Schule, Kultur und Pädagogik
Kultur und Bildung haben in der deutschen Literatur und Philosophie traditionell einen engen Zusammenhang (Witsch 2008). „Bildung“ ist gleichsam die subjektive Seite von „Kultur“. Gemeint ist immer die intellektuelle Hochkultur, die sich seit der Renaissance in höfischen Kontexten herausgebildet hat. „Gebildet“ konnte sich nur nennen, wer einen bestimmten Kanon beherrschte und mit seiner Person repräsentierte. Der Kanon ist seit der Antike mit den sieben Artes liberales bestimmt worden, zu ihm gehörten neben Grammatik (Latein), Dialektik, Geometrie, Arithmetik und Astronomie auch Musik und Rhetorik. Zur Kultur zählten daneben auch Künste wie Tanzen oder Fechten, die ebenfalls der Selbstdarstellung dienten.
Die habituelle Bildung der Renaissancekultur war nicht auf Subjektivierung zugeschnitten. Sowohl der Bildungskanon wie auch die Verhaltensregel standen nicht unter einem subjektiven Vorbehalt, vielmehr wurden sie als objektive Maßstäbe verstanden, an denen sich die Bildung der Person ausrichten musste. Wie man Briefe schrieb, Konversationen führte, Klassikerzitate anbrachte und so Bildung unter Beweis stellte, war weder beliebig noch einer persönlichen Ausdeutung unterworfen. Bildung hatte in der höfischen Gesellschaft einen Resonanzraum, in dem man sich schnell einmal blamieren konnte.
Die Subjektivierung der Bildung im Bildungsroman
Die Subjektivierung der Bildung hängt mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft zusammen (Kraus 2008). Der Ausdruck dafür waren im deutschen Sprachraum die Bildungsromane. Hier wird beschrieben, wie idealerweise die Vermittlung von Kultur und Subjekt vorzustellen ist, nämlich als individuelle Erfahrung der Welt ohne eine Vermittlungsmacht. Bildungsromane entstanden in einer Zeit, als der Staat noch nicht über ein Schulmonopol verfügte. Ansätze zu einer staatlichen Schulpflicht gab es seit den Schulordnungen der Reformation, die aber nie flächendeckend durchzusetzen waren.
In Bildungsromanen wird die Selbstformung des Subjekts beschrieben. Die kulturelle Welt wird nicht auf didaktische Weise vermittelt, sondern besteht aus Herausforderungen, die bestanden werden müssen. Noch in Goethes „Wilhelm Meister“ lenkt eine „Turmgesellschaft“ die Geschicke des Protagonisten, während in nachfolgenden Romanen wie Gottfried Kellers „Der grüne Heinrich“ die Welt ohne geheime Lenkung erfahren werden muss. Darin letztlich formt sich die Persönlichkeit, die also nicht pädagogisch betreut wird. Das erklärt, warum Bildungsromane immer mit Schulkritik verbunden sind.
Kulturelle Bildung in der Schule
„Kultur“ war immer auch Thema der Schule, in dem Sinne, dass sie seit dem Mittelalter Elementarbildung vermittelte und allmählich zur Institution einer eigenen Bildungskultur wurde. Diese Kultur bezieht sich auf Wissen und Können, soweit diese in der Form von Fächern und Fertigkeiten an je neue Generationen überliefert werden. Die Bildungskultur ist daher gegenüber ihrem Zweck nicht frei. Auf der anderen Seite hat sich das schulische Angebot seit Beginn des 19. Jh.s, als das Schulmonopol des Staates aufgebaut wurde, ständig weiterentwickelt, ohne sich dabei strukturell zu verändern.
Die Besonderheit „Kultureller Bildung“ (Fuchs 2008a) ergibt sich aus dem Tatbestand, dass öffentliche Schulen nie das ganze Spektrum von Kultur und Bildung anbieten und erst recht nicht vermitteln können (siehe Viola Kelb „Kulturelle Bildung und Schule“). Das Problem lässt sich an den periodischen Kanondiskussionen der Sprachfächer veranschaulichen. Hier werden regelmäßig Listen des Wünschenswerten entwickelt, die nicht ansatzweise zu den schulischen Fächern und ihren Zeitressourcen passen. Hinzu kommt, dass jeder Kanon, und sei er noch so ausführlich, immer eine Selektion darstellt. Selbst wer nur die Klassiker zählt, wird nie auf die Gesamtmenge der relevanten Titel kommen. Das schulische Bildungsangebot setzt eine exklusive Hierarchie von Fächern voraus und damit zusammenhängend die Unterscheidung von Kern und Rändern. Dahinter steht eine deutliche Nutzenkalkulation. Die Schule dient nicht einfach der Bildung, vielmehr setzt der Staat Ressourcen ein, damit Mindeststandards vermittelt werden, die lebenstauglich sein sollen. Auf dieser Linie ist Mathematik wichtiger als Musik und erhält im Curriculum signifikant mehr Zeit, obwohl der Bildungswert beider Fächer identisch ist. Seit der Antike ist das eine feststehende Grösse in der Bildungstheorie, ohne im schulischen Angebot berücksichtigt zu werden. Das zeigt, dass die staatliche Schule nicht einfach einer Bildungstheorie folgt, und sei sie noch so überzeugend.
