Quo vadis Kulturelle Teilhabeforschung?
Abstract
Durch Publikumsforschung ist die Besucher*innenstruktur von Kultureinrichtungen einigermaßen statistisch erfasst. Meist älter, eher weiblicher und vor allem formal hoch gebildet. Leiteten ab den 1990er Jahren noch betriebswirtschaftliche Fragen die empirische Erforschung derjenigen, welche Kultureinrichtungen (nicht) besuchen, sind es zwischenzeitlich auch (wieder) sozialpolitische Intentionen. Der Text zeichnet die wesentlichen Interessensstränge am Publikum von Kultureinrichtungen im Zeitverlauf nach. Es wird deutlich, weshalb vor dem Hintergrund eines Strebens nach einer Kultur für alle der Begriff der Kulturellen Teilhabeforschung passend ist, um den unterschiedlichen aktuellen Erkenntnissinteressen am Publikum wie auch an der Gesellschaft an sich zu entsprechen. Am Beispiel von Diversität und Nachhaltigkeit werden gesellschaftliche Globalthemen diskutiert, welche Fragestellungen und Methoden der Kulturellen Teilhabeforschung herausfordern. Zukünftige Entwicklungen der Forschungsfragen im Feld werden erörtert und somit unterschiedliche Perspektiven eröffnet.
Der Status Quo: Von der Publikums- zur Kulturellen Teilhabeforschung
Das Publikum von Kultureinrichtungen ist in Deutschland zwischenzeitlich keine unbekannte Größe mehr. Besucher*innenbefragungen sind in Theatern, Museen oder Konzertveranstaltungen ein bekanntes Instrument, um das Publikum auch empirisch zu erfassen. Neben Kultureinrichtungen selbst interessiert sich auch akademisch intendierte oder anwendungsorientierte Forschung für das Publikum unterschiedlicher Sparten (Mandel 2023), ganz allgemein für das Freizeit- und Kulturverhalten der Bevölkerung (Allmanritter 2019) oder für besuchsverhindernde Barrieren (siehe Thomas Renz (2016): Nicht-BesucherInnen öffentlich geförderter Kulturveranstaltungen).
Die Geschichte der Publikumsforschung ist im Vergleich zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen oder kulturbetrieblichen Instrumenten in Deutschland jedoch relativ jung. Ab den 1960er Jahren finden sich vor allem in einzelnen Museen erste entsprechende Studien, beispielsweise 1965 am Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg (Schiedlausky 1965). Kulturpolitisch gesehen lag der Arbeitsauftrag von Kultureinrichtungen in den Anfangsjahrzehnten der Bundesrepublik vor allem auf dem Fokus des Wiederaufbaus und Bewahren des kulturellen Erbes. Die Nachfrage des Publikums war sehr hoch, wie jüngst Rainer Glaap am Beispiel der Theater verdeutlicht hat (Glaap 2024) und somit gab es noch keine ökonomischen oder sozialpolitischen Gründe, welche einen intensiven empirischen Blick auf das Publikum nötig gemacht hätten.
Ab Mitte der 1970er wehte in (West-)Deutschland mit der Neuen Kulturpolitik ein neuer kulturpolitischer Wind. Erstmals rückte die – insbesondere sozial ungleiche – Teilhabe der Bevölkerung am öffentlich geförderten Kulturleben in den Fokus. Auch wenn diese Überlegung damals noch nicht unter dem Label Kulturelle Teilhabe firmierten, waren die sozialpolitischen und theoretischen Grundlagen der heutigen Verwendung dieses Begriffs sehr ähnlich. Der damit verbundene Wunsch nach mehr und sozial diverserer Teilhabe ging jedoch nicht zwingend mit einem verstärkten empirischen Interesse am Publikum einher. Die Väter und – im späteren Verlauf oft vergessenen – Mütter von Kultur für alle waren vielmehr so von Ihrem Ideal überzeugt, dass sie an eine empirische Überprüfung der vermeintlichen Erfolge gar nicht dachten, wie Dieter Kramer, ein Mitstreiter Hilmar Hoffmanns in der Frankfurter kommunalen Kulturpolitik, Jahre später einräumte (Kramer 1995).
