden können, wenn man sich auf ihre Logik einlässt und sie in struktureller Hinsicht versteht. Andernfalls bleibt man ihnen ausgeliefert. Reines Bedienwissen ist noch keine digitale Souveränität, um die es aber unbedingt gehen sollte. Als Beispiel hierfür kann T25 gelten: er fügt seinem Setup nach einiger Zeit der Auseinandersetzung wie bereits erwähnt einige weitere kleine Controller hinzu, die er so konfiguriert, dass das gesamte Setup seinen Ausdruckswünschen eher entspricht als die vom Push vorgezeichneten Möglichkeiten. Und seine Sinnerschliessung führt nicht nur zu einem Auftritt in einem Club, sondern in Folge auch zu einem Theaterprojekt in einem städtischen Theater, für das er selbst komponierte und jeweils aufgeführte elektronische Musik beisteuert.
Von einem emanzipativen Standpunkt aus, der den kontemporären technologischen Entwicklungen Rechnung trägt, kann es sinnvollerweise nur darum gehen, digitale Souveränität zu vermitteln, was konkret eben nicht mehr unbedingt heißen muss, sich jahrelangen vorrangig motorischen Übungen zu unterwerfen, um aufgenommen zu werden in den Kreis derjenigen, die zu Recht für sich in Anspruch nehmen dürfen, sich ästhetisch ausdrücken zu können, weil sie ein Sinnlichkeitsregime inkorporiert haben, das der Haltung der ‹feinen Unterschiede› entspricht. Ästhetische Bildung ist auch anders möglich. Die digitale Transformation birgt mithin die Chance, dass aus musizierenden ‹Kunsthandwerkerinnen und Kunsthandwerkern› (vgl. Ismaiel-Wendt und Pfaffenholz 2018, 200) die Designenden von eigenen Klangwelten, ‹Meta-Instrumenten› und szenischen Kompositionen (vgl. Donner 2022) werden können, wenn das dem individuellen Interesse entspricht. Dies stellt trotz einiger Widerständigkeit seitens der institutionalisierten Hochkultur (vgl. Maase 2019, 16) einen Demokratisierungsprozess dar. Auch und gerade das ‹Designerin/Desinger-Werden›, das in unserem Forschungsprojekt in vielen der längerfristig angelegten MusikmachDing-Explorationen sichtbar wird, impliziert ein aus praktisch-ästhetischem Reflektieren geborenes «Verstehen des Verstehens» (Krippendorff, zitiert nach Mareis 2014, 129), das grosses bildungstheoretisches Potenzial hat. Das Designen eines individuellen Meta-Instruments und das Entwickeln damit zu realisierender Musizierweisen eröffnet nämlich nicht nur implizit Meta-Perspektiven in Bezug auf mediale Technologien und deren Einsatzmöglichkeiten und Gebrauchsweisen, sondern auch in Bezug auf damit verbundene mögliche Handlungs- und Ausdrucksmöglichkeiten, die wiederum zu neuen ‹Technologien des Selbst› bzw. zu neuen Subjektivationsweisen führen können. Nicht nur Lewis (2017), auch Pelleter (2018, 150) betont in MusikmachDing-Kontexten, dass «ästhetische Praxis etwas Spezifisches weiß über unsere aktuelle Erfahrung in digitalen Kulturen» und dass «gerade auch deren prinzipiell ‹techno-ästhetisches› Funktionieren als Erkenntnismomente, mithin als epistemische Praxis, erkannt und anschlussfähig gemacht werden» muss.
Fazit und Ausblick
Mein Vorschlag ist: Hinsichtlich kultureller Bildungsangebote sollte es im ersten Schritt vor allem um die Unterstützung beim Finden von Ausdrucksmöglichkeiten gehen, die den eigenen Anliegen entsprechen. Dabei handelt es sich gleichsam um ein Reflexionsangebot: Was will man machen, wohin will man sich entwickeln, und wie kann man dies dann vielleicht auch mit medientechnologischer Unterstützung erreichen? Solches Wissen und solche Erfahrungen wären in Folge übertragbar auf alle möglichen Bereiche. Pointiert ausgedrückt: Gefragt ist nicht mehr ein mimetisches Nachahmungsparadigma, das in normativer Weise an kulturell hegemonialen Form- und Gestenrepertoires anknüpft und ein wenig individuelle Umdeutung impliziert; gefragt ist vor allem eine reflexive Form der Kreativität, die dann auch Nachahmungspraxen enthalten kann bzw. immer schon enthält. Ansonsten läuft man Gefahr, in normativer Weise lediglich ältere Medienpraktiken und -formate auf neuere Medien zu übertragen, was aus mediengeschichtlicher Perspektive weder jemals innovativ noch spannend und von grosser Nachhaltigkeit war.
