Die Tücken der Kunstvermittlung: Partizipation in Kunstmuseen

Artikel-Metadaten

von Birte Abel-Danlowski

Erscheinungsjahr: 2022

Peer Reviewed

Abstract

Unter den sich verändernden gesellschaftlichen und politischen Erwartungen scheint Kunstvermittlung häufig überfordert. Ihre Kernaufgabe, Verstehen zu ermöglichen und dazu mental und praktisch aktiv zu werden, verschiebt sich hin zu oberflächlicher Teilhabe, Partizipation und Unterhaltung. Dieser Artikel möchte ein ‚Verstehen‘ stark machen, das über Vorstellungsbildung an der unmittelbaren Annäherung von Betrachtenden anknüpft, um entlang eines inneren Sinnes Wirkungsabsichten und damit Bildverstehen zu erschließen.

Unter dem politischen Druck und dem Selbstanspruch, neue Besuchergruppen zu erschließen, entwickeln Museen immer neue Vermittlungsangebote. Um die Kritik eines solchen Versuches sowie um Möglichkeiten, diese mit dem Bildungsanspruch von Kunstmuseen zu vereinbaren, geht es in diesem Artikel.

Vermittlungs- und Bildungsarbeit in Museen heute

„Immer mehr Menschen streben Teilhabe und Mitbestimmung an“, postuliert der Deutsche Museumsbund und sieht die Aufgabe von Bildungs- und Vermittlungsarbeit daher vor allem darin, „Museen und ihre Sammlungen zu demokratisieren“ (Deutscher Museumsbund 2020:10).

Besonders die schwindenden Besucherzahlen und die Tatsache, dass die Mehrzahl der Besucher*innen heute über 65 Jahre alt ist, verleiht einer Öffnung von Museen für breitere Besuchergruppen einer diverser werdenden und alternden Gesellschaft zusätzliche Dringlichkeit. Zudem ist die digitale und auch sonstige Konkurrenz groß, die Aufmerksamkeitsspanne klein, so dass Einfallsreichtum gefragt ist, um Besucher*innen anzulocken.

Museum als Erfahrungsraum

Nach einer Abkehr von Vermittlungsarbeit im Museum als Wissensvermittlung und vom Museum als Lernort wird Kunstvermittlung aktuell zunehmend als Erfahrungsraum für sinnhaftes Lernen verstanden (Preuß/ Hofmann 2017:14f.). Im Echoraum der kulturwissenschaftlichen Deklaration einer „performativen Wende“ (Fischer-Lichte 2004:22 sowie 31ff.) werden Handlungsweisen von Vermittler*innen und Besucher*innen in den Mittelpunkt gestellt, die ‚wirken‘ oder verändern, indem sie etwas auslösen – was auch immer dieses etwas sei. Nicht mehr um Wissenszuwachs geht es nun, sondern um einen Erfahrungsraum, ein ‚Erlebnis‘, das Körper, Geist und Seele mit einbezieht. Einen Begriff vom Kunstwerk als objekthaftem Gegenüber, an dem „ständig neue Strukturelemente“ (Fischer-Lichte 2004:19) zu entdecken und dem „permanent neue und andere Bedeutungen zuzusprechen“ (ebd.) sind, lehnt diese Auffassung von Kunstvermittlung zugunsten eines schwierig zu bestimmenden „Lernens als Erfahrungsprozess“ (siehe: Kristine Preuß/Fabian Hofmann „Der Erfahrung Raum geben: Vorschläge zur Theoriebildung in der Kunstvermittlung und Museumspädagogik“) ab. Im Rahmen dieser Entwicklung des Museums hin zu einem „sozialen Raum“ (ebd.) wird den Besucher*innen zunehmend eine aktive Rolle in Vermittlungsprozessen zugesprochen. Allerdings muss gefragt werden, inwiefern der „Aktionismus vieler ambitionierter, museumspädagogischer Angebote“ (Hallmann 2017:149) im Einklang steht mit dem Bildungsauftrag der Museen.

