Third Places und milieuübergreifende Sozialisation in digitalen Gesellschaften
Abstract
Während third places als soziologisches Konzept vor allem für Cafés, Bars und Bowlingbahnen entwickelt wurden, um die Vergemeinschaftung jenseits der sozialen Herkunft zu thematisieren, ist vor allem die Online-Kommunikation, und hier besonders das Computerspiel, als Chance solcher Vergemeinschaftung und Überbrückung der Grenzen sozialer Herkunft thematisiert worden. Diese Form der Vergemeinschaftung ist in der Tat in der Lage, bestehende Hierarchisierungen zu brechen – und das nicht nur auf lokale Art und Weise, unter den betreffenden Personen. Dass Online-Aktivität sich auch in der Gegenwart weiterhin Gefahrendiskursen ausgesetzt sieht, die vor allem von Schule, medialen Betrachtungen und Alltagsdiskursen in Familien ausgehen, weist darauf hin, dass diese Form der Vergemeinschaftung eine weitreichende Herausforderung für bestehende soziale Hierarchisierungen darstellt.
Zu den wesentlichen Zielen pluralisierter Gesellschaften gehört die Vermengung unterschiedlicher Herkunfts- und Milieugruppen. Während diese Rolle klassisch unter anderem mit der Schule verbunden wurde, wurde sie später verstärkt Freizeitaktivitäten zugeschrieben, die als „third places“ Orte der Sozialisation jenseits bestehender Herkunftskontexte sein sollten. Während diese Figur zunächst für Cafés und Bars aufkam, hat die Spiele- und Onlineforschung sie zunehmend aufgegriffen, um zu zeigen, dass es in den letzten fünfzehn Jahren gerade vernetzte Online-Aktivitäten waren, die diese Rolle zunehmend, und zunehmend tief, erfüllen konnten. Onlinespiele nehmen hierunter eine besondere Rolle ein, da ihre Algorithmen unterschiedliche Menschen, die ansonsten nicht interagiert hätten, translokal und ohne Kenntnis ihrer sozialstrukturellen Herkunft in Kommunikationsgruppen werfen und dabei eine lokale, strukturelle Umformung vornehmen, in der sich die Hierarchisierungen außerhalb des Spiels nicht ins Spiel übersetzen, wodurch sich unter den Beteiligten eine genuin eigene soziale Dynamik entfalten kann.
Die Erkenntnis, dass online-Kommunikation Vergemeinschaftungen jenseits bestehender Bindungen befördert, ist bereits lange verfestigt. Ihr stehen im Alltag und vor allem im schulischen Diskurs weiterhin veraltete Gefahrendiskurse indirekter und direkter Natur entgegen. Die indirekten Narrative lassen hier alte Vorurteile über Spiel und Gewalt, die in der Spieleforschung lange widerlegt sind, mit der neueren Entwicklung der Medikalisierung des Alltags zusammentreffen, dessen Ausbreitung einen ebenso fragwürdigen Diskurs des Spiels als Sucht mit sich gebracht hat. Dazu treten alte, direkte Gefahrendiskurse über online-Vergemeinschaftung, die diese als „eigentlich“ vereinsamend und trennend oder, neuerdings, als gefährlich für den sozialen Zusammenhalt zu zeichnen versuchen. Eine Untersuchung der vergemeinschaftenden Potentiale des Spielens muss daher vor allem im Kontakt mit Schulen, aber auch mit journalistischen und anderen alltäglichen Diskursen vor allem die bleibenden Vorurteile überwinden, die institutionellen und medialen Akteure weiterhin Dienste erweisen und daher hier noch nicht die kritische Infragestellung erfahren haben, die die Spieleforschung seit zwanzig Jahren betrieben hat. Eine kritisch-soziologische Betrachtung kann dabei festhalten, wie solche weiterhin aufrechterhaltenen Abwehrkämpfe gegen die Vergemeinschaftungsfunktionen der online-Kommunikation auch der Untermauerung bestehender Hierarchien zuträglich ist, vor allem in Kontexten von Schule und anderen Kontexten offizieller Deutung.
Third Places
Klassisch galten Schule, Militär und Kirche als Institutionen, die Überbrückungen verschiedener Milieus, Herkünfte und Statusgruppen leisten sollten. Diese sind jedoch oft weit hinter dieser Erwartung zurückgeblieben: Während die letzten beiden Institutionen ihre Inklusionswirkung in Folge sozialstruktureller Veränderungen auf breiterer Basis eingebüßt haben, ist die erstere beständig der Kritik ausgesetzt, soziale Ungleichheiten zu reproduzieren statt sie zu nivellieren (Ditton 2010, Walther 2020). Zu diesen instanzenzentrieten Zugriffen auf Überbrückung tritt in den 1980erjahren eine Thematisierung von „Third Places“ als Begegnungsorten, die sich gerade als Orte fernab dieser Instanzen konstituieren (Oldenburg/Brissett 1982: 269, Mandel 2018): Foren des Austauschs jenseits von Familie und institutionalisierten Orten aufkommen (die als erste und zweite Orte gerahmt werden). Damit öffnen third places soziale Kreise, während Familie und Arbeitsplätze eine „small and highly predictable world” stabiler Besetzung bieten (Oldenburg/Brissett 1982: 274): „both the home and the place of work are marked by a constancy of their population. On the other hand, the third place is populated by a shifting diversity of inhabitants who are granted involvement by virtue of their presence at a particular place at a particular time.” (ebd.: 274) Dagegen existieren third places “outside the home and beyond the ’work lots’ of modern economic production. They are places where people gather primarily to enjoy each other's company.” (ebd.: 269) Ursprüngliche Kandidaten waren Tavernen, Kaffeehäuser (ebd.: 268), „soda fountains”, Diners, Gemüsemärkte (Oldenburg 1996: 7) oder Nachbarschaftsläden (ebd.: 8).
