Standortbestimmung im wissenschaftlichen Kontext der Kulturellen Bildung. Die Bedeutung eigener biographischer Erfahrungen in der Forschung

Artikel-Metadaten

von Christian Gedschold, Caroline-Sophie Pilling-Kempel, Thomas Wilke

Erscheinungsjahr: 2025

Peer Reviewed

Abstract

Der Beitrag befasst sich mit dem Einfluss von biographischen Erfahrungen forschender Personen auf das Forschungsgeschehen. Ausgehend von der Annahme, dass biographische Ereignisse, subjektive Einschätzungen und individuelle Haltungen Forschender die jeweiligen Forschungsfragen und -designs und damit zum Teil auch die Ergebnisse von Forschungen beeinflussen, wird dargelegt, wie relevante Einflüsse erkannt und im Forschungsprozess systematisch berücksichtigt werden können. Die leibliche Dimension von Forschenden im Forschungsprozess wird durch eine autoethnographische Hinwendung hervorgehoben. Mit einem Anwendungsbeispiel führt dann die Methode des Eigeninterviews tiefer in eine Form der Umsetzung einer Standortbestimmung im wissenschaftlichen Kontext der Kulturellen Bildung.

Einleitung: Standortbestimmung

Der vorliegende Beitrag basiert auf dem gleichnamigen Vortrag im Rahmen der 15. Fachtagung der Wissensplattform kubi-online und des Netzwerks Forschung Kulturelle Bildung „WIE machen wir’s? Methoden Kultureller Bildung überdenken“ (2024). Thematisiert werden zwei Herangehensweisen einer Standortbestimmung im wissenschaftlichen Kontext der Kulturellen Bildung mit dem Ziel, künstlerische und forschende Positionen miteinander zu verbinden. Die leibliche Dimension der Forschenden im Forschungsprozess wird von Caroline-Sophie Pilling-Kempel durch eine autoethnographische Hinwendung hervorgehoben. Mit einem Anwendungsbeispiel führt dann die von Christian Gedschold vorgestellte Methode des Eigeninterviews tiefer in eine Form der Umsetzung einer Standortbestimmung. Thomas Wilke kontextualisiert diese Position im wissenschaftlichen Zusammenhang der Kulturellen Bildung anhand  einer einleitenden und abschließenden Standortbestimmung und den Ausführungen einer damit einhergehenden transformatorischen Relevanz resp. relevanten Transformation. Das bedeutet eine gewisse Teilung des Textes, dem jedoch ein gemeinsamer Rahmen zu eigen ist. Caroline-Sophie Pilling-Kempel befasst sich innerhalb ihres Dissertationsprojekts als Hörende mit der Normalität des Hörens und entwirft das Konzept einer Hörendenkultur aus der Perspektive von Gehörlosen und Hörenden. Zu diesem Zweck begründet und entwickelt sie einen autoethnographischen Ansatz, den sie being native nennt. Christian Gedschold schreibt vor dem Hintergrund seiner langjährigen Arbeit als Schauspieler und im Rahmen seiner Promotion aus der Perspektive des Forschers in einer empirischen Untersuchung zu theaterspielenden Jugendlichen. Thomas Wilke, als Betreuer beider Promotionsprojekte, bündelt die Erkenntniszweige unter dem Dach der Kulturellen Bildung.

Dieser Artikel ist in binärer Form gehalten. Wir verweisen auf die Relevanz des Inhalts, nicht der Form, um auch künftig über Inhalte diskutieren zu können, die angesichts von Formen zu leicht in den Hintergrund geraten.

Wenn über Methoden sowohl wissenschaftlicher als auch künstlerischer Forschung gesprochen wird, geht es stets um das notwendige und zur Verfügung stehende Werkzeug. Welches Werkzeug steht zur Verfügung und welches wird benötigt, um situationsadäquat zu (re-)agieren? Das situationsadäquate Werkzeug steht im Vordergrund, denn wir kreieren als Forschende, als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stets Konstellationen in Experimenten, unter Laborbedingungen, bei Erhebungen, in Interviews, in der Analyse oder auch durch Beobachtungen. Das heißt, wir beobachten und wir machen in diesem Moment einen Unterschied. Das ist schon hinreichend phänomenologisch ausgearbeitet worden, darauf soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden (z. B. Rönsch 1994; Crossley 2017). Aber aus diesen Unterschieden, die wir durch unsere Beobachtung machen, entstehen mithilfe der Instrumente, die wir benutzen, Informationen und Erkenntnisse. Diese sind wiederum grundiert durch Paradigmen unserer Zugänge, durch erkenntnisleitende Kategorien, durch viele andere Faktoren, die uns in einem Erkenntnisprozess zur Verfügung stehen und die wir nutzen. Diese Erkenntnisse werden diskursiviert, eingeordnet, sie werden zu Wissen, werden weiter kategorisiert und gerinnen dabei zu einer spezifischen Erfahrung, und zwar zu einer Erfahrung der jeweils Forschenden. Das passiert zumeist in einem disziplinarischen Zusammenhang und ist wenig überraschend, weil das in einer gewissen Art und Weise den Berufsalltag beschreibt, den wir als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mehr oder weniger stark ausgeprägt leben. In der Folge werden oftmals außerhalb des akademischen Diskurses bestimmte Zuschreibungen laut, die dazu führen, dass einerseits eine Expertise zum Ausdruck kommt, bspw. „der Rechtsextremismusforscher“ etc. Andererseits entwickelt sich darüber hinaus ein bestimmtes Selbstverständnis, das durch diese Erfahrung geprägt wird. Insofern wir das in aktuellen Begrifflichkeiten als eine Kompetenz begreifen, dann besteht diese häufig darin, dass diese Beobachtungen, die wir machen, Theoreme, die wir formulieren, dass dieses Wissen scheinbar objektivierbar und von unseren Erfahrungen entkoppelbar ist. Das ist aus unserer Sicht falsch bzw. einseitig. Vielmehr sind wir als Forschende wesentlich involviert – und zwar nicht nur durch das, was wir tun, sondern auch durch die Art und Weise, d. h. wie wir es tun. Das entwickelt eine eigene Prägekraft – in zwei Richtungen: einerseits auf die Handlungsergebnisse und andererseits auf uns als forschende Subjekte. Wir haben es also mit Erfahrungen zu tun, die im Laufe der Zeit biographisch dimensioniert werden können. Das betrifft auch uns selbst in der Auseinandersetzung mit kultureller wie auch künstlerischer, ästhetischer Bildung. Was bringt der Forscher, die Forscherin in den jeweiligen Forschungsprozess, in die Problematisierung mit ein – nicht nur als Kompetenzen im handwerklichen Sinne, sondern zusätzlich als Erfahrungen? Das bedeutet ferner mit Blick auf das eigene Feld: Erfahrungen in Musik, Tanz, Theater etc. erleichtern den Zugang zum Feld und das Verständnis, ohne dass hiermit einem forschungsessentialistischen Argument das Wort geredet werden soll. Damit muss stets deutlich gemacht werden, wie diese Erfahrungen konfiguriert sind und worauf sie sich beziehen – inwiefern sie beispielsweise praxis-, gegenstands- oder prozessbezogen, sozial oder (sub-)kulturell grundiert sind. Wir sprechen von Leibgebundenheit, leibgebundener Wahrnehmung und der Verarbeitung als biographische Erfahrung, dem Sphärischen der Situation oder dem situativ Sphärischen, das mehr ist als das rein Faktische im Erhebungs-, Analyse- und Auswertungsprozess. Hierin steckt eine epistemologische Abstraktionsleistung, die in der konkreten und nicht wiederholbaren Situation verortet ist. Wie entstehen letztlich Sinn und Bedeutung?

