Shutdown vs. Kickoff? Museen neu denken im Zeitalter von COVID 19
Abstract
Das ungewöhnliche Format eines fiktionalen Soliloquiums bietet die Möglichkeit, mit kurzen Textpassagen und mit bewusst gesetzten Brüchen das weite Feld der operativen Museumsarbeit zu überblicken, um damit zum Selber-weiter-Denken anzuregen. Denn einen übergreifenden Masterplan für alle rund 7000 Museen allein in Deutschland kann es nicht geben; schließlich handelt es sich um jeweils einzigartige Einrichtungen, die einer authentisch-individuellen Steuerung und Entwicklung bedürfen. Dieser operative Überblick basiert auf der fokussierten Vorannahme, dass jeder Form von Museumsarbeit im Kern ein kommunikativer Aspekt innewohnt, mithin das Senden, Vermitteln und Empfangen, die Sender*innen, Vermittler*innen und Empfänger*innen einer besonderen Sorgfalt in der Betrachtung bedürfen. Die Spannweite der Überlegungen reicht von der Entwicklung einer neuen Visitor Journey über den Vorschlag zur Formulierung eines auf dem Kulturellen fußenden Verständnisses von Nachhaltigkeit bis hin zum Gedanken, die Institution Museum selbst – im Beuys’schen Sinne – als Soziale Plastik zu verstehen. Die Gelegenheit dafür scheint günstig, denn am 12. Mai 2021 jährt sich der Geburtstag von Beuys zum 100sten Mal.
Der Beitrag ist eine überarbeitete und erweiterte Fassung des gleichnamigen Vortrages auf dem Online-Symposium des Departments für Kunst- und Kulturwissenschaften der Donau Universität Krems am 7. Mai 2020: Museen in Quarantäne – Neue Chancen für Sammlungen.
Ein fiktionales Soliloquium
...frei nach Johann Wolfgang von Goethe
„Zwei Drei Seelen schlagen, ach! in meiner Brust.“
Einerseits der objektzentriert denkende Fachwissenschaftler,
andererseits der besucherorientierte Kommunikator
und zudem der markenfokussierte Strategieberater.
Was liegt da näher, als miteinander
ins Gespräch zu kommen.
Alter ego: Wie kann eine so katastrophale Situation wie eine Pandemie die Möglichkeit zu einem Kickoff bieten?
Ich: Indem man das bekannte Sprichwort Krisen sind Chancen wirklich beim Wort nimmt. Wann, wenn nicht jetzt, ist die Gelegenheit, Eingefahrenes grundsätzlich zu hinterfragen, neu zu denken, aus einer wirklich ganzheitlichen Perspektive zu betrachten? Schon Jürgen Habermas hatte über die neue Unübersichtlichkeit geschrieben. (Habermas 1985). Seine Publikation erschien genau vier Jahre vor dem Datum, das unsere seinerzeit angestammte Weltsicht in Deutschland wirklich auf den Kopf gestellt hat.
Alter ego: Wie meinst Du das?
Ich: Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem damit einhergehenden Zerfall des Ostblocks wurde unser bis dahin bestehendes Weltbild – wenn man so will – konvertiert. Das US Army War College hat zur Beschreibung dieser Situation das Akronym VUCA entwickelt: Volatility (Flüchtigkeit), Uncertainty (Unsicherheit), Complexity (Komplexität) und Ambiguity (Mehrdeutigkeit). Seit diesen Tagen erleben wir einen rasanten Verlust an Eindeutigkeit. Im Kern geht es stets um das Why, die Frage nach dem tieferen Sinn, wie beispielsweise im Ansatz von Simon Sinek mit dem von ihm so benannten Golden Circle diskutiert.
Und seit dem 30. Dezember 2019 haben wir wiederum eine neue Zeitrechnung. An diesem Tag berichtete der chinesische Arzt Li Wenliang über eine neue Erkrankung, die wir nun unter dem Namen COVID19 kennen. Wir leben jetzt mit Corona (vgl. Abb.2). Die Welt hat sich seitdem in einem Tempo und einer Tiefe verändert, die bislang nicht vorstellbar war.
Alter ego: Mir scheint, wir alle sind derzeit Verlierer.