Diese Thematisierung von third places neigt zur Idealisierung dieser Orte als solche, die von der Formalität und der Struktur von Familie und Arbeit/Schule befreit wären und so der „happy association that is not premised on the social qualifications of the people involved“ dienen (Oldenburg/Brissett 1982: 271) können. In weiterer Idealisierung bezeichnen Oldenburg und Brissett sie mit Simmel als „the most purely democratic experience life can offer“ (ebd.: 271), in der die Zwänge der Strukturen von Familie und Arbeit in „pure sociability“ aufgehen sollten, wo „the surrender of outward status is rewarded by unqualified acceptance into human fellowship.” (ebd.: 271) Diese so hohe Idealisierung konnte von konkreten third places so nicht erfüllt werden; schon die Trennung von Strukturen der Arbeit und Familie scheitert bereits daran, wer mit wem an diese Orte geht. Einander unbekannte Gruppen interagieren in ihnen vergleichsweise wenig: Die Durchmischung wird von der „zivilen Unaufmerksamkeit“ des städtischen Alltags (Goffman 1959) limitiert, deren Ritualität es verhindert, dass Interaktionen oder Bindungen jenseits pragmatisch-kurzer Interaktion zustande kommen. Diners, Bars, Cafés und Bowlingbahnen sind zudem Orte, die Kolleg*innen und Familien zusammen besuchen und dort auch weitgehend unter sich bleiben; sie reproduzieren soziale Herkünfte damit weiterhin stark. Außerdem sind sie lokal und sozialstrukturell gebundene Orte, in denen Begegnungen sich anhand der Wohnortdemographie strukturieren. Die Trennung von Strukturen der Ökonomie kann schon alleine deshalb nicht aufrechterhalten werden, da praktisch alle öffentichen Orten der Gegenwart ökonomisierte Orte sind, an denen die Anwesenheit von ökonomischen Zielen und Rahmen geordnet wird, wodurch sie von institutionellen Orten – wie Schulen – nicht klar getrennt sein können: “the majority of public places in our society fail to become actual third places. Upon entering many of these establishments, one finds intense devotion to the business at hand.” (Oldenburg/Brissett 1982: 269) Third places, wie Oldenburg und Brissett sie beschreiben, sind daher weit hinter ihrer Idealisierung zurückgeblieben. So ist Forschung zum Austausch zwischen Herkünften auf Feldern dieser Art limitiert geblieben.
Onlinespiele und soziale Netzwerke als Third Places
Die Game Studies haben die Figur des third place jedoch schon im frühen 21. Jahrhundert auf Onlineinteraktion, und hier vor allem auf Onlinespiele, gewendet (Wellman/Gullia 1999, Wadley et. al. 2003, Boyd 2004, Steinkühler/Williams 2006; Steinkühler 2006, Hemminger 2011), indem sie bemerkt haben, dass diese Orte dem Idealbild, das Oldenburg und Brissett gezeichnet hatten, deutlich näher kommen als Bars, Theater und Eckläden das taten. Während das Spiel gerade in pädagogischen Kontexten weiterhin teils massive Stigmatisierung erfährt, hat es in den letzten Jahren eine neue Verankerung in der Alltagskultur und Legitimität als Erwachsenenaktivität gewonnen. Über zwei Milliarden Menschen weltweit spielen regelmäßig Computerspiele; durchschnittlich sind sie 35 Jahre alt (in den USA und in Deutschland gleichermaßen, vgl. Romano 2014, Puppe 2016), lediglich 26% aller Spielenden in den USA sind unter 18 (Erickson 2015); zudem sind 52% weiblich (Romano 2014). Nicht nur ist die Relevanz des Computerspiels für die Gegenwartskultur damit als gesichert anzusehen; es erreicht auch weite Teile der Weltbevölkerung, die hier (in verschiedenen Spielsilos) interagiert. Third places finden sich um gemeinsam gespielte Onlinespiele wie League of Legends, das mit über hundert Millionen Spielenden eines der größten Onlinespiele der Welt ist. Fortnite und Players Unknown: Battleground (PUBG) zählen ebenso hohe und zeitweise höhere Spielerzahlen, und eine große Zahl unterschiedlicher Spielcommunities - DOTA 2, Minecraft, EVE Online, Call of Duty, Grand Theft Auto und unzählige andere – weiten das Feld der Onlinespiele auf zehnstellige Teilnehmendenzahlen aus. Zudem sind third places auch um popkulturelle Inhalte herum geordnet, die nicht zusammen gespielt werden, in Form von Foren, Videos, Livestreams und Fankunst, um die herum sich weltweite Gemeinschaften bilden; jenseits von Spielen gilt das für alle möglichen Interessen, Aktivitäten und Identitäten, die sich in geteilten Online-Orten, von sozialen Netzwerken über Chats zu Foren, Videos und Kunstplattformen, vergemeinschaften. Diese Gruppen stehen auch jenseits des Spielens in dichteren Kommunikationsnetzen und konstituieren sich, wie breitere Nischenkultur in Narrowcastumfeldern (Dellwing 2017), um Enthusiasmus herum, wenn beispielsweise Livestreams oder Aufnahmen gesehen werden, in denen andere spielen, wie auf Twitch: „Twitch streams act as virtual third places, in which informal communities emerge, socialize, and participate.” (Hamilton et al 2014) So bilden sich Gemeinschaften um diese Spiele herum – in Chatkanälen, die außerhalb der Spieleplattform etabliert werden (z.B. auf discord), auf Videoplattformen, auf denen Menschen Spiele übertragen (wie twitch) oder auf Webseiten und -foren, auf denen Statistiken zu Spielpraktiken gesammelt und über optimale Spielweisen („META“, d.h. „most efficient tactic available“) diskutiert wird (Kirschner 2016). Die breitere Gemeinschaft jener, die die neue Vitalität des Erwachsenenspiels in ihrer Alltagshandlung tragen, ist zudem häufig in transnationale und schichtübergreifende Fangruppen eingebunden, die sich um popkulturelle Inhalte herum bilden, die längst aus ihrer Assoziation mit niedriger Bildung entwachsen sind. So ist dieses Wachstum nicht auf die reine Praxis des Spielens beschränkt, sondern Teil einer transmedialen Popkulturalisierung, über die zudem auch Vernetzungen zu anderen Enthusiasmusgemeinschaften geschehen. Oldenburg nannte third places „‚sorting‘ areas“ (Oldenburg 1995: 7), in der Menschen mit ähnlichen Interessen sich finden; die Rhetorik des Findens objektiviert jedoch, impliziert sie doch, dass diese bereits zuvor vorlagen und damit in der Herkunft konstruiert geworden wären. Dagegen schafft Kommunikation jedoch auch gemeinsame Interessen; die Niederschwelligkeit von Online-Kommunikation gepaart mit ihrer Sozialität erlaubt es damit, dass Interessen erst begegnet werden und sie erst geformt werden können, und das weit jenseits von Herkunftsgruppierungen. Das gilt für Spiele und Onlinecommunities wie Foren oder Hobbyplattformen wie deviantart oder Interessengruppen wie r/childfree oder r/satanism auf breiterer Ebene, als das für die Eckkneipe der Fall war.
Die weite Ausdehnung des Spiels in der Gegenwartsgesellschaft hat die Bevölkerungen von Spielen und Netzwerken über die Grenzen von Milieus und sozialstrukturellen Herkünften hinaus damit pluralisiert und diversifiziert. Da Multiplayer-Onlinespiele, also gerade jene, die sozial durchmischend wirken, mittlerweile häufig ohne monatliche Abonnementgebühren in ihrer Basisversion kostenlos spielbar sind, bieten sie geringe Zugangshürden, was ihre Chance der Vermengung sozialstrukturell diversen Populationen erhöht. Wer mit wem spielt wird zudem zufällig entschieden: Software wählt aus, wer auf wen trifft – und das, ohne dass Milieuaspekte hierin Berücksichtigung fänden. So werden auch die Vorselektionen der Beteiligten limitiert, wobei die Wahl des Spiels, der Plattform (PC/Konsole/Handy), der Spielzeit und des Ortes, von dem aus eine Verbindung hergestellt wird, weiterhin Selektionen mit sich tragen. Wer nachts spielt, ist in einer anderen demografischen Gruppe als jene, die um 19 Uhr spielen, Call of Duty zieht eine andere demografische Gruppe an als Fortnite, und deutsche Spielende werden in der Regel in Servern in Frankfurt gesammelt, auf denen Vermengung mit asiatischen Spielenden unwahrscheinlich ist, jene mit belgischen oder italienischen jedoch häufig vorkommt; aber das unterscheidet sich von Spiel zu Spiel, wobei einige auch weltweite Spielende sammeln. Innerhalb dieser Vorauswahlen ist die letztliche Zusammensetzung jedoch zufällig.
