Soziale Kulturarbeit mit trans* Jugendlichen - Potentiale von Drag in der Offenen Jugendarbeit
Abstract
Der Artikel untersucht illustrativ und explorativ die Potentiale von Drag für trans* Jugendliche im Feld der Offenen, auf queere Jugendliche ausgerichteten, Jugendarbeit. Drag beschreibt eine kulturelle Performance-Praktik, die, entstanden in queeren subkulturellen Zusammenhängen, Geschlecht performativ verhandelt. Im Kontext heteronormativer gesellschaftlicher Verhältnisse, welche die alltäglichen Möglichkeitsräume trans* Jugendlicher einschränken, erweist sich über die Soziale Kulturarbeit, die darauf abzielt, ihren Adressat*innen Zugang zu kulturellem Ausdruck und gesellschaftlicher Teilhabe zu ermöglichen, Drag-Kultur im Feld der Offenen Jugendarbeit als anschlussfähig. Anhand von Interviews und Beobachtungen wird aufgezeigt, wie Drag auf unterschiedliche Weisen Möglichkeitsräume für trans* Jugendliche erweitern kann. Die Daten wurden im Rahmen von durch Drag-Performer*innen angeleiteten Workshops in einem queeren Jugendzentrum Berlins erhoben und in Anlehnung an das qualitative Forschungsdesign der Grounded Theory ausgewertet. In Anschluss an Erkenntnisse aus der Drag- und Trans*Forschung wird aufgezeigt, wie durch den spielerischen, kreativen und den szenebezogenen, subkulturellen Charakter von Drag im Feld der Offenen Jugendarbeit ein alternativer Raum des selbstbestimmten geschlechtlichen und künstlerischen Ausdrucks für trans* Jugendliche entstehen kann, der sowohl in gewissen heteronormativ und rassistisch geprägten Lebensbereichen als auch in bestimmten Narrativen von Transgeschlechtlichkeit tendenziell verunmöglicht wird.
Geschrieben wird aus einer trans*männlichen Positionierung heraus und mit dem Erfahrungszusammenhang, in lokale Drag-Szenen eingebunden sowie als pädagogische Fachkraft am Zustandekommen der erforschten Drag-Angebote beteiligt gewesen zu sein.
In der deutschsprachigen Landschaft Sozialer Arbeit rücken LSBTQ* Jugendliche immer mehr als Zielgruppe in den Fokus und finden Eingang in sozialarbeitswissenschaftliche Fachliteratur (vgl. exemplarisch Deinet et. al. 2021). Lange ignoriert, entstanden in den letzten Jahren mehr Räume für queere Jugendliche, die nicht mehr nur selbst- und aktivistisch organisiert sind, sondern auch etwa in Form von queeren Jugendzentren institutionalisiert wurden. Zudem ist seit 2019 in der Kinder- und Jugendhilfe festgehalten, die Lebenslagen nicht nur von (cis) Mädchen und Jungen, sondern auch „transidenter, nichtbinärer und intergeschlechtlicher junger Menschen“ (SGB VIII §9, Abs. 3) zu berücksichtigen. Durch die explizite Benennung soll somit eine Berücksichtigung der Lebenslagen LSBTIQ* Jugendlicher stattfinden.
Dem Interesse nachgehend, kreativ-kulturelle Angebote in der queeren offenen Jugendarbeit, die sich an trans* Personen richten, in den Blick zu nehmen und auf ihre Potentiale zu untersuchen, geht dieser Artikel der Frage nach, auf welche Weisen Drag über die Soziale Kulturarbeit in der Offenen Jugendarbeit Möglichkeitsräume für trans* Jugendliche erweitern kann. Er basiert auf meiner Bachelor-Arbeit im Rahmen des Studiums Sozialer Arbeit an der ASH Berlin mit dem Titel „Potentiale von Drag in der offenen Jugendarbeit mit trans* Jugendlichen. Eine qualitative Untersuchung“ und illustriert anhand ausgewählter Ergebnisse einige der in der Abschlussarbeit entwickelten Thesen. Der empirischen Forschung zugrunde liegen zwei begleitete Drag-Workshops in einem queeren Jugendzentrum Berlins, in dem ich als Honorarkraft in der pädagogischen Arbeit mit trans* Jugendlichen tätig war. In Aushandlung mit an Drag interessierten Jugendlichen entstand im Dezember 2022 ein Drag-Workshop unter Anleitung zweier Berliner Drag-Artists an zwei Nachmittagen. Retrospektive Interviews mit zwei Jugendlichen, die daran teilgenommen hatten, sowie ein Beobachtungsprotokoll eines weiteren Drag-Workshops im Frühjahr 2023 stellen die Grundlage der empirischen Forschung dar. Die Workshops waren für trans* und queere Jugendliche zwischen 14 und 21 Jahren offen.
Der Artikel widmet sich im ersten Teil den Lebenslagen trans* Jugendlicher und deren Adressierung im Handlungsfeld der Offenen Jugendarbeit sowie der Anschlussfähigkeit Sozialer Kulturarbeit. Nachdem Drag als queere Subkultur umrissen wird, werden im zweiten Teil die Ergebnisse der qualitativen Forschung zu den Potentialen von Drag für trans*Jugendliche in der Offenen Jugendarbeit beleuchtet und diskutiert.
