Spielerisches Krisenmanagement? Soziokultur als künstlerische und gesellschaftliche Kraft
Abstract
Soziokultur hat sich in den letzten 50 Jahren zu einer eigenständigen Kultursparte entwickelt. Sie hat eine äußerst hohe Adaptionsfähigkeit von gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen bewiesen. Sie hat darüber hinaus konkrete Utopien für alternative Modelle des Dialogs sehr unterschiedlicher Gruppierungen, ungewohnte Wege künstlerischer Arbeit und Visionen des Zusammenlebens vor Ort entwickelt und umgesetzt. Nun erscheint die Gegenwart im Jahr 2024 zu komplex, um mit ihr in einer linearen Art durch Kultur und Gemeinwohlarbeit umgehen zu können, sozusagen das ergebnisorientierte Produktversprechen der Kultur erneut einzulösen. Es ist nicht nur eine private Herausforderung, auf wen zu hören und wohin zu schauen ist. Es ist ein globales politisches, ökonomisches und ökologisches Knäuel vieler Fäden ohne erkennbaren Anfang und erkennbares Ende. Kurz: Es ist eine gesamtgesellschaftliche Sortier- und Gestaltungsaufgabe mit vielen Anfängen und Zwischenstopps, Wiederholungen und Suchbewegungen, vielen Stimmen Gehör zu verschaffen und dadurch gemeinsamen Sinn zu stiften.
Wie bearbeiten die Akteur*innen der Soziokultur die globale Gesellschaft vor Ort? Dieser Text geht einigen Herausforderungen nach und beschreibt Ansätze, die schwierige Fragen in konkrete Praxis übersetzen. Er blickt aus der Perspektive der Förderung von Entwicklungen in soziokulturellen Vorhaben auf die noch möglichen Potenziale Sektor übergreifenden Denkens und Handelns und bekräftigt die Bedeutung internationaler kultureller Perspektiven und kollaborativer Arbeitsweisen.
Einführung
Die Soziokultur hat sich in den 1970er Jahren als eigenständige Einrichtungsform und als alternatives Modell zu etablierten (Hoch-)Kultureinrichtungen entwickelt. Sie legt einen breiten Kulturbegriff zugrunde. Dieser stellt Alltags- und Breitenkultur gleichberechtigt neben Hochkultur und geht von der kompetenten Beteiligung der Menschen am Kulturmachen aus. Die Kultur bzw. der Begriff von Kultur erfährt in der Soziokultur eine Demokratisierung, die nicht nur bestimmten Expert*innen des Kunst- und Kulturbetriebs die Definition der Kultur überlässt. Vielmehr sollen durch die Mitgestaltung und Wertschätzung von eigenen „Kulturgütern“ und Kulturgeschichte/n sowie Alltagskulturen ein breiter und vielfältiger Zugang zur Deutung und Gestaltung der Wirklichkeit geschaffen werden. Dabei sind Kulturen der Gestaltung aus dem Leben von Menschen in den Programmen der Soziokultur ebenso im Blick wie künstlerische Nachwuchsarbeit und Kulturexperimente, die zeigen, welche Werte, Bedürfnisse und Kompetenzen Menschen zur symbolischen und spielerisch-kreativen Bewältigung ihres Lebens haben: Private Altäre der Erinnerung, Kollektive Gedächtnisse von Kulturerbschaften in Communities, Protestoper von Kindern auf der Straße, Tanzperformance im Stadtteil oder digitale Stories als Mapping am Hochbunker. Soziokultur ist ohne ihre inhärente, dezidiert politische Dimension nicht denkbar. Aktivismus und die Entwicklung von Gegenmodellen zu einer exklusiven, eher elitären Kulturarbeit und die Unterstützung von ungewöhnlichem Nachwuchs bzw. von Koproduzent*innen in der Kunst sind zentral (vgl. Bundesverband Soziokultur).