Spiele sind zudem oft so strukturiert, dass sie Interaktion erfordern, um gemeinsame Ziele zu erreichen, wenn z.B. Monster nur gemeinsam besiegt werden und Missionen nur in diverser Rollenverteilung erledigt werden können. Zudem werden im Spiel Orte und Segmente eingebaut, in denen die gemeinsame Kommunikation nicht auf dieses direkte Ziel hin ausgerichtet ist. z.B. gemeinsames Gehen über das Gelände im Spiel oder geteilte Warteorte. So werden die Menschen, die oft zufällig zusammenkommen, in eine Situation versetzt, in der sie auch jenseits der Inhalte des Spiels kommunizieren – sich unterhalten (Steinkühler 2005, Steinkühler/Williams 2006, Hemminger 2011, Williams 2016).
Onlinespiele und Hierarchien
Das verbindet soziale Welten, die sonst wenig Kontakt zueinander aufweisen und erlaubt so demografische Vermengung: Hemminger bemerkt für Onlinespiele, dass „sich dynamische soziale Netzwerke“ bilden. Onlinespiele wie League of Legends, aber auch soziale Netzwerke wie Instagram gehören so zu den wenigen Räumen, an denen Professorinnen und Krankenpfleger, Lehrer und Handwerkerinnen, Ärztinnen und Reinigungskräfte aus unterschiedlichen Ländern zusammen spielen und/oder interagieren (Hemminger 2011:94). Zudem sind diese Menschen in diesen Kontexten nicht länger der äußeren Hierarchie unterworfen. Das betrifft zunächst den Zugang selbst: „First and foremost, third places are defined as neutral grounds where individuals can enter and leave as they see fit without having to ask permission or receive an invitation (as one might in a private space) and without having to ‘‘play host’’ for anyone else.“ (Steinkühler/Williams 2006: 890) Darüber hinaus betrifft es jedoch ebenso die Ordnung innerhalb der Gruppe. Wer „die Führungsrolle übernimmt, hängt nicht vom sozialen Status oder dem Alter und Geschlecht ab, sondern von Spielfertigkeit und Spielerfahrung, sowie der Rolle des Spielcharakters in der Gruppe.“ (Hemminger 2011: 94) Bestehende soziale Positionen werden im Spiel nicht reproduziert; „an individual’s rank and status in the home, workplace, or society are of no importance“ (Steinkühler/Williams 2006: 891); der Status einer Professorin oder eines Anwalts überträgt sich nicht auf Statushierarchien im Spiel, in dem es um Fähigkeiten der Beteiligten im Umgang mit dem Spiel geht. „Rarely is out-of-game social status evoked within such spaces. ... To do so would have invited immediate derision.“ (Steinkühler/Williams 2006: 892) Sie erfüllen damit das klassische Versprechen des Spiels, eine Struktur zu bieten, die die Welt „draußen“ vorspiegelt, ohne sie erfüllen zu können, die im Spiel jedoch weit mehr erfüllt sind: „they represent meritocracies otherwise unavailable in a world often filled with unfairness.“ (Steinkühler/Williams 2006: 892) Die Nivellierung der Interaktionsfundamente wirkt auch in erweiterten Kommunikationsstrukturen weiter, auf den Videoportalen, in Foren oder in Fanart-communities. Auf breiter Basis gilt, „Strukturen und Hierarchien [werden] innerhalb der Fancommunities selbst etabliert“ (Cuntz-Leng/Einwächter/Stollfuß 2015:457). Diese Strukturen stellen in gegenwärtigen Medienkulturen Partizipationskulturen dar, „ a culture with relatively low barriers to artistic expression and civic engagement, strong support for creating and sharing creations ... In a participatory culture, members also believe their contributions matter and feel some degree of social connection with one another (at least, members care about other’s opinions of what they have created)“ (Jenkins et al. 2009: XI). Gegenwärtige Medienkulturen als Partizipationskulturen können nicht mehr leicht zwischen Produktion und Rezeption unterscheiden (Cuntz-Leng/Einwächter/Stollfuß 2015: 457), was die Beteiligten in einen Raum der gemeinsamen kreativen Handlung bringt, in der jene, die sie zusammen vornehmen, sich einfach finden und vernetzen können.
Zivile Unaufmerksamkeit
Erving Goffman identifiziert „zivile Unaufmerksamkeit“ als eine der wesentlichen Regeln des sozialen Miteinanders in der Stadt: Unbekannte haben grundsätzlich nicht nur nicht das Recht, sich gegenseitig anzusprechen, wenn kein (sehr) triftiger Grund vorliegt, dies zu tun, so sehr, dass ein Ansprechen durch Fremde als potentiell gefährlich gerahmt wird, wenn es doch geschieht, z.B. als Versuch des Bettelns oder des Verkaufsgesprächs. Zudem sind Fremde in Stadtkontexten angehalten, sich gegenseitig nicht offen und erkennbar zu bemerken: Wechselseitige Koordination, die ja geschehen muss, um sich z.B. nicht anzurempeln oder die Passagesequenz an einem Engpass zu regeln, muss subtil geschehen, ohne Blickkontakt und mit nur minimalem gegenseitigen Ansehen (2010 [1971]: 3ff.). Was Onlineorte von den Orten unterscheidet, die Oldenburg und Brissett als typisch gesetzt hatten, ist nicht nur, dass sie der Lokalität entzogen sind und nicht mit bestehenden Familienmitgliedern und Kolleg*innen gemeinsam aufgesucht werden; ein wesentlicher Aspekt besteht darin, dass in diesen Kontexten Regeln der zivilen Unaufmerksamkeit nicht gelten. Ansprechen ist in online-Kontexten nicht nur empirisch oft normal, in vielen Kontexten ist es erwartet, und das Ausbleiben ist der Regelbruch und kann als gefährlich markiert werden, führt z.B. zu Vorwürfen, „lurker“ zu sein (Dellwing 2021: 385 ff.). Gemeinsames Spielen zwischen den oft zufällig zusammengebrachten Menschen erfordert, um erfolgreich spielen zu können, solche Interaktion tatsächlich auch. So sind auch die Rituale der Distanz gemindert, die in klassischen third places weiter vorherrschen. Das gilt für Zusammenspiel vielleicht generell; auch Fußball auf der Straße, Boulespiele am Universitätsplatz und pub quizzes weisen diese Praktiken des Aufbrechens der Unaufmerksamkeit und der Distanzrituale teilweise auf, behalten jedoch initiale rituelle Hürden der Begründung der Interaktion oft bei, die die erste Überbrückung zu einer Herausforderung machen; das ist online stark gemindert, und es kommen hier weit mehr als pragmatische Interaktionen auf. Gerade die Anonymität in Foren oder Netzwerken erlaubt oft eine kurze, aber sehr intensive Kommunikation, die schnell zu Öffnungen führt, in denen Dinge kommuniziert werden, die ansonsten auch im sozialen Nahbereich nicht besprochen würden. Steinkühler und Williams sehen die Rolle von Spielen als third places interessanterweise gerade dann nicht mehr gegeben, wenn diese Rolle des bridging capitals zugunsten einer engeren Form von Sozialkapital zurückgelassen wird, wenn aus den zufälligen Begegnungen Freundschaften werden (Steinkühler/Williams 2006: 903), was oft geschieht. Foren, Spiele und Netzwerke schaffen sehr häufig tiefe soziale Beziehungen, die im Zusammenspiel oder in der Interaktion aufgekommen sind und sich über langes Zusammenspiel vertieft haben.