Rückblickend ist es dann fast schon ein wenig ernüchternd, dass erst ökonomische Zwänge den Wunsch nach empirischen Untersuchungen über das eigene Publikum in Kultureinrichtungen keimen ließen. Ab Mitte der 1990er Jahre sanken erstmalig die öffentlichen Ausgaben für Kunst und Kultur, privatwirtschaftliche Kulturanbieter wie beispielsweise die großen Musicals buhlten um Kundschaft und ganz generell waren die finanziellen Spielräume öffentlicher Haushalte wesentlich angespannter als noch in den – ausgabenbezogen rückblickend goldenen – 1980er Jahren (Renz 2012). Verbunden mit einer allgemeinen Managerialisierung öffentlicher Verwaltungsprozesse und betriebswirtschaftlichen Begründungen von Kultur als weichem Standortfaktor entwickelte sich ein stärkeres empirisches Interesse an betriebswirtschaftlichen Merkmalen der Besucher*innen. Oft in Kombination mit einem Bedeutungszuwachs von Kulturmarketing in die Kultureinrichtungen gebracht, hatte Besucher*innenforschung damals primär ökonomische Zielsetzungen auf der Agenda.
Im Zeitverlauf bis heute hat Publikumsforschung einen immer zentraleren Stellenwert erhalten. In einer ersten Meta-Studie wurde 2007 festgestellt, dass 53% der befragten Museen und 64% der befragten Theater in Deutschland in den letzten fünf Jahren mindestens eine Besucher*innenbefragung durchgeführt haben (ZAD 2007). 2020/2021 führte das Institut für Kulturelle Teilhabeforschung im Rahmen eines Beitrags für den NRW-Landeskulturbericht eine ähnliche Untersuchung durch. Dazu wurde eine Stichprobe von 21 dauerhaft öffentlich geförderten bzw. getragenen Theatern und Musiktheatern (mit eigenem Ensemble und eigener Spielstätte) sowie 138 Kunstmuseen in Nordrhein-Westfalen (unabhängig von der Größe/Besucher*innenzahl oder Trägerschaft) ausgewählt. Es war dann etwas überraschend, dass nur 31% der Museen und 46% der Theater angaben, in den letzten fünf Jahren ihr Publikum empirisch befragt zu haben (Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen 2022:131). Auch wenn diese jüngste Studie nur ein Bundesland und nur einen Teil der öffentlich geförderten Kultureinrichtungen repräsentiert, ist schon ein gewisser Trend festzustellen: Publikumsforschung findet statt, jedoch in den seltensten Fällen kontinuierlich und dauerhaft (Renz/Allmanritter 2022).
Dennoch steht für viele Kultureinrichtungen inzwischen außer Frage, dass Informationen zum Ist-Zustand und zu Veränderungen der aktuellen und potenziellen Besucherschaft hilfreich für die Weiterentwicklung oder Professionalisierung der eigenen Arbeit sind. Ein Indikator für diese Entwicklung sind auch verbandliche Aktivitäten: 2023 hat sich mit dem Netzwerk Besucher*innenforschung ein Verbund von Museen gegründet, die empirische Publikumsforschung als Teil ihrer Arbeit verstehen und stellenweise dafür auch Personalressourcen zu Verfügung stellen (besucherinnenforschung.de). Und auch der Deutsche Bühnenverein hat im gleichen Jahr ein Projekt zur strategischen Publikumsentwicklung begonnen, welches auch auf empirischen Besucher*innen- und Bevölkerungsbefragungen aufbaut (Pressemitteilungen buehnenverein.de).
Inhaltlich ist das Interesse am (potenziellen) Publikum sehr vielfältig. Obwohl Publikumsforschung bis in die 1990er Jahre auch sozialwissenschaftlichen Fragen nachging (Klein 1980), wird diese häufig mit betriebswirtschaftlichen Fragestellungen in Verbindung gebracht. Durch den oben beschriebenen Boom der Publikumsforschung im Rahmen des Einsatzes der Instrumente des Kulturmanagements ab Beginn der 2000er Jahre, dominieren immer wieder Fragen aus dem Kulturmarketing.
Zwischenzeitlich sind mögliche Grabenkämpfe zwischen ökonomisch intendierten betriebswirtschaftlichen, künstlerischen oder sozialpolitischen Fragestellungen überwunden. Oft nutzen unterschiedliche Intentionen sogar die gleichen Fragen, z. B. sozio-demografische oder psychografische Fragen. Es ist vielmehr relevanter, aus welcher ideellen oder theoretischen Perspektive und mit welchen praktischen Konsequenzen diese Fragen gestellt werden. So kann beispielweise aus dem Wissen über die Verteilung von Erst- und Wiederholungsbesuchenden zum einen eine intensivere Bewerbung bei den Stammgästen mit dem Ziel einer kurzfristigen Erhöhung der Einnahmen erfolgen. Zum anderen kann daraus aber auch eine Kampagne zur langfristigen Bindung von Erstbesucher*innen folgen, mit dem Ziel die Publikumsstruktur nachhaltig diverser aufzustellen.