Lebenslagen trans* Jugendlicher
Die Lebensumstände trans* Jugendlicher sind geprägt durch gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse, die mit dem Konzept Heteronormativität gefasst werden können. Empirische Studien und Untersuchungen belegen, wie LSBTQ* Jugendliche in Deutschland in beinahe allen Lebensbereichen unterschiedlichen Formen der Abwertung ausgesetzt sind (vgl. Krell/Oldemeier 2015; Sauer/Meyer 2016; LesMigras 2012). Die innere und äußere Auseinandersetzung mit dem nicht-normativen Erleben des eigenen Geschlechts und Sexualität im Jugendalter kann zudem mit inneren Anspannungen, Ängsten, und Einsamkeit verbunden sein (vgl. Krell/Oldemeier 2015:16ff.). Trans* Jugendliche sind in besonders hohem Maße davon betroffen (vgl. Focks 2014:9ff.; LesMigras 2012:23). Gerade durch die institutionelle und strukturelle Absicherung von Zweigeschlechtlichkeit haben trans* Personen, die medizinische und/oder rechtliche Transitionsschritte unternehmen wollen, mit besonderen Hürden und Belastungen zu tun, da sie sich gegen die Beharrlichkeit dieser Institutionen und die des psycho-pathologisierenden medizinischen Systems durchsetzen müssen, darin gleichzeitig als Heranwachsende (besonders im rechtlich nicht-einwilligungsfähigen Alter) in Abhängigkeit von ihren Eltern bzw. Sorgeberechtigten stehen sowie sich gegen die Normalitätsvorstellungen ihres sozialen Umfelds durchsetzen müssen (vgl. Kleiner 2020:44; Sauer/Meyer 2016:26ff.). Trans* Jugendliche sehen sich somit einem besonderen Assessment und Erklärungszwang ausgesetzt, und ihr geschlechtliches Empfinden erfährt in der Regel eine Problematisierung von außen. Kürzlich wurde dies gesamtgesellschaftlich besonders in der das Selbstbestimmungsgesetz begleitenden öffentlichen, medialen, politisch aufgeladenen Debatte deutlich, bei der trans* Kinder und Jugendliche in ihren Lebensrealitäten oft verzerrt dargestellt und für rechtspopulistische sowie für sich selbst als ‚feministisch‘ bezeichnende trans*feindliche Positionen instrumentalisiert wurden (vgl. BVT* 2022). Für rassifizierte und/oder migrantisierte trans* Personen besteht zudem aufgrund der Verschränkung von Transfeindlichkeit, (Cis/Hetero-) Sexismus und Rassismus eine höhere und spezifische Vulnerabilität. Auseinandersetzungen mit eigenen Rassismus-Erfahrungen können eine Auseinandersetzung mit der eigenen Gender- und/oder sexuellen Identität verlangsamen, verunmöglichen oder überlagern (vgl. LesMigras 2012:100) und in weiß-deutsch dominierten queeren Räumen kann es aufgrund von weißen Dominanzen und rassistischem Verhalten zu Ausschlüssen bis hin zu Gewalt kommen (vgl. ebd.:199f.).
Soziale Kulturarbeit in der Offenen Jugendarbeit mit trans* Jugendlichen
In der Jugendarbeit wurden das Bestehen heteronormativer Verhältnisse und die Bedarfe und Lebenslagen trans* Jugendlicher lange ignoriert (vgl. Sauer/Meyer 2016:60; Schirmer 2022:92). Die vorwiegend ehrenamtlich selbstorganisierten und finanziell wenig abgesicherten Angebote, die queere Jugendliche adressierten und aus der Community heraus entstanden, wurden in den letzten Jahren zunehmend professionalisiert und institutionalisiert und somit zumindest teilweise in längerfristige Strukturen (auch der Sozialen Arbeit) überführt. Von Nutzenden werden diese als Orte des Ausprobierens, So-Sein-Könnens, des Akzeptiert-Werdens, des Wissensaustausches, des Zur-Ruhe-Kommens und des Treffens von Peers erfahren (vgl. Prasse 2021:206). Diskriminierungsärmere Räume bieten Chancen für Empowerment, Stärkung des Selbstwertgefühls und für Auseinandersetzungen mit der eigenen Identität (vgl. ebd.). Besonders für trans* Jugendliche können etwa queere Jugendzentren wichtige Räume für Fragen und Entscheidungen rund um Identität und Transition sein (vgl. ebd.:209). Allerdings scheinen auch diese Angebotsstrukturen nicht für alle in gleicher Weise zugänglich zu sein und von migrantisierten und LSBTQ* Jugendlichen of Color tendenziell als weniger ansprechend wahrgenommen zu werden (vgl. Gaupp/Krell 2014 zit. n. Schirmer 2017:180).
Diese diskriminierungskritischen, empowernden und subjektorientierten Ansätze lassen sich auch in der Sozialen Kulturarbeit wiederfinden, indem sie im Kontext offener Jugendarbeit vielfältige Gestaltungsräume bieten und in Hinblick auf gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse künstlerische Aushandlungsprozesse und Teilhabe an selbstbestimmter ästhetisch-kultureller Praxis ermöglichen kann (vgl. Josties et. al. 2020:148f.). Besonders Offene Jugendarbeit kann alltägliche Gelegenheit „für zunächst zweckfreies Erproben spontanen ästhetischen Selbstausdrucks“ (vgl. Josties/Menrath 2018:11) jenseits von Selbstoptimierungszwängen bieten. Dabei fokussieren prozessorientierte Vorgehensweisen in der kulturellen Bildung auf die in der ästhetischen Praxis freigesetzten subjektiven Erlebnisinhalte und deren Relevanz für die Lebenssituationen der Adressat*innen und weniger auf ein fertiges Resultat. Darin können zwar kaum strukturelle Probleme gelöst werden, Erfahrungen jedoch auf künstlerisch-symbolische Weise zum Ausdruck gebracht und öffentlich und kritisch thematisiert werden (vgl. Josties 2013:356).