In diesen Bindungen handelt es sich um Interaktionen, die gerade auch dem gesellschaftlichen Zusammenhalt zuarbeiten; diese „typically function to expose the individual to a diversity of worldviews.“ (Steinkühler/Williams 2006: 886) Online-third spaces und geteiltes online-Spielen schafft somit das, was in third places-Forschung als „bridging capital“ thematisiert wurde (Putnam 2001, Steinkühler/Williams 2006: 886), als lockere Form der Beziehung, die belastbar zur Herstellung von Verknüpfungen ist, wenn jemand einmal etwas benötigt: „Evidence from studies of the Internet generally suggests that online social networks are characteristically broad, bridging-oriented networks, although both weak and strong ties can be forged within them.” (Steinkühler/Williams 2006: 901) Über diese Öffnungen hinweg vertiefen sich Kommunikationen nicht immer, aber häufig was dann zu tragfähigen und langen sozialen Beziehungen führen kann. Auch Onlinespiele weisen diese Dynamik auf: Während viele Assoziationen kurz, intensiv und auch intim sein können, werden viele dieser Bindungen auch über diese Situationen hinweg aufrechterhalten. Menschen, die sich im Spiel begegnet sind, entscheiden, regelmäßig zusammen zu spielen und ein Team oder eine Gilde zu bilden. Die Vergemeinschaftung zwischen ihnen endet zudem nicht beim gemeinsamen Spielen, sondern tragen sich in die erwähnten weiteren partizipativen Orte um die Spiele herum weiter und über sie hinaus, in „offline“ vollzogenen Freundschaften.
Diese Vermengungen erlauben es, dass z.B. Minderheiteninteressen und –identitäten, die lokal seltene Ausnahmen sind, auf einmal weltweit Anschluss an Gleichgesinnte – und Mitleidende – finden können. Gerade online vermittelte Räume sind solche, in denen eigene Interessen kleinteilig und abgegrenzt, aber durch die globale Vernetzung dennoch wirkmächtig und dicht besiedelt konstruiert und verfolgt werden können. Gerade hier handelt es sich auch um einen zentralen Motor politischer Aktion, in der junge Menschen mit erfahrenen Aktivist*innen vernetzt Informationen und Strategien austauschen können: Klimaaktivismus, Black Lives Matter und andere Proteste gegen Polizeigewalt, die Proteste in Autokratien sind alle nicht denkbar ohne die politische peer to peer-Sozialisation, die in sozialen Netzwerken ihre Heimat hat und die gegenwärtige junge Generation zur am besten politisch informierten und aktiven Generation der jüngeren Geschichte macht; auch Spiele sind hier zentral beteiligt. Informationen zur Verschärfung der Copyrightrichtlinien im EU-Recht, die weite Teile der Interaktionsfreiheit im Internet durch Filter beschränken können, wurden in sozialen Medien, aber auch und vor allem im Spielen diskutiert, sodass Spielende und internetaffine Menschen hier deutlich besser informiert waren als Menschen, deren Nachrichten aus Zeitung und Fernsehen stammen. Das gleich gilt für Klimaschutz, Polizeigewalt und internationales Kriegsgeschehen in Syrien oder Jemen, Themen, über die in direkter Kommunikation mit Menschen aus der ganzen Welt tiefgründigere, direktere und weniger journalistisch gefilterte Informationen zu erhalten sind, die Machtstrukturen schon aufgrund dessen infrage stellen, dass der Informationsfluss nicht mehr in ihnen vorgeordnet ist. Auch das gehört zu den klassischen Elementen von third place-Sozialisation: „Third places foster political debate. From the colonial inn to the old country store, from the neighborhood tavern to the soda fountain, third places have historically served as forums for political debate and discussion.” (Oldenburg 1995:7)
Third Places und Gefahrendiskurse
Überbrückungen und Vermengungen dieser Art gelten in diversifizierten und pluralisierten demokratischen Gesellschaften als zentrales Desiderat, um gegenseitige Verständigung, Verstehen und Zusammenleben zu befördern. Dennoch waren third places lange auch starken Gefährdungsnarrativen ausgesetzt. Das ist kein Zufall. Es handelt sich um Orte, an denen gerade die Instanzen der sozialen Ordnung weniger Macht ausüben und die damit zwar vergemeinschaften, oft aber nicht im Sinne der herrschenden Ordnung. Da es sich hier gerade um Orte handelt, die Spaß machen und zum Spaß besucht werden, ohne, dass Fragen von Produktivität oder Aufrechterhaltung von Familienfassaden im Mittelpunkt stehen, bezeichnen sie als „[p]ure sociability“, die sie als „the antithesis of a group therapy session“ verstehen. Oldenburg und Brissett nannten third places bereits ein „a forum for ‘play’ in a society interfused with a stubborn commitment to work and purposiveness,” (1982: 282) und sahen sie gerade als Kontrastierung zur Produktivität. Spaß und Lust sind das historische Feindbild der puritanischen Orientierung an Leistung und Disziplin. Dass Oldenburg eine Abgrenzung zur Therapie wählt, ist hier kaum zufällig. Therapie hat zumindest auch zum Ziel, Einzelmenschen, die an sozialen Strukturen leiden, zu bearbeiten, um sie in diese Strukturen einzufügen und in ihnen produktiv zu machen. Oldenburg und Brissett identifizieren vor allem Bars und Kneipen als third places: „The tavern, or bar, is without doubt the dominant third place in our society and we are not unique in this.” (Oldenburg/Brissett 1982: 269), und auch diese sind häufiger Abwertung ausgesetzt gewesen. Dass es sich in den erfolgreichsten third places des meatspace um eine der am stärksten abgewerteten Plätze handelt, ist ebenso kein Zufall: Es sind gerade Orte, die als Rückzugsorte vor produktivitäts- und disziplingebundenen Erwartungen wirtschaftlicher Strukturen, vor den Pflichtkorsetten von Familienstrukturen und vor den alltäglichen Moralität bürgerlicher Erwartungen verwendet werden. Die Vergemeinschaftung funktioniert gerade, weil diese Rahmen ausgesetzt sind und die Menschen sich so jenseits ihrer funktionalen Rollen und bürgerlich-öffentlichen Selbstpräsentationserwartungen (Goffman 1959) geben können.
