Theaterpädagogisches Wissen und gesellschaftliches Handeln - Überlegung zu einer reflexiven Theaterpädagogik
Als angewandte Disziplin ist die Theaterpädagogik häufig mit wechselnden Konjunkturen konfrontiert, die in den unterschiedlichen Anwendungsfeldern zu verschiedenen Zielsetzungen und Praktiken führen. Die Fachwissenschaft kann diese Prozesse begleiten, z. B. in Form einer Begleitforschung in der Kulturellen Bildung, als Entwicklung von didaktischen Überlegungen im Bereich des Schultheaters oder als Reflexion von Praxisprozessen.
Sie kann aber auch die Prozesse der Wissensgenerierung, -darstellung und –vermittlung als solche thematisieren. Damit geraten auch die spezifischen Wissensformen in den Blick und es stellen sich beispielsweise folgende Fragen:
- Welche Diskurse leiten unser Handeln und in welchem gesellschaftlichen Kontext finden sie statt?
- Welche Praktiken – konkret: welche theaterpädagogischen Praktiken – sind mit diesen Diskursen verknüpft?
- Welche Vorstellungen vom Subjekt und von wünschenswerten Prozessen der Subjektivierung liegen ihnen zugrunde?
- Welche Funktion haben diese Diskurse und Praktiken unter den aktuellen gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Bedingungen? Wo verhalten sie sich funktional im Rahmen dieser Bedingungen? Können sie sich auch dysfunktional verhalten, wenn ja, wie?
Mit diesen Fragen werden die Bedingungen und Voraussetzungen der Wissensbildung innerhalb der Theaterpädagogik mitgedacht, also die grundlegende Strategie einer reflexiven Fachwissenschaft verfolgt. Im Folgenden sollen Elemente eines wissenstheoretischen Zugangs zur Theaterpädagogik aufgezeigt und daraufhin befragt werden, welchen Beitrag sie zur Entwicklung einer reflexiven Theaterpädagogik leisten können.
In einem ersten Schritt soll erläutert werden, was unter einem wissenstheoretischen Zugang verstanden werden kann und welche Implikationen er für theaterpädagogische Praxis und Theorie haben kann. Dazu werden der zugrundeliegende Wissensbegriff, die kulturelle und historische Bedingtheit des Wissens und schließlich die Reflexivität des Wissens thematisiert.
Ausgehend davon sollen im zweiten Schritt Elemente einer Didaktik aus wissenstheoretischer Perspektive angesprochen werden. Gefragt wird zunächst nach den Bedingungen von Vermittlung im theaterpädagogischen Kontext und daran anschließend nach einem adäquaten Lehr-Lernverständnis in der theaterpädagogischen Ausbildung und Praxis.
1. Der Wissensbegriff
Den Ausgangspunkt bildet ein weiter Wissensbegriff, wie er in Ansätzen der Wissenssoziologie zugrunde gelegt wird. Dort wird Wissen nicht im klassischen Sinne als „wahre, gerechtfertigte Überzeugung“ und im Kontrast zum Glauben und Meinen verstanden, sondern als Konstruktion von Sinn, die im Wesentlichen sozial vermittelt ist (vgl. Knoblauch 2005, S. 359 ff). Wissen kann damit als ein Ergebnis sozialer Praxis angesehen werden. Das heißt auch, es geht nicht bzw. nicht in erster Linie um wissenschaftliches Wissen oder ausschließlich um kognitives Wissen. Wissen wird vielmehr verstanden als ein Konglomerat aus vielfältigen Wissensarten, die nicht in einer Hierarchie anzuordnen sind, zu dem Alltagswissen und wissenschaftliches Wissen gehören und in dem verschiedene Wissensformen zusammenspielen: explizites und implizites Wissen, diskursives und praktisches Wissen, performatives Wissen oder ‚embodied knowledge‘. Im Zuge gesellschaftlicher Differenzierung bilden sich unterschiedliche Bereiche heraus, die über Spezialwissen verfügen, das zwar auf vielfältige Weise mit dem Wissen anderer Bereiche interdisziplinär vernetzt ist, aber sich auch von diesem unterscheidet.