Es wäre nun schön, könnte man sagen: Die Herausforderungen für eine beteiligungsorientierte Kulturarbeit liegen in den folgenden abgezählten Feldern. Aber so einfach ist es ja nie, auch wenn eines der Felder immer hieße: Finanzielle bzw. strukturelle Grundsicherung und Planungssicherheit für einen in der Regel nicht öffentlich getragenen Bereich, von dem durchaus infolgedessen politisch höchste Flexibilität und ein hohes Reaktionstempo erwartet wird. Denn bei dem*der Grenzgänger*in zwischen Kunst und Sozialem besteht naturgemäß eine hohe Adaptionsfähigkeit für Veränderungen und Entwicklung. Ist dieses Feld der Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält, oder das Mauerwerk, das Stabilität gibt? Sich von Vorstellungen lösen, wie etwas ist, ist der Beginn einer neuen Gestaltung. Dies gilt nicht nur in der künstlerischen Arbeit, sondern auch in der Entwicklung von Kultur und einer fairen Gesellschaft, die viele Vorstellungen und vielfältige Biografien beheimatet. Der Gegenstand der Soziokultur sind diese Wirklichkeiten verschiedener Menschen. Das Medium der Künste verschafft dabei Spielräume für das Sichtbar- bzw. Spürbarwerden dieser Wirklichkeiten und ihrer Verhältnisse zueinander. An dieser Schnittstelle bewegt sich Kulturelle Bildung und bewegt sich die Soziokultur im Wortsinn.
Schlagworte, aber in Echtzeit. Zum gesellschaftspolitischen Kontext soziokultureller Arbeit
Es sind Schlagworte: Gesellschaftlicher Zusammenhalt, Transformation, Nachhaltigkeit, Globalisierung, Post-Corona, Turbokapitalismus. Die alltägliche Wirklichkeit zeigt, dass die mit diesen Begriffen verbundenen Auswirkungen sich lokal nicht mehr leugnen lassen. Sie sind Alltag in der Nachbarschaft, im eigenen Haushalt, in Freund- und Verwandtschaftsverhältnissen, im überschwemmten Stadtviertel und bei offenen Anfeindungen in der S-Bahn und an der Hauswand, auf dem Bankkonto deutlich erkennbar angekommen.
Welche Anforderungen an eine gemeinwohlorientierte Kulturarbeit stellen sich? Welche Aufgaben übernimmt ein Feld, das inmitten der Gesellschaft verortet ist und ästhetische, kulturell-künstlerische Formate für die Behandlung von Alltag und Utopie erfinden kann?
Soziokultur erhebt Alltagskulturen zu einer eigenen Kultursparte und verbindet sie mit Kunst und Begegnung unterschiedlicher Menschen. Schaut man auf die Breite an Aktivitäten, so umfassen diese alternative Musikförderung, Theater mit Geflüchteten, Kleinkunst, Talentbühnen und Fotoworkshops bis hin zu Kunstprojekten im Strafvollzug, Entwicklung von kritischen Escape-Games zu Asylverfahren, internationale und inklusive Tanzperformances, Aufarbeitung historischer Ortsgeschichten im intergenerativen Dialog, Vogueing als künstlerischer Safe Space oder ein Festival der Angst im Hochhausviertel. Kultur-Kollektive bringen Fußballclub und Kunstverein im Stadion zusammen oder internationale Zugewanderte inszenieren ein Storytelling-Lab über das Glück. Soziokultur öffnet örtlich nicht-kommerzielle Räume und wagt in Projekten ungemütliche Fragen zu stellen und Menschen zu ermächtigen, sie aus ihrer Sicht und mit ihren Mitteln gestaltet zu beantworten. Sie macht Gedanken, Gefühle, Bedürfnisse, Freuden und Sorgen sicht- und erlebbar. Zugänglichkeit und Ansprechbarkeit zeichnet die Verantwortlichen aus.
Im Jahr 2024 feiert die Soziokultur ihren 50. Geburtstag, was wiederum an dem Einrichtungstyp Soziokulturelles Haus oder Zentrum festgemacht wird und historisch in beiden deutschen Staaten mit unterschiedlicher Ausprägung funktionierte. Neben dieser eigenständigen Sparte einer Kultureinrichtung, die oftmals Namen der vormaligen Nutzung ihrer Gebäude tragen (Zinnschmelze, Garage, Felsenkeller, Spinnerei, Börse, Villa, Fabrik, Bahnhof, Scheune, Schneiderei) existieren eine Vielzahl und Vielfalt an Vereinen, Initiativen und Kollektiven, die keine feste Spielstätte, keine Einrichtung haben, aber mobil, dezentral, auf Zeit, hybrid und digital Kulturprojekte mit sozialer Wirkung verantworten. Es gibt natürliche Schnittstellen zwischen diesen Formen, denn oftmals gründen sich neue Initiativen in genau diesen soziokulturellen Zentren. Und umgekehrt: So wird aus einer ehrenamtlichen Initiative von Künstler*innen ein neuer fester Ort für Kultur und Begegnungen, wo sie zuvor nicht stattfanden. Aus dieser Perspektive verbessern soziokulturelle Akteur*innen die kulturelle Grundversorgung, bilden Outreach-Programme als Markenkern oder ermächtigen Menschen vor Ort, ihr Kulturprogramm, die Umnutzung von Räumen selbst in die Hand zu nehmen. Drei wichtige Überschriften lauten hierzu: sozialer Zusammenhalt, lokale Identität und lebenslanges Lernen - und dies in zivilgesellschaftlicher Eigenregie.