Das Phänomen der empirischen Erforschung des Publikums wurde im Zeitverlauf mit unterschiedlichen Begriffen beschrieben. Seit den 2000er Jahren waren das beispielsweise der inzwischen seltener verwendete Begriff der Kulturnutzerforschung (Mandel/Renz 2015), der neutralere Begriff der Publikumsforschung (Glogner-Pilz 2012) oder der zwar wissenschaftlich eindeutige, forschungsethisch jedoch nicht unkritische Begriff der Nicht-Besucher*innenforschung (siehe Renz 2016). Zwischenzeitlich scheint sich übergreifend Kulturelle Teilhabeforschung als Sammelbegriff durchzusetzen.
Der Begriff der Teilhabe entstammt ursprünglich politischen und insbesondere sozialrechtlichen Diskursen. Er beschreibt einen Leitbegriff sozialpolitischen Handelns und war bzw. ist lange mit Menschen mit Behinderung assoziiert, in der Praxis zum Teil auch darauf beschränkt (vgl. Aktionsbündnis Teilhabeforschung). So wird der Begriff Teilhabe beispielsweise in der Kinder- und Jugendhilfe oder im Rahmen der Grundsicherung nach Sozialgesetzbuch (SGB II) verwendet. Theoretische Grundlage der Teilhabe-Idee ist ein Streben nach gesellschaftlicher Gerechtigkeit. Peter Bartelheimer führt dazu aus:
„Das Teilhabekonzept fordert keine Gleichheit der Lebensführung (Outcomes) oder Normalisierung der Lebensstile und Handlungspraktiken, sondern eine gerechte Verteilung der Verfügung über Wahlmöglichkeiten.“ (Bartelheimer et al 2022:7)
Es geht also im Grunde darum, Zugänge zu gesellschaftlich wertvollen Räumen, Diskursen oder Institutionen für alle zu schaffen. Alle sollen mit den für ihre persönliche Situation nötigen Ressourcen ausgestattet werden, um in freier Entscheidung am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Wenn es also um das Publikum geht, impliziert der Begriff der Kulturellen Teilhabe stets auch eine über die einzelne Kultureinrichtung hinausgehende gesellschaftliche wie politische Verantwortung, diese Zugänge zu ermöglichen und zu sichern. Denn mögliche Barrieren, welche beispielsweise Besuche von Theatern oder Museen verhindern, sind nicht nur durch Einrichtungen selbst (z.B. zu teure Eintrittspreise), sondern auch durch Kulturpolitik (z.B. Förderung von Kultureinrichtungen in Wohnortnähe) oder andere Politikfelder (z.B. teilhabefördernde Bildungspolitik) zu verändern. Neben zahlreichen Publikationen (siehe Birgit Mandel (2014): Kulturelle Teilhabe: Kulturelle Bildung für mehr Kulturpublikum?) zeigt sich die Etablierung des Begriffs der Kulturellen Teilhabe jüngst in dessen Institutionalisierung. 2020 wurde in Berlin das Institut für Kulturelle Teilhabeforschung, 2022 in Baden-Württemberg das Zentrum für Kulturelle Teilhabe gegründet. Letzteres erklärt mögliche unterschiedliche Dimensionen des Begriffs:
„Kulturelle Teilhabe / participation culturelle / cultural participation sind in der europäischen und internationalen Kulturpolitik etablierte Begriffe und besonders in Deutschland, in Frankreich, in den skandinavischen und Benelux-Ländern sowie auf EU- und UNESCO-Ebene ein wichtiges kulturpolitisches Thema. Das Verständnis von kultureller Teilhabe reicht dabei von einem engen Verständnis, das sich auf den Zugang und das Publikum von Kulturinstitutionen limitiert (z.B. Belgien), über ein stark vermittlungs- und bildungsbasiertes Verständnis (z.B. Deutschland) bis zu einem breiteren Verständnis mit dem Fokus auf eigener kultureller Betätigung (z.B. UNESCO).“ (Zentrum für Kulturelle Teilhabeforschung Baden-Württemberg o.J.)