Vermittlung

Vermittlung ist ein innerhalb der Kunst- und Museumspädagogik nicht klar definierter Begriff. Nicht gemeint ist damit zumindest eine Didaktik, die aus dem Kunstwerk eine überschaubare Botschaft erschließt. Nicht gemeint ist ebenso wenig ein Interaktionsprozess, der freie künstlerische Prozesse anstößt oder auslöst.Gemeint ist ein Raum, der einem komplexen Prozess der Auseinandersetzung mit Kunst, ihren Bezügen zur Welt, zum Subjekt und zu seinem Gemacht-Sein gerecht werden soll:

„Bei der Vermittlung geht es zum einen darum, unterschiedliche Bereiche der Welt in ein Verhältnis zu bringen, beispielsweise Kunst und Gesellschaft, historische Zusammenhänge, ästhetische Wirkungen oder Präsentationsformen und Marktmechanismen. Zum anderen hat Vermittlung das Ziel, einzelne Menschen in ein Verhältnis zur Welt – in diesem Sinne: zu ihrer Um Welt – zu setzen.“ (Hofmann 2016:56)

„Kunst sucht […] sinnvolle Deutungen unserer Selbst-, Mit- und Weltverhältnisse zu geben.“ (Krautz 2020:54) Die Welt, in die wir eingebettet sind, ist immer Mit-Welt. Diese Kernpunkte der relationalen bzw. personalen Kunstpädagogik (Krautz 2020) klingen auch in Hofmanns oben angeführter Definition der Ziele von Kunstvermittlung an. Dieses Grundverständnis des Geflechts von Lebensbezügen, Verstehen und Bildung soll im Folgenden erläutert werden. Es bildet den Bezug zu Teilhabeangeboten der Vermittlungsarbeit und die Basis der Auseinandersetzung dieses Artikels.

Sinnvolles Bilden

Hubert Sowa hat dargelegt, dass ‚Bilden‘, (sich) ein Bild machen, eine anthropologische Konstante ist. „Bildende Kunst […] ist bedeutend, weil sie das Grundverhältnis der Sichtbarkeit in verdichteter und anschaulicher Form wiederspiegelt […, eine] geistig bildende Antwort auf die menschliche Kondition des Aufenthalts im Sichtbaren“ (Sowa 2008:218) gibt. Das Bedürfnis zu verstehen, Gesehenes und Erlebtes als etwas einzuordnen, was es im Leben geben könnte, was im weitesten Sinne Sinn gibt, ist ein natürliches. Insofern haben wir bei der Betrachtung von Bildern an Bildern teil, indem wir im Verhältnis von Im-sichtbaren-eingebettet-sein und darin verwurzeltem Sehen Sinn bilden. Bildung findet an Bildern statt, weil wir in dem Zwischenraum zwischen vorgängig gewussten Sehformen und Bild verstehen möchten, was das Gesehene mit der Welt, in der wir leben, zu tun hat.

In seinem Aufsatz „Kunstgeschichte lehren und lernen – Vorbemerkungen zu einer kulturgeschichtlichen Didaktik des Kunstunterrichts“ führt Hubert Sowa aus, dass das Verstehen von Kunstwerken, seien sie historisch oder zeitgenössisch, immer einer Aktualisierung für das Verständnis jedes einzelnen bedürfe. Die Kenntnis anthropologischer Konstanten ermöglicht es uns, auf etwas alle Menschen Verbindendes zurückgreifen, den ‚Gemeinsinn‘, aufgrund dessen wir uns über die Annäherungen so verständigen können, dass uns über einen gemeinsam festgestellten Sinn austauschen können. Es bedarf dabei einer verlangsamten Rezeption (s.u.), eines Nachvollzugs, um plurale Kontextbezüge herzustellen.

Im Folgenden sollen zwei Vermittlungsbeispiele besprochen werden, die einen nicht-verstehenden Umgang und einen verstehenden und Umgang mit Arbeiten von Édouard Manet zeigen.