Mediale third places haben diese Abwertung in den letzten Jahren trotz ihrer massiven Ausweitung noch einmal deutlich stärker erfahren (z.B. Beutel et. al. 2011, Pfeiffer 2011, Mößle 2014, Sauter et. al. 2016 u.v.m.). Noch 2017 wird Spielen in die Liste psychischer Störungen aufgenommen, der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e. V. vertrat erst kürzlich noch das Narrativ des gewaltsamen Spielens (vgl. Portz 2020: 2), und Breiner und Kolibrius stellen 2019 noch die Dominanz der negativen öffentlichen Meinung zu Spielen fest. Im Gegensatz zu akademischer Arbeit, die in den letzten fünfzehn Jahren eine tiefgründige Auseinandersetzung mit mediatisierter Interaktion an den Tag legen konnte, steht eine Alltagsthematisierung, die mit Unterstützung von Psychiatrie, Psychologie und Teilen der Pädagogik immer noch stark von etwas durchzogen ist, das „digitale Dystopie“ genannt werden kann (Goldberg 2016), der Furcht vor Technologie und vor allem der jugendlichen Interaktion mit ihr als kulturzersetzender Kraft. Das findet gerade in der Schule starke Traktion, was der Digitalisierung der Schule nicht zuträglich ist: „the promise to reveal the danger lurking beneath the glossy veneer of digital network technologies has only grown more alluring to popular audiences as these technologies have become a central part of daily life” (Goldberg 2016: 785). Dieses Narrativ ist in seiner Regelmäßigkeit so grundlegend, dass Verurteilungen neuer Medienformen in diesen regelmäßigen Mustern eigentlich schnell Langeweile auslösen müssten und dies im Rahmen des Großteils wissenschaftlicher Betrachtungen auch häufig tun. Im Fall von Schrift, Oper, Theater und Roman liegen diese Abwehrkämpfe so lange in der Vergangenheit, dass lange zugunsten dieser Medien entschieden wurde: sie gelten nun weitgehend unumkämpft als Hochkultur (Zimmermann/Falk 2020). Mediale, aber auch wissenschaftliche Betrachtungen lassen sich jedoch mit ebensolcher Regelmäßigkeit auf diese wiederkehrenden Gefahrendiskurse ein und reproduzieren sie, ein Umstand, den Livingstone als „historical amnesia“ (2005) lamentiert. Gerade die oben beschriebenen Überbrückungen sind von außen in diesem Rahmen als Gefahren markiert worden, entweder indirekt oder direkt. Indirekte Gefährdungsnarrative besprechen die soziale Überbrückungsfunktion von third places kaum, führen jedoch andere putative Gefährdungen an, die diese Orte suspekt machen sollen. Direkte Gefährdungsnarrative fokussieren gerade auf die soziale Funktion als zersetzende Gefahr.
Indirekte Gefahrendiskurse
Indirekte Gefahrendiskurse kochen alte Sorgenarrative auf, die heute lange als überwunden gelten sollten, vor allem das Narrativ, Spielen sei gewaltaffin. Spiele mit Gewalt zu assoziieren, ist auf mehreren Ebenen unplausibel. Studien, die solche Verbindungen nachzuweisen versuchen, kommen regulär aus Kontexten, denen ein grundlegendes Verständnis von Spielekulturen fehlt und deren Versuchsaufbau ohne Ausschweife absurd genannt werden kann; sie lassen Textsubjekte spielen und danach Tröten bedienen (sic!). Sie schließen aus Millisekunden Unterschieden in der Länge der Trötenverwendung auf eine gewaltsame Disposition nach dem Spielen. Dagegen ist die Verbindung zwischen Computerspielen und Gewalt, und egal welcher Computerspiele, in den Game Studies lange widerlegt. Seit dem Aufkommen des Computerspiels ist die Gewaltkriminalität in den USA beständig und drastisch gesunken (Markey/Ferguson 2017: 85). Zu Jahreszeiten, zu denen am meisten gespielt wird, sind die Zahlen der Gewaltkriminalität am niedrigsten (Markey/Ferguson 2017: 83). Die Länder mit den höchsten pro-Kopf-Umsätzen der Videospielindustrie – und die Länder mit den aktivsten Computerspiel-Communities – sind Japan und Südkorea. Gleichzeitig handelt es sich hier um zwei der friedlichsten Länder der Welt. „[I]f you are in a geographic location where lots of people are playing violent video games, you are in a much safer location than you would be if you were in a place where people do not play such games” (Markey/Ferguson 2017: 82). Aufschlussreich ist auch, welche Spiele als „gewaltsam“ markiert werden: Schach ist ein Kriegsspiel, in dem die herrschende Klassen die Landbevölkerung in der Schlacht opfert, gilt aber nicht als „Gewaltspiel.“ Märchen sind brutale Gewaltfantasien, gelten jedoch als sicher auch für junge Kinder. Krimis reproduzieren allabendlich staatliche Gewalt gegen statusschwache Bevölkerungsschichten, wenn zum tausendsten Mal suggeriert wird, dass ressourcenschwache Menschen eine allgegenwärtige Gefahr für Leib und Leben darstellen würden, die nur mit staatlicher, tödlicher Waffengewalt zurückgehalten werden können. Diese Inhalte sind jedoch nicht umkämpft. Kocurek bemerkt, dass diese Abwehrkämpfe vielmehr als Reproduktion gewaltsamer Strukturen und als Kampf gegen sie verstanden werden können: das Spiel „triggered outrage not only because it was violent, but because it depicted violence which questioned the state's monopoly on legitimized violence and did not follow culturally accepted narratives of violence, such as military or police violence, or the western.“ (Kocurek 2012)
Dazu tritt im Rahmen einer sich ausweitenden Medikalisierung des Alltags das Narrativ, dass Kommunikation im Internet suchtgefährlich sei. Vor allem in journalistischen, psychologischen und, noch stärker, alltags-pädagogischen Kontexten sind diese Deutungen weiterhin ausgesprochen lebendig, vor allem durch den wachsenden Einfluss von Medikalisierungen in der Schule (Rapley/Moncrieff 2011, Cohen 2016). Die Inklusion der „Spielsucht“ als Störung in neuere psychiatrische Kataloge lässt diese alten Abwertungen vor allem im schulischen Alltag mit psychologischer Unterstützung weitere Verbreitung finden (Sauter et. al. 2016). Solche Suchtnarrative sind ebenso suspekt. In ihrer einfachen Variante, die zugleich die schulisch und familiär verbreitete Variante darstellt, behaupten sie, Spielen wäre ein Suchtmittel, wie Kokain oder Alkohol, das zur Verwahrlosung führe (Dreier et al. 2014). Dabei reproduzieren diese Diskurse unkritisch bestehende soziale Strukturen der Anforderungen, vor allem jener an Kinder, Jugendliche und sozial schwache Menschen und ebenso unkritisch eine Normalisierung bürgerlich- traditionaler Beziehungsmuster. Die vielleicht lebensweltlich unmusikalischste Zuschreibung stammt hier von Chou et. al, die bemerken, „Teachers may notice that fewer and fewer students are willing to take early morning classes, and some of those who do register for morning classes regularly come in late. It has also come to the attention of some school administrators that some students get poor grades or are placed on academic probation