Das Anknüpfen an einen so gefassten weiten Wissensbegriff könnte zwei Perspektiven eröffnen:
- die Frage nach den verschiedenen Wissensformen innerhalb der Theaterpädagogik, den besonderen Formen ihres Zusammenwirkens, jenseits einer Hierarchisierung dieser Formen und
- die Bezugnahme auf Wissen als kulturelle Praxis und die damit verbundenen symbolischen Praktiken jenseits einer rein individualistischen Sicht auf das kompetente Subjekt.
2. Die historische Bedingtheit des Wissens
Mit einem wissenstheoretischen Zugang ist gleichzeitig auch die Frage nach der Geschichtlichkeit und kulturellen Bedingtheit des Wissens verbunden, die Frage danach, unter welchen sozialen Bedingungen Sinn konstituiert wird und Wissen hergestellt, dargestellt, vermittelt und angeeignet wird.
In diesem Sinne wird nicht ontologisch nach dem „Wesen“ bestimmter Tatsachen oder Erscheinungen gefragt, um sie ‚dingfest‘ zu machen. Vielmehr stellt sich – diskurstheoretisch – die Frage nach dem historisch und kulturell wandelbaren Wissen um diese Erscheinungen und vermeintlichen Tatbestände, also die Frage, wie (theaterpädagogisches) Wissen produziert, vermittelt, dargestellt wird. Dieses – an Foucault (1973) anknüpfende – Verständnis von Wissen liegt auch den Forschungen zur „Archäologie der Theaterpädagogik“ zugrunde, wie sie durch Marianne Streisand vertreten wird (vgl. Streisand 2005). Angesichts der Tatsache, dass innerhalb der Theaterpädagogik häufig mit komplexen kulturellen Deutungsmustern gearbeitet wird – wie Authentizität, Kreativität, Kompetenz (die Reihe ließe sich fortsetzen) – scheint ein solcher diskurstheoretischer Zugang sinnvoll zu sein.
Damit verschiebt sich die Frage von der Wirkung bestimmter theaterpädagogischer Praktiken im Hinblick auf zu erreichende Ziele, hin zu einer Befragung der Strategien der Legitimation solcher wünschenswerter Ziele im kulturellen Kontext.
Im Sinne des Foucaultschen Projekts einer Analyse des Wissens liegt es nahe, auch nach dem Zusammenhang von Wissen und Macht zu fragen. Unter welchen Bedingungen, durch welche Techniken (Foucault: „Machttechniken“) setzt sich ein bestimmtes Wissen durch, ein anderes nicht? Wie wird es legitimiert, für wahr erklärt, mit welchem institutionalisierten Maßnahmen, Regeln, Ordnungen wird es gestützt und normiert? (vgl. Knoblauch 2005: 214).
Mit dieser Wendung zu den Institutionen ermöglicht ein wissenstheoretischer Zugang, die Strukturen sozialer Ordnung im Prozess der Vermittlung mitzudenken und Fragen der Vermittlung oder didaktische Überlegungen nicht allein aus dem pädagogischen Verhältnis zu begründen (vgl. Höhne 2004: 8).
Wendet man diese Perspektive auf Forschungsprojekte innerhalb der Kulturellen Bildung an, kommen die programmatischen Setzungen und institutionellen Bedingungen der Wissenserzeugung und Wissenspräsentation in solchen Forschungen in den Blick: Von wem, in welchem Interesse, mit welchen Methoden wird in Forschungsprojekten Wissen erzeugt? Worauf richtet sich die Aufmerksamkeit, was bleibt unbeleuchtet? Welche Forschungen sind anerkannt, welche weniger? Von diesen Fragen ausgehend lässt sich feststellen, dass die Wissensgenerierung in der Kulturellen Bildung gegenwärtig stark auf die Erforschung der Wirkungen von Bildungsangeboten auf die beteiligten Kinder und Jugendlichen konzentriert ist (vgl. Fink et. al.). Für diese Ausrichtung sind verschiedene Faktoren ausschlaggebend: Die Notwendigkeit der permanenten Legitimation und Qualitätssicherung kultureller Bildungsangebote innerhalb der Gegenwartsgesellschaft, die paradigmatische Dominanz von Ansätzen der quantitativen Sozial- und der qualitativen Bildungsforschung und anderes mehr. Forschung im Feld der Kulturellen Bildung ist damit als ein Akteur zu betrachten, der auf der Grundlage bestimmter Voraussetzungen agiert und an der Etablierung von Machtverhältnissen beteiligt ist.