Das ist attraktiv, empowernd und schafft örtliche Kulturereignisse, die authentisch sind. Die große Erwartung an ihre Leistung hinsichtlich gesellschaftlicher Integration, Diversität, Inklusion, Innovation und Zugänglichkeit steht leider einer Abhängigkeit von zu knappen oder unzuverlässigen Fördermitteln und Förderpartner*innen und mitunter einem veralteten Begriff von Kultur gegenüber. Es liegt auf der Hand, dass nicht nur die individuellen Zugänge zu Kultur sehr voraussetzungsreich sind, sondern auch die professionelle soziokulturelle Gestaltung eines Kulturlebens. Es ist zu wenig im Bewusstsein, dass aus diesem Bereich die Kultur insgesamt weiterentwickelt wird. Zahlreiche experimentelle, partizipative Formate der „freien Szene“ sind nunmehr in großen Kulturhäusern als „Audience Development“, Community Arbeit oder Vermittlungsmethoden etabliert, Impulse von hier landen erprobt dort und öffnen Kulturorte neuen Nutzer*innen. Der Kern aber soziokultureller Arbeit ist nicht die Vermittlung anderer Stoffe und Gegenstände, sondern die Gesellschaft und ihre Ausdruckformen und Alltagskulturen selbst.
„In Bezug auf soziale Fragen ließe sich vereinfacht feststellen, dass diese zur DNA der Soziokultur gehören und demnach in allen Projekten eine Rolle spielen. Angesichts der zunehmenden Spaltung der Gesellschaft aufgrund wachsender sozialer Ungleichheiten greift diese Feststellung allerdings deutlich zu kurz. Es geht eben nicht um die Thematisierung einzelner konkreter sozialer Lebenszusammenhänge. Vielmehr handelt es sich um allgemeingültige strukturelle Defizite, die zunehmend den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden und damit das Fundament der Demokratie brüchig werden lassen.“ (Blumenreich/Mohr 2022:40)
Die Soziokultur und Kulturelle Bildung haben sich in den letzten Jahrzehnten strukturell etabliert, bilden eine wichtige Größe für die Zugänglichkeit und Mitgestaltung von Kultur und Gesellschaft. Und es scheint aktuell aufgrund der komplexen gesellschaftlichen Situation und einem diffusen, aber hohen Tempo von Veränderungen notwendig, nicht nur die Arbeitsweisen, sondern auch Bezüge und Aufgaben zu betrachten. Sie hat nämlich konkret mit den oben zitierten strukturellen Defiziten und einer brüchigen Demokratie zu tun. Wenn man so will, übernehmen die Kulturschaffenden eine permanente Übersetzungs- und Transformationsleistung zwischen Herausforderungen außerhalb der engen Kulturarbeit und den gestalterischen Möglichkeiten innerhalb der Gesellschaft, individuell und empathisch sozial.
Ermächtigung: Die Macht Vieler als Strategie für sozial-kulturelle Gerechtigkeit
Kultur selber machen, Kultur für alle, Kulturelle Teilhabe und -gabe und „Cultural Democracy“ - diese Schlagworte und Begriffe umschreiben das, was Soziokultur als eigenständige Sparte in der Kunst und Kultur charakterisiert. Sie ermächtigt Menschen, ihren Anspruch auf Aufmerksamkeit und Mitbestimmung mit kulturellen Mitteln, also durch künstlerische Methoden und Perspektiven deutlicher sichtbar zu machen. Möchte man eine Trennlinie zur Kulturellen Bildung ziehen, dann liegt sie eher in dem Bildungsanspruch, dem Anspruch einer kulturellen, individuellen Lernerfahrung. Diese kann Teil soziokultureller Arbeit sein, jedoch wiegt der gemeinschaftliche, auf die Umgebung und das Zusammenleben bezogene Gestaltungsanspruch hier stärker.
Für partizipative Kulturarbeit ist ein demokratisches Grundverständnis konstitutiv. Schon immer gilt: Wer nach seiner eigenen Geschichte und Erfahrung gefragt wird und erlebt, dass sie relevant sind in der Umgebung, in der Gesellschaft, fühlt sich gehört und gesehen. Wem zugetraut wird, bei globalen Herausforderungen Lösungen für die eigene Nachbarschaft, Stadt, Region mitzudenken, der fühlt sich ermächtigt.