(Sub-)kulturelle Praktiken von Drag und trans* Seinsweisen
Drag kann als eine kulturelle Praktik umrissen werden, die, entstanden in queeren subkulturellen Zusammenhängen, Geschlecht performativ verhandelt. Die Techniken dieser vergeschlechtlichen Darstellungen beinhalten ein Umarbeiten des eigenen Körpers durch Kleidung, Kosmetik und Makeup und eine Entwicklung eines Charakters, der anschließend etwa auf einer Bühne performt werden kann. Drag wird oft als eine gegengeschlechtliche Inszenierung definiert, wobei herkömmlicherweise zwischen Drag Queen und Drag King unterschieden wird (vgl. Schirmer 2010:15,24). Drag ist jedoch eine vielgestaltige Kultur, deren Formen eine hohe Diversität aufweisen und oft nicht in der Logik des gegengeschlechtlichen Performens aufgehen, gerade in Hinblick auf trans* und nicht-binäre Personen. Somit kann eher von einer „multiplicity of gendered expression“ (Bukkakis 2020:144) durch Drag gesprochen werden. Beiträge zu Berliner Drag Szenen (vgl. Schirmer 2010; Bukkakis 2020) beleuchten, wie kollektive Drag-Praktiken für die darin Involvierten einen Erfahrungsraum bieten, in dem fließende Übergänge zwischen Bühnen- und Alltagserfahrungen stattfinden und sich ermöglichende Aspekte in Bezug auf (trans*) geschlechtliche Verortungen ergeben können. An der Schnittstelle zwischen Drag als einer „Performance form that has a particularly strong relationship with its social context“ (Bukkakis 2020:142) und trans*Seinsweisen eröffnen sich verschiedene Bedeutungs-Dimensionen, Facetten und Potentiale für die darin Involvierten: Sei es, dass Spiel und Performance ihren vergnüglichen Zweck in sich selbst finden, sei es als Rahmen, in dem geschlechtliche Seinsweisen ausprobiert werden können und der die darin Involvierten vor heteronormativen, sanktionierenden Zugriffen von außen schützt, oder auch als ein Erfahrungsraum, in dem durch Spiel, Performance und die sozialen Szenebezüge ansonsten verunmöglichte geschlechtliche Seinsweisen realisierbar, lebbar und wirklich werden können, wenn nicht sogar zu einem gemeinsamen Zuhause (vgl. Schirmer 2010:291; Bukkakis 2020:141).
Die Drag-Workshops
Die Daten der explorativ und qualitativ angelegten Forschung wurden im Rahmen von durch Drag-Performer*innen angeleiteten Workshops in einem queeren Jugendzentrum erhoben und in Anlehnung an das qualitative Forschungsdesign der Grounded Theory (vgl. Breuer et. al. 2019; Alheit 1999) ausgewertet. Die Workshops wurden von Drag-Performer*innen angeleitet, die selbst in unterschiedlichen Weisen in lokale Drag und Performance Szenen eingebunden sind und dies zum Teil auch mit einer politischen Motivation verfolgen. Die Anleitenden sind als trans* und migrantisiert/of Color zu verorten und ihr Engagement in lokalen Drag-Szenen zielt unter anderem darauf ab, eine Bühne für in dieser Weise marginalisierte Drag-Artists und Neulinge zu kreieren.
Der erste Workshop erstreckte sich über zwei Nachmittage mit gemeinsamem Einstieg in Drag History, Beispiele und Erzählungen aus dem Drag-Leben der Anleitenden, sowie einem kreativen Teil für die Teilnehmenden, sich anhand von Kostüm, Basteln, Haare und Makeup in eine Drag-Figur zu verwandeln. Der zweite Workshop ein paar Monate später entstand aus einer anderen Kooperation heraus und war als Einstieg in Drag konzipiert, wo es um Drag als Veranstaltungs- und Performance-Kultur ging sowie darum, einen ersten Zugang zum eigenen Drag-Charakter zu bekommen. Der Workshop endete mit abschließenden Performances der Teilnehmenden.
Meine Forschung war durch die folgenden Besonderheiten und Herausforderungen geprägt: Ich war in verschiedenen Rollen (pädagogische Fachkraft, Forschender, Peer) als weiße, deutsche (trans*maskuline) Person im Forschungsprozess präsent. Zudem machte ich das Wissen, die Erfahrung und die Arbeit der die Workshops anleitenden Drag Performer*innen, die als migrantisierte und trans*/gender-nichtkonforme Personen of Color in prekäre Arbeits- und Lebensbedingungen eingebunden sind, zum Gegenstand meiner Forschung, ohne diese aufgrund der Anonymisierung gebührend nennen oder kompensieren zu können. Schließlich sind alle drei der in der Forschung beteiligten (hier pseudonymisierten) Jugendlichen (Tom, Noah und Emre) volljährig und nicht mehr in der Schule, alle drei identifizieren sich als trans*maskulin, queer, zwei davon auch als nicht-binär. Ihnen wurde das Geschlecht weiblich bei der Geburt zugeordnet. Eine der drei Personen ist in Deutschland von Rassismus betroffen. Erfahrungen und Perspektiven von trans*weiblichen Jugendlichen und/oder solchen, die noch in der Schule sind, waren an der Forschung nicht beteiligt und sind somit nicht repräsentiert.