because they spend too much time on the Internet rather than on their studies” (2005: 364). Darstellungen dieser Art übertragen Argumentationen, die auf Substanzzufuhr basieren, metaphorisch auf eine Handlung, indem sie den wiederkehrenden Spaß der Handlung (und größeren Spaß als machtvoll durchgesetzte Zwänge) als „Sucht“ verstehen. Damit verteidigen sie herrschende normative Ideen „richtiger“ Zeitverwendung: Im Rahmen einer Produktivitätsethik sind third places, die nicht der Herstellung oder der Vorbereitung von Produktivität dienen, überflüssig und moralisch verwerflich. Die damit einhergehenden Wertungen von third places liegen hier offen: Young nennt nichtschulische Internetnutzung ohne Umschweife „Nutzung irrelevanter Internetseiten“ (1997: 270) und “Internet misuse” und stellt mit derselben Sicherheit fest, Onlinespiele kämen “at the cost of productive activity” (270). Zu konzedieren, dass Aktivitäten, die nicht pädagogisch strukturiert und kontrolliert sind, für Schüler interessant und gewinnbringend sein können, stört den Definitionsanspruch der Schule, bestimmen zu können, was für die Schülerinnen als „gewinnbringend“ zu gelten hat. So bemerken Schüler teils, dass die Schule weitaus weniger interessant strukturiert ist als Spiele – obwohl beide Leistungen anregen, Zielerreichung abfragen und Verbesserung im Umgang mit ihnen erwarten. Dabei ist das Spiel jedoch so strukturiert, diese Leistungen pointierter zu belohnen – und reagiert auf die Art der Erbringung der Leistung damit, die Strukturen zu verändern, um das Spiel nicht langweilig werden zu lassen (Kirchner 2016). Dagegen den Schülerinnen und Schülern zu attestieren, aufgrund einer Störung oder Sucht nicht in der Lage zu sein, den Anforderungen zu genügen und damit die Anforderungen für korrekt und unhinterfragt zu halten, markiert die Struktur der Schule als richtig und normal und wälzt die Irritationen und Misserfolge auf die Verantwortung der Schülerin ab, ohne eine Kritik an der Struktur zuzulassen. Hier findet sich ein durchdringender Anspruch der Schule, nicht nur die Zeit ihrer Klient*innen zu gestalten, sondern auch die „richtigen“ Interessen und die „richtige“ Interessiertheit für sie festlegen zu wollen. Das erfasst offenkundig ihre Anwesenheit, zu der feste Zeitabläufe mit festen Anwesenheitspflichten gesetzt und durchgesetzt werden, aber auch Zeiten ihrer Abwesenheit, wenn die Klient*innen den Vorgaben der Schule weiterhin genügen sollen, z.B. zur Organisation ihrer freien Zeit und ihres Schlafes. Zeitgestaltungsnarrative, die in die genannten „Schlafnarrative“ einspielen, setzen hier nicht nur fest, dass Schüler*innen um halb sieben aufstehen und um acht in der Schule sein sollen, eine Strukturierung, die lange unter Kritik steht (z.B. Kerbl et. al 2006; wenn auch mit biologistischen Argumentationen, die ihrerseits soziologisch zu durchdringen wären); sie setzen zudem fest, dass, auch wenn sie der Anwesenheits- und Aufenthaltspflicht nachkommen, die Zeitgestaltung der (letztlich damit nicht) zur freien Verfügung stehenden Zeit nicht so geschehen darf, dass die Aufmerksamkeit und Vitalität zu diesen Zeiten leidet. Die Zuschreibung einer „Spielsucht“, wenn letztlich Schlafzeit verwendet werden muss, um von den Menschen selbst gewünschte und gemochte Aktivitäten durchgeführt werden, wo die Zeit dazu eben bleibt, kolonisiert die Schule damit die letzten Reste „frei“ verfügbarer Tageszeit. In Schulkontexten führen „konservative“ Passionen, wie z.B. die des Bücherwurms oder des Hobbygärtners, nicht zu solchen Zuschreibungen. Diese Leidenschaften sind kulturell verankert genug, in pädagogische Weltbilder bereits eingeordnet zu sein, während die Wertschätzung des Spielens keine solchen Erfolge in der Welt der second places verzeichnen kann.
Direkte Gefahrendiskurse
Die indirekten Gefahrendiskurse zielen noch nicht zentral auf die Interaktionen und Verbindungen und damit die Statusüberbrückungen ab, die in diesen third places hergestellt werden; sie finden andere Gründe, diese auszugrenzen. Zu diesen alten Gefahrendiskursen tritt zudem noch ein direktes Narrativ der Gefährdung, das die Vergemeinschaftungsrolle des Spiels selbst angreift und diese Form der Bindung als Vereinsamung, Trennung und falsche oder „gefährliche“ Vergemeinschaftung umdeutet. In pädagogischen Kontexten zur Kontrolle der schulisch präferierten Zeitverwendung und damit auch der präferierten Sozialisation genutzt werden kann (Dellwing 2013, Dellwing/Tietz 2019). Direkte Gefahrendiskurse behaupten dagegen entweder einen Mangel an sozialer Bindung an diesen Orten oder eine Gefährlichkeit eben dieser Bindung. Das trifft in der Gegenwart vor allem politische Kommunikation, die unter den Überschriften „fake news“ und „filter bubbles“ gerade dann problematisiert wird, wenn sie aus den klassischen – und das heißt: institutionell zentralisierten – Kanälen politischer Kommunikation ausbricht. Narrativer „falscher“ und „gefährlicher“ Vergemeinschaftung werfen vor, diese Vergemeinschaftung befördere „filter bubbles“ und „information silos“ beigetragen zu haben (Pariser 2011, Flaxman et. al. 2016, Spohr 2016, Sumpter 2018) und würde eine Verarmung sozialer Beziehungen darzustellen. Diese wird als Gefahr gerahmt, wenn in „fake news“-Paniken vor der destruktiven Macht dezentralisierter Diskurse gewarnt wird, die den hegemonialen Diskursen nicht entsprechen; neben abstrusen Verschwörungstheorien, die als „Ausweis“ der Gefahr verwendet werden, finden sich jedoch eben auch all jene kritischen Diskurse, die in hegemonialen Strukturen ebenso keine Verbreitung gefunden haben, wie eben z.B. jene zu Polizeigewalt. Das schafft einen öffentlichen Diskurs, in dem die dezentrale politische Vernetzung, die gerade Motor gegenwärtiger kritischer Diskurse und sozialer Bewegungen ist, als Gefahr gerahmt wird. Umgekehrt kann festgestellt werden, dass gerade massenmediale Kommunikation starken Filtern unterliegt: hier erreicht das Publikum nur, was es durch die ökonomischen und rechtlichen Strukturen der Anbieter und ihrer Redaktionen schafft (Herman/Chomsky 2010). In dezentralisierten Umwelten sind diese Filter gerade nicht mehr aktiv, und Information fließt freier, unkanalisierter und pluraler, was gerade für die Verbreitung sozialkritischer Diskurse wesentlich ist. Diese Gefahrenzuschreibung auf dezentralisierte Kommunikation tritt der Erkenntnis, dass Spiele integrativ wirken können, direkt entgegen, indem unterstellt wird, Spiele im Speziellen und Onlineaktivität im Allgemeinen würde soziale Kontakte ersetzen anstatt sie zu fördern, eine Einschätzung, die in einer lebensweltlichen Untersuchung des Feldes wie oben bereits bemerkt nicht aufrechterhalten werden kann.
