Quo vadis Kulturelle Bildung? – Internationale Perspektiven auf notwendige Transformationsprozesse

Zur Bedeutung der dritten UNESCO-Weltkonferenz und des UNESCO-Framework für die Weiterentwicklung Kulturelle Bildung

Artikel-Metadaten

von Susanne Keuchel

Erscheinungsjahr: 2024

Peer Reviewed

Abstract

Der gesellschaftliche Wandel Innerhalb der letzten 20 Jahre bringt eine Vielzahl an Herausforderungen mit sich bezogen auf Fragen der Nachhaltigkeit, Diversität, Globalisierung, Demokratisierung und Digitalität. 2024 fand die dritte UNESCO-Weltkonferenz zur kulturellen und künstlerischen Bildung statt und verabschiedete ein Framework, das diese Herausforderungen aufgreift und in Beziehung setzt zu dem Handlungsfeld der Kulturellen Bildung. Die dort thematisierten Aspekte zur globalen Gerechtigkeit, Demokratisierung und einer starken Werteorientierung verdeutlichen einen länger sich abzeichnenden Paradigmen-Wechsel, der gesamtgesellschaftlich beobachtet werden kann.

Der folgende Beitrag stellt zentrale Punkte des UNESCO-Framework vor, das zugleich sehr starke Bezüge zur UN-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung setzt. Dabei werden auch nachhaltige Strukturen der kulturellen Bildungslandschaft thematisiert, so langfristig angelegte Bildungsmaßnahmen und Kooperationen, die lebenslang Zugang zu kultureller Teilhabe ermöglichen. Erstmals wird ein gleichberechtigter Zugang für formale, non-formale und informelle Bildung gefordert, aber auch angemessene Arbeitsbedingungen innerhalb der Kulturellen Bildung. Wichtige Potentiale der Kulturellen Bildung und damit zugleich die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung werden im Umgang mit digitalen Techniken, hier insbesondere mit Künstlicher Intelligenz, gesehen.

Der Beitrag setzt die Inhalte des UNESCO-Framework in Beziehung zu aktuellen deutschen Diskursen. Unter Berücksichtigung der nationalen und internationalen Diskurse wird abschließend ein Fazit gezogen: Quo vadis Kulturelle Bildung?

Im Februar 2024 fand in den Vereinigten Emiraten in Abu Dhabi die UNESCO-Weltkonferenz zur Kulturellen und Künstlerischen Bildung statt. Es war die dritte UNESCO Konferenz, die sich mit Fragen der Kulturellen Bildung auseinandersetzte. Beschäftigte sich die erste vor allem mit einer Selbstverständigung des Stellenwerts von Kultureller Bildung für die Gesellschaft, thematisierte die Zweite Fragen der Qualität und Zugänge für alle zur Kulturellen Bildung. Auf der dritten Weltkonferenz wurde jetzt ein besonderer Fokus auf aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen gesetzt wie Nachhaltigkeit, Digitalität, Diversität und Demokratisierung und ein Framework für die Kulturelle und künstlerische Bildung (UNESCO 2024) verabschiedet.

Was bedeuten das UNESCO-Framework und die dort geführten Diskurse für die Weiterentwicklung der Kulturellen Bildung in Deutschland? Geben die dort geführten Diskurse eine Antwort auf die Frage, wie sich Kulturelle Bildung künftig national weiterentwickeln sollte? Wie vergleichbar sind nationale Konzepte und Zielsetzungen zur Kulturellen Bildung im Ländervergleich? Und gibt es hier weltweit gemeinsame Trends und Entwicklungen?

Im folgenden Beitrag wird zunächst ein kurzer Überblick gegeben zu existierenden Konzepten innerhalb der Kulturellen Bildung –national wie international. Anschließend werden aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen für die Kulturelle Bildung in den Blick genommen, wie sie derzeit international und auch national diskutiert werden – unter besonderer Berücksichtigung des in Abu Dhabi verabschiedeten UNESCO-Framework. Abschließend wird auf Grundlage des Diskutierten ein erstes Fazit gezogen: Quo vadis Kulturelle Bildung?  

Zu Definitionen, Inhalten und Zielsetzungen der Kulturellen Bildung

Es existiert keine verbindliche Definition von Kultureller Bildung – weder national noch international. Definitionen, Zielsetzungen und Begriffskonzepte variieren in Abhängigkeit von unterschiedlichen zeitgeschichtlichen, ressort-, sparten-, handlungsspezifischen, regionalen und nationalen Perspektiven.

Der Einfluss zeitgeschichtlicher Entwicklungen auf kulturelle Bildungskonzepte konnte in den 1968er Jahren in Deutschland sehr anschaulich beobachtet werden, mit der Etablierung des Begriffs der Kulturellen Bildung, der den Begriff der musisch-ästhetischen Erziehung ablöste, die laut Liebau und Zirfas »zu einer Kultur erziehen sollte«, während sich bei Kultureller Bildung »Bildung durch Kultur vollziehen sollte« (Liebau/Zirfas 2004:579). Vollzog sich dieser Wechsel zunächst innerhalb der außerschulischen kulturellen Jugendbildung, so wurde Kulturelle Bildung beispielsweise als Begriff schon 1973 im Kinder- und Jugendplan des Bundes aufgenommen, etablierte sich dieser Begriff im Zeitverlauf nach und nach auch in anderen Ressorts und Handlungsfeldern in Deutschland und das vielfach ohne eigene ressort- oder handlungsspezifische Eingrenzungen und Zielsetzungen vorzunehmen. Ein erster Ansatz der Eingrenzung einer ressortspezifischen Zielsetzung und Definition wird derzeit mit der Studie Kulturelle Bildung (Roth 2023) für die Bundeskulturförderung unternommen . Neben dem Begriff der Kulturellen Bildung haben sich im Zeitverlauf auch andere Begriffe in einzelnen Handlungsfeldern entwickelt; beispielsweise das Konzept der Kulturvermittlung oder Audience Development in kulturpolitischen Kontexten.

International kann ebenfalls eine Vielzahl an Zielsetzungen, Begriffen und Konzepten innerhalb der Kulturellen Bildung beobachtet werden. So wird hier von arts education, cultural education, creativity education oder auch culture animation gesprochen. Wie auch in Deutschland kann in einzelnen europäischen Ländern beobachtet werden, dass statt von arts education von culture education gesprochen wird.