Die herkömmlichen Gestenrepertoires des Musizierens sind kein Naturgesetz, sondern Ausdruck spezifischer und historisch gewachsener Sinnlichkeitsregimes und kultureller Formen. Insofern mögen sie ergänzt und erweitert werden durch neue Repertoires, die in Bezug auf ästhetische Bildung nicht weniger wert sind, nur weil sie in hybriden materiell-digitaltechnologischen Kontexten entstehen. Denn auch dabei handelt es sich um ‹Gesten der Freiheit›, wenn sich in ihnen eigene, ästhetisch reflektierte Anliegen ausdrücken. Kulturelle Bildung könnte also dabei behilflich sein, auf verschiedene Gestenrepertoires, auf ihre Differenzen und ihre jeweils spezifischen Möglichkeitsspektren zu reflektieren. In diesem Fall würde es sich nicht um eine zersplitterte, sondern um eine integrative Kulturelle Bildung handeln, die verschiedene Felder künstlerisch-ästhetischer Praxen miteinander ins Gespräch bringt sowie gegenseitige Wertschätzung und vielleicht sogar gemeinsame hybride Projekte befördert, die den Horizont aller Beteiligten erweitern würden. Dies wäre eine Basis, die weder tradierte kulturelle Leistungen übergeht noch die der mediatisierten Gegenwart übersieht und glaubt, sie schlicht in kulturhistorisch etablierte Schemata integrieren zu können. Lucius Burckhardt bemerkt in dieser Hinsicht, dass die Umwelt der Menschen zum grössten Teil «aus organisatorischen und institutionellen Faktoren» besteht (Burckhardt 2012, 55) und fügt hinzu: «Diese zu verändern ist eine politische Aufgabe» (ebd.). Es geht also nicht zuletzt um strukturelle Veränderungen, die ihre Räume und ihre Wertschätzung brauchen, damit sie sich entfalten können. Denn sozialer respektive kultureller Wandel kann nicht auf die Schnelle verordnet werden. Er muss wachsen können, und wenn er positiv gestimmt sein und nicht von Ablehnung getragen sein soll, dürfen seine Protagonistinnen und Protagonisten auch nicht unter prekären Bedingungen arbeiten und leben müssen.
Als letzten Gedanken möchte ich ein weiteres Credo von Burckhardt erwähnen: Verbindendes Wissen bleibt auch und gerade in postkanonischen Zeiten unbedingt notwendig. Gleichwohl stellt Burckhardt bedauernd fest, dass die gestalterischen Institutionen in polytechnische Schulen und künstlerische Akademien getrennt seien, was letztlich der bekannten cartesischen Bifurkation der Welt entspreche. Die einen tendieren als Ingenieure dazu, «saubere Lösungen» zu produzieren, die mit ihren Ansätzen möglichst universaler Planung und Kontrolle jedoch die soziale Umwelt verschmutzen (Burckhardt 2012, 343f.). Auch die anderen haben jedoch oft die Tendenz, in Routinehaftigkeit zu erstarren. In beiden Fällen scheint die zu vermittelnde Wissensbasis oft allzu klar umrissen. Burckhardt bezeichnet diese institutionell weit verbreitete Haltung als «Versteinerung» oder auch als das «steinerne Herz» (ebd.). Dessen zwei Lösungen seien
«entweder so zu tun, als ob nichts wäre, und Sicherheit zu verkünden, wo in Wirklichkeit keine mehr ist. Oder aber: den Zweifel, die Skepsis soweit voranzutreiben, als gäbe es eine Basis, die es zu säubern gilt, und auf der wir ein neues Gebäude des Wissens errichten können» (ebd., 347).
Er selbst hingegen betont, dass es eine solche fest umrissene Wissensbasis nicht mehr gibt. Zentral sei daher für alle Beteiligten, für neues Wissen offen zu sein und zudem den positiven Umgang mit irreduziblem Nichtwissen zu erlernen. Dies bezeichnet er in der Abschlussrede vor seiner Emeritierung als das «fleischerne Herz» (ebd., 347). Und er bittet uns Nachkommende, die schöpferische Ausgestaltung dieses Gedankens weiterzuentwickeln. Seitdem liegt der Ball auf unserem Spielfeld.