Aus der Auswertung des Materials ergaben sich fünf Kategorien, die aufschlussreich in Bezug auf die Frage nach der Erweiterung von Möglichkeitsräumen durch Drag für trans* Jugendliche in der Offenen Jugendarbeit sind. Mit Bezug auf vier dieser Kategorien werde ich das im Folgenden illustrativ aufzeigen und diskutieren.
Aushandlungen von Männlichkeiten
Im Rahmen der Drag Workshops haben Teilnehmende Formen von Drag praktiziert, die dem Drag Kinging zugeordnet werden können. Sie haben Männlichkeiten mit verschiedenen ästhetischen und medialen Mitteln dargestellt, wie etwa fake Bärte, Make-Up, Kleidung, männlich konnotiertes Auftreten und die Wahl eines Songs oder Audios, zu dem performt wird.
Im Laufe des Workshops geht Tom einer maskulinen Darstellung nach, indem er sich einen Schnauzer aufklebt und männlich konnotierte Alltagskleidung und Accessoires, wie etwa Sonnenbrille und Bomberjacke trägt (vgl. Beobachtungsprotokoll). Dieses Auftreten wird von Noah klar als „Macho“ bzw. „Macker“ (ebd.) betitelt und von ihm im Anschluss mit negativen Erfahrungen assoziiert, während dennoch eine Art begeisterte Bewunderung in Bezug auf Toms Auftreten zu beobachten war. Toms Intention besteht darin, „‘toxic masc‘ sein [zu wollen] und dann einen Übergang zu einer softeren Maskulinität dar[zu]stellen“ (ebd.). Seine abschließende Performance zeigt, wie er dies umsetzt, die Figur verkörpert und sich aber auch von ihr distanziert: In Begleitung eines deutschen Rap Songs tritt er erst als boxender, taffer, selbstbewusster Typ auf, dessen Verhalten nach und nach bröckelt und darin mündet, dass er sich zu einem Gitarrenlied den Schnauzer vom Gesicht reißt und mit einem Kuscheltier im Arm am Fuße des Boxsacks sitzt und weint (vgl. ebd.). Tom stellt in seiner Performance eine Männlichkeit dar, die durch Stark-Sein-Müssen gekennzeichnet ist, und die er nach eigenen Aussagen als negativ und erschöpfend wahrnimmt, da es anstrengend sei, keine Gefühle zeigen zu dürfen. Mit dieser Männlichkeit bricht er, in dem er ein neues, positiveres, für ihn stimmigeres Bild von Männlichkeit entwirft: eine ‚softere‘ Männlichkeit, eine, die sich verletzlich zeigen kann (vgl. ebd.).
Auch Noah maskulinisiert sich durch Make-up und Aufzeichnen eines Bartes zu einem „Nature Boy“ (Interview Noah). Durch das Zusammensetzen verschiedener Elemente wird er zu einer Figur, die aus einer Mischung aus Pflanzen-Elementen, Junge und Ziege besteht (ebd.). Durch das Hinzufügen von Pflanzen- und Tier-Elementen zu seinem jungenhaften Charakter findet eine Re-Imagination von Männlichkeit nach den eigenen Wunschvorstellungen statt, die sich, ähnlich wie in Toms Fall, ebenfalls eher an Weichheit als an Härte orientiert: „(…) so flowy, organisch und irgendwie so weiche Männlichkeit, nicht so komisch“ (ebd.). Diese Wünsche nach einer positiven Besetzung von Maskulinität zeigen sich auch in einer weiteren Figur Noahs, in der er einen Großvater darstellt, den er sich selbst wünschen würde: „Ich bin (…) nicht so ein nerviger Opa, der (…) sexistische blöde Sachen erzählt, sondern eher so dieser healthy masculine Opa, der Pflanzen mag und Stricken und irgendwie nette Sachen sagt“ (ebd.).