Dieses Potenzial in eine Gestaltungskompetenz zu wandeln, ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Es geht darum, sich in Beziehung zu setzen und diese Beziehung bewusst ausdrücken zu können. Was nachfolgend für den Kunstunterricht formuliert ist, lässt sich auch auf die Kulturelle Bildung und Soziokultur übertragen, die mit der Kunst und ihrer Anforderung einer aktiven Auseinandersetzung arbeiten:
„Da die Welt bei jedem Menschen unterschiedliche Eindrücke hinterlässt, erscheint die Wirklichkeit in Darstellungen mannigfaltig. Es gibt so viele Bilder von der Welt, wie es Betrachter*innen derselben gibt. Gestaltung beschränkt sich nicht auf die Illustration von Sachverhalten, sondern verlangt, dass die Menschen sich selbst zu den Sachverhalten in Beziehung setzen. ‘Gestaltenkönnen‘ ist damit kein Wissensstoff, der schlicht von der Lehrperson zur Schülerin/zum Schüler, zum Beispiel mithilfe von Vorlagen, transportiert werden kann. Gestaltung erfordert Teilhabe“ (Marr 2023, Band 1:214).
Eine erfolgversprechende Bildungssituation erfordert Teilhabe, sie ist ohne das persönliche Involviert-Sein nicht denkbar. Nun ist der Gegenstand der Soziokultur neben den Künsten auch die Gesellschaft selbst. Hier werden in der Kulturarbeit gemeinsam Settings kreiert, in dem ein „Sich-in-Beziehung-Setzen“ mit sich und anderen konstruktiv und ein gestalteter Ausdruck möglich ist. Das verlangt eine große Aufmerksamkeit für Unterschiede, für Ausschlüsse, Vorannahmen und Zuschreibungen, die naturgemäß vorhanden sind. Aber wir sind eine diverse Gesellschaft. Und es ist das Verdienst aktivistischer (Kultur-)Arbeit von Communities, dass die Zielgruppen-Logik nicht mehr durchgängig greift. Das bedeutet, dass Menschen glücklicherweise nicht mehr ausschließlich mit einer marginalisierenden Identitätsfacette als homogene Zielgruppe für ein auf sie zugeschnittenes Angebot (oder Förderprogramm) angesehen werden. Diese Zielgruppe, diese Gesellschaft ist divers auf allen Ebenen. Es bewegt sich auch in der Kultur langsam etwas in Richtung bessere Repräsentation bzw. wird diese deutlicher eingefordert. Die Diversität auf Ebene der Stakeholder, der Kulturmacher*innen und -Bildner*innen ist längst da. Aber eine „alte“ Realität ist träge, Strukturen und ihre „Inhaber*innen“ sind langsam und offenbar noch immer besorgt um die eigenen Privilegien.
„Immer mehr und immer unterschiedlichere Menschen sitzen mit am Tisch und wollen ein Stück vom Kuchen. Wie kommt man eigentlich auf die Idee, dass es ausgerechnet jetzt harmonisch werden soll? Diese Vorstellung ist entweder naiv oder hegemonial - Multikulti-Romantik oder Monokulti-Nostalgie. Die Realität ist ganz offensichtlich eine andere. (…)
Es offenbart sich ein paradoxer Effekt: Die Teilhabechancen verbessern sich und gleichzeitig wird viel mehr über Diskriminierung aufbegehrt und diskutiert als vorher - und zwar nicht obwohl, sondern weil sich die Situation verbessert hat. Menschen, die gut integriert sind und mit am Tisch sitzen, haben den Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe. Sie haben also gesteigerte Teilhabe- und Zugehörigkeitserwartungen. Die Realität ist aber fast immer träger als die Erwartungen. Das heißt, dass die Erwartungen schneller steigen als die realen Teilhabechancen.“ (El-Mafaalani 2019)
Die Verhandlung von Wirklichkeiten insbesondere im Feld der Kunst und Kultur bearbeitet also immer Machtverhältnisse und die viel genannten Deutungshoheiten mit. Hierbei geht es einerseits um Machtverhältnisse und Bedeutung im Kulturbetrieb selbst. Andererseits um eine über sie hinausreichende Mitwirkung in den gesellschaftlichen, bildungstechnischen und ökonomischen Strukturen der Entscheidung. Eine enorme Bandbreite an Feldern, die durch den Anspruch Kultureller Teilhabe und Mitwirkung an demokratischer, gesellschaftlicher Gestaltung berührt ist.