Ich: Bei genauerer Betrachtung gibt es aber auch durchaus positive Sideeffects: Der Virologe Christian Drosten hat es beispielsweise aus dem Stand geschafft, sein komplexes Randgebiet der Medizin in den medialen Mittelpunkt zu rücken.
Alter ego: Wie ist ihm das gelungen?
Ich: Aus der Perspektive der strategischen, markenorientierten Kommunikation nutzt er seine authentischen Werkzeuge effektiv: sein Wissen, seine Ausstrahlung, seine Fähigkeit zur Komplexitätsreduktion. Und er hat den NDR als starken Medienpartner. Auf Twitter hat Christian Drosten Anfang Dezember 2020 rund 592.669 Follower. Das Thema, über das er spricht, ist für seine Follower von höchster Relevanz.
Alter ego: Was hat das aber nun mit dem Museumssektor zu tun?
Ich: Oft erklären Museen ihre mangelnde Wahrnehmung in der Öffentlichkeit durch fehlende Budgets, fehlendes Personal etc. Christian Drosten aber zeigt uns, dass eine gute, strategisch zielgerichtete Kommunikation sehr wohl das Publikum erreicht. Demgegenüber hat etwa die Kampagne des Metropolitan Museum in New York zur Rettung des US-amerikanischen Kultursektors – #CongressSaveCulture – die von Max Hollein lanciert wurde, bislang gerade einmal 26.000 Unterstützer gefunden.
Es stellt sich also die Frage, mit Hilfe welcher Mittel die Museumsbranche ansatzweise eine ähnlich nachhaltige Kommunikation in der Phase des Shutdown und des Re-Opening erreichen kann, wie es Christian Drosten gelingt?
Alter ego: Ja, da bin ich jetzt aber gespannt!
Ich: Das führt uns ins Grundsätzliche: Mit Hilfe welcher Medien und mit Hilfe welcher Inhalte erreichen die Museen bislang welche Publika? Und: Besitzt die Institution Museum eine kommunikative Unique Selling Position (USP)?
Ich glaube, die Museen sollten ein völlig neues Verständnis von Nachhaltigkeit entwickeln, gepaart mit einem faktisch basierten Selbstwertgefühl, d.h. mit dem Vertrauen in die institutionelle Wirksamkeit der Museen. Daraus würde natürlich auch ein höheres Maß an Verantwortung gegenüber der Gesellschaft entstehen, dass die Institution Museum übernehmen müsste.
Alter Ego: Das klingt gut, aber ist es nicht schon anstrengend genug, den status quo ante quem – d.h. vor Corona – wieder herzustllen? Oder, um es anders zu formulieren: Was verstehst Du unter #TheNewNormal?
Ich: Ich habe eben ganz bewusst Jahr 1 m.C. formuliert, denn es wird meines Erachtens mittelfristig keine Zeitrechnung nach Corona geben. Angesichts dieser globalen Herausforderungen sollten wir uns darüber Gedanken machen, welches Profil #TheNewNormal haben könnte. Am 10. Mai 2020 wurde #TheNewNormal immerhin 145.000 Mal verwandt. Denn eigentlich könnten wir doch diesen Stress, den das Virus auf unsere angestammten gesellschaftlichen und institutionellen Strukturen auslöst, wirklich auch energetisch positiv nutzen – d.h. nicht zur Ablehnung von Wandel, sondern vielmehr als Beschleuniger zur Implementierung ohnehin sinnvoller Innovationen.
Neben der digitalen Wende im gesamten gesellschaftlichen Leben müssen wir in gleicher Intensität zum Beispiel auch die De-Karbonisierung unseres Alltags in den Blick nehmen. Und die Museen haben – vermittelt über die Provenienz- und Ethik-Debatte – das Thema der De-Kolonisierung der Sammlungen mitzudenken. Nicht ohne Grund wird derzeit die Diskussion um die Re-Formulierung des ICOM Code of Ethics weltweit so heftig geführt. Ich glaube, dass diese disruptive Situation wirklich auch die Chance bietet, überkommene Strukturen und Gewohnheiten sehr grundsätzlich neu zu denken.
Alter Ego: Willst Du jetzt hier einer Politisierung des Museums das Wort reden?