Die Orientierung einzig an der Hochkultur ist mit der Öffnung der Gymnasien seit den 60er Jahren des 20. Jh.s fraglich geworden. Auch das klassische humanistische Gymnasium hat Fächer wie Musik, Kunst und Rhetorik stets wie Randfächer behandelt, wobei Rhetorik schon im 19. Jh. nicht mehr zum Lehrplan zählte. Instrumentalunterricht ist lange erteilt worden, stellt aber heute, ausgenommen in der Schweiz, kein durchgehendes Angebot mehr dar. Der Literaturunterricht folgt einem erprobten Kanon, der sich auf das bezieht, was heutige SchülerInnen als Lektüre akzeptieren. Zudem spielt das Zentralabitur bei der Lektüreauswahl eine wichtige Rolle. Persönliche Künste wie das Tanzen sind aus der Schule weitgehend verschwunden. Von Fechten oder der Kunst der Selbstverteidigung nicht zu reden.
Auf diesem Wege haben sich verschiedene Bildungskulturen herausgebildet. Wesentliche Erfahrungen finden außerhalb der Schule statt, man denke an selbstorganisierte Musikgruppen, Theaterinitiativen oder künstlerische Vereinigungen, die sich privat zusammenfinden und eigene Ziele verfolgen. Das Motiv hinter diesen Zusammenschlüssen ist einfach Interesse und nicht ein staatlicher Lehrplan. Große Nachfrage erleben private Musikschulen, die in Ländern wie Baden-Württemberg nahezu ein Monopol für den Instrumentalunterricht aufgebaut haben und steigende Nachfrage erleben. Was Schulen mangels zeitlicher Ressourcen und aufgrund fehlender Spezialisierung nicht können, übernehmen private Anbieter, allerdings nur unter der Voraussetzung von Subventionen.
Schon an diesen Beispielen ist abzulesen, dass es ein historischer Irrtum ist, sich Bildung allein durch den Staat organisiert und verantwortet vorzustellen. Was immer begrifflich unter „Kultur“ vorgestellt werden kann, damit verbunden ist immer Spontaneität und Nichtberechenbarkeit. Mit Musik und Kunst soll sich nicht nur Freude verbinden, sondern auch persönliche Entwicklung und in gewisser Hinsicht auch Widerständigkeit. Wer ein Instrument beherrscht, ist nicht auf die „Rieselfelder“ der Unterhaltungsindustrie angewiesen. Wer selbst malt oder zeichnet, hat einen anderen Zugang zur ästhetischen Wirklichkeit, als der, der diese Kunst nicht beherrscht. Und wer mit Freunden Musikstücke schreibt, selber aufführt und über das Internet vermittelt, wird unabhängig von der kommerziellen Musikbranche. In diesem Sinne kann Kunst als „pädagogische Herausforderung“ verstanden werden (Schulz 2003).
Bezogen auf das schulische Bildungsalter lässt sich festhalten, dass Eltern in Umfragen und Interviews eine Verstärkung der Kulturellen Bildung und so der ästhetischen Fächer wünschen (Barz/Kosubek 2011; Vasarik Staub 2012). Hätten die Eltern die Wahl zwischen Frühenglisch und Musik in der Grundschule, würden sie Musik wählen, weil kompetenter Englischunterricht auch später noch einsetzen kann und aber musikalische Frühförderung als unverzichtbar angenommen wird, wenn tatsächlich ein Instrument gelernt und im Ensemble gespielt werden soll. Das Gleiche gilt für kreative Erfahrungen in der Kunst oder auch im Bewegungsverhalten heutiger Kinder. Grundschulen sind hier vergleichsweise weit entwickelt, dennoch investieren immer mehr Eltern in außerschulische Angebote, die zunehmend mehr auch die kommunalen Bildungslandschaften bestimmen.