Gesellschaftliche Verantwortung - Politische Dimensionen und aktivistische Arbeit der Soziokultur
Die Idee davon, was Kultur im Sinne künstlerischer Arbeit und Repräsentation in unserer Gesellschaft ist, ist ebenso vielfältig und uneindeutig wie die Gesellschaft selbst. Das ist komplex und anstrengend, will man dem eigenen Anspruch nach Beteiligung und Mitgestaltung gerecht werden. Es braucht für die Kulturelle Teilhabe oder Mitwirkung, also für die demokratische Gesellschaft, bewusste Prozesse in Einrichtungen, in Entscheidungs- und Konzeptionsstrukturen und nicht Extraprojekte, die bestimmte „Zielgruppen“ für kurze Zeit aufs Foto bringen. Dies ist auch eine alte, aber zum Glück langsam verblassende Förderlogik, die unfaire Realitäten geschaffen und Identitäten reduziert hat.
Das Integrationshaus Köln hat im Jahr 2021 den „Vielheitsplan Kultur - rein praktisch!“ herausgebracht. Mit dem Untertitel „Wir sind nicht fürs Foto da, aber auch.“ ist treffend auf den Punkt gebracht, dass Diversität nicht Dekoration sein kann und die vorhandenen Privilegien einiger ins Bewusstsein rücken müssen. In der Dokumentation ist eine Rede von Mely Kiyak abgedruckt, in der heißt es: „Eine Weltsicht, die Geschlecht und Geschlechtsidentität, kulturellen Hintergrund, Hautfarbe, Ethnizität und soziale Klasse nicht berücksichtigt, kann keine realitätsnahe Weltsicht sein“ (Kiyak 2021:5).
In dem Vielheitsplan insgesamt findet sich eine substanzielle Reflexion einer demokratischen Kulturarbeit und eine Art Bedienungsanleitung für die Kulturarbeit von und mit Vielen - und zwar aus Sicht der bisher eher als dankbare Zielgruppe Angesehenen. Form und Inhalt spielen sehr ernsthaft und mit Nachdruck mit der paternalistischen Haltung klassischer Kulturarbeit und Kulturentwicklungspläne.
Das Berliner „Sinema Transtopia“ des Vereins bi`bak steht für ein Kino- und Filmverständnis, das soziokulturell ist. Das Kino ist ein Ort der Gesellschaft, der Diskussion, der Begegnung, der Kunst der zugänglichen Auseinandersetzung. Mit dem „Cinema of Commoning“ erschafft es einen filmkünstlerischen Gesellschaftsraum, der von einer lokalen und internationalen Gesellschaft getragen und gestaltet wird. Alternative Formen und Inhalte von Film erschaffen einen eigenen Diskussionsraum, der demokratisch-politisch ist.
Das Soziokulturelle Zentrum S27 in Berlin ist ausgezeichnet darin, die Grenzen einer engen Vorstellung von Kunst und Kultur zu erweitern. Das Team nutzt die Kunstperspektive und Ästhetik von Kunst und ihrer Beschreibung, um Wirklichkeitsgrenzen des Machbaren für und mit Menschen zu verschieben. Die Überschreitung der nicht mehr zeitgemäßen Grenzen zwischen den Bereichen wie Ausbildung (Berufsbildung), Jugendarbeit und Stadtplanung sind konstitutiv für ihre Arbeit. Eines ihrer Projekte ist die Weltschule. Sie greift die unhaltbare Situation von geflüchteten Jugendlichen auf, lange Zeiten auf einen Schulplatz warten zu müssen, also nicht lernen zu dürfen und zu können, während für andere Gleichaltrige Schulpflicht besteht. Die Weltschule ist eine internationale Schule, die mit Lehrenden und Lernenden aus verschiedenen Ländern eine Schule mit eigenen Fächern bildet. Sie will die staatliche Schule nicht ersetzen, geht aber mit vorhandenen Kompetenzen und Ressourcen produktiv und durchaus provokativ um.
Die Beispiele könnten noch ergänzt werden durch zahlreiche Initiativen und Kollektive, die ihre Arbeit als Arbeit mit und an der Gesellschaft verstehen. Sie agieren in ländlichen und urbanen Räumen und stehen in der ersten Reihe in der Arbeit mit sehr herausfordernden gesellschaftlichen Situationen. Dass ihnen eine gesellschaftspolitisch größere Aufmerksamkeit zukommen sollte, steht außer Frage. Sie verändern Gegenstände und Arbeitsweisen der Kulturarbeit insbesondere mit ihrem Blick auf Internationalität in ihren Teams und ihren Netzwerken sowie mit einer kollaborativen Arbeitsweise, die viele Stimmen und Expert*innen bei der Durchführung von Vorhaben einbindet.