Kritisiertes Beispiel aus der Hamburger Kunsthalle 2016

2016 gab es in der Hamburger Kunsthalle die beeindruckende Éduard Manet-Ausstellung „Sehen“. In dieser sollte vor allem aufgezeigt werden, dass es Manet nicht um illusionäre Darstellung von dreidimensionalen Räumen als Fenster zu einer anderen Wirklichkeit – um Bildräume – ging, sondern um eine moderne Errungenschaft, den „Betrachterraum“. Durch den Blick der dargestellten Personen werden Beziehungen zum Betrachter hergestellt, sodass das dargestellte Geschehen bzw. die Hintergrundräumlichkeit zugunsten eines „von einem polyperspektivischen Sehen strukturierten Raum“ zurücktritt. (Lüthy 2016:17) Konkret bedeutet das z.B. bei Manets „Balkon“ von 1873,  dass die Figuren auf dem Balkon beziehungslos nebeneinanderstehen, ihre Blicke auf unterschiedliche Weisen in verschiedene Richtungen gerichtet sind. Das, was sich im Hintergrund abspielt, ist nur zu erahnen, ist verrätselt. So ergibt sich bei der Betrachtung keine schlüssig zu ermittelnde Erzählung. Das, was der Betrachter sieht, muss um eigene Gedanken und Gefühle ergänzt werden, um die Ansicht zu komplettieren. Das ist mit ‚Betrachterraum‘ gemeint.

Abb. 5: Édouard Manet „Der Wintergarten".
Abb.1: Édouard Manet „Wintergarten"
1877, Alte Nationalgalerie Berlin.

In diesem Fall bleibt es damit bei einer nicht aufzulösenden Situation, die Manet genauso in anderen Bildern erschafft, um die Offenheit und Doppeldeutigkeit als solche zu thematisieren und stehen zu lassen. In Manets „Wintergarten“ von 1877 (Abb.1), um den es folgend gehen soll, gehen die verschiedenen Blicke des dargestellten Paares in andere Richtungen. Sie treffen sich auch nicht. So ist nicht abzulesen, womit sie sich gerade (gemeinsam) beschäftigen. Genauso wenig sind ihre Hand-, Arm- und Körperhaltungen eindeutig aufeinander bezogen bzw. auszulegen. Die Beziehungslosigkeit der Personen könnte ein Thema des Bildes sein, genauso wie eine Leere oder Ambiguität der Situation an sich.

Das ‚Sehen‘, die Blicke mit ihrer Offenheit und ihren Implikationen zum Betrachtenden hin, waren 2016 auch das Hauptthema der gesamten Ausstellung „Sehen“. Ein Partizipationsangebot der Abteilung Bildung und Vermittlung bestand aus einem Passbildautomaten inmitten der Ausstellung, der für einen Euro die Augen der Besucher*innen fotografierte.

Teilhabe bestand darin, sich in den Automaten zu setzen, einen Euro einzuwerfen und ein Foto machen zu lassen. Die fertigen Augenstreifen-Selfies konnten mitgenommen oder Bestandteil einer ‚Mitmach-Tapete‘ werden, in dem sie an die Wand in entsprechende Vorrichtungen gesteckt wurden. Die Reaktion mancher Besucher*innen war Freude oder ein Verwundern darüber, dass nun ihr Augenpaar ‚im Museum‘ hing. Hier setzt die Kritik an.

Inwiefern berührt diese Aktion die Ausstellung, den Besucher bzw. inwiefern berührt seine Freude über ‚seine Augen im Museum‘ einen Bildungsauftrag? Wie werden Besucher*innen hier ernst genommen? Was hat das Ganze, außer dass beides Mal Augen und Blicke eine Rolle spielen, mit der Manet-Ausstellung und den künstlerischen Fragen zu tun, um die es dabei ging?

Das Kunstwerk als solches wurde hier zum beliebigen Anlass für davon losgelösten Spaß – der Spaß hatte mit dem Werk, seinen in ihm angelegten Strukturen und seiner historischen Dimension nichts mehr zu tun und trägt in diesem Fall auch nicht dazu bei, Manets Bilder besser zu verstehen und damit zu erleben oder zu genießen.

Es sollte Museen mit einem Bildungskonzept (Deutscher Museumsbund 2020:10; siehe: Kunz-Ott „Das Bildungskonzept – ein Grundpfeiler musealer Arbeit“) gelingen, ihren Bildungsauftrag weniger beliebig, dafür aber weiter und tiefer zu fassen und Annäherungen, wie die gerade skizzierten, als vorbereitende und erschließende Übungen für das Hauptziel ‚Verstehen‘ fruchtbar zu machen und hierfür museumsdidaktisch zu schärfen. Der subjektive Zugang zum Werk sollte nicht verwechselt werden mit geistlosen niedrigschwelligen Angeboten. Genau an dieser Stelle sollte ein Nachdenken einsetzen.