Autoethnographische Standortbestimmung. Der Ansatz von being native als Erkenntnisinstrument

Das Konzept der Autoethnographie

Nach Lydia Maria Arantes und Elisa Rieger erlaubt die spezifisch ethnographische Zugangsweise neue Zugänge zum Faszinosum „Körper_Leib“ (Arantes / Rieger 2014:14). „[S]ie stellt Selbstverständliches im Forschungsprozess heraus und anschließend in Frage, um die Welt nicht nur sinnhaft, sondern auch begrifflich neu zu fassen“ (ebd.:15). Es ist ein „Plädoyer[…] gegen eine Körpervergessenheit der Geisteswissenschaften“ (Uhlig 2014:144). Auch Tanja Angela Kubes konstatiert: „Die leibliche Erfahrung während der Feldforschung ist unumgänglich“ (Kubes 2014:117). Körperlich angeeignete Praktiken des Forschers würden sein Körperbewusstsein und -empfinden verändern und nicht nur während der eigentlichen Performanzphase, sondern deutlich darüber hinauswirken (vgl. ebd.). Eine Auto-ethno-graphie besteht nach Sarah Wall (vgl. Wall 2008:39) aus mehreren Schwerpunkten: Auto- markiert das Selbst, den autobiographischen Charakter dieser Textform, -ethno- benennt die soziokulturelle Verbindung zum Umfeld und -graphie die Anwendung auf den Forschungsprozess.

Die Autoethnographie erlaubt es dem Autor oder der Autorin, in einem sehr persönlichen Stil zu schreiben und dabei auf seine oder ihre Erfahrungen zurückzugreifen, um das Verständnis für ein gesellschaftliches Phänomen zu erweitern. Als Erkenntnisinstrument zur leiblichen Wahrnehmung und Selbstinvolviertheit im eigenen Forschungsprojekt bezieht sich diese Methode auf einen ethnographischen Feldzugang, d.h. insbesondere auf teilnehmende Beobachtungen während längerer und kürzerer Forschungsaufenthalte im Feld, aber genauso auf den sozialen Umgang mit Feldakteuren durch Interviews. Eine Autoethnographie, d.h. eine autobiographische Erzählung „über ein Thema, ein Problem oder eine soziale Welt“ (Breuer et al. 2019:99), wird immer aus einer Doppelrolle heraus geschrieben: „als von einer Problematik Betroffene [sic!] (als Feldmitglied gewissermaßen) einerseits – als problemsensible, spürsame, reflexive, differenziert auskunftfähige [sic!] und sprachmächtige Forscherin [sic!] andererseits“ (ebd. Herv. i. O.). Autobiographisches Handeln ist insofern immer in Bewegung und findet in Wechselwirkung zwischen Wissenschaft bzw. wissenschaftlichem Arbeiten, Denken, Schreiben und Praxis statt. Ein Forscher oder eine Forscherin muss beides können, also im Sinne guter wissenschaftlicher Praxis auch gut in der Praxis sein, beide Sprachen beherrschen, beide Haltungen einnehmen und beide Modi leben können. Das erfordert eine nicht zu unterschätzende Übersetzungsleistung. In Deutschland ist die Autoethnographie eine noch nicht allzu bekannte Methode der qualitativen Sozialforschung. Charakteristisch ist hierzulande eher die analytische Distanz. Im US-amerikanischen Forschungsraum dagegen ist eine reflektierte Selbstinvolviertheit der Forschenden im Forschungsprozess viel selbstverständlicher, was sich mit der soziologischen Chicago-School begründet. Seit den 1960er Jahren tritt dort die Autoethnographie in kulturanthropologischen Untersuchungen verstärkt auf (vgl. Arantes 2014:26), weswegen sie im US-amerikanischen Raum viel verbreiteter ist und unkritischer betrachtet wird als im deutschen Sprachraum.