Grenzüberschreitung: Soziokultur als Hebel für Entwicklungen
Eine kritische Reflexion unserer Gesellschaft und unseres Kulturverständnisses gehört zu den großen Herausforderungen der soziokulturellen Arbeit. Sie ist in den letzten, insbesondere auch Corona- und jetzigen Post-Corona-Jahren noch einmal wichtiger geworden. Und dies gerade, weil sich die politische Situation verschärft hat und Extremismus und Radikalisierung keine Randerscheinungen mehr sind. Hinzu kommt wirtschaftliche Ungleichheit, die nicht individuell aufgelöst werden kann.
„Die vorherrschenden Krisen und Zäsuren – bedingt durch Corona, Klimafolgen und sich verstärkende soziale Ungleichheiten – führen zu einer gesamtgesellschaftlichen (Re-)Politisierung und damit zu einem wachsenden Bedarf für kulturelle Formate der kritischen Reflexion der Gesellschaft. Das Feld der Soziokultur sollte sich hier selbstbewusst positionieren.“ (Blumenreich/Mohr 2022:40)
Die Soziokultur ist kein Spartenbetrieb, sondern bietet alle künstlerischen Formate zur symbolischen Verhandlung von Wirklichkeiten an. Das macht sie attraktiv für Anforderungen aus der Politik und Spartenkultur, die schwierige „Integrationsaufgaben“ gern auslagert, jedoch nicht die größere Umgebung in den Blick nimmt. Nicht alles kann auf individueller bzw. sozialer Ebene gelöst werden, und auch nicht in der Kunst und Kultur. Sie existiert ja gerade nicht außerhalb größerer systemischer und wirtschaftlicher sowie politischer Zusammenhänge, für die sie kein Entscheidungsmandat hat, allerdings eine Reihe von guten Mitgestaltungsformaten und Innovationsperspektiven parat hätte. Dies wird noch viel zu wenig erkannt und entsprechend ausgestattet. Denn Kulturschaffende wagen wichtige Grenzüberschreitungen, ein ressortübergreifendes Denken und Handeln. Wenn sie etwa mit Technologie-Expert*innen zusammenarbeiten, um ein Notrufsystem für Einsame zu entwickeln und im Anschluss Kultur als Gemeinschaftserlebnis anbieten. Es gibt Grenzüberschreitungen zu Data Literacy und Stadtplanung, wenn Klimadaten vom Balkon in die Stadtgestaltung für mehr und „kulturell“ gestaltete Grünflächen einfließen können. Denn die soziokulturellen Akteur*innen, Kulturschaffende und viele Künstler*innen-Kollektive haben die Verbindung in die Gesellschaft, kennen örtliche und persönliche Bedürfnisse, erkennen die soziale Bedeutung und bilden Kollektive aus unterschiedlichen Expert*innen. Sie sind Bindeglied und Innovationslabor, glauben an das vermeintlich Unmögliche und erschaffen Prototypen, Modelle von „Produkten“ und Services für eine faire Gesellschaft. Bilder für bestehende Ungerechtigkeiten und mögliche Veränderungen - also Prototypen - finden sich in Kunst, Kultur und Soziokultur in ausreichendem Maß. Formate, diese Bilder und damit andere Möglichkeiten zu durchdenken und praktisch zu erproben, das ist die Königsdisziplin der Soziokultur. Hier braucht es noch mehr Grenzüberschreitungen bzw. die durchaus politische Positionierung als systemrelevante Mitgestalter*innen in anderen Sektoren und Ressorts. Die Voraussetzung für die Mitwirkung in anderen Sektoren wäre auch eine an manchen Stellen nüchterne Revision der eigenen Angebote und Stärken, um mit klaren Kompetenzen in anderen Bereichen, denen diese fehlen, anschlussfähig zu sein. Dies gleicht eher einem Portfolio als einer abschließenden Aufgaben- und Programmbeschreibung einer Einrichtung.