In einer Vorstudie (Keuchel 2016) zu einem internationalen Monitoring (MONAES) wurden internationale Expert*innen aus 16 Ländern und fünf Kontinenten gebeten, in einer offenen Frage eine Beschreibung des nationalen Verständnisses von Kultureller Bildung darzulegen. Weitere Themen umfassten kulturelle Ausdrucksformen, die praktiziert und national mit dem Begriff der Kulturellen Bildung verbunden werden. Eine sehr einheitliche Klammer bezog sich dabei in den Rückantworten auf den Umgang mit den Künsten, hier Rezeption, Produktion und Reflexion. Etwa die Hälfte der Expert*innen listeten auch spezifische künstlerische Disziplinen auf. Bei diesen Auflistungen fanden sich nahezu immer die Kunstsparten Bildende Kunst, Musik, oft auch Tanz und Theater. Darüber hinaus wurden vereinzelt weitere Sparten, wie Medienkunst, Kino, Handwerk oder Modedesign, genannt.

Der weltweit wichtige Stellenwert von Musik, Bildende Kunst, Theater und Tanz, der in Teilen möglicherweise auch kolonialistisch tradiert wurde, steht in einem Bezug zu dem formal existierenden Fächerkanon. In der Vorstudie wurde daher explizit noch einmal nachgefragt, welche künstlerischen Disziplinen für die verschiedenen Bildungsbereiche relevant sind, wie sie von der UNESCO im Bereich formaler, non-formaler und informeller Bildung definiert werden (Colardyn/Bjornavold 2004). Dabei zeigte sich innerhalb der non-formalen und informellen Bildung ein viel breiteres Spektrum, das beispielsweise auch Architektur, Mode, Fotografie, Kunsthandwerk, Esskultur und vieles mehr umfasste.

Bei den offenen Beschreibungen fiel auf, dass sich etwa ein Viertel der Expert*innen ausschließlich auf formale Kulturelle Bildung bezog, ein weiteres Viertel benannte formale und non-formale Kontexte innerhalb der Kulturellen Bildung. Rückfragen zeigten, dass formale und non-formale Kulturelle Bildung innerhalb der verschiedenen Länder einen sehr unterschiedlichen Stellenwert besitzen. Bei den Konsultationen zur 3. UNESCO-Weltkonferenz hoben vor allem Expert*innen aus dem globalen Süden die Schwierigkeit hervor, dass dort in vielen Ländern non-formale und informelle Strukturen für die nationale Kulturelle Bildungslandschaft viel entscheidender und prägender sind als formale Kulturelle Bildung. Diese Länder kritisierten daher auch die bisherige Schwerpunktsetzung auf formale Kulturelle Bildung in den bisherigen Stellungsnahmen und Dokumenten der UNESCO, wie die Roadmap Lissabon (Road Map for Arts Education 2006) oder die Seoul Agenda (2010). Dieser Kritikpunkt wurde im aktuellen Framework der 3. Weltkonferenz explizit aufgegriffen, in dem erstmals alle drei Ebenen der Kulturellen Bildung, formale, non-formale und informelle Bildung, gleichberechtigt hervorgehoben und benannt werden mit dem Recht auf Zugänge und Förderung.

Allgemein konnten bei der Vorstudie (Keuchel 2016) neben Beschreibungen und der Zielsetzung der Förderung des Umgangs mit den Künsten drei weitere Zielsetzungen beobachtet werden, die in den einzelnen Ländern unterschiedliche Schwerpunkte haben: pädagogische, individuelle und gesellschaftliche Ziele.

Pädagogische Ziele stehen nach Rückmeldungen einzelner Länder-Expert*innen vor allem in Beziehung zu so genannten Transfereffekten Kultureller Bildung (Winner et al 2013) wie der Förderung der Intelligenz durch musikalische Bildung oder wie die der Sozialkompetenzen durch Theaterpädagogik. In einigen Ländern spielt auch Kreativitätsförderung im Zuge Kultureller Bildung eine wichtige Rolle. Ein spezieller Ansatz ist dabei das Konzept des »Learning through the arts« (Bamford 2006:109). Hier wird Kulturelle Bildung zu einer Methode, sich mit künstlerischen und ästhetischen Mitteln Fachinhalte aus anderen Disziplinen wie Mathematik oder Sprachen zu erschließen. Diese Praxis ist besonders präsent im anglo-amerikanischen Raum.

Abb. 1 Keuchel-2024
Abb.1: Ebenen des Verständnisses und der Zielsetzung von Kultureller Bildung in einzelnen Ländern aus fünf verschiedenen Kontinenten

Im Rahmen individueller Zielsetzungen werden vor allem Subjektstärkung und Persönlichkeitsbildung hervorgehoben. Formen des künstlerischen Ausdrucks werden dabei als Medium gesehen, die eigene Vorstellungskraft anzuregen, eigene Positionen zu entwickeln und diese an Dritte zu kommunizieren.

Gesellschaftsstärkende Zielsetzungen werden vielfach in dem Potenzial der Kulturellen Bildung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt gesehen, so beispielsweise in der Stärkung nationaler kultureller Identitäten durch Vermittlung des materiellen und immateriellen Kulturerbes. Ein anderer Aspekt der Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts wird in der Kommunikation mit künstlerischen/kulturellen Mitteln gesehen, die zu einer besseren Verständigung mit Dritten führen könne. So beschreiben vor allem Expert*innen aus dem anglo-amerikanischen Raum die Förderung der Fähigkeit, sich ästhetisch und künstlerisch ausdrücken und mit Dritten kommunizieren zu können, als Bürgertraining. Ein weiterer gesellschaftsstärkender Aspekt wird im Umgang mit kultureller Vielfalt gesehen. Dies spielt vor allem für Länder eine wichtige Rolle, die eine hohe Migration und/oder einen postkolonialistischen Hintergrund haben. Ziel ist hier, den Umgang mit kultureller Vielfalt durch Kulturelle Bildung zu stärken.