In Spielen, die die sozialstrukturellen Merkmale ihrer Spielenden gar nicht erfassen, ist eine Assoziation über Status- und Generationsgrenzen genauso normal, wie das auf themenbasierten Messageboards oder Fankulturen der Fall ist: Wie alt meine Mitspielenden in League of Legends oder die Autorin einer Fanfiction, mit der ich interagiere, sind und welcher Profession sie nachgehen, wenn überhaupt, ist weder bekannt noch wichtig. Die bessere Spielerin zählt, der Umgang mit dem Netzwerk zählt, wo weitere Informationen oft gar nicht bekannt sind. Das gilt für third places generell: Oldenburg bemerkt über sie bereits, „Third places can bring youth and adults into association with one another” (Oldenburg 1995: 7), ein Umstand, der in verbreiteten Sexualpaniken als Gefahr gerahmt wird, wo jede solche Assoziation unter den Verdacht der sexuellen Interaktion gestellt wird. Aber in Onlinekontexten, in denen pseudonym interagiert wird, sind diese Statusgruppen oft gar nicht mehr erkennbar. Das verwischt die Autoritätsgrenzen, die ansonsten die Interaktion limitieren und in klassische Muster von Abhängigkeit einsortieren. Sennett (1977) bemerkt, „people can be sociable only when they have some protection from each other’’ (311). Dass die Sozialisation hier funktioniert, zeigt gerade an, dass hier Sicherheiten gegeben sind, die live fehlen würden. Das ist gerade der Schutz vor Autorität und Status außerhalb dieses Raums, die sonst Widerspruch und Herausforderung schwierig machen würden, die jedoch in online-Kommunikation, die um Fähigkeiten in Spiel und Netzwerk organisiert ist, wegfallen. Vor allem der Vektor der Macht fällt dadurch weg. Ebenso ist die Distanz zwischen den Akteuren durch Bildschirme und oft durch Pseudonymität geschützt: das erlaubt Offenheit, Verletzlichkeit und damit auch die Möglichkeit, ohne Reputationsgefahr für weitere soziale Kreise kritische Themen anzusprechen. Gerade das erlaubt auch politische Kommunikation; „anonymity provides a safe haven beyond the reach of work and home that allows individuals to engage with others socially without entangling obligations and repercussions.” (Steinkühler/Williams 2006: 891) Auch diese wird in politischen Debatten als Gefahr gerahmt, als Rahmen, in dem Hass und Abwertung gedeihen sollen. Dabei sind es gerade Klarnamennetzwerke wie facebook, die starke gegenseitige Abgrenzungen befeuern, da erst die Assoziation mit einem Namen Aussagen zu einer Form der Selbstpräsentation macht, in der Identitäten gefestigt und verteidigt werden. Pseudo- und anonyme messageboards sind dagegen in der Tat häufig viel entspannter, da sie keine solchen Theater der Hervorstellung erfordern. Zudem sind sie jedoch auch ironischer und weniger von bürgerlich-offiziellen Rederegeln strukturiert, sondern mehr an informellen Hinterbühnenkommunikationen ausgerichtet (Goffman 1959), was von außen gerne als Hass missverstanden wird (Phillips 2016).
Hier bricht diese Form der Erfüllung der Erwartung sozialer Verknüpfung auch die pädagogische Erwartung, vor allem jene, in denen die Schule Definitionsmachtansprüche über Inhalte und die Form und Wege ihrer Vermittlung anmeldet. Denn Onlinespiele schaffen es nicht nur, Menschen aus unterschiedlichen sozialen Herkünften zu verknüpfen; sie schaffen es zudem für Jugendliche, Orte der Interaktion zu schaffen, die aus den formalisierten, verordneten Rahmen pädagogisierter Räume ausbrechen. Kappeler betont die wichtige Funktion nichtpädagogisierter Räume zur peer-Sozialisation von Jugendlichen und ihrer Selbstkonstruktion in „Verfügung über freie Zeit, die nicht unter dem Gebot der Erwachsenen steht, in der Räume aufgesucht werden können, in denen selbstbestimmte Bewegungen und Körpererfahrungen möglich und in denen Gleichaltrige zu finden sind, mit denen eine nicht von Erwachsenen dominierte Kommunikation möglich ist“ (Kappeler 2007:294): ihre mangelnde Orientierung an „sozialen, beruflichen, materiellen und familiären Werte und Verpflichtungen“ ist daher ihr Vorteil. Das geht damit einher, dass solche Kommunikationen – über soziale Netzwerke und Spiele, insgesamt jedoch dezentral – einen Ausbruch aus lokalen Einschließungen erlauben, die zuvor institutionell organisiert waren. Dazu gehören nicht nur Konzern- oder staatlich geordnete Medien, sondern auch Schulen. Wie second places wie Schulen erst first places in ihrer zentralen Rolle ablösen konnten, kann nun festgehalten werden, dass online vermittelte, weltweite third places die Einkesselung der Kohorten durch die Schule und die Engführung nationaler Diskurse durch nationale Medien auflösen und die second places damit nicht mehr zentrale Orte der Reproduktion von Sozialisationsinstanzen sind: online vermittelte third places übernehmen zunehmend diese Rolle und lösen damit die Schule (und später dann: die Arbeit) als zentrale Orte der Sozialisation ab. Damit wirken sie auch von den institutionalisierten Strukturen in dem Maße befreiend, als soziale Diskurse nicht mehr zentral durch sie hindurch gefiltert werden und soziale Bindung nicht zentral in ihnen organisiert wird. Dass das eine Herausforderung für diese Räume ist, wird deutlich, wenn die andere Seite zu Wort kommen kann: Schülerinnen und Schüler neigen dann durchaus dazu, die Schule im Vergleich als „Nicht-Ort“ zu rahmen, als Ort, an dem nichts zu finden ist, der langweilig, trocken, repetitiv und oft nicht einmal als lernorientiert wahrgenommen wird. Die Frage des Medikalisierungsagenten, also des Akteurs, der eine Medikalisierung an andere anwendet, die sich niemals selbst anwenden kann – „warum bist du an diesen Online-Orten?“ – denen keine adäquate Erklärung zu liefern ist, weil die Frage bereits die Vorbereitung von Diagnoserhetorik darstellt, keinen Versuch des Verstehens.