Das auf diese Weise Prozesshafte soziokultureller Arbeit gewinnt an Bedeutung in jeder Hinsicht. Nicht allein in Ergebnissen eines Produkts (Aufführung, Ausstellung, Podcast), sondern in Zwischenergebnissen oder Zwischenzielen zu denken, widerspricht dem bisher insbesondere politisch proklamierten Bedürfnis nach klaren Antworten in Krisenzeiten. Es ist aber insbesondere in unwägbaren Realitäten eine wichtige Kompetenz und Bewältigungsstrategie, in Prozessen an Fragestellungen zu arbeiten, als fertige Angebote als Antworten zu liefern. Dies bedeutet auch die Perspektive auf Prozesse zu verändern, die nicht als Warteschleife bis zum richtigen Ergebnis definiert werden sollten. Vielmehr zeigt die Bewegung selbst, das Entwickeln am präsenten Beispiel im kollaborativen Prozess mit Vielen den Gestaltungsgewinn und die Gestaltungssouveränität. Wo ein neuer Prozess beginnt, liegt im Ermessen der Kollaborateur*innen, die möglicherweise feststellen, dass weitere oder andere Expert*innen zum Weiterkommen hinzugezogen werden müssen. Eine und die nächste gute, passende und zu bewältigende Fragestellung zu finden, ist dann die Aufgabe in einer Kette von vielen möglichen Antworten. Positiv formuliert entsteht ein großes Spielfeld von Möglichkeiten, statt ein Pfad zur richtigen Antwort.
Profis für konkrete Utopie: Neue Narrative und neue Akteur*innen
Dabei erscheint es angesichts des enormen Drucks schwer, die utopische Kraft und das Spielerische in den Aktivitäten zu erhalten, das sich über Jahrzehnte ausgebildet hat. Aber gerade dies ist auch ein wichtiger Faktor, um Menschen ins eigene Denken und kreative Lösungshandeln zu bringen. Der Druck, anscheinend ständig Position beziehen zu müssen, eine Meinung zu haben oder eine starke Aktivität für oder gegen oder mit jemanden an den Tag zu legen, lässt Phantasie veröden. Diese muss jedoch umso stärker trainiert und ausgebildet werden. Sie ist Kern für Veränderung und Offenheit sowie für neue positive Narrative. Denn es braucht eine Vorstellungskraft und bestenfalls auch eine echte Simulation des Möglichen, des Besseren oder auch Schlechteren, um überhaupt an Selbstwirksamkeit glauben zu können. Dieses Gefühl ist dringend vonnöten, um die Gesellschaft zu gestalten, daran zu glauben, dass Einzelne einen Unterschied machen und Unterschiede Anregung und nicht Einschränkung oder Gefahr bedeuten.
Es treten in diesem Zusammenhang in den letzten Jahren zahlreiche in der Kultur bisher nicht so stark beachtete Kollektive hervor, die temporär oder länger zusammenarbeiten und Plattformen für Communities bieten. Sie stellen Sichtbarkeit her für bisher ungewöhnliche Ästhetiken und bezeichnen sich selbst nicht zwingend als soziokulturelle Akteur*innen. Zu den oben kurz skizzierten Macht- und wirtschaftlichen Verhältnissen sind die jungen Kollektive, Initiativen und aktivistischen Kulturschaffenden eine wichtige Kraft. Sie holen die lange bestimmenden Macht- und Deutungsverhältnisse mit enormer Kenntnis und Expertise auf die Tagesordnung. Dies ist eine markante Entwicklung, die mehr Aufmerksamkeit etablierter Organisationen verlangt.
Kultur und Gesellschaft haben sich immer auch durch die mutigen Grenzwanderungen von Kulturschaffenden weiterentwickelt. Aus der Perspektive einer Kulturförderung würde man hier ein Augenmerk auf junge, international geprägte Kulturschaffende legen - bestenfalls selbst in Funktion der Kulturförderer. Sie sind global vernetzt, betrachten hier Etabliertes mit einer neuen, machtkritischen Perspektive und öffnen so Spielräume für Kulturentwicklung insgesamt. Ähnliches gilt für das Augenmerk auf diejenigen, denen man künstlerischen Ausdruck immer noch zu wenig zuschreibt, wenngleich sich hier in den letzten Jahrzehnten sehr viel Gutes getan hat. Ob dies einhergeht mit Behinderungen oder Alter, Vitalität oder Mobilität und digitaler Fitness, sei kritisch dahingestellt. Auch hier gilt es, die Perspektive auf Zielgruppen zu verändern in eine auf Stakeholder der Kultur und Gesellschaft. Das sagt sich leicht, ist allerdings eine der großen Verlern-Übungen. Denn auch hier geht es um überholte Menschenbilder und daran geknüpfte strukturelle Begrenzungen und Diskriminierungen.