Ansätze autoethnographischer Standortbestimmung

Ich (Caroline-Sophie Pilling-Kempel) möchte die verschiedenen Textformen, die die Landschaft der Autoethnographie über Landesgrenzen hinweg hergibt, ordnen. So lassen sich drei Formen autoethnographischer Texte herauskristallisieren, die unterschiedliche Zielsetzungen verfolgen. 1) Autoethnographie als therapeutischer Prozess, 2) Autoethnographie als ausdifferenzierte (Undercover-)Beobachtung der eigenen Leiberfahrung der Forschenden oder: going native. Die dritte Form der autoethnographischen Standortbestimmung ist der von mir begründete Ansatz 3) being native, der Autoethnographie als Reflexion der sozialisierten Involviertheit von Forschenden im eigenen Forschungsfeld beschreibt – vorher, währenddessen und danach.

1. Autoethnographie als therapeutischer Prozess

Margrit Schreier (2017) reiht die Autoethnographie als „Variante“ (ebd.) in das Konzept von Arts-Based Research ein, wobei die „Rezeption konstitutiver Bestandteil des Forschungsprozesses und Kriterium für die Bewertung von Ergebnissen“ ist. Im Gegensatz zum Forschungsgrundsatz der qualitativen Sozialforschung, der „häufig nach Antworten auf eine Forschungsfrage sucht“ (ebd.), ginge es bei Arts-Based-Research „wesentlich um die Generierung von Problembeschreibungen und alternativen Sichtweisen“ (ebd.). Carolyn Ellis, Tony E. Adams und Arthur P. Bochner legen Autoethnographie sowohl als „Methode/ einen Prozess als auch ein Produkt“ (Ellis et al. 2010:354) dar und verweisen auf Autoethnographien als „ästhetisch und plastisch dichte Beschreibungen persönlicher und zwischenmenschlicher Erfahrungen“ (ebd.:348) mit dem Ziel, ein breites Publikum zu erreichen. Beide Ansätze sind als therapeutischer Prozess angelegt, in der Verbindung „zwischen dem Persönlichen und dem soziokulturellen Umfeld“ (Schreier 2017) des Autoethnographen. Beispiele dieser Formen von Autoethnographie – als rezeptiver Prozess der Selbstfindung – geben u.a. Carolyn Ellis (2003), Monica Clarke (1990) oder Andrew Sparks (1996). Carolyn Ellis widmet sich der Beziehung zu ihrer Mutter durch die gemeinsame Grabpflege der Gräber von Familienangehörigen und später auch dem ihrer Mutter. Monica Clarke berichtet als Mutter eines Kindes mit Asthma über deren Mutter-Tochter-Beziehung in atemlosen Notsituationen. Andrew Sparks schreibt als ehemaliger Spitzenathlet über das Gefühl des Verfalls der eigenen Männlichkeit durch chronische Rückenschmerzen. Es handelt sich bei diesen Beispielen nicht zwangsläufig um konkrete wissenschaftliche Forschungsprojekte.

2. Autoethnographie als (Undercover-)Beobachtung der eigenen Leiberfahrung von Forschenden: going native

Franz Breuer, Petra Muckel und Barbara Dieris ordnen Autoethnographie in die Programmatik von Embodied Research ein, d.h. leiblich-körperlichen Wissen (vgl. 2019:98). Das subjektive Spüren durch die eigene Leiberfahrung von Forschenden wird als Erkenntnisinstrument der wissenschaftlichen Forschung genutzt. Die Autoethnographie bietet hier einen Zugang, implizite und nicht verbalisierte leibliche Bedeutungen erfassen und verstehen zu können, indem man in ein fremdes Feld geht, in eine fremde Lebenswelt: „Das 24-stündige totale Dabeisein [sic!] und totale Erleben [sic!]“ (Kubes 2014:118). Es handelt sich dementsprechend um den Versuch der Anpassung an diese fremde Lebenswelt: going native. Going native (einheimisch werden) bezeichnet „den Prozess der Anpassung des Forschers an das Erforschte“ (Hamann / Kißling 2017:149), ein „Sicheinlassen auf die fremde Kultur“ (ebd.). Es handelt sich um ein going native auf Zeit, denn der Forscher oder die Forscherin bleibt dieser Kultur und Lebenswelt, die er oder sie beforscht, trotz des mitunter längeren Feldaufenthaltes, ggf. dem Spracherwerb, der Beziehungsaufnahme und einem Tiefenverständnis der inneren Themen fremd. Seine und ihre Wahrnehmung und das darüber Schreiben sind zwangsläufig von der eigenen Kultur und Lebensweise bestimmt und konstituiert. Auf going native folgt ebenso zwangsläufig ein going home. Beispiele des autoethnographischen Ansatzes von going native geben z.B. Carol Rambo Ronai (1992) als Tänzerin in einem erotischen Nachtclub, Mirko Uhlig (2014) im ethnographischen Umgang mit Grenzphänomenen im Kontext heterodoxer Heilweisen und Tanja Angela Kubes (2014) mit ihrem Konzept Living fieldwork am Beispiel von doing hostess (ebd.:113) in der Automobilbranche. Kubes konstatiert zwar, sich deutlich von einem methodischen Vorgehen des going native abzugrenzen, meint jedoch gleichzeitig: „Die Rollenübernahme als Hostess wird von mir gezielt als Methode eingesetzt und auf den Zeitraum der Messe begrenzt. Nach der körperlich und leiblich zentrierten Datenaufnahme im Feld, kehre ich wieder in meine Rolle als analysierende und interpretierende Forscherin zurück“ (ebd.:118). Genau das zeichnet going native aus, die Länge des Zeitraums ist dabei unbedeutend.