In der Vorstudie (vgl. Keuchel 2016) wurde auch gezielt gefragt, inwieweit kulturelles Erbe, aktuelle Kunst und Künstler*innen aus verschiedenen Weltregionen innerhalb der kulturellen Bildungsarbeit Berücksichtigung finden. Befragte Expert*innen aus Ländern Asiens, aber insbesondere auch aus afrikanischen Ländern, gaben hier eine viel größere Spannbreite globaler Perspektiven innerhalb der Kulturellen Bildung an als beispielsweise befragte europäische Expert*innen. Dies könnte den vielfach geäußerten Vorwurf eines vorherrschenden Eurozentrismus stärken.

Ein weiteres gesellschaftsstärkendes Ziel der Kulturellen Bildung wird in Einklang gebracht mit dem Aspekt der Künste als »kreativer Motor« (European Commission 2009:161) für gesellschaftliche Transformation. Durch den implizierten Regelbruch, der den Künsten zu eigen ist und so neue Perspektiven und gesellschaftliche Möglichkeiten eröffnet, wird Kulturelle Bildung, die mit dem Medium der Künste arbeitet, auch als Grundlage gesehen, neue Perspektiven zu eröffnen und so gesellschaftliche Transformationsprozesse zu unterstützen.

Das nun auf der 3. Weltkonferenz verabschiedete Framework greift diese vielfältigen Perspektiven auf Kulturelle Bildung auf. Dies beinhaltet die gleichberechtigte Perspektive und Einbindung von formaler, non-formaler und informeller Bildung, aber beispielsweise auch von materiellem und immateriellem Kulturerbe. Das spiegelt sich schon im Titel »Framework for culture and arts education« wider. Das Einbinden vielfältiger weltweiter Perspektiven kann als eine Stärke bezeichnet werden. Es stellt sich zugleich aber auch die Herausforderung an alle, zu akzeptieren, dass das, was Dritte unter Kultureller Bildung praktizieren, sich zum Teil sehr deutlich von der eigenen Praxis unterscheiden kann.

Nachhaltigkeit – Gesellschaftliche Leitlinie für einen Systemwechsel in der Kulturellen Bildung?

Nachhaltigkeit, hier die Umsetzung der UN-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung, ist ein Thema, das alle gesellschaftlichen Handlungsfelder beschäftigt. Innerhalb des jetzt verabschiedeten UNESCO Framework spielt daher die Umsetzung der UN-Agenda 2030 ebenfalls eine wichtige Rolle. Und auch in Deutschland wird das Thema Nachhaltigkeit zunehmend relevant für die Kulturelle Bildung. Zurzeit werden dabei vor allem Synergieeffekte und Kooperationen (vgl. Braun-Wanke/Wagner 2020) mit dem Weltaktionsprogramm Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) (vgl. Keuchel 2020) diskutiert, das die Umsetzung der UN-Agenda 2030 unterstützen soll (siehe auch Volkmar Liebig: Kultur, Kulturelle Bildung, Nachhaltigkeit und die Agenda 2030). Aufgabe ist es dabei, die Lernenden dafür zu sensibilisieren »to change the way they think and work towards a sustainable future» (vgl. www.bne-portal.de & www.en.UNESCO.org).

Das auf der 3. Weltkonferenz verabschiedete Framework hebt dabei besonders die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele (SDG) SDG 4 »to ensure inclusive and equitable quality education and promote lifelong opportunities for all« und SDG 8 »to promote inclusive and sustainable economic growth, employment and decent work for all« (Global Goals) hervor.

Darüber hinaus werden innerhalb des UNESCO-Framework Ziele und Wertorientierungen für die Kulturelle Bildung thematisiert, die weitgehend nahezu alle auch unter den Zielsetzungen der Nachhaltigkeit und der UN-Agenda diskutiert werden können, hier vor allem Aspekte globaler Gerechtigkeit, Generationengerechtigkeit, zwei Grundanliegen der UN-Agenda 2030, sowie konkret die Nachhaltigkeitsziele 4, 8, 12 und 17. Forderungen des UNESCO Framework zu diesen Aspekten und bestehende Bezüge zu Diskursen in Deutschland werden nachfolgend kurz skizziert.

Globale Gerechtigkeit

Die UN-Agenda 2030 setzt sich für globale Gerechtigkeit ein. Dabei gilt es vor allem der ungleichen Ressourcenverteilung weltweit entgegenzuwirken, die auch innerhalb der Kultur und Kulturellen Bildung beobachtet werden kann; dies gilt für kulturelle Teilhabe und den Zugriff oder Schutz von Kulturgütern, die kriegs- oder terrorbedroht sind. Ursachen ungleicher kultureller Ressourcenverteilung können auch kolonialistische Hintergründe haben. Ein prominentes Beispiel ist hier der lange Rückführungsprozess der Benin-Bronzen aus deutschen Museen nach Nigeria (Koldehoff 2023). Ungleiche Ressourcenverteilung findet sich auch in digitalen Kontexten, hier der Zugriff auf die Präsenz von spezifischen Kultur- und kulturellen Bildungsinhalten. Denn das Internet als eine entscheidende Plattform für kulturelle Teilhabe ist in seinen Inhalten stark westlich dominiert. Dies gilt speziell auch für die Auffindbarkeit und Reproduktion von weltweiten kulturellen Ausdrucksformen. Benachteiligungen können auch im Zuge der Entwicklung von Künstlicher Intelligenz (KI) beobachtet werden, bei der Funktionalität und Bandbreite beispielsweise afrikanischer Sprachübersetzungsprogramme (vgl. Ogueji 2022) oder der Berücksichtigung kultureller Spezifika bei der Entwicklung von KI-Anwendungen, die oft auf Grundlage großer westlicher oder asiatischer Datenvolumen generiert werden (vgl. Gwagwa et al. 2020).