Auch in Deutschland gibt es ein unterschiedliches Verständnis von Kultureller Teilhabe, was vor allem mit unterschiedlichen Praxisfeldern zu tun hat. Für Kultureinrichtungen selbst ist ein engeres Verständnis im Sinne der Zugänge zur eigenen Einrichtung naheliegend. Kulturpolitik verfolgt auch diese Dimension in Bezug auf die öffentlich geförderten Einrichtungen, allerdings geht es dort auch um die Perspektive eines gerechten Zugangs aus gesellschaftlicher Sicht.
Obgleich der Begriff der Kulturellen Teilhabe wie dargestellt in seiner Verwendung zuletzt eine gewisse Konjunktur erfahren hat, gibt es auch berechtigte Stimmen, welche an diesem Kritik äußern. Denn wie auch in vielen anderen Konzepten – beispielsweise auch im politischen Konzept einer Kultur für alle (Hoffmann 1979) – bedarf es einer Normierung, was überhaupt der Gegenstand sein soll, zu dem in diesem Fall Teilhabe ermöglicht werden soll. Eine solche Normierung ist in der Regel politisch oder ideologisch, die Wissenschaft liefert hier keine neutrale Lösung:
„Wenn im öffentlichen Diskurs von Teilhabe gesprochen wird, geschieht dies häufig mit einem normativen Anspruch: Je mehr Teilhabe, desto besser. Hierbei bleibt allerdings unklar, ab wann „Teilhabe“ erreicht ist.“ (annehu 2020)
Es stellt sich also die Frage, wer diesen normativen Anspruch mit welchen Absichten definiert. Eine pragmatische und aus Perspektive der Forschung politisch nachvollziehbare Lösung ist die Delegation eines solchen Kulturbegriffs an Ziele und Ergebnis öffentlicher Kulturförderung (siehe Renz 2016).
Es liegt jedoch in der Natur der Sache, dass Konflikte entstehen können, wenn dabei Gruppen (z.B. Politiker*innen) über Belange anderer (z.B. Menschen aus bestimmten sozialen Gruppen) entscheiden. Problematisch wird es, wenn die Menschen, um die es gehen soll, nicht in mögliche Teilhabefördermaßnahmen eingebunden werden. Dann entscheidet eine Gruppe von Nicht-persönlich-Betroffenen über etwaige Barrieren und deren Abbau. Eine solche fehlende Partizipation in der Benennung von Barrieren und folgend in Maßnahmen zu deren Abbau wird in politischen Prozessen auch zunehmend als Herausforderung erkannt, beispielsweise in der Förderung von Menschen mit Behinderung oder in der kritischen Weißseins-Forschung (Morrison 1994, Arndt 2005).
Aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen der Kulturellen Teilhabeforschung: Diversität und Nachhaltigkeit
Wie in allen sozialwissenschaftlich intendierten Forschungsfeldern spiegeln sich auch in den Themen und Trends der Kulturellen Teilhabeforschung aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen. Das liegt im Charakter dieses Forschungsfelds, das explizit neben den Anwendungsansprüchen der einzelnen Kultureinrichtung auch darüberhinausgehende gesellschaftliche Ziele und Einflussfaktoren zum Gegenstand macht. Im Folgenden sollen daher die Globalthemen Diversität und Nachhaltigkeit in Bezug auf Herausforderungen der Kulturellen Teilhabeforschung beleuchtet werden.
Diversität ist in zwei Kontexten relevant. Zum einen ist sie Teil betriebswirtschaftlicher Überlegungen, wonach eine Organisation oder ein Betrieb wirtschaftlich mehr leistet, wenn die beteiligten Personen Unterschiede aufweisen. Auch hier gibt es keine abgeschlossene Normierung, um welche Unterschiede es sich dabei handeln soll. Häufig sind damit in kulturbetrieblichen Kontexten die Dimensionen Geschlecht, Alter oder ethnische Herkunftsgeschichte gemeint. Der Output, welchen eine divers besetzte Gruppe produziert, steht im Mittelpunkt (Franken 2015). Anders ist es beim zweiten Kontext. Diversität kann ebenso auch als gesellschaftspolitischer Anspruch gelesen werden, im Sinne des Teilhabekonzepts möglichst allen Menschen gleichberechtigte Zugänge zu wertvollen Räumen, Diskursen oder Institutionen zu schaffen. Dann beinhalten Konzepte auch einen proaktiven Abbau von Diskriminierung, welche sonst diese Zugänge erschwert bzw. verhindert (DAC o.J.).