Die beschriebenen Rollen und Performances durchziehen Themen der Aneignung von und des Verlangens nach Männlichkeit aus einer trans*maskulinen, jugendlichen Position heraus. Diese wird verkörpert durch unterschiedliche, tendenziell patriarchal konnotierte Figuren und Darstellungen von Männlichkeiten (Opa und Macker), die vor den Begrenzungen des Alters und des ‚Menschlichen‘ keinen Halt machen. Diese Investition in Männlichkeit wird wiederum in den beschriebenen Fällen begleitet von einer gewissen Ambivalenz und Distanzierung, bis hin zu einem Versuch der Neubesetzung und Umdeutung von Männlichkeit zu ‚gesund‘ und ‚weich‘ wahrgenommenen Weisen des Männlich-Seins. Diese Auseinandersetzungen mit Geschlecht, insbesondere mit Männlichkeit, bewegen sich somit in einem Spannungsfeld zwischen „kritischer Parodie und selbstbewusster Aneignung“ (Schirmer 2010:161). Die deutlich gewordene Ambivalenz der Jugendlichen in Hinblick auf die eigenen Inszenierungen (mehr oder weniger hegemonialer) männlicher Figuren eröffnet in diesem Sinne einen „Zwischenraum“ (ebd.), in dem die trans*maskulinen Jugendlichen hier einen identifikatorischen Moment mit Männlichkeit erleben können und diesen gleichzeitig zurückweisen. Darüber hinaus findet ein Formulieren von für sie stimmigeren, positiveren Weisen des Männlich-Seins statt. Diese spielerische Aneignung von Männlichkeit ermöglicht ein ‚druck-freies‘ Ausloten geschlechtlicher Möglichkeiten und Wünsche. Darin wird deutlich, wie durch Drag im Kontext einer prozessorientierten Sozialen Kulturarbeit „Probehandeln, […] Perspektivwechsel […], Wünsche formuliert […] werden können“ (Josties et. al. 2020:153) und subjektive Aushandlungsprozesse und Erlebnisinhalte durch den selbstbestimmten ästhetischen Ausdruck der darin Beteiligten ermöglicht werden.
Das Zurücktreten der Relevanz von (menschlichem) Geschlecht
Explizit geschlechtlich konnotierte Darstellungen sind nicht die einzigen Weisen, wie mit den vermittelten Drag-Praktiken umgegangen wurde. Durch das offene Verständnis von Drag von Seiten der Workshopanleitenden einerseits und durch die eigensinnige Aneignung des Vermittelten durch die Teilnehmenden andererseits entstanden Darstellungsformen, die die Relevanz (menschlichen) Geschlechts zurücktreten ließen.
In seiner Mischwesen-Kreation aus Junge und Ziege greift Noah zwar noch auf geschlechtlich konnotierte Mittel zurück, wie etwa der aufgemalte Bart und die Selbstbetitelung als „Boy“, jedoch transzendiert er explizite Auseinandersetzungen mit Geschlecht durch das Drag Kinging, indem er Pflanzenelemente und Ziegenhörner bastelnd hinzufügt: „Und dann war ich halt irgendwie gleichzeitig noch eine Ziege“ (Interview Noah). Obwohl Noah über seine eigene Drag-Praxis sagt, er mache dies, um sich geschlechtlich auszuprobieren, drückt er zugleich auch sein Interesse an Darstellungen aus, die gar nichts mit Geschlecht zu tun haben, wie etwa Natur, Tiere und Planeten (vgl. ebd.).
Wo Noah in seinen fantasievollen Tier-Mensch-Ding-Drag-Kreationen noch an bestimmten vergeschlechtlichten Mitteln festhält, geht es Emre mit seiner Figur gar nicht um Geschlecht: „Jetzt habe ich mir irgendwie gar keine Gedanken darüber gemacht, als was für ein Geschlecht ich jetzt aussehen würde“ (Interview Emre). Seinen Interessen an Videospielen und der damit verbundenen Musik folgend, entschließt er sich während des Workshops dazu, einen seiner Lieblingscharaktere aus der Video-Spiel-Reihe „Sonic“ darzustellen (vgl. ebd.). Durch Basteln einer Requisite, das Zusammenstellen eines Outfits und Augen-Makeup sowie das Frisieren seiner Haare zu der die Spiel-Figur kennzeichnenden Spike-Frisur wird Emre nach und nach zu der Spielfigur ‚Shadow The Hedgehog‘. Es geht ihm hier nicht um eine vergeschlechtlichte Darstellung durch Drag, sondern um die möglichst genaue Darstellung dieser Gaming-Figur, als diese er sich in dem Moment sieht und „mehr auch nicht“ (ebd.). Der Workshop bietet Emre einen Rahmen, frei seinen Interessen für Videospiele nachzugehen, deren Spielfiguren er als persönlichkeits-prägend und auf dem Hintergrund negativer Erfahrungen in der Schule als handlungsweisend, unterstützend und sein Selbstbewusstsein stärkend erlebt habe (vgl. ebd.).
In diesen Darstellungen und Erzählungen der Jugendlichen wird sichtbar, dass die Potentiale, die Drag trans* Jugendlichen bieten kann, nicht auf geschlechtliche Aushandlungsprozesse beschränkt sind. Vergeschlechtlichte Darstellungen können irrelevant werden und sich den vermittelten Drag-Praktiken eigensinnig bedient werden. Erfahrungen und Identitätsaspekte treten in den Vordergrund, die zunächst einmal nicht unbedingt etwas mit Trans*Sein oder Geschlecht zu tun haben müssen. Die Jugendlichen ziehen Freude aus dem zweckfreien Ausleben ihrer Fantasien und Interessen und stellen Videospielfiguren und Pflanzen-Tier-Ding-Mischwesen dar, ohne sich dabei eindeutig zu maskulinisieren oder zu feminisieren. Anschlüsse finden sich in zeitgenössischen Formen von Tranimal Drag, deren Style und Ästhetiken versuchen, Gender als integralen Bestandteil von Drag zu ignorieren (vgl. Cherryman 2020:145). Drag wird in dieser experimentellen Form nicht als etwas gesehen, das ausschließlich auf den Bereich des Menschlichen beschränkt ist, sondern zielt darauf ab, menschlichen, vergeschlechtlichten Signifikanten und Strukturen zu entkommen, „in an attempt to undermine the absurdity of these very constructs“ (ebd.:145). Die tatsächliche Unmöglichkeit des (dauerhaften) Entkommens aus vergeschlechtlichten Strukturen verhandeln Noah und Emre - ähnlich wie Tranimal-Performende - durch eine „chaotic freedom of expression“ (Lecaro 2018 zit. n. Cherryman 2020:145).