In Ländern mit Kolonialgeschichte kann zudem beobachtet werden, dass historisch gewachsene Strukturen und Narrative oft bis heute noch kolonialen Einflüssen unterliegen. Das reicht von Amtssprachen, der Struktur von Bildungssystemen, beispielsweise die westliche Idee eines Schulfachs Musik, bis hin zu den Inhalten von Schulbüchern. Diese - bis heute reichenden - Auswirkungen werden aktuell in postkolonialistischen Diskursen aufgearbeitet und führen aktuell dazu, dass sich Länder mit Kolonialgeschichte sehr konkret dem Aufbau eines eigenen, nationalen kulturellen Kanons und Identitäten widmen, so der Aufbau von Museen mit eigenen historischen Kulturgütern, die aus den ausländisch bestehenden Sammlungen zurückgefordert werden. Im Sinne globaler Gerechtigkeit hat dies selbstverständlich auch Auswirkungen auf Kulturelle Bildung – auch auf Kulturelle Bildung, wie sie in Deutschland praktiziert wird. Denn das Gros bestehender kultureller Bildungsinhalte in Deutschland ist national, in Teilen westlich-europäisch, selten jedoch global ausgerichtet, wie dies auch eine Studie der Datenbanken von den Bundeswettbewerben Kinder zum Olymp und Mixed up zeigte (Keuchel 2015). Das bedingt die Einbindung von Künstler*innen, Kunstwerken, künstlerischen Ausdrucksformen und die Interpretation von Kunst und Kultur. Das spezielle internationale Kunstobjekte in Völkerkundemuseen statt Kunstmuseen ausgestellt werden, ist nur eine von vielen kolonialistischen Langzeitauswirkungen. Daher wird im Framework der UNESCO explizit eingefordert: »Recognize cultural diversity as a defining feature and common heritage of humanity« (UNESCO 2024: S.4). Der Ansatz im Musikunterricht, die Halbtontechnik als selbstverständliche Grundlage für musikalische Praxis heranzuziehen, wäre in diesem Sinne eine nationale Perspektive. Eine globale wäre dagegen die Einführung in eine weltweite Musizierpraxis: Welche Tontechniken hat es historisch gegeben und gibt es bis heute in den verschiedenen Weltregionen? Auf dieser Wissensgrundlage basierend, könnten dann lokal begründete Schwerpunkte bezüglich einzelner Tontechniken gesetzt werden, wie eine lokal praktizierte Halbtontechnik oder Tontechniken lokal ansässiger Migrant*innen-Communities.

Eine glokale Perspektive innerhalb der Bildung einzunehmen, findet weltweit zunehmend Befürworter (vgl. Yun-Kyung Cha et al. 2017). Hervorzuheben in diesem Kontext ist die besondere Betonung des immateriellen Kulturerbes innerhalb des UNESCO-Framework. In der Seoul Agenda spielte dieses noch keine entscheidende Rolle. Der wichtige Stellenwert des immateriellen Kulturerbes innerhalb der Kulturellen Bildung wurde, im Rahmen der Konsultationen zur Entwicklung des Framework, besonders von Ländern des globalen Südens hervorgehoben. Eine Neuerung im Framework, im Vergleich zu den Positionen der ersten und zweiten Weltkonferenz zur Kulturellen Bildung, ist auch die schon erwähnte Gleichstellung von formaler, non-formaler und informeller Kultureller Bildung und dem Recht auf Teilhabe und Zugänge zu allen drei Bildungsbereichen. Auch dies wurde vor allem von Ländern des globalen Südens gefordert, bei denen innerhalb der nationalen Infrastruktur non-formale und informelle Kulturelle Bildung eine zentrale und wichtigere Rolle einnehmen als formale Kulturelle Bildung. Die bisherige Fokussierung auf formale Kulturelle Bildung, die zugleich auch im Fokus kultureller Bildungsforschung steht, ist vor allem eine westliche Perspektive. Es kann also abschließend festgehalten werden, dass das neue UNESCO-Framework inhaltlich wesentlich globaler und diversitätssensibler aufgestellt ist.

SDG 4: Qualitative Bildung

Auf der 2. UNESCO Weltkonferenz wurde im Rahmen der Seoul Agenda ein Zugang für alle zur Kulturellen Bildung gefordert sowie die Entwicklung qualitativer Kultureller Bildung (Seoul Agenda 2010:3-6). Neu im Vergleich zur Seoul Agenda sind im nun verabschiedeten UNESCO Framework die Forderungen des Rechts auf formale, non-formale und informelle Kulturelle Bildung und die nach nachhaltigen Angebotsstrukturen, hier »prioritizing long-term culture and arts education interventions« (UNESCO 2024:7). Um »long-term sustainability of the culture and arts education ecosystem« (ebd.:9) sicherzustellen, sollen alle administrativen, personellen und materiellen Ressourcen mobilisiert werden. Diese Forderung, die sich im Framework explizit auf alle Bildungsebenen, formal, non-formale und informelle Kulturelle Bildung, bezieht, kann als eine Steilvorlage für die aktuelle Diskussion zur Ausgestaltung des Rechtsanspruchs auf Ganztag im Primarbereich in Deutschland angesehen werden.

Denn Zugänge zur non-formalen Kulturellen Bildung sind bis heute in Deutschland ungleich verteilt. Auch Kooperationen der Kulturellen Bildung mit Schulen, im Zuge des Ausbaus des Ganztags in Deutschland, haben nicht zur Chancengleichheit geführt. Denn diese sind nicht flächendeckend verankert, sondern oft kurzzeitlich, projektspezifisch angelegt, sehr selektiv bezogen auf Formate und Sparten und in ihrer Existenz immer abhängig vom Engagement einzelner Schulleiter*innen und Lehrer*innen. Die Umsetzung der Forderung des Zugangs auf non-formale Bildung für alle müsste mit einem systematischen Wandel verknüpft werden, der neben einem flächendeckenden Zugang in zweiter Konsequenz den kostenlosen Zugang zur non-formalen Bildung impliziert und zugleich eine gleichberechtigte Koproduktion von formaler und non-formaler Bildung im Ganztag ermöglicht. In der aktuellen Praxis kann bei Schulkooperationen oft beobachtet werden, dass die Bedingungen für außerschulische Bildungspartner*innen den formalen Rahmenbedingungen angepasst werden. Die Forderungen des UNESCO-Framework sind hier deutlich höher gesetzt als die bestehende kulturelle Bildungspraxis in Deutschland, auch bezogen auf die spartenspezifische Bandbreite der Angebote, wenn es beispielsweise heißt: »Access to a broad range of cultural and artistic expressions, experiences and education is fundamental to the enjoyment of the right to participate in, contribute to and enjoy cultural life and the arts, which enables individual and societal well-being« (ebd.:5).