Im Feld der Kulturellen Teilhabeforschung wurden in den letzten Jahren unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen zum Gegenstand empirischer Untersuchungen, beispielsweise Kinder und Jugendliche (Keuchel/Larue 2012), Menschen mit Migrationshintergrund (siehe Vera Allmanritter (2014): Menschen mit Migrationshintergrund als Kulturpublikum) oder Senior*innen (Keuchel/Wiesand 2008). Hintergrund sind die zunehmenden Bestrebungen aus Kulturpolitik und vor allem auch dem Kulturbetrieb selbst, aktiv Diversität im eigenen Personal sowie im Publikum zu fördern. Kultureller Teilhabeforschung kommt dabei die Aufgabe zu, solche Bestrebungen auch auf einer empirischen Ebene zu überprüfen und bestenfalls Erfolgsstrategien zu extrahieren. Beispielsweise sollte der Wunsch nach mehr Diversität im sonst klassisch nicht-diversen Publikum auch mit einer Publikumsbefragung begleitet werden, um mögliche strukturelle Veränderungen (z.B. der Altersverteilung) auch empirisch darzustellen und sich nicht auf Bauchgefühl oder unsystematische Beobachtung zu verlassen. Da Besucher*innenforschung in öffentlich-geförderten Kultureinrichtungen jedoch nur sehr selten dauerhaft und kontinuierlich durchgeführt werden (Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen 2022), ist eher das Gegenteil die Regel. Dann bleiben spannende Versuche über andere und neue Programme auch ein diverseres Publikum zu erreichen leider empirisch nicht überprüft, wie z.B. zuletzt im Schauspielhaus Zürich (Heintges 2023).
Für Kulturelle Teilhabeforschung haben die daraus resultierenden Bedarfe von Kultureinrichtungen an Wissen über unterschiedliche Dimensionen von Diversität vor allem methodische Konsequenzen. Denn die Erhebung von solchen sensiblen Daten ist vor allem mit forschungsethischen Fragen verbunden. Beispielsweise sind Fragen zu körperlichen oder geistigen Einschränkungen im Rahmen eines persönlichen Interviews im Foyer eines Museums nicht möglich. Schriftliche oder Online-Befragungen schaffen dazu geschütztere Räume, wenn das Ausfüllen eines Fragebogens beispielsweise in der eigenen Wohnung erfolgt, was dann aber zu organisatorischen und finanziellen Herausforderung führt, wenn beispielsweise das Laufpublikum im Anschluss eines Museumsbesuch befragt werden soll. Zudem ist vor allem bei standardisierten Befragungen mit vorgegebenen Antworten zu prüfen, dass niemand aufgrund gegebener oder auch fehlender Antwortoptionen diskriminiert wird. Beispielsweise gibt das Institut für Kulturelle Teilhabeforschung in den regelmäßig durchgeführten Publikumsbefragungen (www.iktf.berlin/kulmon/) beim Geschlecht neben männlich, weiblich, will ich nicht sagen auch die Option „möchte ich selbst definieren“ verbunden mit einem freien Eingabefeld vor. Das entspricht zwar nicht ganz genau der Definition von „divers“ nach dem Personenstandregister, verhindert jedoch, dass Personen mit nicht binärer Geschlechtszuordnung, welche jedoch sich selbst nicht als divers bezeichnen, ein anderes Label angeben können.