Drag im Kontext Offener Jugendarbeit kann also einen kreativen Raum eröffnen, dem erst einmal keine Grenzen (weder geschlechtliche noch menschliche) gesetzt sind. Die darin Beteiligten können einen selbstbestimmten kreativen Ausdruck finden, der sie nicht auf ihr geschlechtliches (oder sonstiges) Anders-Sein reduziert, sondern in dem sie ihre jeweiligen fantasievollen Ideen und Interessen verhandeln und darstellen können, während ihr geschlechtliches So-Sein als trans* Jugendliche akzeptiert und nicht in Frage gestellt wird.
Spielen und Spaßhaben in einem als sicher wahrgenommenen Rahmen
In Abgrenzung zu Erfahrungen im Elternhaus oder zum homo- und trans*feindlichen Klima in der Schule wird das Jugendzentrum von den Jugendlichen als ein relativ sicherer, ermöglichender Rahmen empfunden (vgl. Interview Emre und Noah). In diesem Rahmen sind Ausprobieren, Spaßhaben und Kreativität möglich. Das ermöglichende Moment stellt sich für Emre einmal über die Ausstattung mit Ressourcen her, um überhaupt Drag machen zu können, und andererseits über die Tatsache, dass ihn niemand davon abhalte, dieser Kulturform nachzugehen (vgl. Interview Emre). Die Jugendlichen berichten von einer Leichtigkeit und Ablenkung vom sonstigen eher als schwer erlebten Alltag, von der Freude am Zeitverbringen mit anderen queeren Jugendlichen und dem spielerischen Spaßhaben durch das Ausprobieren von Drag und das Schlüpfen in verschiedene Rollen (vgl. Interview Emre, Noah). Dabei scheint der kreative Prozess des Machens wichtiger als das Ergebnis an sich zu sein: Emre beschreibt den Prozess des Charakter-Werdens als „erfüllend“ (Interview Emre), obwohl seine Drag-Figur bei Weitem nicht perfekt gewesen sei (ebd.). Freude kommt auf über die Umsetzbarkeit und die Möglichkeiten: „Ja, also nicht die Figur selber [fand Emre erfüllend, L.S.], sondern einfach zu merken: So, hey! Ja, es ist möglich! Und das macht Spaß und es ist cool“ (ebd.).
Spielen dürfen, Spaß haben, sich ausprobieren sind wichtige Erfahrungen, die in diesem Zusammenhang gemacht wurden und sich ernsteren Fragen, Auseinandersetzungen und Bedeutungen des eigenen Tuns entziehen. Somit wird durch Drag in der Offenen Jugendarbeit ein „Raum für zunächst zweckfreies Erproben spontanen ästhetischen Selbstausdrucks“ (vgl. Josties/Menrath 2018:11) geboten. Die Prozesshaftigkeit und die Offenheit dieser Form Sozialer Kulturarbeit in der Offenen Jugendarbeit ermöglicht den Jugendlichen Freude am kreativen Prozess. Aber auch das Spielen durch Drag und ein zumindest temporäres Aussetzen der Fragen nach einer geschlechtlichen Wahrheit scheinen hier relevant zu sein (vgl. Schirmer 2010:278 f.; Bukkakis 2020:141). In einem Raum mit anderen queeren/trans* Jugendlichen zu sein und von trans* Personen (of Color) angeleitet zu werden, also als trans* Personen unbeschwert sich der eigenen Kreativität hingeben zu können, ohne dabei das eigene Trans*Sein unbedingt zum Gegenstand der eigenen Betätigung machen zu müssen, auf dieses reduziert zu werden oder aber darin komplett ignoriert zu werden, erfährt in den Erfahrungswelten der Jugendlichen eine eigene Berechtigung. Vor dem Hintergrund, dass Fragen nach und Aufforderungen zum Bekenntnis einer geschlechtlichen Wahrheit in den Lebensrealitäten trans* Jugendlicher allgegenwärtig sind und das Abweichen davon oft Sanktionen und Schwierigkeiten mit sich bringt oder aber eine selbstbestimmte (trans*)geschlechtliche Verortung nicht ernstgenommen wird, kann durch Drag in der Offenen Jugendarbeit ein Raum eröffnet werden, der ein (zweckfreies) Spielen und Freude sowie Entlastung von einem sonstigen Alltag ermöglicht und ernstere Fragen um das eigene Trans*Sein aussetzt. Es kann ein Gegenraum zu anderen alltäglichen Räumen geboten werden, in denen dieses Spielen (als die Person, die man ist) nicht erlaubt ist oder war. Gerade das queere Jugendzentrum scheint hier Voraussetzung zu sein, wo dieses unbeschwerte Spielen und ein selbstbestimmter künstlerischer Ausdruck stattfinden können.