SDG 8: Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum

Im Sinne nachhaltiger kultureller Bildungsstrukturen wird innerhalb des UNESCO-Framework auch die Umsetzung des SDG 8 besonders hervorgehoben, hier »to promote inclusive and sustainable economic growth, employment and decent work for all« (Global Goals).

Ein Auftrag für die Kulturelle Bildung kann hieraus auf zwei Ebenen abgeleitet werden: Zum einen könnte sie einen Beitrag leisten, Bevölkerungsgruppen in ihren persönlichkeitsbildenden, sozialen und kreativen Fertigkeiten so zu fördern, dass sie als gut qualifizierte Arbeitskräfte Arbeit finden und ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum vorantreiben. Zum anderen ist Kulturelle Bildung selbst ein Beschäftigungsfeld, für das es gilt, gute Arbeitsbedingungen sicherzustellen. Auch diese Perspektive knüpft an aktuelle Diskurse in Deutschland an zur Frage von Mindesthonoraren und tarifgerechter Bezahlung, die zurzeit vor allem bezogen auf die soziale Lage von Kunstschaffenden im Kulturbereich geführt werden, aber auch innerhalb der Kulturellen Bildung ein Thema sind, so vor allem im Kontext des pädagogischen Fachkräftemangels. Zurzeit werden in Deutschland vor allem im Rahmen von Schulkooperationen sehr niedrige Honorare an Kulturpädagog*innen und Künstler*innen gezahlt. Zudem handelt es sich bei Arbeitsverträgen in der Kulturellen Bildung aufgrund zunehmender projektspezifischer Förderung oft um befristete Anstellungsverhältnisse.

Es sind aber nicht nur die Beschäftigungsverhältnisse, die im UNESCO-Framework thematisiert werden, sondern sehr konkret beispielsweise auch die Zugänge zur Fort- und Weiterbildung für die unterschiedlichen Multiplikator*innengruppen, die im Feld der Kulturellen Bildung arbeiten, und weitere Kontexte wie »[to] improve the status and working conditions of teachers, facilitators, trainers and educators, as well as artists and other cultural professionals and practitioners working in culture and arts education, including employment and remuneration through adequate measures, resources and infrastructure, flexible working modalities, and professional growth and well-being« UNESCO 2024: S.8).

SDG 12: Nachhaltiger Konsum und Produktion

Wie können gesellschaftlich mehr nachhaltiger Konsum und Produktion ermöglicht werden? Das UNESCO-Framework sieht auch hier ein Aufgabenfeld für die Kulturelle Bildung: »Culture and arts education should promote […] the responsible stewardship of cultural and biological diversity through learning with the environment for sustainable development« (UNESCO o. J.:6) Im internationalen Diskurs (vgl. Wagner et al. 2021) wird dies ein zunehmend wichtiges Thema und auch auf der Weltkonferenz 2024 wurde dies diskutiert.

In Deutschland werden Bildungsfragen zu mehr nachhaltigem Konsum und Produktion vor allem im Weltaktionsprogramm »Bildung für nachhaltige Entwicklung« (BNE) verortet (vgl. Keuchel 2021). In jüngerer Zeit wird jedoch auch vermehrt über das Potential der Kulturellen Bildung in diesem Kontext gesprochen und Synergieeffekte im Zuge von Kooperationen mit BNE in Deutschland diskutiert (vgl. Braun-Wanke/Wagner 2020).

Bei der Auslotung entsprechender Synergieeffekte zwischen Kultureller Bildung und BNE finden sich auch distanziertere Haltungen. Diese begründen sich in der Sorge vor einer Funktionalisierung der Künste und Kulturellen Bildung für politische Ziele. Dies wurde sehr deutlich bei einem gemeinsamen Projekt der Akademie der Kulturellen Bildung und der Arbeitsgemeinschaft Natur- und Umweltbildung »Nachhaltige Entwicklung und Kulturelle Bildung (NaKuBi)« (NaKuBi o.J.), das im Jahr 2021 startete im Rahmen des Ideenwettbewerbs »Kultur + Nachhaltigkeit = Heimat« des Rats für Nachhaltige Entwicklung (RNE). Ziel des Projektes war es, Synergien von Umweltbildung und Kultureller Bildung zu schaffen und so junge Menschen zu befähigen, gestalterisch innerhalb ihres Sozialraums aktiv zu werden und dabei einen verantwortungsbewussten Umgang mit Ressourcen zu fördern. Die kulturellen Bildungsschaffenden zeigten sich dabei zum Teil kritisch, was die gemeinsame Umsetzung der Projekte anbelangte. Der Aspekt der Selbstbestimmung wurde von den am Projekt Beteiligten als gefährdet angesehen sowie die Gefahr problematisiert, dass Kunst im Dienst der Umweltbildung bestimmte Narrative oder Ideologien verbreite. Kunst als Methode zur Vermittlung von BNE sei zu kurz gegriffen und müsse hinterfragt werden. Umgekehrt taten sich auch die Umweltbildner*innen  innerhalb der Kooperationen schwer, in gestalterischen Aspekten einen Lerneffekt zu erkennen oder sich ergebnisoffener zu zeigen. Ihnen war es wichtiger, gezielt Wissen zu Umweltschutz zu vermitteln und auf die Gefahren aufmerksam zu machen. Einig zeigten sich die meisten Vertreter*innen des Feldes jedoch in dem Gedanken, dass eine neue Lebenskultur als Grundlage für eine neue nachhaltige Alltagspraxis entwickelt werden muss.