3. Autoethnographie im Ansatz der Selbstvertretung der Forschenden: being native

Die beiden erstgenannten Ansätze thematisieren das eigene Leibsein von Forschenden in unterschiedlicher Hinsicht – als therapeutischer Prozess ohne konkretes Forschungsprojekt und als Feldbesuch auf Zeit (going native). Der nun vorgestellte dritte Ansatz ist ein von mir begründetes Konzept autoethnographischer Standortbestimmung, das die beiden erstgenannten Ansätze weiterführt und vervollständigt. Es geht dabei um eine Erkenntnisgewinnung durch die eigene Betroffenheit im Forschungskontext vor, während und nach der Arbeit an einem ergebnisorientierten, wissenschaftlichen Forschungsprojekt. Gleichzeitig geht es um eine nötige Abgrenzung der eigenen Selbstinvolviertheit von Forschenden im Kontext der eigenen Datenerhebung und -auswertung, vor allem wenn Positionen der Feldakteure nicht mit der persönlichen Erfahrung (Selbstvertretung) vereinbar sind oder zu sein scheinen.

Being native: zuhause sein im eigenen Forschungsfeld. Während going native ein Sicheinlassen auf eine fremde Kultur innerhalb eines begrenzten Zeitraums bezeichnet, stellt der Ansatz von being native einen zeitunbegrenzten Zustand heraus, der vom Forschungsanliegen unabhängig besteht. Der Forscher oder die Forscherin geht nicht erst hinein, wie ein going native nahelegen würde, sondern ist bereits Teil des beforschten Feldes, was sich im being native widerspiegelt. Er oder sie muss dementsprechend eine stärkere Rollenklärung vornehmen als jene Forschende, die sich in ein Untersuchungsfeld hineinbegeben und, wenn das Forschungsprojekt beendet ist, wieder hinausbewegen. Der Forscher oder die Forscherin ist insofern bzw. im Ansatz der persönlichen Involviertheit (being native) in die gesellschaftlichen Zusammenhänge der untersuchten Lebenswelt eingebunden und damit auch mehr Risiken ausgesetzt als im Ansatz des punktuellen Feldbesuchs (going native).

„Man sucht hier nicht [sic!] ein Feld auf, das einem bislang ‚fremd‘ war, und beobachtet dann dort das Handeln der Feldinsassen, sondern man ist bei dieser Form der Beobachtung schon ‚immer‘ Teil des Feldes gewesen – nur dass man jetzt beschlossen hat, dieses Feld zu beobachten“ (Reichertz 2016:206).

Insofern verspricht der Ansatz von being native eine neue Dimension für die qualitative Sozialforschung, ganz besonders angesichts künstlerischer, pädagogischer und soziologischer Handlungsfelder, die mit der Sorge der Vereinnahmung des Feldes, einer damit verbundenen Rollenverwässerung und der persönlichen Betroffenheit einhergehen. Konkrete Beispiele für die Form der autoethnographischen Herangehensweise geben u.a. Sophie Alkhaled (2016) als Frau mit syrisch-britischen Wurzeln, schulisch sozialisiert in Saudi-Arabien und als „‘hybrid’ feminist researcher bridging two worlds“ (ebd.:1), Miklas Schulz (2018) als blinder Wissenschaftler, der sich mit der Praxis des Hörens vor allem in Bezug auf technisches Hören durch einen Screenreader beschäftigt, und Sarah Wall (2008) als Mutter eines adoptierten Kindes.

Umsetzung einer autoethnographischen Standortbestimmung

Grundlage einer autoethnographischen Standortbestimmung, gleich welchen Ansatzes, sind Beobachtungsprotokolle, Feldnotizen, Einträge in Forschungstagebüchern oder Memos; es kann aber auch ein dyadisches Interview oder ein Selbst- bzw. Eigeninterview (siehe das folgende Kapitel von Christian Gedschold) Grundlage oder Datenmaterial für eine Autoethnographie sein. All diese Erhebungsformen bieten umfangreiche Möglichkeiten zur Reflexion, werden anhand der forschungsleitenden Fragestellung und der forschungsleitenden Methode oder Methodologie (z.B. der Reflexiven Grounded Theory oder der Dokumentarischen Methode) systematisiert aufbereitet und für die Ergebnisdarstellung abgeleitet. Alle genannten Ansätze der Autoethnographie haben gemeinsam, dass es sich dabei um eine heterogene Textform handelt, die ein erhebliches Maß an Kreativität und (literarischer) Kunstfertigkeit erfordert (Breuer et al. 2019:99). Es gibt nichtdie eine einzig wahre Meistererzählung [sic!]“ (ebd.:110). Es gibt Erzählungen und jede Erzählung hat ihre Berechtigung, ihren Stil, ihren Hintergrund. Bei aller Freiheit, die dieses Format mit sich bringt, gilt es jedoch, auch hier Qualität zu gewährleisten. Eine Autoethnographie hat ebenso wie andere wissenschaftliche Texte einen Anspruch auf gute wissenschaftliche Arbeit. Es gilt die Balance von autobiographisch geprägter Reflexion der wissenschaftlichen Feldarbeit und wissenschaftlicher Ausführung und Sprache zu halten. Wenn eine Autoethnographie keine Nachvollziehbarkeit für Leser und Leserinnen gewährleistet und keine Kontextualisierung vornimmt, ist es keine gute Autoethnographie. Zu einer guten autoethnographischen Ausführung gehört: ein nachvollziehbarer Anlass der eigenen Arbeit im Feld, ein theoretischer Hintergrund, die Beschreibung des Feldes, der autobiographische Erfahrungsbericht zur eigenen Involviertheit, eine entsprechende Kontextualisierung und der Anschluss zur Empirie im Forschungsprojekt.