Jedoch ist das Jugendzentrum nicht immer für alle gleich ein sicherer, einladender Ort. Emre bekundet sein Bedauern über die tendenzielle Abwesenheit von Queers of Color im Jugendzentrum allgemein und über die weiße Dominanz in queeren Orten (vgl. Interview Emre). Beispielhaft erzählt er von einem Freund, der nicht ins queere Jugendzentrum komme, da er sich nicht der potentiellen Konfrontation mit rassistischen und transfeindlichen Projektionen aussetzen wolle (vgl. ebd.). Durch die Positionierung der Workshopanleitenden als trans* Personen of Color empfindet Emre jedoch nicht nur mehr Anschlussfähigkeit zu deren Formen von Drag, sondern auch eine geringere Gefahr, Rassismus ausgesetzt zu sein (vgl. ebd.). Emre thematisiert durch seine Kritik am Jugendzentrum als einem weiß und mehrheitsdeutsch dominierten Raum die Verschränkung von Transfeindlichkeit, (Cis/Hetero-) Sexismus und Rassismus und die daraus resultierende höhere und spezifische Vulnerabilität rassifizierter und/oder migrantisierter trans*Personen (vgl. LesMigras 2012:23;100). Somit können ‚Sicherheit‘ und ‚Wohlfühlen‘ während des Workshops im Jugendzentrum als prekär und als durch die Beteiligten und die pädagogischen und kulturschaffenden Fachkräfte ständig herzustellend bewertet werden. Emres Erzählungen verweisen auf rassistische Ausschlüsse in den weiß und deutsch dominierten Angebotsstrukturen queerer Jugendarbeit (vgl. Gaupp/Krell 2014 zit. n. Schirmer 2017:180) und queeren Räumen allgemein (vgl. LesMigras 2012:199 ff.).
Drag als Anstoß zur Reflexion über Identität
Die Erfahrungen der Jugendlichen mit Drag stießen Reflexionen über Identität an, insbesondere über ihr geschlechtliches und sexuelles In-der-Welt-Sein sowie damit verbundene Normativitäten und Wirklichkeiten. Sie weisen somit auf eine Wirkung von Drag hin, die den Sinnhorizont der spielerischen Performance verlässt.
Noah beschreibt, wie Trans*Sein und Drag für ihn zusammenhänge, und wie durch Drag für ihn ein Aushandeln von Möglichkeiten medizinischer Transitionsschritte im Kontext empfundener „Dysphorie“ (Interview Noah) stattfinde: Durch das temporäre Verwenden von fake Bärten und das Verwenden von Songs mit tiefen Männerstimmen könne er mögliche Effekte von Testosteron ausprobieren, jedoch in einem Rahmen ohne großen Entscheidungs-Druck von außen.
Für Emre findet eine Reflexion über geschlechtliches Sein nicht direkt durch seine eigene Drag-Praxis statt, sondern durch das Sehen von Drag und der Workshopanleitenden. Im Rahmen des Workshops nehmen diese eine Vorbildfunktion für ihn ein: Er erlebe sie als Repräsentation von Personen, „die es auch wirklich geben kann“ (Interview Emre) – und zwar „türkisch (…), trans (…) und (…) auch auf Testosteron“ (ebd.). Auch wenn Emre hier keine Aussagen über seine eigenen Aushandlungen in Bezug auf eventuelle Transitionswünsche macht, verweist er auf die Wichtigkeit des Sehens des Drag-Artists als trans* Person, die somatisch transitioniert und türkisch ist. Die workshopanleitende Person repräsentiert für ihn eine geschlechtliche und ethnische Existenz und Wirklichkeit, die ihm so bisher nicht oft begegnet ist, und die für ihn und die unterschiedlichen Facetten seiner gelebten Identität (trans*männlich, türkisch-deutsch und queer) und die damit verbundene Wahrnehmung von Wirklichkeit wichtig ist. Er verweist damit auch auf eine implizit weiße Norm in Bezug auf Repräsentationen von Trans*Sein. Zudem empfinde er es als schön und wichtig, trans*Personen als in ihrer Identität gefestigte trans* Personen im Kontext von Drag Shows performen, spielen, sich ausdrücken und sich binären Erwartungen widersetzend zu sehen (vgl. ebd.).
Drag kann den Jugendlichen ein spielerisches Ausloten geschlechtlicher Verortungen ermöglichen, in denen auch ergebnisoffene Abwägungen von Transitionsschritten ihren Platz finden (vgl. Interview Noah; Schirmer 2010:280f.) Somit kann Drag einen Schonraum vor binär-geschlechtlichen Aufrufungen und einen Gegenentwurf zu auf Konstanz und Eindeutigkeit abzielende Aufforderungen bestimmter transgeschlechtlicher Narrative bieten (vgl. Bukkakis 2020). Durch die sozialen Bezüge, in die die Drag-Praktiken eingebettet sind, insbesondere die Repräsentations- und Vorbildfunktionen der Drag-Performer*innen, können Wirklichkeiten und Lebbarkeiten bestimmter transgeschlechtlicher Verkörperungen (of Color) aufgezeigt werden, die anschlussfähig für die Jugendlichen sind und auf fließende Übergänge zwischen Alltag und Performance-Kontext verweisen. Die sozialen Bezüge und die damit einhergehenden Vorbildfunktionen der Performenden in und außerhalb von Drag können auf Lebbarkeiten verweisen, die Binaritäten und dominante, normative (weiße) Repräsentationen von Trans* Sein herausfordern.