Schließlich geraten aus wissenstheoretischer Perspektive die Techniken der Subjektivierung in den Blick, die mit einem bestimmten Wissen in einem konkreten historischen Kontext verbunden sind. Welche konkreten Praktiken – beispielsweise des Übens, des Probens, des Beobachtens und Beschreibens, der Repräsentation – tragen im Feld der Theaterpädagogik zur Formation von Subjekten (im Foucaultschen Sinne als Unterworfenes und als Handelndes) bei? Welche Prozesse des Lehrens und Lernens laufen dabei ab?
Ein wissenstheoretischer Zugang eröffnet hier eine Perspektive, die diese Prozesse weniger als nur individuelle, sondern auch als soziale, symbolische Praktiken der Konstitution von Subjekten untersucht. Einerseits kann damit thematisiert werden, wie sich ein bestimmtes theaterpädagogisches Wissen funktional in den Kontext gesellschaftlichen Handelns einordnen lässt, andererseits aber auch, ob und unter welchen Bedingungen es innerhalb dieser Ordnung dysfunktional sein kann, eine kritische Distanz gegenüber den umfassenden Vereinnahmungen durch gesellschaftliche Anforderungen zu bewahren.
So stellt beispielsweise Christel Hafke, ausgehend vom Gouvernementalitätsansatz Foucaults fest: „Die Problematik ist also nicht, wie ästhetische Praxis ihre Wirksamkeit beweisen kann, sondern im Gegenteil: Wie kann sie sich der umgreifenden Funktionalisierung entziehen?“ (ZfTPäd, Heft 55: 17)
3. Reflexivität des Wissens
Vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Veränderungen hat die Auseinandersetzung mit dem Verständnis von Wissen zwei Seiten: Einerseits ist sie ein Ausdruck für einen sich gegenwärtig vollziehenden tiefgreifenden Wandel unseres Weltverständnisses. Im Zuge der Entwicklung neuer Technologien und des Aufstiegs der Kulturwissenschaft zum dominanten Paradigma in den Geistes- und Sozialwissenschaften sind gegenwärtig traditionelle Denkmuster einer kritischen Hinterfragung ausgesetzt. Wir erleben eine Auflösung bipolarer und hierarchischer Gegensätze wie zum Beispiel derjenigen zwischen Natur/Kultur, Körper/Geist, Frauen/Männern und Subjektivität/Objektivität. Die Wahrnehmung und Aufwertung von Formen impliziten Wissens steht damit in unmittelbarem Zusammenhang.
Doch die von theaterpädagogischer Seite sehr zu begrüßende Wertschätzung von nicht-diskursiven Wissensformen birgt auch die Gefahr ihrer Kommodifizierung. In neoliberalen Gesellschaften werden aufgrund der Verlagerung der Industrieproduktion in die Schwellenländer Wissen und Bildung gegenwärtig als neue, kommerzialisierbare Werte entdeckt. So ist weltweit ein Prozess der Überführung von Wissen in Warenform im Gang, der auch das implizite Wissen umfasst. Ein Beispiel dafür ist die umstrittene Patentierung von Yoga Asanas, auf deren Grundlage der Yoga-Meister Bikram Choudhury seine weltweit kommerziell betriebenen Bikram Yoga-Studios betreibt.
Diese Ambivalenz des Wissensbegriffs ist auch der Grund dafür, diese Überlegungen nicht in die populäre Diagnose der Wissensgesellschaft einzuordnen und das Nachdenken über theaterpädagogisches Wissen vor dem Hintergrund dieser Diagnose zu legitimieren. (Von einem wissenssoziologischen Standpunkt aus, ist jede Gesellschaft eine Wissensgesellschaft, insofern sie auf einem auf kulturellen Wissensvorrat beruht, der produziert, gespeichert und weitergegeben wird. Dazu vgl. Tänzler/Knoblauch/Söffler 2006: 8).