Schlussfolgerungen
Soziokultur als Konzept demokratische Räume für den kulturellen Austausch und die Sichtbarkeit von Bedürfnissen, Kompetenzen und Fragestellungen zu kreieren, ist eine Aufgabe mit politischer Dimension und aktuell großer Bedeutung. Denn es ist eine auf die Gesellschaft und ihre positive Identifikation mit sich selbst bezogene Herausforderung. Es ist Teil des Erfolgs der soziokulturellen Akteur*innen, dass sie die Vielfältigkeit der Kulturen in einer Gesellschaft sichtbar und wirkmächtig gemacht haben. Wie in allen zu Struktur gewordenen Formen von Kultur muss sie sich immer wieder fragen, ob die Arbeitsweisen, das Personal, die Orte und die Programme noch passen. Dies ist angesichts des äußeren (politisch, gesellschaftlich) und inneren (finanziell, institutionell) Drucks überhaupt nicht banal.
Eine Kulturarbeit der Zukunft, die zum Glück schon begonnen hat, zeichnet sich aus durch international, divers geprägte Akteur*innen als Expert*innen auf allen Positionen und nicht mehr als Zielgruppe. Sie öffnet soziale, individuelle und vor allem auch ästhetische Spielräume, in denen der Druck eines Außen gemildert und geschützt thematisiert werden kann. Ihre Verantwortlichen verstehen sich auch als Repräsentant*innen, die ihre Rolle nutzen, um anderen Sichtbarkeit und Wirksamkeit zu verschaffen. Insofern wirkt diese Arbeit immer auch aktivistisch in die Gesellschaft hinein. Ein Wechselspiel von Generationen ist bestenfalls belebend und nicht konkurrenziell. Hier sind Arbeitsweisen der Kollaboration in Prozessen wichtig. Dabei ist die klassische Trennung von Programmmachen einer kleinen Gruppe von Verantwortlichen und anschließender Programm-Nutzung durch „alle anderen“ aufgeweicht, mitunter längst aufgehoben. Die Frage ist: Wie können bestehende Strukturen an Personal, Orten, Material und Wissen Sektor übergreifend zu einer Ausgangsfrage mit dem Ziel gesellschaftlicher und kultureller Mitgestaltung kollaborativ arbeiten? Im Idealfall ist es so: Wechselnde Expert*innen aus Wissenschaft (von Klima bis Soziologie), Kunst (von Konzept bis Happening, Kollektiv und Einzelkünstler*in), Wirtschaft (von Technologie bis Mobilität) und Politik (von Wohnen bis Landwirtschaft) können im soziokulturellen Setting wirksam und nachhaltig die Gesellschaft nach dem Bottom-up-Prinzip gestalten. Dies verlangt ein noch stärkeres Selbstverständnis - aller Beteiligten im Übrigen - als Katalysator für gesellschaftliche Prozesse mit den Wegen künstlerischer und kultureller Arbeit.
Kultur, Soziokultur verstehen sich als Raum für produktiven und respektvollen Streit, für Anstrengung und die Erholung davon. Sie bieten inmitten einer kapitalisierten Welt nicht kommerzielle Settings, um aus individuellen und sozialen Bedürfnissen, Kompetenzen und Unterschieden Kulturen des Zusammenlebens zu schaffen. Dieses Profil gilt es zu schärfen und weder zu unterschätzen noch zu überfrachten mit „Heilsversprechen“ (denen eine auf Innovation und inhaltliche Exklusivität ausgelegte Förderpolitik natürlich Vorschub leistet).
Die Qualität soziokultureller Arbeit besteht aber auch aus der hochprofessionellen Balance zwischen sozialer und künstlerischer Arbeit. Die Räume für Vorstellungskraft und Ausdrucksqualität in der Gesellschaft zu öffnen, braucht mehr und mehr Zeit und Schutz. Kunst und Kultur sind und bleiben auch Zumutung und Überwältigung in einem menschlichen Sinne und Spiel mit Wahr- und Wirklichkeiten in einem freiheitlichen Sinn. Neben allen schwierigen gesellschaftlichen Aufgaben ist es vonnöten und unglaublich kraftvoll, dass Neugier und Offenheit für ein wertfreies Mitgerissen-Werden erhalten bleibt. Kunst und Kultur/en von Menschen berühren im besten Falle, sinnlich, menschlich eben. Es ist angesichts des oben skizzierten allgemeinen Drucks und dem Ruf nach Lösungen jeglicher Art unbedingt notwendig, diese Freiräume der Kunst offen zu halten. Sie können Dialog, Empathie und Entlastung ermöglichen.