Ähnliche methodische wie auch gegebenenfalls ökonomische Konsequenzen für Kulturelle Teilhabeforschung hat das Thema Nachhaltigkeit. Das Streben nach einer nachhaltigen Lebensführung wird zunehmend auch von Kultureinrichtungen verfolgt. Zum einen erfolgt das durch Übernahme einer kulturpolitischen Steuerungsverantwortung, z. B. aktuell die Anlaufstelle Green Culture der Beauftragten für Kultur und Medien der Bundesregierung. Zum anderen entwickeln auch Kultureinrichtungen selbst Anstrengungen, nachhaltig zu wirtschaften und das Thema auch in künstlerische Programme, z.B. ein Klimakonzert, zu integrieren. Ein politikfeldübergreifendes Instrument zur empirischen Messung der Erfolge solcher Bemühungen liegt im sogenannten ökologischen Fußabdruck. Das ist ein Indikator, der den Flächenverbrauch eines Menschen berechnet, um dessen Ressourcenbedarf zu decken. Wesentliche Grundlage von solchen Berechnungen ist zuerst die Erfassung des Status Quos. Bund und Länder haben dazu mit dem CO2-Kulturstandard ein Instrumentarium entwickelt, welches Kultureinrichtungen ermöglicht, ihre CO2-Emmissionen zu bilanzieren. Neben direkten Emissionen wie z. B. die Heizungsanlage eines Theaters und energiebezogene Emissionen werden auch indirekte Emissionen gemessen. Der Leitfaden dieses Standards weist bereits indirekt auf die methodischen Herausforderungen der Kulturellen Teilhabeforschung hin. Dort wird die Messung von direkten und indirekten Emissionen zur Pflicht gemacht und die Erfassung zusätzlicher indirekter Emissionen als optional verstanden, weil „deren Erhebung jedoch oftmals recht aufwändig ist oder für welche die erforderlichen Daten nicht immer vorliegen“ (vgl. ebd.:12). Wesentlicher Grund für das Ausklammern dafür liegt in der Messung der Anreise der Besuchenden, welche aus Sicht der Autor*innen des Leitfadens einen wesentlichen Teil der Emissionen einer Kultureinrichtung ausmacht. Die Datenbeschaffung dazu ist jedoch mit Aufwand verbunden. Zum einen liegt es daran, dass regelmäßige Publikumsbefragungen nicht die Regel ausmachen und es darum kaum erprobte Instrumentarien gibt, um solche Fragen zu beantworten. Zum anderen ist es auch eine methodische Herausforderung im Rahmen von Befragungen die Anreise der Gäste korrekt und umfassend zu erfassen. Am Institut für Kulturelle Teilhabeforschung wird dazu aktuell ein Fragenblock entwickelt. Um die Emissionen aus der Anreise der Gäste korrekt zu erfassen, müssen das gewählte Verkehrsmittel sowie die durchschnittlich zurückgelegte Distanz gemessen werden. Der Teufel liegt jedoch wie so oft im Detail, denn konkret müssen folgende Indikatoren abgefragt werden: Das genutzte Verkehrsmittel ist einfach und standardisiert zu erfassen. Wird ein Gast mit Wohnsitz im Ort der besuchten Kultureinrichtung befragt, ist die Konsequenz einfach: Durch Abfrage des konkreten Wohnorts (z.B. Bezirk einer Stadt oder Postleitzahl) kann der zurückgelegte Weg in etwa und in groben Kategorien errechnet werden. Die andere Möglichkeit, die befragte Person nach den zurückgelegten Kilometern zu befragen, funktioniert in der Praxis oft nicht, da fehlendes Wissen oder falsche Schätzwerte zu sehr die Qualität der Daten negativ beeinflussen. Aufwändiger wird es bei der Befragung von Gästen, welche die Kultureinrichtung im Rahmen einer Reise besuchen. Hier ist nicht nur der zurückgelegte Weg zwischen Unterkunft und Kultureinrichtung, sondern auch der generelle Reiseweg zwischen Wohnort und besuchter Destination relevant. Zudem muss im Grunde genommen auch noch ermittelt werden, ob der Besuch der Einrichtung den Hauptgrund der Reise darstellt oder nur eine Aktivität von vielen war. Letzteres zeigt, dass die Messung der Emissionen der Anreise der Besucher*innen nie technisch genau auf ganz konkrete Kilometer und mit dem gewählten Verkehrsmittel verbundene CO2-Ausstöße gemessen werden kann. Die Systematik der Berechnung muss also immer Kompromisse eingehen, was ab einem gewissen Punkt mit den Grundsätzen der Emissionsmessung wie Vollständigkeit, Konsistenz und Genauigkeit kollidieren kann. Die Vielzahl der damit verbundenen Fragen führt zudem zu ökonomischen Herausforderungen, wenn beispielsweise im Rahmen einer allgemeinen Publikumsbefragung diese auch noch in einen Fragebogen integriert werden. Dann steigt die Dauer der Befragung enorm und erfahrungsgemäß sinkt die Bereitschaft zur Teilnahme.