Der Begriff der Wissensgesellschaft kann – ähnlich wie andere Komposita soziologischer Herkunft, wie Risiko-, Informations-, Erlebnisgesellschaft – als ein Deutungsmuster unter anderen gesehen werden. Als solches birgt es zahlreiche Konnotationen und wird in verschiedenen Kontexten unterschiedlich verwendet. Im Kontext der oben angesprochenen Kommodifizierung von Wissen ist beispielsweise die Rede vom „Wissen als humane Ressource“ verbreitet. Ein Anknüpfen an diese Vorstellung überträgt solche Setzungen auch auf den Bildungsbereich und lässt die Ökonomisierung dieses Bereichs unwidersprochen.
Schließlich gerät Wissen in Konzepten von Wissensgesellschaft, die von einem aktuell unüberschaubaren Zuwachs, von der schnellen medialen Verbreitung und dem ebenso schnellen Verfall von Wissen ausgehen, vor allem als Produkt in den Blick (vgl. Knorr-Cetina 2002: 17).
Von einem wissenstheoretischen Standpunkt aus interessiert aber weniger die Ware oder das Produktionsmittel Wissen, sondern vielmehr, wie und warum Wissen produziert und legitimiert wird. Dadurch wird es möglich, sich zu seinen eigenen Erkenntnissen und den Bedingungen ihres Entstehens zurückzubeugen und im Sinne einer reflexiven Theaterpädagogik, ihre normativen Voraussetzungen, unbefragten Standards und präskriptiven Inhalte zu problematisieren. Mit den Worten von Karin Knorr-Cetina geht es darum, zu thematisieren, „wie wir wissen, was wir wissen“ (Knorr-Cetina 2002:11).
Als „reflexive Theaterpädagogik“ soll hier aber auch das aufeinander Beziehen von Praxis und Reflexion, der Versuch eines „praktischen Verstehens“ im Tun bezeichnet werden. Deshalb werden im Folgenden Elemente einer Didaktik unter wissenstheoretischer Perspektive betrachtet. Zum einen geht es dabei um den Gegenstand und die sich daraus ergebenden Qualitäten von Vermittlung, zum anderen um die dem entsprechenden Vorstellungen vom Lehr-/Lernprozess.
4. Theater als Vermittlung
Wenn man die historisch ausdifferenzierte kulturelle Praxis des Theaters in ihren jeweiligen Bedingungen unter einer Perspektive von Vermittlung betrachtet, bietet sich der Begriff der Wissensformation an. Der Begriff der Formation verweist dabei explizit auf zwei Aspekte:
- dass Wissen nicht „an sich“ als eine objektive „Sache“ existiert, sondern immer in einer bestimmten Weise konstruiert wird;
- dass Wissen nicht „an sich“ und unmittelbar von einem Kopf oder Körper in einen anderen transportiert werden kann, sondern „immer eine Form in einem Medium annehmen muss, damit es kommunizierbar wird“ (Meyer 2008: 119).
Wenn man die Wissensformation Theater zuerst unter einer verallgemeinerten, soziologischen Perspektive betrachtet, zeigt sich hier eine Spezifik, wie sie alle künstlerischen Systeme auszeichnet, aber beim Theater in besonderer Weise sichtbar wird. Zum einen greift Theater immer auf Material und Konstruktionsweisen, d. h. auf Wissenselemente und –formen aus anderen, nicht theatralen, Bereichen zurück. Insbesondere sind das Wissenselemente des Alltagslebens, aber auch Elemente aus anderen gesellschaftlichen Systemen wie z. B. Wissenschaft oder Religion. Dieses Wissen wird als gestisches Wissen, visuelles Wissen, kommunikatives Wissen etc. im Theater verwendet. Unter einer soziologischen Perspektive wird dem Theater deshalb in besonderer Weise die Funktion zugeschrieben, „der Beobachtung des Menschen durch den Menschen selbst eine Form zu geben und so die Beobachtung zweiter Ordnung in die Gesellschaft wieder einzuführen (…)“ (Baecker 2011: 10).
Gleichzeitig ist Theater jedoch immer auch als ein System mit eigenen Formationsregeln zu betrachten, die sich historisch ausgebildet haben: Die Kunstform Theater hat ihre eigenen Gesetze, ihre Codes, ihre spezifischen Verfahren der Fiktionalisierung, ihre schauspielpädagogischen Methoden, usw. Diese Formationsregeln des Theaters lassen sich nicht aus der Kenntnis der Wissenselemente und Formen anderer Systeme erschließen, sondern müssen in der Beschäftigung mit der Kunstform Theater eigens erlernt werden.