Die Privatheit von Forschenden

Es darf nicht verheimlicht werden, dass es eine durchaus kritische Haltung der deutschen Wissenschaftscommunity gegenüber dieser Vorgehensweise und demzufolge Schwierigkeiten mit der Erarbeitung solch eines Textes gibt. Sarah Wall (2008) bemerkt die Privatheit von Forschenden, die persönlichen Motive und sozialisierten Hintergründe, die in der Autoethnographie dargestellt werden, als mögliche Angriffsfläche. Dies gilt für alle der drei beschriebenen Ansätze autoethnographischer Standortbestimmung, denn diese Sorge teilen alle Autoren und Autorinnen. Rena Ledermann (2019:75) spricht sogar von der Perversität, die privaten Hintergründe zur Veröffentlichung zu bringen. Breuer, Muckel und Dieris sprechen differenzierter von „der Verletzbarkeit in der eigenen persönlichen Sphäre bis hin zum Hinauswurf aus der etablierten Academia“ (Breuer et al. 2019:118). Es ist nicht zu verhehlen, dass mit der Veröffentlichung einer Standortbestimmung (welcher Form auch immer) durchaus existentielle Risiken verbunden sein können. Diese Risiken lassen sich nicht abschalten, man kann nur mit ihnen umgehen. Es wäre fatal, eine Autoethnographie oder eine Standortbestimmung aufgrund der Bedenken zur Privatheit des oder der Forschenden nicht anzufertigen, denn dann würde die eigene Rolle nicht reflektiert werden und mögliche Erkenntnisdimensionen würden keinen Eingang in die Forschung finden.

Eine unkritische Nutzung der Autoethnographie als Instrument birgt die Gefahr der Psychologisierung, was mitunter dazu führt, dass ihr das Charakteristikum der Wissenschaftlichkeit abgesprochen wird. Nach Jo Reichertz (2016) wüsste man über die Bedeutung der Forschersubjektivität bislang nur sehr wenig, „wohl auch, weil immer noch viele Wissenschaftler es als despektierlich empfinden, sich mit der Forschersubjektivität zu beschäftigen und möglicherweise, weil man so leicht die Aura von Wissenschaft zerstört, möglicherweise auch, weil man mit einem solchen Thema nicht so gut Karriere machen kann“ (ebd.:79). Gegen eine generelle Methodenkritik argumentiert Sarah Wall: „[I]f a researcher had interviewed me about my experiences as an adoptive mother and had recorded and transcribed it, it would have legitimacy as data despite the fact that both the interview transcript and my autoethnographic text would be based on the same set of memories“ (Wall 2008:45). Bei allen Widrigkeiten gilt es zu bedenken, dass die Benennung des eigenen Standorts maßgeblich ist, um eine Gültigkeit oder Validität der Forschungsarbeit zu garantieren – im Sinne einer Klarheit und Differenzierungskompetenz der eigenen Rolle – und gleichzeitig die autoethnographische Standortbestimmung zu nutzen, um zusätzliche Erkenntnisse im Zusammenhang mit den Daten hervorzubringen.

Das Eigeninterview

Statt der Konstruktion eines theoretischen Abstands zwischen mir (Christian Gedschold) als Forschendem und dem Forschungsgegenstand wird die Auseinandersetzung mit dem biographischen Bezug der forschenden Person an den Anfang gestellt: Wie komme ich zu meiner Frage und meiner Forschungsperspektive? Über die Frage nach der individuellen biographischen, d.h. familiär, bildungsbiographisch und kulturell begründeten Bedeutung des Themas entwickelt sich eine individuelle Forschungsperspektive und eine individuelle Haltung gegenüber dem Gegenstand. Mit dieser (induktiven) Bewegung vom Besonderen zum Allgemeinen folge ich der Annahme, dass alle gesellschaftliche Wirklichkeit Konstruktionen unterliegt und gehe auch vom „Vorgehen der Forschung als konstruktivem Akt“ (Flick et al. 2005:23) mit mir als Co-Konstrukteur aus.

Hier soll nun keineswegs die unzulässige Verallgemeinerung aus dem Einzelfall eines konkreten Forschungsvorhabens vorgeschlagen, sondern über die Vergegenwärtigung des Abstandeszwischen dem Eigenen und dem Nicht-Eigenen der jeweilige Erkenntnisweg als einer von mehreren möglichen und nicht als der einzig mögliche angenommen werden. Aus dieser Einordnung wird mit Bezug auf Peter L. Berger und Thomas Luckmann (2018) sowie Alfred Schütz (1932) die Horizontintentionalität der jeweiligen Forschung erschlossen. Die Deutung des Fragegegenstandes und der Forschungssituation erfolgt innerhalb des Orientierungsrahmens der forschenden Person. Fragegegenstand und Forschungssituation werden – selbstverständlich – zudem im Koordinatensystem der Forschungspartner und Forschungspartnerinnen verortet. Die anschließende Frage nach dem Abstand zwischen meiner Positionierung als Forscher und derjenigen meiner Forschungspartner und -partnerinnen und – wichtiger noch – der Frage, was zur Überwindung des Abstandes geleistet werden müsste, zielt auf eine gerechtere (im Sinne von gerechtfertigten) Darstellung des Bedeutungshorizontes der Forschungspartner und -partnerinnen ab. Konkret werden im Interpretationsgeschehen die Milieuzugehörigkeit, das Lebensalter, das Geschlecht und die Lebenserfahrung des Forschenden in ein Verhältnis zur Erfahrung der Forschungspartner und -partnerinnen gesetzt.