Ich: Nein. Museen sollten nicht politisch agieren – aber sie sollten relevante Themen in zeitgenössischer Art und Weise behandeln. Bislang wird Nachhaltigkeit lediglich als eine Kombination aus drei Komponenten gesehen: dem Sozialen, dem Ökonomischen und dem Ökologischen. Durch die Überschneidungen entstehen drei Schnittmengen:
- sozial + ökonomisch = gerecht
- sozial + ökologisch = lebenswert
- ökologisch + ökonomisch = vernünftig.
So weit, so gut. Aber erst, wenn wir dieses System in einen kulturellen Layer einbetten, entsteht ein wirklich nachhaltiges – d.h. auch werthaltiges – Fundament (vgl. Abb. 3).
Genau an dieser Schnittstelle könnten die Museen ihren eigenen gesellschaftlich produktiven Beitrag leisten, könnten ihre interkulturellen, historischen und zeitgenössischen Kompetenzen in neue Zusammenhänge setzen und ihre kulturpolitische Systemrelevanz lebhaft unter Beweis stellen. Als gutes Beispiel kann hier der Diskurs gelten, den das Jüdische Museum Frankfurt zusammen mit externen Experten auf Twitter führt. Die Direktorin des Hauses, Mirjam Wenzel, interviewt im Format #TachelesVideoCast z. B. einen wissenschaftlichen Buchautor zum Thema Verschwörungstheorien in Zusammengang mit CORONA.
Alter ego: Wie steht es in diesem Sinne um Nachhaltigkeit im und für das Museum?
Ich: Während des ersten Shutdown habe ich im Rahmen eines Lehrauftrags gemeinsam mit Studierenden der Universität Hildesheim im Sommersemester 2020 eine Online-Recherche durchgeführt. Auf der Basis dieser Recherchen möchte ich sieben Thesen formulieren.
Sieben Thesen zum #TheNewNormal der Museumsarbeit im 21. Jahrhundert
These 1: „Ausschließlich die Museen, deren Digitale Strategie den gesamten museologischen Kanon umfasst, konnten kommunikativ angemessen auf den Shutdown reagieren.“
Es zeigte sich, dass eine gelungene Krisenkommunikation nur dann gelang, wenn neben der rein kommunikativen Ebene der vermittelte Content wirklich auf authentischen Erkenntnissen auch der anderen Kernaufgaben des Sammelns, Bewahrens und Erforschens fußt. Es geht letztlich darum, den klassischen museologischen Kanon neu zu denken. Und meines Erachtens geht es insbesondere darum, die weitgehend unverbunden nebeneinander agierenden Fachbereiche künftig deutlich stärker miteinander zu vernetzen.
Alter ego: Wie bemisst sich denn eine erfolgreiche Kommunikation?
Ich: Das führt uns zu meiner These 2: „Ohne CTA (Call to Action) entsteht kein kommunikativer Mehrwert für das Museum.“
Wenn das Museum in den Sozialen Medien eine Nachricht publiziert, entsteht erst dann ein kommunikativer Mehrwert, wenn beispielsweise ein Link eingebettet ist, der die interessierten Surfer zu vertiefenden Informationen führt. Auf diese Weise würde aus einem Surfer, der frei im Netz navigiert und der ggf. nur durch Zufall auf die Aussage des Museums gestoßen ist, zu einem echten User. Das ist das schlichte Einmaleins des Content Marketing – wird aber leider von den Museen meist nicht berücksichtigt. Auf die hier verwandte Nomenklatur komme ich gleich noch zu sprechen.
Alter ego: Und wie steht es um die Relevanz?
Ich: Das ist der Knackpunkt von These 3: „Ohne einen emotionalen Gehalt entsteht kein Interesse beim Publikum.“
Wir erinnern uns an Christian Drosten: Seine Inhalte sind von hoher Relevanz und besitzen zugleich einen hohen emotionalen Gehalt, denn es geht schlicht um unser eigenes Leben. Übertragen auf den musealen Kontext würde ich das als das Schlagen der Brücke der Relevanz bezeichnen. Nina Simon hat dazu ein lesenswertes Buch geschrieben: The Art of Relevance. Relevanz entsteht dann, wenn wir mit Dingen oder Fakten konfrontiert werden, die uns in manchen Teilen bekannt und anderen Teilen unbekannt sind.