Der spezifische Charakter der Wissensformation Theater lässt sich damit als eine komplexe Wechselwirkung von kultureller und künstlerischer Dimension beschreiben. Wenn es die Aufgabe von Theaterpädagogik ist, die Wissensformation Theater entsprechend der Bedingungen verschiedener sozialer Kontexte zu vermitteln, müsste sich die Vermittlung dementsprechend an diesem doppelten Charakter ausrichten. Das schließt nicht aus, dass Schwerpunkte gesetzt werden – z. B. auf die kulturelle Dimension wie in der Lehrstückarbeit oder auf die künstlerische wie in aktuellen Konzeptionen des Theaters in der Schule. Doch eine Negierung der Wechselwirkung und die Verabsolutierung einer Dimension, so die Behauptung, führen zu einer Nivellierung der Spezifik von Theaterpädagogik und zu einer Auflösung in andere Felder. Allein auf die kulturelle Funktion reduziert, wird Theaterpädagogik zum Sozialtraining, allein auf die künstlerische reduziert, zur Formspielerei.
Was lässt sich aus einem wissenstheoretischen Ansatz über diese allgemeine Aussage hinaus für die Erkenntnis von Theatervermittlung gewinnen?
Torsten Meyer hat darauf hingewiesen, dass Wissensformationen als Konstruktionen und Darstellungen von Wissen eine große Nähe zur Didaktik aufweisen. Er stellt fest, dass die Qualität der Vermittlung durch einen Lehrer „direkt mit seinen Fähigkeiten zur Darstellung des Wissens in seinem eigenen Kopf [und Körper – U. P.] zusammenhäng(t)en“ (Meyer 2008: 118).
Dieses Zitat nimmt Bezug auf das didaktische Dreieck, das wir in der Theaterpädagogik im Anschluss an Wolfgang Nickel als das Verhältnis zwischen Spielleitung, Spielregel und Spielgruppe kennen und betont die Bedeutung der Konstruktion der ‚Spielregeln‘ durch die Spielleiterin.
In Anwendung dieser Perspektive auf die Theaterpädagogik ließe sich fragen:
- Auf welche Wissensformation von Theater bezieht sich der/die SpielleiterIn und in welcher Weise wird die Wissensformation durch sie/ihn didaktisch formatiert?
- Was bedeutet die Spezifizierung des Gegenstandes für die Vermittlung: Welche Ziele und Konstellationen, welche Praktiken des Lehrens uns Lernens gehen damit einher?
Die Konstruktion und Darstellung von Wissen ist für die Spielleiterinnen und -leiter „tägliches Brot“ und richtet sich nach den Bedingungen des sozialen Kontextes und der konkreten Vermittlungssituation. Doch unter einem wissenstheoretischen Zugriff werden Grundlagen dieser Situation sichtbar, wie sie in der Wechselwirkung zwischen der Formation von Wissen und den Formatierungen von Vermittlung begründet sind. Auf diese Weise können gegenstandsbezogene Erkenntnisse über Interpretationsmöglichkeiten didaktischer Situationen sowie über Formatierungen und Formate von Theatervermittlung gewonnen werden.
Ausgehend von der eben beschriebenen Spezifik des Theaters lassen sich verschiedene übergreifende Prinzipien beschreiben, nach denen das Wissen des Theaters formatiert werden kann. Dies sind beispielsweise: Theater als symbolische Handlung, Theater als Interaktion und Kommunikation, Theater als Spiel, Theater als System von Zeichen, Theater als Aufführung.