Die eigene Position als Ausgangspunkt

Um die Kontrastierung zwischen den Präkonzepten und dem Material methodisch zu unterlegen, empfehlen Rudolf Schmitt und Larissa Faller (2018), das Sample mit einem Eigeninterview anzureichern. Es ist ein geeignetes Forschungsinstrument zur Erkundung der eigenen Positionierung der forschenden Person nicht nur in qualitativen Forschungssettings, denn hierdurch nimmt sich die forschende Person selbst mit in den Blick und kann die aus den Daten gewonnenen Ergebnisse unter Bezug auf den eigenen Anteil am Forschungsgeschehen relationieren. Ungeachtet dieses Vorteils findet das Eigeninterview bisher nur geringe Beachtung in der Literatur über Methoden der qualitativen Sozialforschung. Eine detaillierte Anleitung im Sinne eines „kodifizierten Verfahrens“ (Steinke 2005:326), mit der ein Anspruch auf Verallgemeinerbarkeit erhoben werden könnte, gibt es nicht – so der aktuelle Stand. Obgleich das Eigeninterview in manchen Forschungsberichten (z. B. Schulze 2007:319) Erwähnung findet, wird meist auf eine genauere Beschreibung der Methode verzichtet.

In meiner Untersuchung zu den Erfahrungen Jugendlicher in Jugendclubs an Theatern (Gedschold 2025) habe ich das Eigeninterview eingesetzt und bei der Auswertung des Datencorpus genutzt. Hierbei ging es mir vor allem darum, meine eigenen blinden Flecken aufzudecken, um eine Unterscheidung zwischen einerseits jugendtypischen und andererseits für Jugendliche eher untypischen Einstellungen zu ihren Erfahrungen zu treffen. Die Untersuchung wurde nach der Grounded Theory Method (GTM) nach Anselm Strauss und Juliet Corbin (1996) durchgeführt.

Die Daten (Kodes) des Eigeninterviews wurden nicht in den Datensatz der Interviews mit den Forschungspartner und -partnerinnen eingefügt oder mit ihnen vermischt. Hierdurch hätte das Eigeninterview den Datensatz verzerrt, denn es wäre Bestandteil des Samples geworden bzw. hätte als solches missverstanden werden können. Die Kodes wurden eigenständig ausgewertet und bildeten daher im Sinne des Theoretical Sampling (Mey / Mruck 2009:110-112) – als wesentlicher Bestandteil der GTM – einen (maximal kontrastierenden) Bezugspunkt der Reibung und Reflexion zur Theoriebildung. Hierauf wurde in der Begründung der Theorien eingegangen, um die subjektive Forschungsperspektive zu bestimmen und ggf. andere Perspektiven zuzulassen. Die Ergebnisse wurden damit nicht nur inhaltlich, sondern auch perspektivisch begründet.

Aufgrund der Strukturmerkmale und des Settings liegt der Schluss nahe, dass sich das Eigeninterview auch für andere qualitative Forschungsvorhaben eignet, etwa in Untersuchungen nach der Methode der Qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring 2015), der Objektiven Hermeneutik (Wagner / Oevermann 2001), der Dokumentarischen Methode (Bohnsack 2013) und weiterer rekonstruktiver Verfahren (vgl. Funcke / Loer 2019). Für eine Übertragung auf andere Forschungsmethoden sowie für die weitere theoretische Entwicklung und praktische Anwendung wäre zu prüfen, mit welchen Verfahren das Eigeninterview generell für qualitative Forschungsvorhaben methodisch abgesichert werden müsste. Das Eigeninterview soll vor allem den subjektiven Standpunkt der forschenden Person transparent machen und somit einen stärker reflektierenden Zugang zum Forschungsgegenstand erlauben.

Das Eigeninterview wird von einer Person geführt, die nicht unbedingt einen Bezug zum Forschungsgegenstand haben muss. Die Eingangsfrage mit dem Erzählstimulus entspricht dem Leitfaden der Forschungsinterviews. Die Aufnahme wird transkribiert, das Transkript wird segmentiert und zunächst offen kodiert, danach in eine Kodierachse mit den Parametern (a) Phänomen, (b) Bedingungen (kausal und intervenierend) und Kontexte, (c) Interaktionen, (d) Strategien und (e) Konsequenzen gebracht (vgl. Mey / Mruck 2009:130). Im Verlauf dieses Auswertungsschritts werden die kodierten Daten konzeptualisiert (vgl. ebd.:107), in Kategorien erfasst und zu Theorien verdichtet, die mit entsprechenden, d.h. ähnlichen oder kontrastierenden Konzepten aus dem Material in Zusammenhang gebracht werden. Aus den Relationierungen der Position des Forschenden und der Position der Forschungspartner und -partnerinnen werden symmetrische bzw. asymmetrische Matrizen erstellt, die unter Bezug auf die Forschungsfrage auf die jeweilige Kategorie gelegt werden. Auf Grundlage der Verschiebungen der Matrizen können Schlüsse auf die Eigenheiten der Perspektiven Forschender gezogen und die generierten Theorien mittlerer Reichweite können durch die Berücksichtigung der Perspektiven geschärft werden.

Die Begründung einer zusätzlichen Perspektive

Mehr noch als der theoretische Erkenntniswert eröffnet die leibliche Beteiligung der forschenden Person am Forschungsgeschehen ihren „Zugang zur Welt“ (Meyer-Drawe 1984:142; Waldenfels 1983:160; beide zit. nach Gugutzer 2002:75), auf die Thomas Wilke im ersten Abschnitt dieses Beitrags hinweist: Es ist der leibliche Zugang zur Welt der Forschungspartner und -partnerinnen. Die Pointe liegt hierbei auf der eigenleiblichen Erfahrung der forschenden Person im Eigeninterview, die überhaupt erst den Nachvollzug des leiblichen Erlebens der Situation anderer – in diesem Fall der Forschungspartner und -partnerinnen – ermöglicht (vgl. Merleau-Ponty 1986). Als Forschende begeben wir uns in einen räumlichen und leiblichen Bezug zu den Gegebenheiten unserer Forschungspartner und -partnerinnen, ohne uns lediglich in deren Situation einzufühlen: Wir schaffen uns Möglichkeiten zur Theoriebildung auf der Grundlage unserer eigenen Verfasstheit. Der körperliche Nachvollzug kann im Interview ähnlich dem der interviewten Personen oder auch anders sein; das Erleben geht über eine Simulation hinaus, da im Eigeninterview tatsächlich Eigenes verhandelt wird.