Fazit
Die Erkenntnisse können als ein explorativer Einblick in das Feld institutionalisierter offener Kulturarbeit mit trans* Jugendlichen gesehen werden sowie als ein Beitrag zu einer heteronormativitätskritischen und szenebezogenen Sozialen Kulturarbeit.
Vor dem Hintergrund eingeschränkter Möglichkeitsräume trans* Jugendlicher durch überwiegend zweigeschlechtlich strukturierte gesellschaftliche Verhältnisse sowie dem gesetzlich verankerten Anspruch Offener Jugendarbeit, trans* Jugendliche zu berücksichtigen und diesen soziale, gesellschaftliche Teilhabe und (kulturelle) Freiräume zu ermöglichen, kann Drag in der Offenen Jugendarbeit über die Soziale Kulturarbeit (zumindest einigen und bestimmten) trans* Jugendlichen auf unterschiedliche Weisen eine Vielfalt an Möglichkeitsräumen eröffnen. Es wurde deutlich, dass die Drag-Workshops den trans* Jugendlichen Aushandlungen von Geschlecht (hier Männlichkeiten) und Anregungen zur Reflexion über geschlechtliche und sexuelle Identität ermöglichen konnten. Des Weiteren konnten Geschlecht und Trans*Sein aber auch irrelevant werden, sowie ein zweckfreies Spaßhaben am kreativen Ausdruck in einem sicheren Rahmen ermöglicht werden. Insbesondere durch den spielerischen und kreativen Charakter der hier untersuchten Drag-Kultur können trans* Jugendliche geschlechtliche Seinsweisen ergebnisoffen ausloten und umformulieren. Diese fantasievolle Auseinandersetzung mit Geschlecht ist ergebnisoffen, prozessorientiert und zielt nicht auf ein zuvor festgesetztes pädagogisches Ziel ab, sondern ermöglicht den teilnehmenden Jugendlichen einen selbstbestimmten kreativen Ausdruck und das Verhandeln subjektiver Erlebnisinhalte im Kontext gesellschaftlicher (Ungleichheits-)Verhältnisse. Darüber hinaus können durch den kollektiven, sozialen und szenebezogenen Charakter von Drag Zugänge zu Situationen und Räumen eröffnet werden, in denen die darin Involvierten (Anleitende und Teilnehmende) geschlechtliche Seinsweisen leben, die sowohl in heteronormativ und rassistisch geprägten Lebensbereichen als auch in gewissen einschränkenden Narrativen in Bezug auf Transgeschlechtlichkeit tendenziell ausgeschwiegen und verunmöglicht werden. Diese Seinsweisen können eine wertvolle, anschlussfähige Vorbildfunktion und Gegen-Repräsentation für die Jugendlichen einnehmen. Fragen und Wünsche können formuliert werden, die mit realen und alltäglichen geschlechtlichen Möglichkeiten zu tun haben, und Vorstellungen des Lebbaren können erweitert werden. Gleichzeitig jedoch können Geschlecht und Trans*Sein auch ihre Relevanz verlieren, indem entweder andere Identitätsaspekte der Jugendlichen ihren Raum finden oder menschliche Darstellungen in den kreativen, zum Teil hybriden Drag-Figuren gänzlich ignoriert werden. Schließlich kann Drag hier über die Soziale Kulturarbeit in der Offenen Jugendarbeit Zugänge zu subkulturellen lokalen Szenen außerhalb der pädagogisch gerahmten Jugendarbeit eröffnen und Übergänge und Austausch schaffen, was durch die Verankerung der workshopanleitenden Drag-Performer*innen in lokale Drag- und Performance-Szenen möglich wurde.
Durch die offene, interessen- und prozessorientierte Herangehensweise der Sozialen Kulturarbeit in der queer-spezifischen Offenen Jugendarbeit kann mit Drag ein Angebot geschaffen werden, worin die Jugendlichen hier zwar als queer und trans* adressiert werden, jedoch keine Engführung auf (vorher definierte) Problemlagen der Zielgruppe und eine eventuell damit einhergehende Stigmatisierung stattfindet. Über die Soziale Kulturarbeit kann Drag als eine Herangehensweise unter anderen (wie etwa Beratung oder Gruppenarbeit) gesehen werden, trans* Jugendlichen im Kontext der Offenen Jugendarbeit zu begegnen. Zwar vermag diese Herangehensweise keine strukturellen Probleme oder konkreten Anforderungen in verschiedenen Lebensbereichen der trans* Jugendlichen zu lösen, jedoch kann sie Möglichkeiten bieten, subjektive Erlebnisinhalte auszuhandeln, einen alternativen Raum des geschlechtlichen und künstlerischen Ausdrucks und des Perspektivwechsels zu bieten oder einfach nur Spaß zu haben. Im Kontext der ‚Un-Spaßigkeit‘ und Ernsthaftigkeit, mit der Geschlecht gesellschaftlich verhandelt wird, kann dies als eine sehr wertvolle, existenziell bedeutsame Erfahrung gesehen werden.
Schließlich wurde jedoch einmal mehr die Problematik weißer und mehrheitsdeutscher Dominanzen in Einrichtungen und Angeboten der queeren Jugendarbeit deutlich. Dies verweist auf die Notwendigkeit struktureller Veränderung auf der Ebene der Organisation und der Angebotsstrukturen, um Möglichkeits-, Ausdrucks- und Freiräume für mehrfachmarginalisierte trans* Jugendliche zu gewähren.