Im Folgenden sollen zwei dieser Prinzipien modellhaft im Hinblick auf aus ihnen ableitbare Formatierungen und Formate von Vermittlung skizziert werden:
Die Formatierung von Theater als System von Zeichen konzentriert sich auf die Vermittlung von semiotischem Wissen. Im Bezug auf die kulturelle und die künstlerische Dimension des Theaters werden Zusammenhänge und Unterschiede zwischen der Funktion von Zeichen im Alltag und der ästhetischen Funktion (Mukarovski) von Zeichen im Theater thematisiert, wobei besonders die Polyfunktionalität des Zeichengebrauchs in der Theaterkunst eine Rolle spielt. Didaktische Prinzipien einer auf semiotisches Wissen ausgerichteten Theatervermittlung sind entsprechend des Charakters des Zeichens: Untergliederung in einzelne Bausteine und Ebenen, stufenweiser Aufbau, Systematisierung. Eine semiotisch formatierte Theatervermittlung zielt einerseits auf das Verständnis von Alltagssituationen durch deren variierende Wiederholung und Bearbeitung im Theaterrahmen (kulturelle Dimension) und andererseits auf eine Einführung in den spezifischen Zeichengebrauch des Theaters (künstlerische Dimension) im Sinne einer Alphabetisierung. Eine auf semiotisches Wissen ausgerichtete Theatervermittlung zielt auf die Fähigkeit, die Zeichen des Theaters lesen und im eigenen Interesse produktiv anwenden zu können. – In der aktuellen Definition Kultureller Bildung gelten diese Fähigkeiten als Voraussetzung für kulturelle Teilhabe (vgl. Ermert 2009).
Die Formatierung von Arbeitssituationen ist hier auf die Inszenierung, d. h. die Bühnenhandlung konzentriert. (Inszenieren bezieht sich nach Annemarie Matzke „auf eine Außenposition mit der Funktion, die verschiedenen szenischen Elemente in ein Verhältnis zu setzen und Darstellungsstrategien zu erarbeiten“ (Matzke 2012: 102). Bezogen auf das Material steht dabei das Erproben verschiedener Bedeutungsvarianten im Zentrum, bezogen auf die Spielerinnen und Spieler geht es um das Bewusstmachen und das Einüben von bewusst eingesetzten Strategien zur Erzeugung und Kombination von Sinneinheiten.
Die Formatierung von Theater als Aufführung konzentriert sich auf die Vermittlung von performativem Wissen. „Mit seiner unendlichen Vielfalt an Transformationen, mit seiner Neuordnung der Sinne, seiner Schaffung energetischer Felder und anderer „Zwischenräume“ formuliert das Theater (…) ein performatives Wissen, das nicht sprachlich übermittelt, sondern nur am eigenen Leibe erfahren werden kann.“ (Fischer-Lichte 2004: 10). In Bezug auf die kulturelle und künstlerische Dimension von Theater werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede von kulturellen Aufführungen im Alltag und im Theater untersucht. Damit werden die Beziehung zwischen Theater und Ritual ebenso interessant wie das Spiel mit kulturell verbindlichen Rahmungen. Entsprechend dem Charakter von Performance und der Auffassung, dass sich performatives Wissen „nur auf dem Wege über zutiefst irritierende und verstörende Erfahrungen erwerben lässt“ (Fischer-Lichte: ebd.) sind didaktische Prinzipien einer auf performatives Wissen ausgerichteten Theatervermittlung: Orientiertheit auf Prozesse und Wirkungen, Entwicklung von Aktionen bis an ihre Grenzen sowie die Konfrontation von Fremdem.
Eine performativ ausgerichtete Theatervermittlung zielt einerseits auf die Erkundung und die Möglichkeiten der Beeinflussung von kulturellen Aufführungen im Alltag (kulturelle Dimension), andererseits auf die Erforschung der Wirkungen von rezipierten bzw. produzierten künstlerischen Aufführungen (künstlerische Dimension). Verallgemeinert geht es dabei um das Infragestellen und Verändern von Ordnungssystemen, die in der Verschränkung von subjektiven und gesellschaftlichen Strukturen hervorgebracht werden. Jens Roselt beschreibt zu den (allgemeinen) Wirkungsstrategien von Aufführungen: „Theaterwissenschaftlich kann man sagen, dass Aufführungen Krisensituationen etablieren, in denen ihre Ordnung destabilisiert wird, indem Konventionen und Erwartungen in Frage gestellt werden und die schließlich zur Bestätigung oder Erweiterung tradierter Normen führen“ (Roselt 2008: 134). Innerhalb einer auf performatives Wissen ausgerichteten Theatervermittlung werden Arbeitssituationen wie z. B. Proben als Aufführungen konzipiert. Auf das Material bezogen geht es damit um die Erprobung von Wirkungen von Aktionen und Handlungen; auf die Spielerinnen und Spieler bezogen geht es um das Training einer Erfahrungsweise, die Schwellensituationen aushält, Fremdes weder vereinnahmt noch abwehrt und die Infragestellung des Eigenen genießen kann (vgl. Roselt 2008: 194).