SDG 17: Partnerschaften zur Erreichung der Ziele

Im Sinne des 17. Nachhaltigkeitsziels wird innerhalb des UNESCO Framework an verschiedenen Stellen der wichtige Aspekt von Partnerschaften in der Kulturellen Bildung zur erfolgreichen Umsetzung der Ziele hervorgehoben. Auch die Entwicklung des UNESCO Framework selbst ist eine Koproduktion und damit zugleich ein Novum, da hier erstmals zwei UNESCO Arbeitsbereiche Kultur und Bildung zusammengearbeitet haben. Der wichtige Stellenwert, nicht mehr nebeneinanderstehende Programme verantwortlicher Ressorts in der Kulturellen Bildung, wie Jugend, Bildung und Kultur, zu haben, sondern gemeinschaftlich aufeinander abgestimmte, wird nach und nach auch in Deutschland intensiver diskutiert, vor allem jüngst bei der Umsetzung des Rechtsanspruchs auf Ganztag im Primarbereich, der seit dem Programm Ideen für mehr! Ganztägig lernen! 2004 ein weiterer Schritt in Deutschland zur Realisierung einer systematischen Ganztagsbildung darstellt. In allen bisherigen Ausbauaktivitäten in Deutschland wurde dabei die Schule als verantwortlicher Part des Ganztags gestärkt. Aus der schulischen Perspektive sollten erweiterte Betreuungsangebote und weitere non-formale Bildungsangebote integriert werden. Dabei stellen sich aktuell vor allem drei Herausforderungen (vgl. Keuchel 2023): Erstens sind einzelne Schulen überfordert, wenn sie mehr als ein künstlerisches oder sportliches Angebot in den Schulganztag integrieren. Dies vor allem deshalb – und das ist die zweite Herausforderung – da der non-formale Bildungsbereich in Deutschland für den Ganztag strukturell und vor allem finanziell nicht hinterlegt ist, sondern projektspezifisch finanziert wird. Drittens finden außerschulische Träger oft formale Arbeitsbedingungen vor, die im Gegensatz zu non-formalen Bildungsqualitäten wie Freiwilligkeit, Interessengebundenheit etc. stehen.

Wie unterschiedliche Bildungsbereiche in Deutschland zusammengeführt werden können, ohne ihre eigenen Qualitäten und damit einhergehende Zielvorgaben zu verlieren, ist daher auch eine Frage von Kooperationsformen auf Augenhöhe. Eine Chance wird dabei in dem Modell einer kommunalen Steuerung von Bildungslandschaften gesehen: d. h., weg von der Zuständigkeit einzelner Schulen für den Ganztag hin zu kommunalen Steuerungsprozessen, die die vorhandenen Ressourcen von Musikschulen oder Jugendkunstschulen für alle Grundschulen eines Stadtteils oder einer Kommune in den Blick nehmen – und damit ressortübergreifende Kooperationen ermöglichen für Ressourcen der Jugend-, Kultur- und Bildungspolitik. Dies stünde dann im Einklang mit den Forderungen des UNESCO-Framework: »more sustained cooperation with informal and non-formal learning spaces and actors« (UNESCO 2024: 7) und »widen cooperation across public policy areas, disciplines and education settings« (ebd.:3).

Digitale Technologien, KI und ihre Herausforderungen für die Kulturelle Bildung

Die fortschreitende digitale Entwicklung hat Gesellschaft in ihren Lebens- und Alltagsbedingungen stark verändert. Daher spielt auch der Umgang mit digitalen Techniken innerhalb des UNESCO-Framework for culture and arts education eine zentrale Rolle. Eine Aufgabe der Kulturellen Bildung wird dabei in der Stärkung eines emanzipierten Umgangs gesehen, so ein Beitrag »of culture and arts education in the digital era, while promoting the creative, emancipated, ethical and responsible use of digital technologies, ensuring protection of privacy, intellectual property rights and respect for cultural and linguistic diversity online« (ebd.:8).

Der wichtige Stellenwert eines selbstbestimmten und verantwortungsvollen Umgangs mit digitalen Technologien und der Beitrag, den Bildung hierzu leisten sollte, werden auch konkret – bezogen auf KI – in der vom Council of Europe herausgegebenen Studie »Artificial Intelligence and Education« (Holmes et al. 2022:3), ausführlich betrachtet und diskutiert. Das UNESCO-Framework betont die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung der Kulturellen Bildung mit KI. In der Studie des Europarats werden dabei neben Learning about AI die Aspekte Learning with AI und Using AI to learn about learning hervorgehoben. Der Aspekt Learning with AI war konkret auch Gegenstand der UNESCO-Weltkonferenz in Abu Dhabi. Dabei wurde deutlich, dass hier vor allem Länder aus Asien mit der Schnittstelle KI und Bildung operieren. Europa war innerhalb dieses Diskurses kaum präsent. Es wurde aber innerhalb der Diskurse auf der Weltkonferenz auch sehr deutlich, dass in allen drei Entwicklungsbereichen Kulturelle Bildung noch großen Entwicklungsbedarf hat.

In einem KI-Ideenlabor (Keuchel im Druck, voraussichtlich 09/2024) in Deutschland, das von September 2021 bis Mai 2022 von der Akademie der Kulturellen Bildung durchgeführt und vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft in Nordrhein-Westfalen gefördert wurde, wurden erste Versuche unternommen, Schnittstellen zwischen Kultureller Bildung und KI gemeinsam mit KI-Expert*innen aus der Mathematik, Ethik etc. herauszuarbeiten, um auf dieser Grundlage entsprechende Modellprojekte zu entwickeln und durchzuführen. Dabei wurden die vielfältigen Anknüpfungspunkte zu KI-Techniken, die letztlich künstlerische Medien sind und alle humanen kulturellen Techniken wie Sprach-KI, Schreib-KI oder Komposition-KI übernehmen können, deutlich. Die Modellprojekte zeigten, dass Kulturelle Bildung Potenzial hat, einen emanzipatorischen Umgang mit KI zu fördern: hier vor allem die unterschiedlichen Logiken zwischen Menschen und Maschine zu veranschaulichen und zugleich in der Lage zu sein, Funktionsweisen von KI sinnlich-ästhetisch erfahrbar zu machen.

Neben dem gestalterischen und emanzipatorischen Umgang mit KI kann Kulturelle Bildung, das zeigten die Modellprojekte, zudem einen visionären Diskursraum zum humanen Einsatz von KI eröffnen, um grundsätzliche gesellschaftliche Fragen zu stellen: Kann eine KI künstlerisch aktiv sein? Wie unterscheiden sich KI und Menschen? Welche humanen kulturellen Praktiken sollten KI-Techniken übernehmen? Und welche nicht? Das UNESCO-Framework betont, dass Kulturelle Bildung bezogen auf digitale Techniken und KI explizit einen Beitrag leisten kann »to support and promote reflection, creativity, initiatives, and ethical and responsible use in this domain« (UNESCO 2024.:4).