Bildungstheoretisch ist diese Entwicklung zu begrüßen. Einerseits hat die Entwicklung von Leistungstests dazu geführt, nur noch bestimmte Fächer im schulischen Angebot ernst zu nehmen, was alleine schon einen Ausgleich auf Angebotsseite erforderlich macht. Andererseits ist die Entwicklung von Kindern nicht so zu verstehen, dass allein kognitive Leistungen gefördert werden müssten, umso weniger, wenn „kognitiv“ sich alleine auf Mathematik, Naturwissenschaften und Lesen bezieht. Musik und Kunst sind von ihrem Symbolgehalt her kognitive Herausforderungen. Das bedeutet, ihnen kommt in der Bildungserfahrung nicht einfach ein „Erholungswert“ zu.
Bildungsprozesse in theoretischer Perspektive
Die theoretische Erfassung von Bildungsprozessen muss daher von einem allseitigen Verständnis ausgehen und überflüssige Dualismen vermeiden. Die Gleichsetzung von „kognitiv“ und „Leistung“ verstellt den Blick in mehrfacher Hinsicht. Kognitiv kann nicht einfach genannt werden, was die Schule an Wissen abverlangt. Daher ist in der neueren Diskussion zu Recht davon die Rede, Lernaufgaben als Aufforderung zur Problemlösung zu verstehen und Lernen nicht länger als Reproduktion wahrzunehmen. Mit einem solchen Verständnis von Lernen lassen sich auch die ästhetischen Fächer berücksichtigen, zumal dann, wenn unter „Problem“ auch ästhetische Irritationen und Fremdheiten verstanden werden (Peez 2005; Papst 2007).
„Bildung“ wäre dann die Anreicherung von Lösungen mit je neuen Problemen. Die deutsche Pädagogik müsste sich auf dieser Linie von ihrer grundlegenden Relation von „Subjekt“ einerseits und „Welt“ andererseits trennen (Oelkers 2009). „Bildung“ ist nicht einfach Übernahme von Kultur, wie die Klassikerkonstruktionen annehmen, sondern Auseinandersetzung mit Problemen und die Steigerung des Schwierigkeitsgrades (Dewey 1910). In diesem Sinne kann von einem Prozess die Rede sein, der an kein Ziel führt, wohl aber mit Niveausteigerungen verbunden ist. Am Ende von Wilhelm Meisters Reise durch die Welt findet er seine „innere Form“, die er auf Dauer behält, während heute Bildungsprozesse nur fortgesetzt werden können. Herausforderungen gibt es genug, sofern ein Zugang gefunden wird.
Diese Bedingung ist für alle Bildungsprozesse anzunehmen, auch wenn sie sich inhaltlich wie didaktisch noch so sehr unterscheiden. Man akzeptiert nur dann Schwierigkeiten und Probleme, wenn man sich für sie öffnen kann und ihnen so mit Interesse begegnet. Die Interessen sind spezifiziert. Das Problem ist nicht, dass möglichst alle alles lernen, sondern wie Zugänge gefunden werden können, die dauerhafte Interessen und Verknüpfungen ermöglichen.
Das begrenzt den Anspruch der allgemeinen Bildung innerhalb und außerhalb der Schule. Wohl ist damit das Bildungsangebot begründet, aber nicht die tatsächliche Bildungserfahrung. Gerade wer Bildung an die Entwicklung des Subjekts bindet, muss „Ganzheitlichkeit“ in aller Regel ausschliessen. Wer sich für Musik interessiert, muss nicht notwendig ein Literaturliebhaber sein, und wer sich das Erlernen von Sprachen zutraut, hat nicht zwingend auch Interesse für Probleme der Ökonomie.
Zusammengefasst gesagt: Kulturelle Bildung ist mehr als das, was die staatlichen Bildungskulturen in Form von Schulen anbieten. Schulen können nie das gesamte Spektrum abbilden, sollten in Zukunft aber gerade im Bereich der ästhetischen Fächer Kooperationen eingehen, die sich auf sinnvolle Weise curricular verrechnen lassen. Ganztagsschulen bieten sich dafür an (Lehmann-Wermser u.a. 2010). Auch die Reduktion von Bildung auf Schul- und Ausbildungszeit ist irreführend. Soweit Bildung mit Lernen und dem Öffnen von Zugängen zu tun hat, ist damit eine lebenslange Aufgabe verbunden.