5. Überlegungen zu einem Lehr-Lernverständnis aus wissenstheoretischer Perspektive
Neben der Frage nach den spezifischen Formationen des Wissens des Theaters stellt sich auf der Seite des Subjekts die Frage nach den Besonderheiten der Wissens- und Erkenntnisformen, die diesem Gegenstand angemessen sind. Damit werden – aus didaktischer Perspektive – gleichzeitig die besondere Lehr- und Lernmodi angesprochen, die eine handlungsorientierte ästhetische Praxis wie die theaterpädagogische kennzeichnen.
Ausgegangen wird dabei von dem eingangs erläuterten Begriff des Wissens als ein Ergebnis sozialer Praktiken, das in unterschiedlichen Formen vorliegen kann.
Hier ist eine Anmerkung Bourdieus aufschlussreich, die er im Zusammenhang mit der Erforschung der praktischen Erkenntnisse macht: „Man sollte die hier und da, vor allem in der Didaktik der Körperpraktiken – des Sports natürlich und insbesondere der Kampfsportarten, aber auch des Theaterspieles und des Musizierens – verstreuten Notizen und Beobachtungen einmal methodisch zusammenstellen; sie würden wertvolle Beiträge zu einer Wissenschaft dieser Erkenntnisform liefern“ (Bourdieu 1980: 185).
Diese Erkenntnisform, nämlich die der praktischen Erkenntnis, ist sowohl körperlich bedingt als auch sozial, insofern die soziale Welt im Körper einverleibt ist (Bourdieus Schrift „Le sense pratique“ ist im Deutschen mit „Der soziale Sinn“ übersetzt). Mit dem Konzept der praktischen Erkenntnis und eines körperlich verankerten impliziten Wissens wendet sich Bourdieu gegen mentalistische oder intellektualistische Handlungskonzepte, die von einem Körper-Geist-Dualismus ausgehen und das Handeln des Subjekts als Folge eines vorab gefassten, geistigen Konzepts erklären.
Eine solche Kritik liegt auch Michael Polanyis Konzept des „Tacit knowing“ (tacit: still; knowing statt knowledge) zugrunde (vgl. Polanyi 1966). Die kognitive Psychologie – so Polanyi – gehe von einer Vorstellung aus, in der Handeln ausschließlich als angewandtes Wissen erscheine. Es gebe aber neben einem verbal explizierbaren Wissen ein implizites Wissen, eine Könnerschaft, die dem expliziten Wissen nicht nachgeordnet werden könne und die nicht darauf zu reduzieren sei. Polanyi bringt das auf den Punkt, „dass wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen“ (zit. n. Neuweg 2002: 13).
Diese hier nur kurz skizzierten erkenntnistheoretischen Annahmen haben wesentliche Konsequenzen für didaktisches Denken und die Vorstellung von Lehr-, Lernprozessen.
Der österreichische Erziehungswissenschaftler Georg Hans Neuweg hat den Ansatz Polanyis für das Lehren und Lernen in komplexen Praxiskontexten fruchtbar gemacht und daraus Konsequenzen für die Professionalisierung der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern gezogen. Seine Überlegungen zum intuitiv improvisierenden Handeln und zur Könnerschaft in komplexen Lehr-, Lernsituationen bieten zahlreiche Anknüpfungspunkte für didaktische Überlegungen im Arbeitsfeld der Theaterpädagogik. Prinzipien wie das Lernen am praktischen Beispiel, das Ausbilden von Wahrnehmungsfähigkeit und Urteilskraft, die Teilhabe an einer Expertenkultur und damit das Kennenlernen des virtuosen Beispiels weisen auf die Nähe zur Vermittlung ästhetischer Praxis hin.
Gleichzeitig verweist Neuweg auf die Grenzen der Didaktisierung eines solchen Wissens. So kennzeichnet er implizites Wissen als erfahrungsgebunden und nicht formalisierbar, da es mit dem Eigensinn und im Kontext eines konkreten Ereignisses arbeite. Neuweg spricht hier in Anlehnung an Polanyi auch von „Kunstfertigkeit“ (Neuweg 2002: 17 f.).