Letztendlich geht es darum, ob das Museum Aspekte, Kontexte oder ganz allgemein Inhalte vermitteln oder zumindest anbieten kann, die für den aktuellen Lebensvollzug der Besucher in irgendeiner Weise wichtig sind. Und natürlich geht es auch darum, diese Inhalte jeweils mediengerecht aufzubereiten – und die Sprache des potentiellen Zielpublikums zu sprechen.
Alter ego: Ah, ich verstehe. Es geht um Neugier und um Nützlichkeit.
Ich: Genau! Und das führt uns zu meiner These 4: „Die Visitor Journey – d. h. die Kuratierung des Vorgangs eines Museumsbesuchs – muss völlig neu gedacht, geplant und inszeniert werden, um zugleich auch das Analoge und das Digitale konzeptionell miteinander verweben zu können. Erst durch die gegenseitige Ergänzung entsteht ein echter Mehrwert sowohl aus der Museums-Perspektive (museum tasks) als auch aus Besucher*innen-Perspektive (visitor needs).“
Denn: Der Museumsbesuch beginnt nicht mehr am Kassentresen, sondern auf der heimischen Couch. Und in Zeiten von COVID19 gilt es, zusätzlich eine digitale Visitor Journey zu ermöglichen. Letztlich sollte es immer unser Ziel sein, mit all dem digitalen Gewitter einen realen Besuch im analogen Museum gut vorzubereiten, zu begleiten oder nachzubereiten. Aus klassischer Marketing-Perspektive geht es also schlicht um die Formulierung eines Leistungsversprechens, um Kundenzufriedenheit und Kundenbindung. Es ist wichtig, nicht nur Sehnsüchte oder Interesse bei den potentiellen Zielgruppen zu wecken, sondern es geht auch darum die geweckten Erwartungen vollkommen zu erfüllen.
Alter ego: Das klingt nach einem sehr strategischen Ansatz. Lässt sich das denn auch wirklich operativ umsetzen?
Ich: Eine gute Roadmap hilft immer. Es geht letztlich darum die unterschiedlichen Ebenen und ebenso unterschiedlichen Touchpoints zwischen dem Museum und seinen potentiellen Besucher zu identifizieren. Das führt uns zur 5. These: „Das Audience Development und das Visitor Relation Management spielen sich künftig gleichzeitig auf vier Ebenen ab.“
- ON SITE – vor Ort im analogen Museum.
- OFF SITE – außerhalb des analogen Museums. Zum Beispiel im öffentlichen Stadtraum oder auf dem Weg zum Museum bzw. in den öffentlichen Verkehrsmitteln.
- ONSITE – beim Besuch der Website des Museums. Hier geht es zum Beispiel darum, zusätzliche Angebote oder Informationen zu offerieren, die im Museum selbst nicht vorhanden sein müssen oder können. Nach unseren Erfahrungen sollen dafür allerdings weniger native Apps entwickelt werden, sondern eher progressive Webapps.
- ONLINE – allgemein ein Surfen im Netz oder den Sozialen Medien.
Diese vier unterschiedlichen Ebenen – die untereinander Schnittmengen und Übergänge besitzen – sollten ohne Medienbrüche miteinander verbunden werden.
Im Idealfall ist die Visitor Journey so gestaltet, dass der informationelle Faden zwischen Gast und Museum nie abreißt. Die Museen sollten künftig noch mehr auf das Thema Kundenbindung achten: Empfehlungsmanagement ist schließlich eine der Königsdisziplinen des Audience Development, wie in dem Vortrag: „In the End it's a Question of Quality. Audience Development as a Holistic Concept for Museum Management" näher ausgeführt (vgl. Henkel 2019). Dabei ist auch die Wirkungskette konsequent bis zum Ende zu denken, d.h. dass das Museum es sowohl mental als auch technologisch ermöglicht, überhaupt empfohlen zu werden – z.B. über bewusst gesetzte Anreize in den Sozialen Medien.
Alter ego: Spannend! Durch diese Art der Strukturierung kann man fast jede erdenkliche Situation entlang der Visitor Journey sehr gut lokalisieren. Es fühlt sich fast so an wie das U-Bahn-Streckennetz einer Großstadt.