Abwertungen und Machtstrukturen
Soziologisch handelt es sich hier weniger um eine Feststellung tatsächlicher Gefahren, sondern im Sinne einer Soziologie sozialer Probleme um Abwehrpraktiken bestehender sozialer Ordnungen, oft (aber nicht notwendigerweise) von älteren Generationen vertreten, gegenüber der Veränderung technischer und medialer Welten. Im Rahmen wiederkehrender Technopaniken ist das ein Schicksal, das neue Technologien regelmäßig trifft (Kirschenbaum 2007): schon dem Buchdruck wurde vorgeworfen, „integere“ (d.h., katholische) Informationen zugunsten „unsicherer“, nicht vertrauenswürdiger Informationen aus „wilden“, unkontrollierten Quellen zu verdrängen. Romane standen unter Verdacht, Frauen zu den üblichen Beziehungen ihrer Zeit unfähig zu machen. Gerade die Tatsache, dass Vorwürfe dieser Art vorhersehbar sind und an der Schwelle der Verschiebungen von Informationstechnologien immer wieder aufkommen, sollte die Skepsis gegenüber diesen Gefahrendiskursen wecken. Diese Abwehr technischer und kultureller Veränderungen mithilfe von Gefahrendiskursen scheitert auf lange Sicht und tritt mit einigen Jahrzehnten Rückblick oft nur noch als peinliche Kuriosität in Erinnerung.
Ein Hauptpunkt der Kritik an Gefahrendiskursen besteht darin, dass sie vorrangig Populationen zu Gefährdern stilisieren, die ohnehin bereits Außenseiterpositionen innehaben: Jugendliche, und hier vor allem Jugendliche aus strukturschwachen Haushalten. Wie Ang bemerkt: „It would be more to the point to say that the very focus on these (disadvantaged) groups articulates their construction as deviant from the (white male middle-class) norm which forms the implicit and explicit cultural core of American social modernity.” (Ang 2006: 6) Die Einsicht, dass dieses pathologisierende und problematisierende Narrativ hochgradig generational und institutionell ist, weist darauf hin, dass diese Gefahrendiskurse Machtstrukturen reproduzieren. Friedrich Tenbruck bemerkt in seiner klassischen Jugendsoziologie, dass die Schule die Familie als Sozialisationsinstanz abgelöst hatte: die allgemeine Schulpflicht bringt Menschen ähnlichen Alters in eine neue, geteilte Gruppe. Damit öffnet und schließt sie die Sozialisation zugleich: Die Limitation der Sozialisation in der familiären Eigengruppe wird gelöst, was neue Möglichkeiten der Entwicklung schafft und Sozialisationen nachhaltig verändert; zugleich jedoch geschieht die Sozialisation der so geformten Alterskohorten innerhalb dieser so eingesperrten Kohorte (Tenbruck 1963) unter Aufsicht der Schule. Gerade das schafft Jugend als soziale Gruppe mit einem geteilten Referenzrahmen und verschiebt somit die soziale Struktur der Vergemeinschaftung. Sich online konstituierende Third Places, die Vernetzung jenseits der Familie und der Instanzen der second places leisten, treiben diese Verschiebung weiter. Das schwächt die klassischen, alters- und statusorientierten second places und stärkt nicht mehr in Instanzen gebundene Orte der Assoziation um Interessen und Freizeit herum. Das bricht generationale Hierarchien und die Instanzendominanz der Schule als staatlich kontrollierte, offiziell strukturierte Form der Reproduktion sozialer Diskurse, und aus dieser Perspektive werden die Gefahrendiskurse anders verständlich: Im Rahmen einer Machtverteilung, in der etablierte Institutionen und die Generationen, die sie bespielen, ihre Einschätzungen als Lehrwahrheit verankern können, beeinflussen sie auf diese Weise z. B. Schulcurricula. So steht die Forderung nach „literacies“ (Mihailidis/Viotty 2017:9), „Medienalphabetentum“ oder einfacher „Medienkompetenz“ im Vordergrund. Das geschieht an genau dem Punkt, an dem die Jugendlichen nicht mehr die Praktiken reproduzieren, die von etablierten Institutionen normalisiert werden. „Before video games, children played ‘Cowboys and Indians’, ‘Spaceman’ and ‘Cops and Robbers’ in suburban backyards across the country. Parents recognized this type of play as innocent and fun – because they’d engaged in this same play themselves.” (Markey/Ferguson 2017: 4) Diese Reproduktion steht hinter der nach außen präsentierten Gefahrensymbolik. Es ist eine für Moralpaniken klassische Einsicht (vgl. z.B. Gusfield 1986), dass die nach außen hin behaupteten Gefahren die Dominanz sozialer Gruppen und der sozialen Strukturierungen, die sie vertreten, verteidigen; Joe Gusfield entwickelt, dass die Gefahrendiskurse zu Alkohol in der amerikanischen Prohibition als Abwehrreaktion gegen die bröckelnde Vorherrschaft protestantischer Einwanderungsgruppen gegen alkoholaffinere katholische Gruppen verständlich ist, die so über den Umweg der Durchsetzung des Verbots belangt und in einer schwächeren Position gehalten werden können. In dem Rahmen, in dem etablierte Gruppen Regeln und auch Deutungsdiskurse setzen können, sind es im Fall des Spiels vor allem Schulen, Journalismus und Bildungswissenschaften, die – aus empirisch kaum zu rechtfertiger Basis – das Narrativ des Spiel-Gefahr-Nexus weitertragen und damit die Dominanz der second places und ihrer Institutionen in der Sozialisation stützen. In diesem Nexus werden die vergemeinschaftenden Aspekte des Spiels – und weiterer sozialer Netzwerke als third places – regulär entweder nicht erwähnt oder selbst als Gefahr gedeutet.
Die Gefahrenpanik ist in dieser Linie vor allem als Abwehrkampf gegen die Verschiebung der sozialen Strukturierung durch third places verständlich. Wie viele dieser Abwehrkämpfe handelt es sich um einen Widerstand gegen Praktiken, die in jungen Generationen heute völlig selbstverständlich geworden sind und zu denen die Vertreter etablierter Institutionen dagegen keine Verbindung aufweisen; zudem jedoch zeichnet diese Form der Abwertung eine soziale Praxis als Gefahr, die nicht nur wie keine andere Überbrückungen sozialer Herkünfte ermöglicht, sondern die zudem den Motor der kritischen Energie der Jugend des 21. Jahrhunderts darstellt.