Im Hinblick auf didaktischen Überlegungen in der Ausbildung und in der Praxis der Theaterpädagogik zeichnet sich damit noch eine andere Problematik ab, die aus dem Spannungsfeld der verschiedenen Wissensformen resultiert: Lässt sich implizites Wissen explizit und damit lehr- und lernbar machen?
Hier bietet es sich zum einen an, in didaktischem Interesse auf künstlerisches Erfahrungswissen zurückzugreifen, auf „Begleit-Texte“, wie es beispielsweise Mira Sack (2011), in ihren fachdidaktischen Überlegungen ausgehend von Praxishaltungen, getan hat. Eine Analyse von Künstlertheorien und Probendokumenten im Hinblick auf das darin enthaltene Erfahrungswissen und seine Übertragbarkeit auf die Lehr-Lernkontexte der Theaterpädagogik können dabei Hinweise für die Planung und Realisation theaterpädagogischer Praxis liefern.
Als Begleit-Texte können auch die dichten Beschreibungen von Probenprozessen und –produkten innerhalb der theaterpädagogischen Praxis gelten, die im Arbeitsprozess von den daran Beteiligten veröffentlicht und damit expliziert werden. Dieses Vorgehen nennt Neuweg – mit Bezug auf Donald Schön – „reflection-in-action“ und beschreibt es als experimentelle Handlung, in der die Handelnden als Forschende in eigener Sache auftreten und Handeln, „um zu sehen, was folgt“ (Schön, zit. n. Neuweg 2004, S. 359).
Eine andere Form der Explikation von implizitem Wissen liegt beispielsweise mit den auf CD-Rom veröffentlichten „Improvisation Technologies“ der Forsythe Company vor. Sie zeigen, dass es auch Versuche gibt, implizites Wissen explizit und damit vermittelbar und archivierbar zu machen, die über eine ausschließlich sprachliche Form hinausgehen. Durch graphische Animationen werden hier Bewegungsverläufe im Raum sichtbar gemacht und dadurch sonst unsichtbares Bewegungswissen vermittelt.
Dabei geht es in allen Fällen nicht darum, ein Modell praktischen Wissens zu präsentieren, das dann transferiert und imitiert werden kann. Der Versuch, implizites Wissen explizit zu machen, erfordert immer einen Wechsel des Mediums und damit der Formatierung von Wissen. Die damit verbundene Produktion von neuen Zeichen beinhaltet zugleich einen hohen Anteil von Bedeutungsoffenheit und –überschuss, womit gleichzeitig auch die Komplexität des Wissens steigt. Lehren und Lernen stellt sich dann als ein Vorgang der Bedeutungskonstruktion und Um- und Neukonstruktion heraus, an dem alle aktiv beteiligt sind. Eine vollständige Didaktisierbarkeit, beruhend auf der Vorstellung von Vereindeutigung und Komplexitätsreduktion zugunsten einer Funktionalität des Wissens im pädagogischen Zusammenhang („didaktische Reduktion“), läuft dem zuwider.
Ebenso wäre es allerdings ein Missverständnis, ausgehend von der Vorstellung des impliziten Wissens, eine rein praktizistische Weitergabe von Wissen zu propagieren, wie Neuweg ausdrücklich betont. Auch eine Nivellierung von Theorie und Praxis sei auf dieser Basis nicht zu begründen. Es gehe ihm vielmehr um das Differenzieren von Theorie und Praxis als eine „Kultur der Distanz“ und eine „Kultur der Einlassung“ und um die Spannung, die zwischen Wissenschaft und Könnerschaft aufrechtzuerhalten sei. An dieser Stelle zwischen Distanznahme und Einlassung lässt sich Neuweg zufolge „Bildung“ verorten und damit auch der Anspruch der Universität an eine akademische Ausbildung festmachen.„Erst der Abschied von der Vorstellung, Wissen könne oder solle unmittelbar handlungsleitend sein, bringt die Tätigkeit des Studierens wieder als das in Stellung, was sie eigentlich ist: ein abständiges Betrachten, Sezieren und Verstehen, das am Maßstab des Nützlichen nicht abgetragen werden kann“ (Neuweg 2011: 42).