Ich: Ein überaus passender Vergleich! Dann nehmen wir doch gleich mit meiner 6. These die Fahrgäste genauer in den Blick: „Künftig sollten zwischen den verschiedenen Gruppen von Besucher*innen deutlicher unterschieden werden, um passgenaue Angebote machen zu können.” (vgl. Abb. 4)
- Visitor – (befinden sich on site & offline): sind direkt im Museum. Sie genießen einen analogen Besuch und nutzen eventuell digitale Angebote, die stationär eingebaut sind.
- User – (befinden sich on site & onsite): sind Visitor, die – z.B. über BYOD – zusätzliche digitale Angebote auf der Website des Museums vor Ort nutzen, um sich vertiefende Informationen zu erschließen.
- Surfer – (befinden sich off site & online): sind Menschen außerhalb des Museums, die sich eigenständig frei im Internet navigierend Sachverhalte erschließen, die in einem Kontext mit dem Museum stehen.
- Follower – (befinden sich off site & social media): sind Menschen, die sich außerhalb des Museums aufhalten und über Soziale Medien mit dem Museum in Verbindung stehen.
- Contributer – (befinden sich on site oder off site oder online oder offline): Menschen, die sich aktiv und kreativ in die Arbeit des Museums einmischen und in einen gedanklichen oder operativen Austausch treten.
Alter ego: Das heißt aber, dass wir es neben der ganzen Diversität unserer üblichen Museumskundschaft auch mit völlig unterschiedlichen Zugängen und damit auch völlig neuen Inhalten zu tun haben?
Ich: Genau! Konsequent verfolgt würde auf diese Weise eine Art von Museum entstehen, das Joseph Beuys einst als den „Ort der permanenten Konferenz” beschrieben hat (Beuys 1980:56). Und um einen solchen immerwährenden Dialog führen zu können, bedarf es eines hohen Maßes an Eindeutigkeit, Wiedererkennbarkeit und letztlich Einzigartigkeit. Womit wir bei der 7. These angelangt sind: „Wenn die gesendete Botschaft des Museums nicht auch auf die eigene Marke einzahlt, entsteht keine nachhaltige Bindung zwischen Museum und Besucher*innen.“
Auch wenn das Museum nicht als Wirtschaftsbetrieb funktionieren kann und auch nicht soll, weil es in erster Linie als gesellschaftlich wichtiger Ort des Diskurses und der Reflektion dient, wäre es im Hinblick auf die Wahrnehmbarkeit mehr als wünschenswert, wenn die Museen künftig eine deutlich mehr markenorientierte Kommunikationsstrategie verfolgen. Denn: Auch im Kultursektor herrscht Konkurrenz – und sei es, um die Zeit und die Aufmerksamkeit möglicher Besucher. Vor diesem Hintergrund ist die Formulierung eines klaren Leitbildes, einer Mission und einer Vision essenziell. Auf dieser gemeinsam definierten faktischen Basis wird dann auch das visuelle und letztlich crossmediale Erscheinungsbild des Museums entwickelt. Das Thema Marke hat viel mehr mit dem Erkennen und der strategischen Profilierung der institutionellen Kernkompetenz zu tun, als mit einfachem Marketing.
Schlussfolgerungen für die operative Museumsarbeit
Alter ego: Ok. Soweit die Thesen. Welche Schlussfolgerungen ergeben sich daraus?
Ich: Schlussfolgerung No. 1: „Die Museen, die eine umfassende Kommunikationsstrategie quer zu allen Abteilungen umsetzen – und die dabei auch das Analoge und das Digitale miteinander verknüpfen, werden langfristig die Gewinner der Entwicklung sein. Diese Häuser können aufgrund ihrer vernetzten Abläufe schnell und kompetent auch auf aktuelle Anforderungen reagieren.“
Zu bemerken ist, dass bereits sehr kurz nach dem Beginn des Shutdowns einige Häuser Sammlungsaufrufe gestartet haben, um signifikante Objekte der Sachkultur zu sammeln, die dereinst diese gesellschaftliche Extremsituation authentisch repräsentieren können. Solche rapid response collections sind durch Corona regelrecht in Mode gekommen (vgl. das Wien Museum und das V&A in London). Damit zukünftig nicht nur anlassbezogene Sammlungsinseln entstehen, bedarf es auch hier der Entwicklung einer übergreifenden, reflektierten Strategie, die eben auch ein kodifiziertes Sammlungskonzept beinhaltet.