Perspektiven der Kulturellen Teilhabeforschung: Noch mehr Differenzierung und Anschlussfähigkeit an die Praxis
Das Grundwissen über Kulturelle Teilhabe im Allgemeinen und Besucher*innen von Kultureinrichtungen im Besonderen hat zwischenzeitlich eine gewisse Sättigung erreicht. Beispielsweise sind sozio-demografische Ungleichheiten oder der Stellenwert des Elternhauses als stärkstem Einflussfaktor mehrfach empirisch nachgewiesen (vgl. Renz 2014). Perspektivisch öffnen sich in der Kulturellen Teilhabeforschung jedoch unterschiedliche inhaltliche Entwicklungen. In der Beschäftigung mit Befragungsdaten wird immer wieder deutlich, dass detailliertere Auswertungen zu einem weitaus differenzierteren Bild vom Publikum von Kultureinrichtungen führen, als in der Kommunikation von Befragungsergebnissen manchmal ersichtlich wird. Das betrifft zuerst eine Abkehr vom wenig differenzierten Begriff vom Kulturpublikum zugunsten des Publikums konkreter Sparten. So zeigen Analysen des Instituts für Kulturelle Teilhabforschung, dass Kultureinrichtungen der Darstellenden Künste und der klassischen Musik überdurchschnittlich häufig ältere Zielgruppen ansprechen, wohingegen Technik oder Wissenschaft vermittelnde Museen altersbezogen ein durchweg gemischtes Publikum haben und jüngere Zielgruppen sogar im Vergleich zur Gesellschaft überdurchschnittlich häufig erreichen (Renz 2024:65). Demnach ist die regelmäßig kommunizierte Drohung vom aussterbenden Kulturpublikum zu relativieren. Für Opern ist sich die Kultursoziologie durchaus einig, dass es sich um einen problematischen Generationeneffekt handelt (Reuband 2005). Für einige Museumsarten ist jedoch eher das Gegenteil der Fall.
Eine weitere Detailauswertung betrifft den Befragungsort und die (aktuell noch nicht wirklich stattfindende) Diskussion von Gründen für regionale Unterschiede. In Berlin ist beispielsweise der Anteil von touristischen Besucher*innen in Kultureinrichtungen überdurchschnittlich hoch. Wird allerdings die eben geforderte Differenzierung nach Sparten angewendet, so werden auch hier Unterschiede sichtbar: Vor der Pandemie machte der Anteil von touristischen Besucher*innen in Museen und insbesondere Gedenkstätten bis zu Dreiviertel aller Gäste aus. In Theatern oder Opern ist diese Verteilung umgekehrt – hier dominieren lokale Gäste (Stefanis 2024). Bisher gibt es wenig Studien zur Kulturellen Teilhabe in bestimmten Regionen oder Orten, eine lesenswerte Ausnahme stellt die schon 20 Jahre alte Untersuchung der Rheinschiene und der dortigen Kulturellen Teilhabe dar (Keuchel 2003). In diesem Feld liegt noch viel Potenzial für Vergleiche, auch in Bezug auf mögliche Einflussfaktoren wie beispielsweise lokale Kulturpolitik. Solche Vergleiche sind auch im internationalen Kontext noch sehr selten (Mandel et al 2021).
Methodisch ist darauf hinzuweisen, dass Forschungsfragen zu Unterschieden im Publikum verschiedener Städte oder Regionen wie auch zur Publikumsstruktur im Allgemeinen in der Regel mit quantitativ-standardisierten Methoden beantwortet werden. Dann wird „bei allen Menschen einzelnes betrachtet“ (Noelle-Neumann und Petersen 1996:28). In der qualitativen Forschungslogik wird hingegen „beim einzelnen Menschen alles betrachtet“ (ebd.). Durch die Konnotation mit gesellschaftspolitischen Zielen im Sinne einer messbaren gesellschaftlichen Teilhabe, scheinen auf den ersten Blick quantitativ-standardisierte Methoden in der Kulturellen Teilhabeforschung zu dominieren. Es gibt jedoch auch zahlreiche qualitative Ansätze. Dann geht es weniger um den Blick auf die gesamte Gesellschaft, sondern mehr um individuelle Zugänge zu kultureller Teilhabe, beispielsweise Besuche von Theatern im biografischen Verlauf (Renz 2015), persönliche Rezeptionserfahrungen im zeitgenössischen Tanz (Freitag et al 2024) oder im Museum (Kirchberg und Tröndle 2015). Bisher gibt es eher wenig Ansätze, die Erkenntnisse beider Forschungslogiken im Rahmen von Kultureller Teilhabeforschung zu verbinden. Besonders individuelle Aneignungsstrategien oder Rezeptionserfahrungen sind ab einem gewissen Punkt nicht mehr zufriedenstellend in einem theoretisch-standardisierten Modell abbildbar, welches dann Grundlage für eine quantitativ-standardisierte Erhebung wäre. Erste Ansätze dafür bilden beispielsweise Motivationstypen im Rahmen von quantitativ-standardisierter Publikumsforschung. Dort werden auf Grundlage qualitativer Erkenntnisse zur Besuchsmotivation standardisierte Typen gebildet, welche unterschiedliche Motivationen zum Besuch von Museen oder Theater bilden (Kaul 2024).