Beispiel

Anhand einer Kodierachse, die ich zur Theoriebildung aus den Kodes des Datenmaterials zu der erwähnten Forschung (Gedschold 2025) gebildet habe, soll die Relationierung demonstriert werden. In einer Interpretationsgruppe wurde ich auf das auffällige Merkmal der Arroganz eines interviewten Jugendlichen hingewiesen, das mir bei der Auswertung des Interviews und bei der offenen Kodierung entgangen war. Ich hatte in der betreffenden Passage eine gewöhnliche und damit erwartbare Äußerung eines Jugendlichen gesehen, jedoch keine Auffälligkeit. Nachdem mir die Forschungskollegin ihre Interpretation mitgeteilt hatte, kodierte ich das betreffende Segment neu und stellte es in eine eigene Achse. Die Kodes waren nach den Regeln der GTM bereits konzeptuell, d.h. es wurden keine Zitate aus den Interviews, sondern Theorieansätze erfasst.

Der Kode, „Die Teilnahme am Jugendclub führt zu überheblichem Verhalten der Teilnehmer und Teilnehmerinnen gegenüber Außenstehenden“ bildet den Ausgangspunkt, also das „zentrale[…] Phänomen“ (vgl. Mey / Mruck 2009:129) für die folgende Kodierachse:

Abb_1

Danach habe ich im Selbstinterview Kodes identifiziert, die denen der Achse entsprechen oder einen maximalen Kontrast bilden:

Abb_2

In einem dritten Schritt wurden die Achsen zu einer einzigen, in sich möglichst widerspruchsfreien Achse zusammengezogen (hier nicht abgebildet). Das Selbstinterview und das Interview aus dem Sample erlauben Rückschlüsse auf ähnliche oder sogar übereinstimmende Bedeutungshorizonte. Falls die Horizonte aus Interview und Selbstinterview einander nicht entsprechen, würden die Widersprüche auf die Bedingungen der jeweiligen Kodes geprüft und in entsprechenden Theorien formuliert. Die Forschungsperspektive kann so systematisch und methodisch korrekt um den ‚Bias‘ der Normalisierung außergewöhnlichen Verhaltens korrigiert werden.

Dieses Verfahren beschreibt eine rein kognitive Operation, die allerdings auf leiblichen Erfahrungen beruht, denn im Eigeninterview, d.h. im tatsächlichen Nachvollzug von Interviews, wird der leibliche Gehalt der Situation erfahren und fließt ein in die Kodes und Memos. Die forschende Person erlebt die Emotionen und Gefühle der Interviewsituation in Bezug auf gesprochene Inhalte und kann ihre Gefühle zu ihren Äußerungen in Bezug setzen.

Sowohl für den Forschungspartner als auch für den Forscher entstanden im geschilderten Fall aus den Erfahrungen im eigenen Schauspiel im Jugendclub einerseits und im Kurs Darstellendes Spiel und dem späteren Theaterberuf andererseits Empfindungen von ‚Besonderheit‘. Die in beiden Fällen beobachteten Gefühle schlugen sich in je eigenen Verhaltensweisen nieder und führten zu einem vermeintlich arrogantem Verhalten gegenüber anderen, die nicht im Jugendclub spielen. Das Konzept kann für beide Achsen lauten: „Normalisierung der abgehobenen Position“.

Die aufgezeigten Normalisierungen führten in ihren Konsequenzen zu Entscheidungen, die unter anderen Bedingungen vermutlich nicht getroffen worden wären. Aus dem Befund lässt sich die Normalität der Abgehobenheit für den Forscher und den Forschungspartner ableiten. Die Matrix einer Normalität des Elitären wird im selektiven Kodieren bestätigt oder, in anderen Interviews unter entsprechend anderen Bedingungen, s.o., widerlegt und in beiden Varianten zur Theoriebildung auch anderer Achsen herangezogen. Was, so wurde zum Beispiel gefragt, bedeuten die Empfindungen der ‚Besonderheit‘ und die hiermit verbundene Erwartung eines Zugangs zu einer Elite (als solche empfanden einige der an der Untersuchung beteiligte Mitglieder ihren Club) für Jugendliche, die sich in einer benachteiligten gesellschaftlichen Situation befinden oder einem prekären Milieu entstammen?

Nutzung und Nutzen des Eigeninterviews

Selbstinterviews werden auf signifikant erscheinende Kodes und Konzepte untersucht und es werden wie dargelegt Matrizen gebildet. Das Set von Matrizen bildet das Schema, mit dem alle aus dem Material gebildeten Theorien geprüft werden können. Hierbei steht die Frage im Vordergrund, in welchem Abstand die Theorien zu den Theorien meiner Selbsterklärung als Forscher stehen: Was müsste ich tun, um in die ‚Kultur‘ der Feldakteure zu gelangen? Der erste Schritt zur Beantwortung der Frage, im Beispiel ist dieser Schritt die Bildung einer ‚Theorie der Normalität von Überheblichkeit’, erfolgte durch die Kontrastierung in der Interpretationsgruppe. Die systematische Überprüfung und Relationierung gelang durch die Bildung paralleler Achsen. Weisen die Achsen Parallelen oder Abweichungen auf, lassen sich davon ausgehend weitere Theorien formulieren.