Auch Lisa Spanier erinnert daran, den „Anspruch [des] demokratische[n] (Bildungs-) Auftrag[s]“ des Museums zu bewahren und in der Vermittlungsarbeit „nachhaltige positiv erlebte Selbstbildungserfahrung“ zu ermöglichen, ohne sich „dem zeitgenössischen Innovationsdruck zu unterwerfen“ (Spanier 2015:6f.).

Partizipation bedeutet in dem hier kritisierten Beispiel schlicht ein subjektives Agieren bzw. Reagieren. Wolfgang Ullrich schreibt dem eine „palliative“, „beruhigende“ Wirkung zu, die so von der Kunstvermittlung aus geht. „Damit der Besucher hinreichend Selbstvertrauen bekommt, bedarf es seiner Ermutigung via Kunstvermittlung, ja braucht es Aktionen, mit denen er sich seiner eigenen Kreativität vergewissern kann.“ (Ullrich 2015a:4) Ullrich schlägt daher vor, diese Funktion des Museums als „Kreativitätsagentur“ (Ullrich 2015b) zu bezeichnen.

Zusammengefasst gesagt: Von Kunstwerken und Ausstellung lenkte die Aktion eher ab, anstatt zu deren Verstehen, Erleben und Genießen, zu einem objektangemessen (siehe: Tobias Nettke „Was ist Museumspädagogik? – Bildung und Vermittlung in Museen“) oder sachgerechten (Krautz 2018:40) Umgang beizutragen.

Um einen Verbesserungsvorschlag geht es im Folgenden.

Versuch eines Verbesserungsvorschlags

Tobias Thuge hat in seinem Aufsatz „Skandal im Grünen – Oder das didaktische Potenzial der Provokation“ das Potenzial der Figurenkonstellation in Manets „Wintergarten“ von 1877 (Abb.1) für das Verstehen im Kunstunterricht ausgelotet und gezeigt, wie eine auf den zweiten Blick zu erkennende Provokation u.a. in der Haltung (der Hände), der Blicke des Ehepaares und in der letztendlich nicht aufzulösenden Aussage liegt (s.o.). Schüler*innen erlebten bei der Erarbeitung vor allem die Ambiguität als „ein nicht unerhebliches Qualitätskriterium für Kunst“ (Thuge 2021:228).

Abb.2: Hände
Abb.2: Hände.
Abb.3: Abwehr
Abb.3: Abwehr.
Abb.4. Friede
Abb.4: Friede.

 

In diesem Sinne wurde von Kunst-Studierenden eine Mitmachaktion entwickelt, die dem Werk gerecht wird, in dem die (Nicht-) Kommunikation, die in vielen von Manets Bildern tragend ist, als Gegenstand und zum Nachvollzug angeboten wird. Es handelt sich um eine Fotoaktion, bei der Teilnehmende aufgefordert werden, Manets Figuren aus dem „Wintergarten“ von 1877 nachzustellen und dabei (in diesem Fall mit den Händen) in Kommunikation zu treten (Abb. 2-5). Diese auslegende ‚Aufgabe‘ ist aufgrund des Umstandes einer kurzen ‚Mitmachaktion‘ innerhalb einer Ausstellung relativ eng geführt, denkbar wären zahlreiche weitaus offenere Aufgaben (Abel-Danlowski in Vorbereitung), in die auch aktuelle Medien mit aufgenommen werden könnten (vgl. Ullrich 2022).

In diesem Artikel geht es in erster Linie darum, das Prinzip einer verstehenden Teilhabe zu versinnbildlichen. Über das Nachstellen und Variieren der Handhaltungen findet bei diesem Beispiel eine subjektive verlangsamende Annäherung statt. Dabei bleibt es nicht bei leeren Gesten des Knipsens und Aneinanderreihens in Bezug auf die zu rezipierenden Kunstwerke relativ aussagelose Fotos. Vielmehr kann im Verhalten der Hände zueinander eine – bewusste oder unbewusste – Botschaft, eine Wirkungsintention nachvollzogen werden, die auf das Bild bezogen werden kann. Im Abgleich erfahren die Teilnehmenden, dass bewusst oder unbewusst ausgedrückte Intentionen sowie deren Darstellung Wirkungen haben. So werden werkkonstituierende Komponenten (Blicke, Haltungen der Personen) zur offenen Struktur für ein verstehendes Aufnehmen durch das eigene Erleben. Im Museum würde ein oben beschriebener Erfahrungsraum dargeboten, der über eine ‚nichtsagende‘ Wissensvermittlung hinausgeht, aber gleichzeitig auch dem Werk gerecht wird.