Fazit: Quo vadis Kulturelle Bildung? Eine nachhaltige Strukturentwicklung, mehr Demokratisierung und Werteorientierung?

Das nun vorliegende UNESCO-Framework verdeutlicht einen länger sich abzeichnenden Paradigmen-Wechsel, der gesamtgesellschaftlich beobachtet werden kann. Seit den 1990er Jahren manifestierten sich starke Individualisierungs- und Ökonomisierungstendenzen. Diese standen im Einklang mit dem Ansatz der Subjektstärkung, wie er sich für die Kulturelle Bildung in Deutschland schon seit den 1968er Jahren etablierte. In dieser Zeit wurde auch die Autonomie der Künste stark hervorgehoben.

In den letzten Jahren kann ein Gegentrend beobachtet werden, hin zu einer nachhaltigen und gemeinwohlorientierten Gesellschaft. Auf der einen Seite werden dabei vermehrt Diskurse über Grenzen öffentlich geförderter Kunst und Kultur im Kontext von (Gender)Stereotypen, Diskriminierung oder Positionierungen zum aktuellen Kriegsgeschehen geführt. Auf der anderen Seite entwickeln und gewinnen Konzepte wie artistic or cultural citizenship an Bedeutung, die konkret eine gesellschaftliche Verantwortung der Künste, Künstler*innen und der Kulturellen Bildung für gesellschaftliche Prozesse einfordern, wie Demokratieerhalt oder Entwicklung zu einer nachhaltigen Gesellschaft. Das Konzept des artistic citizenship zielt eben auf jene gesellschaftliche Verantwortung der Künste und der Künstler*innen im Sinne des »showing up for each other« (Elliott et al. 2016:8) ab. Damit wird der Anspruch verbunden, einen habit change durch gemeinsame künstlerische Praxis zu bewirken (Turino 2016). Diese Idee spiegelt sich an vielen Stellen des UNESCO-Framework wider: die Vorstellung, dass Kulturelle Bildung die Entwicklung zu einer demokratischen Werteorientierung und einer gesellschaftsverändernden nachhaltigen Praxis unterstützen könne. Das Konzept der »Cultural Citizenship« ist eine erweiterte Perspektive der dreidimensionalen Betrachtung von Staatsbürgerschaft als »civil, political and social citizenship«, wie sie Thomas M. Marshall (Marshall 1950) diskutierte. Mit »Cultural Citizenship« werden »jene Praxen bezeichnet, die eine Teilhabe an den kulturellen Ressourcen der Gesellschaft ermöglichen« (Lünenborg/Klaus 2004:193). In der Porto Santo Charter (Portugal 2021), die im Rahmen der portugiesischen EU-Ratspräsidentschaft 2021 entstand und eine stärkere Demokratisierung der Kulturpolitik fordert, wird das Modell der cultural citizenship ebenfalls aufgegriffen und in ähnlicher Richtung wie das UNESCO Konzept der Global Citizenship Education (Deutsche UNESCO Kommission o.J.) diskutiert. Hervorgehoben werden bezogen auf cultural citizenship Rechte und Pflichten der Bürger. Zu den Pflichten der kulturellen Staatsbürgerschaft gehören das aktive Einbringen in kulturelle Debatten unter Anerkennung kultureller Vielfalt und eine eigene Verantwortungsübernahme für das lokale kulturelle Erbe. Zu den Rechten zählen sehr konkrete demokratische Beteiligungsprozesse, wie das Einrichten bürgerlicher Beratungsgremien in den Kultureinrichtungen, die sich zugleich immer auch als Bildungseinrichtungen verstehen. D. h., beispielsweise auch Verantwortung übernehmen für »digital territories« und hier Strategien entwickeln für den digitalen Zugang, Inklusion und die Alphabetisierung »to ensure that the digital space is a public space« (Portugal 2021:11).  

Diese neuen kulturpolitischen Konzepte adaptieren damit viele bestehende Ansätze aus der Soziokultur und der Kulturellen Bildung in Deutschland wie Partizipation, Beteiligung und Mitbestimmung. Bei diesen Ansätzen sollte allerdings berücksichtigt werden, dass der gesellschaftliche Wandel zu einer gesellschaftlichen Differenzierung, Fragmentierung und vor allem starken Polarisierung geführt hat, sodass die Umsetzung dieser Ansätze bei heterogenen Gruppen heute anderer Methoden bedarf als früher. Dies ist eine aktuelle Herausforderung für alle Multiplikator*innen aus kultur-, bildungs- und jugendpolitischen Kontexten innerhalb des Felds der Kulturellen Bildung. Dazu bedarf es Moderationsfähigkeiten und Methoden, die zwischen unterschiedlichen Wertekonstellationen heterogener Gruppenzusammensetzungen vermitteln und so Grundlagen für eine gemeinsame Zusammenarbeit überhaupt erst ermöglichen können; hier beispielsweise auch einen konstruktiven Umgang mit gegenteiligen, polarisierenden Meinungen wie beispielsweise rechtspopulistischen Ansichten oder ideologischen Verschwörungstheorien junger Menschen. Dabei gilt es, Haltung zu zeigen, Grenzen zu setzen, ohne zugleich junge Menschen auszugrenzen. Dies bedingt in der Folge auch eine Offenlegung der eigenen Werteorientierung als Grundlage für eine Zusammenarbeit mit Dritten und damit eine notwendige Werteverständigung innerhalb des eigenen Felds.

Um inhaltlich Diversität abbilden zu können, auch im Sinne globaler Gerechtigkeit, wird in einem zweiten Schritt auch die Lebensweltorientierung der Kulturellen Bildung innerhalb des non-formalen Bildungsbereichs in Deutschland in Frage gestellt. Es können nicht nur die bestehenden Interessen einer Gruppe in den Blick genommen werden, sondern diese sollten immer auch in einen globalen Kontext gesetzt werden. Dies bedingt ein Infragestellen der bestehenden eurozentristischen Perspektiven innerhalb der Aus- und Fortbildungsstätten hin zu mehr Internationalität in der Kulturellen Bildung – bezogen beispielsweise auf Kenntnisse globaler Künstler*innen, Kulturgeschichte, Techniken oder Werke.