Alter ego: Wir haben bis jetzt sehr viel über die Neuentwicklung der Museumsperspektive gesprochen. Wie steht es um die Schnittstelle zwischen Museum und Besucher?
Ich: Das führt uns zu meiner Schlussfolgerung No. 2: Museen sollten beginnen, ihre Besucher Ernst zu nehmen. Nina Simon formuliert es sehr knackig: #OfByForAll.
Das Jüdische Museum in Frankfurt hat beispielsweise über seine Sozialen Kanäle seine Besucher befragt, welche Sicherungs-Maßnahmen sie nach dem Re-Opening akzeptieren würden. Und im Anschluss an die Umfrage wurden die resultierenden Ergebnisse auch auf den gleichen Kanälen veröffentlicht. Dadurch entsteht ein hohes Maß an Transparenz, an Vertrauen und letztlich auch an Orientierung – sowohl für das Museum, als auch für seine potentiellen Besucher.
Alter ego: Auf welche Weise können die Besucher noch näher an das Museum gebunden werden – dazu motiviert werden, mit dem Museum zu interagieren?
Ich: Wir leben im Zeitalter der Interaktion. Joseph Beuys hat einst die Museen als „Orte der permanenten Konferenz” bezeichnet. Das ist – nach wie vor – für mich eine ausgesprochen erstrebenswerte Vision. Das führt uns direkt zur Schlussfolgerung No. 3: „get people involved.” Dazu ein operatives Beispiel: Mit dem Hashtag #tussenkunstenquarantaine startete ein vom Prinzip her sehr einfacher Aufruf in den Sozialen Medien.
1. Wähle ein Meisterwerk der Kunstgeschichte.
2. Nutze drei Requisiten, die im Haus zu finden sind.
3. Stelle das Kunstwerk mit diesen Requisiten nach.
4. Teile das Bild in den Sozialen Medien.
Dieser Aufruf ging viral und wurde schließlich auch von der Getty Foundation als #Gettychallenge aufgegriffen und bekam dadurch zusätzliche Reichweite. Auf diese Weise entstanden in der Folgezeit wunderbare Kreationen und Re-Interpretationen von Meisterwerken der Kunstgeschichte aus Besucher-Hand. Dieser kreativen Aktion einzelner Menschen ging jeweils eine sehr intensive, persönliche Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Kunstwerk voraus: Wenn man so will, eine selbst kuratierte, performative Art des Selbststudiums. Begünstigt wurde diese besonders kreative Form der Entschleunigung dadurch, dass wir coronabedingt alle in den eigenen vier Wänden gefangen waren. Das heißt: Hier kam der richtige Aufruf eben auch zur richtigen Zeit – und zudem im richtigen Medium: Instagram ist nach wie vor ein Soziales Medium, was verstärkt auf visuelle Reize setzt.
An dieser Stelle bietet es sich an, gleich auch die Schlussfolgerung No. 4 anzuschließen: „Schaffe neue Zugänge – auch zu neuen Zusammenhängen.“ ... Und insbesondere: „Schlage die Brücke zur unmittelbaren Gegenwart deiner Besucher*innen.“
Die Kunsthalle Mannheim gehört meines Erachtens derzeit zu den Trendsettern in Bezug auf die konsequente Umsetzung einer von mir hier geforderten ganzheitlich-strategisch ausgerichteten Kommunikation. Neben den klassischen Segmenten einer Digitalen Sammlung und anderen digitalen Formaten möchte ich an dieser Stelle auf eine kleine Serie im Facebook-Kanal des Museums hinweisen. Unter den folgenden Hashtags #kumachallenge #kunsthallemannheim #museumfromhome #calmdownart #museumandchill leitet die Yogalehrerin Birgitt Held in der Reihe „Yoga und Kunst“ eine Atemübung in Verbindung mit dem Werk Essence – Existence von Anselm Kiefer (2011) an: Auf diese Weise wird die eher bedrückende Wirkung des Bildes mit der ebenso bedrückenden Situation des Shutdown in Beziehung gesetzt; das Werk der zeitgenössischen Kunst wird also mit einem Phänomen der Jetzt-Zeit synchronisiert.