Abb.5: Fuck
Abb.5: Fuck.

Mit diesem Verbesserungsvorschlag sind keine autonomen Werke geschaffen, dennoch unterscheiden sich solche Rezeptionen von beliebigen leeren Wiederholungen wie auch von der Erwartung, die*der Teilnehmende „könne direkt an der Kreativität des Künstlers teilhaben“, weil ihm „statt eines fertigen Werks eine frische Idee geliefert wird“ (Ullrich 2015a:3). Hier geht es stattdessen darum, gestalterisch eine Brücke zur eigenen Auslegung des Werkes zu schlagen. Es ist ein niedrigschwelliger subjektiver Vorgang, der einen Sinn erschließt.

Aktive Teilhabe

Der hier vorgestellte Vermittlungsvorschlag plädiert dafür, Kunst-Verstehen als einen Prozess zu begreifen, der auf Vorstellungsbildung und bildnerischem Denken basiert und darauf aufbauend Vorstellungsbildung und einordnendes Denken miteinander verbindet. Konkret bedeutet das, unmittelbare ‚natürliche‘ Interessenspunkte aufzunehmen und zu ‚nutzen‘, um an einem ‚inneren Sinn‘ entlang Verstehen hervor zu bringen. So bleiben subjektive Vorstellungen verbunden mit im Kunstwerk vorhandenen Elementen, die nicht über allgemeingültige Begriffe erfassbar sind. Bilderfahrung bleibt als solche bestehen (vgl. Plaum 2016:5). Sie wird aufgegriffen, über- und weitergeführt werden in ein übergeordnetes Verstehen. Das ist aktive Partizipation und Teilhabe! (Abel-Danlowski in Vorbereitung)

„Das Ziel unserer Arbeit müsste daher sein, auf neue Weise die eigenen Selbstverständlichkeiten zu erforschen, anschaulich und sinnlich nachvollziehbar eine Auswahl zu treffen und Bezüge derart darzustellen, dass eine Verbindung der verschiedenen Elemente des Kunsterlebnisses möglich wird. Dabei sollte immer erkennbar bleiben und mit thematisiert werden, dass durch unterschiedlichste Bezüge verschiedenste Arten von Kohärenz gleichberechtigt nebeneinander auszubilden sind […] Damit jeder einzelne Besucher ‚Sinn‘ der eigenen Anwesenheit im Museum spürt, [… könnten in] der Vermittlung […] die Werke quasi auf zeitgemäße individuelle Weise aktiviert und wieder erfunden und zugleich ‚das Künstlerische‘ an der Kunst, die Modelle von Kunst, die hinter jedem Werk stehen, erfahren und bewusst gemacht [werden].“ (Görgen 2006:182-185)

Was bedeutet Verstehen?

Verstehen ist in jeder Entwicklungsstufe möglich, deswegen trennt dieser Artikel nicht zwischen Kinder-, Jugend- und Erwachsenenbereich. Mit ‚Verstehen‘ als Leitziel soll dabei nicht ein bloß „wörtliches“ Verstehen im Sinne eines bloßen Dechiffrierens einer visuell und materiell codierten Botschaft gemeint sein. Der hier gemeinte Rezeptionsprozess soll nicht nur einen Sinn als Gegenstand des Werkes freilegen, wie dies beim Auspacken eines „Kekses oder etwas aus einer Schachtel“ (Brock 1982:108) geschieht, sondern als eine Auslegung, die in Bezug zum Werk, seinem Gemachtsein, zur Welt und mir als betrachtendem Subjekt Sinn erschließt und damit bildend ist.