Inhaltlich liegen also noch viele Potenziale in der Entwicklung von theoretischen Instrumenten, welche Kulturelle Teilhabe nicht nur anhand sozio-demografischer Merkmale wie formalen Bildungsabschluss oder Alter festmachen. Dazu zählen beispielsweise Instrumente, welche auf Grundlage psychografischer Fragen Aussagen zum Lebensstil und zur sozialen Lage der Befragten machen. Das geht einher mit dem Fokus der Anwendung von Forschungsergebnissen in Politik und vor allem Praxis der Kultureinrichtungen selbst. Bislang wurden in Studien zum Publikum von Kultureinrichtungen oder zu Nicht-Besucher*innen fast ausschließlich sozio-demografische Merkmale genutzt. Besonders auffällig waren und sind die Merkmale Alter und formaler Bildungsabschluss. Es ist jedoch schwierig, allein anhand von soziodemografischen Daten abzuleiten, wie eine größere und breitere Teilhabe im Kulturbereich praktisch zu erreichen wäre. Zielgruppen, welche ausschließlich auf Merkmalen wie z. B. formaler Bildungsabschluss oder Alter aufbauen, sind zu weit gefasst, um daraus passgenaue Maßnahmen zu entwickeln. Diese Informationen sind für eine sinnvolle Segmentierung offenbar zu unspezifisch (Tewes-Schünzel 2024). Sogenannte Lebensstil-Modelle oder Kultur-Milieus nutzen daher mehrdimensionale Modelle. Dies hat zum einen zur Folge, dass beispielsweise Besucher*innen von Kultureinrichtungen mit formal hoher Bildung und höherem Alter in unterschiedliche Gruppen eingeteilt werden. Je nachdem, welche Werte, Einstellungen oder ästhetische Vorlieben sie haben. Es ist nachvollziehbar, dass eher konservative Besucher*innen einer klassisch inszenierten Oper von Verdi anders ticken, als gleichaltrige und formal gleich gebildete Besucher*innen einer zeitgenössischen Performance. Kulturelle Teilhabeforschung muss hier praxistaugliche Anschlussstellen herstellen, damit beispielsweise auf Grundlage solcher Ergebnisse Personas entwickelt werden können, die eine praxisnahe Segmentierung in der Ansprache unterschiedlicher Zielgruppen ermöglichen (Allmanritter 2024). Auch in gesellschaftlichem Streben nach Kultureller Teilhabe sind solche Modelle hilfreich. So wird mit der Brille der Lebensstile zum Beispiel schnell deutlich, für wen ein ermäßigter oder besonders günstiger Eintrittspreis wirklich besuchsentscheidend ist - und für wen nicht. Lebensstile vermitteln darüber hinaus aber auch ein differenzierteres Bild über die ansonsten doch noch recht vage beschreibbare und ziemlich heterogene Zielgruppe der Nicht-Besucher*innen. Lebensstile zeigen unter welchen Bedingungen potenzielle Besucher*innen die eigene Freizeit gestalten, welche künstlerische Sparten für sie in Frage kommen und wo ihre jeweiligen ästhetischen Präferenzen liegen (Renz und Tewes-Schünzel 2022).
Kulturelle Teilhabeforschung findet in Deutschland von unterschiedlichen Akteur*innen statt. Durch die Forschungsaktivitäten von außeruniversitären Forschungseinrichtungen (z.B. Zentrum für Kulturforschung, Institut für Kulturelle Teilhabeforschung) ist die Anschlussfähigkeit an und Relevanz für praktische Anwendung in Kulturbetrieben, Kulturverwaltung und Kulturpolitik gewährleistet. Kulturelle Bildung und Kulturelle Teilhabeforschung sind dabei eng vernetzt und komplementäre Bereiche, die sich gegenseitig bereichern. Während Teilhabeforschung empirische Daten und theoretische Einsichten liefert, nutzt Kulturelle Bildung diese Erkenntnisse, um in der Praxis kulturelle Partizipation zu fördern und zu erweitern. Beide streben eine inklusive Gesellschaft an, in der alle Menschen unabhängig von ihren Voraussetzungen am kulturellen Leben teilhaben können.