Alter ego: Das ist alles schön und gut. Aber läuft das nicht einfach auf eine Überforderung der Museen hinaus? Zumindest die Mehrzahl der kleineren Häuser der über 7000 Museen allein in Deutschland besitzen doch gar nicht die Ressourcen, um solche neuen Zugänge zu schaffen.
Ich: Ja und nein. Auf gewisse Weise bleibt den Museen nichts anderes übrig, als wirklich der Sender ihrer eigenen Botschaften zu werden; zugleich aber müssen die Museen auch auf Empfang gehen, um in einen produktiven Dialog mit den Visitors, Users, Surfers, Followers und Contributers gehen zu können. Das kann natürlich schnell ins Geld gehen – und sicherlich oft auch die Kompetenzen des angestammten Museumspersonals übersteigen. Letztendlich bedeutet es aber auch ein Stück weit eine (Ver)Setzung von neuen Prioritäten.
Ein großartiges Beispiel für eine Besucher-Ansprache auf High-End-Niveau ist für mich nach wie vor das Video aus dem Rijksmuseum Amsterdam. Von diesem Video kann man meines Erachtens sehr gut lernen: Bei aller Präsenz der Meisterwerke, die dieses Haus zu bieten hat, zeigt das Video in erster Linie die Reaktion und die Diversität der Besucher, visualisiert die völlig unterschiedlichen Zugänge zur Kunst und macht letztendlich den stillen Dialog zwischen den Besucher*innen und den Kunstwerken sichtbar.
Es ist natürlich illusorisch, ein solches hohes Niveau zum Standard für alle Museen erklären zu wollen. Aus diesem Grund lautet die Schlussfolgerung No. 5 auch ganz schlicht: „Keep it simple.“
Denn, wie wir auch bei dem Beispiel #tussenkunstenquarantaine gesehen haben, ist die Brillanz des Gedankens der entscheidende Punkt, weniger das Budget. Vor diesem Hintergrund lohnt sich ein Blick auf das Deutsche Medizinhistorische Museum in Ingolstadt. Mit einfachsten Mitteln werden hier verschiedene Aspekte sehr wirkungsvoll abgedeckt:
- Objekte aus der eigenen Sammlung werden im Kontext mit der aktuellen CORONA-Krise auf dem Facebook-Kanal des Museums vorgestellt und besprochen.
- Durch den Serien-Charakter – an jedem Tag des Shutdown wird ein neues Objekt vorgestellt – entsteht ein hohes Maß an Bindung mit den Followern.
- Die fachliche Kompetenz und hervorragende nationale Vernetzung des Museums ermöglichen es, zur Besprechung einzelner Objekte auch externe Fachleute einzuladen: Das signalisiert die Professionalität des Museums.
- Die Texte sind sehr gut und flüssig geschrieben: Das macht – bei aller Ernsthaftigkeit der Thematik – einfach Freude beim Lesen.
- Es findet eine crossmediale Verlinkung zwischen der Website des Museums, dem Facebook- und dem Instagram-Account statt: Das heißt, es gibt sowohl einen kommunikativen Mehrwert für das Museum als auch für seine Follower.
Alter ego: Was sind die Takeaways im Hinblick auf den hier formulierten neuen Ansatz von Nachhaltigkeit?
Ich: Ich möchte sechs Aspekte betonen:
- Wenn wir über Strategie im Museumswesen sprechen, sollten wir stets mitdenken, dass es um die Entwicklung einer ganzheitlich-museologischen Strategie geht, die den gesamten Tätigkeitsrahmen der Museumsarbeit ausmacht und das Analoge und das Digitale miteinander vernetzt.
- Kommunikation muss heute cross-medial gedacht werden und nach Möglichkeit ohne Medienbrüche funktionieren, damit sich der kommunikative Faden zwischen dem Museum und seinen Besucher zu einer stabilen Kundenbindung entwickelt.