Wie im obigen Beispiel dargelegt, ist „Verstehen … also die Tätigkeit, analog das zu erzeugen, was der andere artikuliert hat […] Analog bedeutet somit nicht identisch. Artikuliertes Verstehen verdoppelt nicht den Gegenstand, sondern schafft etwas Eigenes mit einer dem Anderen entsprechenden Bedeutung. [Im mimetischen Nachvollzug wird sich etwas anverwandelt. Anm. d. Verf.] Für unseren Zusammenhang wäre zu ergänzen, dass das Verstehen von Bildern sich als gestaltungspraktische Rezeption auch im analogen Erzeugen eigener Bilder zu den vorhandenen Bildern zeigen kann [vgl. Abb.1], wobei die sprachliche Artikulation des Verständnisses damit nicht überflüssig wird […] Ja mehr noch: Bilder rufen immer innere Bilder, also Imagination auf, die insofern eben Analogien des sichtbaren Bildes sind und als solche das Gesehene mit der eigenen Vorerfahrung verbinden und in Relation setzen. Sowa beschreibt dies als ‚imaginative Resonanzfelder‘, die bestimmte Bilder evozieren. [… So findet Teilhabe über den hier beschriebenen Verbesserungsvorschlag statt, weil die in Vorstellungen mit einfließenden Wünschen, Erinnerungen, Handlungsabsichten ihren Platz haben und behalten. Anm. d. Verf.] Bildverstehen ist somit Arbeit an und mit den analogischen Imaginationen, die in diesen Resonanzfeldern aufgerufen werden und die weder rein subjektiv noch rein objektgebunden sind. Sie sind eben relational, sie sind im ‚Zwischen‘.“ (Krautz 2017:460f.)

Unter dieser Prämisse sollten „Artefakten, denen identitäts- und sinnstiftende Kraft attestiert wird“ (Ullrich 2015:6), Respekt gezollt werden. Es geht hierbei nicht um eine künstliche verehrende Hochachtung, sondern darum, Werke aus der Vergangenheit und Gegenwart als Dokumente einer gelebten Zivilisation zu erkennen und dabei einen ‚Denkraum‘ zu eröffnen, in dem Bilder, ihre Geschichte und Beschaffenheit als Zeugnisse „von [subjektiver] Ergriffenheit und [objektiver] Distanz“ (Heinen 2021:191), das Leben und seine Facetten ihrem Sinn entsprechend aufgenommen werden. Auch niedrigschwellige Angebote können diesen Rahmen bieten.

Christiane Schmidt-Maiwald und Alexander Glas nennen es eine „Pendelbewegung“, mit der Alfred Lichtwark, der Begründer der Museumspädagogik und der erste offizielle Kunstvermittler, „vor den Originalen einen Bezug zu ihren Alltagsbeobachtungen ihrem Allgemeinwissen“ (Schmidt-Maiwald/ Glas 2018:3) herstellt. Im „Sinne der neuen Zeit“ wollte Lichtwark seinen „musealen Lieblingsgedanken“ (Heise 1919/20:791), Kunst durch Anschauung und Erleben einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, deshalb so radikal umsetzen, weil Museen vorher „allzu einseitig fachwissenschaftlich“ orientiert waren und den Bezug zum Publikum und der Gegenwart außer Acht ließen. Lichtwark lag es noch fern, seine Ideen theoretisch und methodisch aus zu formulieren und zu fundieren, gleichwohl scheint er bereits nach einem Ausgleich zwischen objektiver und subjektiver Annäherung gesucht zu haben. Lichtwarks Grundsätze sind ein Plädoyer dafür, Kunst erlebend zu verstehen (vgl. Deppner 2010). An seine Maxime, Kunstgeschichte erlebbar und in seinem Fall durch Einfühlung verstehbar zu machen, knüpfen die heutigen Bemühungen um ‚Teilhabe und Partizipation‘ oftmals mehr oder weniger unmittelbar an.

„Kunst verstehen heißt […] das Werk als sinnvoll erfassen“ (Lützeler 1975, Bd.1:667). Es heißt nicht, dem Werk den Sinn entnehmen, sondern das Werk als sinnvoll zu begreifen. Es kann auch bedeuten, dass Fragen oder Widersprüchlichkeiten ungeklärt stehen bleiben und genau das zu verstehen ist. Wollen wir etwas verstehen, setzen wir uns dazu ins Verhältnis, um etwas als etwas zu verstehen. Bei den kritisierten Angeboten fehlt dieses ‚In-Beziehung-setzen‘ und das dem Verstehen immanente Bemühen um Verstehen (siehe: Bettina Uhlig/ Carolin Pauke „Kindorientierte Vermittlung im Museum. Zum Beispiel: ein mittelalterliches Reliquiar“). Sie sind nicht sorgfältig ersonnen, denn sie integrieren keine Möglichkeiten, Impulse aus dem dichten Geflecht eines Kunstwerks mit der eigenen Vorstellungsbildung in einen Verstehensprozess zusammenzubringen. Deshalb bleibt die bloße ‚Teilhabe‘ am Werk in einem solchen Fall beliebig und könnte auch jenseits von Museum und Kunst im Drogeriemarkt oder sonst wo stattfinden.