Die aktuellen Diskurse und das UNESCO-Framework verdeutlichen zugleich, dass es darüber hinaus nachhaltiger struktureller Veränderungen bedarf. Allein die Forderung des Rechts auf non-formale Kulturelle Bildung für alle setzt neue Maßstäbe, die in Deutschland bis heute nicht erfüllt werden. Der Zugang zur non-formalen Kulturellen Bildung hängt immer noch vom Interesse, Engagement und finanziellen Budget des Elternhauses ab. Solche selektiven Zugänge stehen im Kontrast zu der Werteorientierung, in welche das UNESCO Framework für kulturelle und künstlerische Bildung eingebettet ist und dem hier geforderten Recht auf Zugänge zur formalen, non-formalen und informellen Kulturellen Bildung für alle. Mit der Forderung gleichberechtigter Zugänge für non-formale Kulturelle Bildung werden beispielsweise Teilnahmegebühren für non-formale Kulturelle Bildung in Deutschland in Frage gestellt und zugleich die Frage nach einem flächendeckenden Angebot aufgeworfen, das gleichermaßen allen zugänglich sein sollte.

Nachhaltige strukturelle Veränderungen bedeuten dabei zugleich, dass die Werte und Haltungen, bezogen auf Diversität, Digitalität, Inklusion oder Nachhaltigkeit, auch strukturell gelebt und innerhalb der internen Prozesse widergespiegelt werden, beispielsweise im Rahmen diverser Teams, nachhaltigen Wirtschaftens, Bereitstellung barrierearmer Arbeits- und Lernorte etc.

Um nachhaltige strukturelle Veränderung im Sinne flächendeckender Angebote formaler, non-formaler und informeller Kultureller Bildung für alle zu realisieren, bedarf es – und das wurde vorausgehend an vielen Stellen deutlich – Kooperationen zwischen den verschiedenen Handlungsfeldern und Ressorts, die Brücken bauen und zugleich die besonderen Qualitäten der unterschiedlichen Bildungsbereiche bewahren. Dafür bedarf es der Entwicklung neuer nachhaltiger Kooperationsmodelle und abgrenzbarer Definitionen, die die unterschiedlichen Zielsetzungen der jeweiligen Handlungsfelder innerhalb der Kulturellen Bildung verdeutlichen.

Der gemeinsame Rückgriff auf einen Containerbegriff, wie den der Kulturellen Bildung, ohne Verständigung über bestehende Unterschiede in den Zielsetzungen, erschwert die Entwicklung neuer Kooperationsstrukturen. Dass zunehmend eine Notwendigkeit besteht, sich über unterschiedliche Inhalte, Zielsetzungen und Methoden der Kulturellen Bildung zu verständigen, wurde auf der UNESCO Weltkonferenz in Abu Dhabi erneut deutlich. Die dort präsentierten Konzepte und Inhalte unterschieden sich weltweit zum Teil sehr deutlich voneinander. Um ein strategisches Ziel des UNESCO Framework, hier das globale Monitoring zu ermöglichen, bedarf es daher weltweit einer konzeptionellen Vermessung des Feldes; hier eine Sichtung der unterschiedlichen Definitionen, Zielsetzungen und Inhalte, um das globale Feld der Kulturellen Bildung angemessen darstellen zu können. Das kann mit Respekt gegenüber der Vielfalt kultureller Bildungspraxen weltweit nicht bedeuten, den Versuch zu starten, eine gemeinsame Definition festzulegen, die möglichst viel abdeckt, sondern eine Systematik für vielfältige Ansätze zu entwickeln, die gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Ein solche Systematik würde zugleich die Chance eröffnen, voneinander zu lernen und sich als Feld weiterzuentwickeln.

Im UNESCO-Framework ist neben dem globalen Monitoring auch ein freiwilliger Staatenbericht zur Entwicklung Kultureller Bildung gefordert. Dies könnte einen positiven Wettbewerb in der Weiterentwicklung Kultureller Bildung innerhalb der verschiedenen Handlungsfelder – national und international – begünstigen.

Eine bleibende Herausforderung wird das Austarieren sein zwischen der Autonomie der Künste, individueller Ausdrucksformen, der Stärkung individueller Positionen in der Kulturellen Bildung und einer Gemeinwohlorientierung, die die Interessen des Einzelnen hinter die Gemeinschaft anstellt. Dabei sollte berücksichtigt werden, dass die Künste immer das Potenzial haben – und in der Vergangenheit auch hatten –, als Korrektiv bestehende gesellschaftliche Verhältnisse kritisch zu hinterfragen. In Zukunft ist daher nicht auszuschließen, dass am Ende einer erfolgreichen Transformation zu einer nachhaltigen und gemeinwohlorientierten Gesellschaft der Kunst- und Kulturbereich nach dem ästhetischen Prinzip des Regelbruchs, mit denen die Künste als Medium dieses Bereichs spielen, diese nachhaltige Gesellschaft wieder kritisch in Frage stellen wird, um erneut mehr Freiräume und individuelle Perspektiven innerhalb der Gesellschaft zu fordern.

Die aktuellen nationalen wie internationalen Herausforderungen zur Frage Quo vadis Kulturelle Bildung? eröffnen jedenfalls (erneut) einen starken Bezug zu Humboldts Idee, sich als Weltbürger*in mit den großen Menschheitsfragen auseinanderzusetzen: mit Frieden, Gerechtigkeit oder einer anderen Beziehung zur Natur. Denn, wie Humboldt es so treffend formulierte, »jedes Naturgesetz, das sich dem Beobachter offenbart, [läßt] auf ein höheres, noch unerkanntes schließen« (Humboldt 1845:21).

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Susanne Keuchel (2024): Quo vadis Kulturelle Bildung? – Internationale Perspektiven auf notwendige Transformationsprozesse. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://kubi-online.de/index.php/artikel/quo-vadis-kulturelle-bildung-internationale-perspektiven-notwendige-transformationsprozesse (letzter Zugriff am 23.08.2024).

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