- Die Visitor Journey 2.0 vernetzt das Analoge und das Digitale. Dadurch entstehen neue Zugänge, die wiederum neue Kontexte erfordern bzw. ermöglichen. Darin sehe ich eine riesige Chance für den gesamten Museumssektor. Je nach den vorhandenen Ressourcen kann dieser Ansatz gut skaliert werden. Im Wesentlichen geht es zunächst um einen mentalen Paradigmenwechsel. Und der kostet keinen einzigen Cent. Aber es verlangt mutige Entscheidungen und eine Neubewertung der institutionellen Prioritäten, die im Idealfall in einem Leitbild fixiert sind.
- Um das Silo-Denken – früher hätten man Elfenbeinturm gesagt – zu sprengen, muss das Museum responsiv denken und handeln. Auch hierbei handelt es sich zunächst um eine mentale Weichenstellung – die dann natürlich sukzessive auch operative und technologische Auswirkungen mit sich bringt.
- Schon Karl-Friedrich Schinkel hat es 1830 so formuliert: „Erst erstaunen – dann belehren“. Natürlich würden wir heute andere Vokabeln verwenden, aber der Weg, den Schinkel beschreibt, der ist auch heute noch richtig: Emotional approach!
- Wir stehen vor einer enormen Herausforderung: Versuchen wir gesamtgesellschaftlich nach dem Shutdown so schnell wie möglich wieder zu einem Business as usual zurück zu kehren oder nutzen wir dieses Momentum des verordneten Verharrens (Pandemie) zugleich für eine gedankliche Horizontverschiebung hin zu #TheNewNormal?
Wie wäre es, wenn wir eine Vision aufgreifen, die einst Joseph Beuys entwickelt hat, als er den Begriff der Kunst erweiterte. Könnte das Museum nicht als eine Art Soziale Plastik fungieren?
Um einen solchen Prozess beginnen zu können, bedarf es in erster Linie einer mentalen Öffnung innerhalb der Institution Museum. Die im Museumsalltag oft tradierten Abteilungsgrenzen zwischen dem Kuratieren, dem Kommunizieren und dem Vermitteln müssen dafür überwunden werden. Durch eine kollaborative Arbeitsweise könnten die Potentiale der unterschiedlichen Kompetenzen und Sichtweisen bereits viel früher als bislang produktiv für die Ausstellungs- und Programmarbeit genutzt werden. In einem nächsten Schritt kann dann die Schnittstelle zum Publikum institutionalisiert werden. Der Vorteil für beide Seiten liegt klar auf der Hand: Aus der gegenseitigen Kenntnis der jeweiligen Bedürfnisse (Visitor Needs) und Notwendigkeiten (Museum Tasks) würde so ein viel größeres gegenseitiges Verständnis erwachsen. Die Graphik macht sehr schön deutlich, welche dialogisch-diskursive Kraft sich aus dieser vielschichtigen Überlappung gewinnen lässt.
Bei aller Dringlichkeit und Konsequenz, die die Bewältigung der aktuellen Pandemie von uns fordert, sollten wir uns an dieser Stelle diesen Moment des Nachdenkens gönnen, um planvoll zu entwickeln, wie ein wirklich kulturell-nachhaltiges Profil der Museums im #TheNewNormal konfiguriert sein sollte.
Alter ego: Ja, gegenseitiges Verstehen schafft Akzeptanz, die auch eine gute Grundlage für Relevanz bildet. Allenthalben wird derzeit über die Systemrelevanz von Kultur diskutiert. Hältst Du das für einen wirklich sinnvollen Ansatz?
Ich: Mit der Verwendung der Vokabel Systemrelevanz begeben sich die Museen in einen Wettbewerb mit technischer Infrastruktur wie der Strom- und Gasversorgung oder dem Gesundheitssystem. Ich halte das für nicht besonders attraktiv, weil wir damit nicht den Kern des Kulturellen treffen – diesen sehe ich nämlich im Sinnlichen, im Transzendenten, im Spirituellen. Ich beschreibe den Markenkern von Kultur viel lieber mit dem schönen Wort Seelenrelevanz – und wir haben deshalb auch die Patenschaft für dieses Wort übernommen.
Angesichts all dieser spannenden Herausforderungen, die in Zukunft noch auf uns zukommen werden, habe ich – gemeinsam mit sieben Kreativen, Wissenschaftler*innen, Kommunikativen und Strateg*innen – ein Konsortium gegründet. Unser Name ist Programm und Vision in einem: #museumNEUdenken.