Andersherum gesagt und auf Kunstvermittlung im Museum übertragen, Partizipation und Teilhabe ohne Verstehen haben keinen Sinn, weil das im Werk Sichtbare nicht in eine Beziehung mit dem Blick auf sich selbst, die Anderen, die Welt und ihre Bezüge zueinander abgeglichen werden kann. Solche Aktionen finden völlig losgelöst von den vom Künstler, von der Künstlerin im Werk angelegten und für Betrachter*innen zugänglichen Sinnstrukturen statt.

Vorschlag

Ein Verbesserungsvorschlag besteht, wie dargelegt, darin, die Angebote mit der Frage danach abzugleichen, ob sie einen Beitrag zu einem Verstehen – im erweiterten Sinne – leisten. Dabei geht es um ein anthropologisch fundiertes hermeneutisches Verstehen, das Bildern entsprechende bildspezifische Modi zur Auslegung nutzt und somit eine subjektive mit der objektiven Herangehensweise verbindet. Wenn das Werk innerhalb eines Kontextes erlebend verstanden wird, wären damit auch die „Dimensionen des Lernens im Museum“ (Deutscher Museumsbund 2020:11) je nach Auswahl ebenfalls erreicht.

Verwendete Literatur

  • Abel-Danlowski, Birte (in Vorbereitung): Bildverstehen durch Gestaltungspraxis. Das „Werkstattgespräch“ als eine Möglichkeit der Verbindung von künstlerisch-praktischem, kunstdidaktischem und kunstpädagogischem Handeln mit der Vermittlung von Kunstgeschichte.
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  • Deutscher Museumsbund (Hg.) (2011): Leitfaden Bildung und Vermittlung im Museum gestalten. Berlin.
  • Deppner, Martin R. (2010): Authentizität des Erlebnisses. Studien zu Alfred Lichtwark als Wegbereiter der Erlebnispädagogik. Lüneburg: Verlag edition erlebnispädagogik.
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  • Heinen, Ulrich (2021): Subjektivität und Objektivität im Denkraum Kunstunterricht. Zur methodischen Einheit der Bildinterpretation. In: Ide, Martina / Beuckers, Klaus Gereon (Hg.): Denkraum Kunstunterricht – Aktuelle Ansätze der Kunstpädagogik/ Kunstdidaktik. München: kopaed, 143-191.
  • Heise, Carl Georg (1919/20): Das Erbe Lichtwarks. Betrachtung zu Eröffnung des Neubaus der Hamburger Kunsthalle. In: Kunstchronik und Kunstmarkt. Nr. 28/29, 785-796 und 857-864.
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  • Uhlig, Bettina/Funke, Carolin (2021): Kindorientierte Vermittlung im Museum. Zum Beispiel: ein mittelalterliches Reliquiar. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://www.kubi-online.de/artikel/kindorientierte-vermittlung-museum-zum-beispiel-mittelalterlichesreliquiar; (letzter Zugriff am 21.01.22).
  • Ullrich, Wolfgang (2015a): Vom Ethos des Kopierens. https://pop-zeitschrift.de/2015/11/05/vom-ethos-des-kopierensvon-wolfgang-ullrich5-11-2015/; (letzter Zugriff am 21.01.22).
  • Ullrich, Wolfgang (2015b): Das Kunstmuseum der Zukunft – eine Kreativitätsagentur? http:///ideenfreiheit.wordpress.com/2015/12/07/vortrag-das-kunstmuseum-der-zukunft-eine-kreativitaetsagentur/; (letzter Zugriff am 21.01.22).
  • Ullrich, Wolfgang (2022): Mein anderes Ich. Im Netz entsteht gerade eine neue Kunst des Maskenspiels. Und mit ihr eine gesellschaftliche Utopie. In: Die ZEIT. Nr. 22, 59.

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Birte Abel-Danlowski (2022): Die Tücken der Kunstvermittlung: Partizipation in Kunstmuseen. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://kubi-online.de/index.php/artikel/tuecken-kunstvermittlung-partizipation-kunstmuseen (letzter Zugriff am 16.07.2024).

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