Der im Beispiel dargelegte Umgang mit dem Selbstinterview erlaubt eine methodisch kontrollierte Positionierung der forschenden Person zum Gegenstand über das gesamte Material hinweg. Die im Forschungsprozess generierten Theorien mittlerer Reichweite können (a) stets über Fragen nach Alternativen des Seins und Handelns der Akteure relationiert werden: Was wäre, wenn eine andere forschende Person auf das Material schaute? Das Selbst der forschenden Person wird ins Spiel gebracht, ohne dass hieraus eine ausschließlich subjektive Sichtweise generiert würde. Der eigene Standpunkt bleibt erhalten und wird über die Dimension des leiblichen Empfindens im Forschungsprozess in die Theoriebildung einbezogen. Die Relationierung, die auch in konventionellen Interpretationsgruppen erfolgt, wird (b) durch die axiale Zusammenführung von Forschungsgegenstand und Forschungsperspektive validiert.

Heike Schulze fasst mit Bezug auf Georges Devereux (1984) den Nutzen des Eigeninterviews für die Forschung zusammen: 

„Als ForscherIn könne man nur das erkennen, wofür man auch offen ist. Sieht man sich bspw. selbst in seinem professionellen Selbstverständnis durch die Aussagen der InterviewpartnerInnnen in Frage gestellt, kann das zu subtiler Abwehr führen mit der Folge, dass für das eigene Selbstwertgefühl potentiell ‚gefährliche‘ Aspekte nicht thematisiert bzw. bei der Interpretation vernachlässigt werden.“ (Schulze 2007)

Relevanz einer Standortbestimmung

Forscher und Forscherinnen sind nicht nur Forschende, sondern vor allem Menschen. Und diese Menschen verfügen im Rahmen einer gewachsenen Profession sensu Professionalisierung und darüber hinaus über ein eigenes Weltbild, biographische Erfahrungen, die sie und ihre Forschungsprojekte prägen. Diese subjektiven Erfahrungen werden von den Forschenden nicht selten als zum allgemeingültigen Bestand geistigen Eigentums gehörend vorausgesetzt – mit der Gefahr des impliziten Wissens: Mein Gegenüber weiß immer schon, was ich weiß, meint es zu wissen. Es gilt, diese implizite Ebene zu klären, nicht zu erklären, um eine notwendige Distanz schaffen zu können – Wie werde ich Teil des Feldes, ohne das Feld zu verändern? – und zudem eine Verschiebung zu ermöglichen: Ich bringe mich ein und muss mich zugleich lösen. Das führt zu einer gedanklichen Doppelbewegung: Lässt sich eine Erfahrung in einem Forschungsdesign entsprechend prädisponieren und zugleich neutralisieren? Das Ergebnis der Beobachtung erscheint als zusammengesetztes Ganzes, das selbst in der Reflexion und der Rekonstruktion das je eigene des Konstruktionsprozesses in sich trägt. In der Forschung, im Forschungsprozess mit der je eigenen Perspektive etwas sezieren, fokussieren und danach als Erkenntnis wieder zusammenfügen, das erscheint als eine notwendige Operation im Sinne einer Metareflexion.

Für Forschende im Bereich der Kulturellen Bildung, die nicht selten selbst künstlerisch tätig sind, kann die Identifizierung eigener (künstlerischer) Standpunkte entscheidende Erkenntnisvorteile bringen, da ihr Selbstverständnis als Künstler und Künstlerinnen den Blick auf das Kunstschaffen und die Kunstrezeption anderer beeinflussen kann. Wo begegnet man sich? Welcher Begegnungsraum wird geschaffen, entsteht? Aus der Innensicht eines künstlerisch tätigen Menschen kann das eigene künstlerische Handeln alltäglich erscheinen und somit auch die Wahrnehmung anderer Künstler und Künstlerinnen beeinflussen. Forschungspartner und -partnerinnen werden als ‚normal‘ angesehen, auch wenn ihr Handeln im Vergleich mit anderen Personen im Wortsinn ungewöhnlich ist. Hier könnte das leibliche Empfinden der Atmosphären im Erleben von im Interview rekapitulierten Situationen eine Rolle spielen. Auf das Beispiel des Eigeninterviews bezogen könnte gefragt werden, wie es sich angefühlt hat, ‚besonders‘ gewesen zu sein, zu triumphieren oder von den anderen als arrogant angesehen zu werden, welche Körperhaltungen und -wahrnehmungen erinnert werden.

Die Selbstpositionierung in der Forschung wird notwendig durch die vielfach gegebene Verwobenheit von wissenschaftlicher und praxisnaher (z.B. politischer und künstlerischer) Forschung. Vor allem in der Kulturellen Bildung sind Forschende mitunter selbst Gestalter und Gestalterinnen oder künstlerische Praktiker und Praktikerinnen und daher selbst in die wissenschaftliche Forschungsarbeit involviert. Forschende sind daher oft auch Performende (vgl. Hinz et al. 2018) und politische Sprachrohre (mit schwieriger Abgrenzung zum Aktivismus). Forschung kann aus diesem Grund ein mehrdimensionales Abbild unterschiedlicher Identitäten sein, denn ein und dieselbe Person kann als forschend, künstlerisch, politisch oder pädagogisch sowohl Objekt der Forschung als auch forschendes Subjekt sein. Diese Verwobenheit verschiedener Identitäten verhindert vermeintlich objektive Standpunkte und macht die Kenntnis der eigenen Situiertheit und des biographischen Zugangs beziehungsweise die Forscherhaltung zum Feld notwendig. Die eigene Position und eigene Zugänge reflexiv zu diskursivieren, bricht insbesondere in kultur- wie sozialwissenschaftlichen Forschungszusammenhängen hierarchisch wahrgenommene (An-)Sprechhaltungen auf und führt zu anderen Legitimationsweisen.

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Christian Gedschold, Caroline-Sophie Pilling-Kempel, Thomas Wilke (2025): Standortbestimmung im wissenschaftlichen Kontext der Kulturellen Bildung. Die Bedeutung eigener biographischer Erfahrungen in der Forschung. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://kubi-online.de/index.php/artikel/standortbestimmung-wissenschaftlichen-kontext-kulturellen-bildung-bedeutung-eigener (letzter Zugriff am 14.06.2025).

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