Qualitäten der Künste in der Kulturellen Bildung
Vortrag beim 3. Kubi-Online Symposium im Juni 2015 in der Bundesakademie Wolfenbüttel
Qualität ist ein unscharfer Begriff. Aus der Alltagssprache ist uns der Begriff der Qualität vertraut, um die Güte eines Gegenstandes, Produktes oder einer Dienstleistung zu beschreiben. Mit Hilfe der Qualität wird eine Bewertung vorgenommen: etwas kann besser oder schlechter sein, den Ansprüchen mehr oder minder genügen. Der Qualitätsbegriff kann jedoch auch dazu benutzt werden, die Beschaffenheit eines Gegenstandes, Produktes oder einer Dienstleistung zu beschreiben. In diesem Fall hilft er, Etwas einer Kategorie zuzuordnen, die Summe der Eigenschaften zu benennen und so von anderen, möglicherweise ähnlichen Dingen, abzugrenzen.
Im Folgenden möchte ich mich auf den zweiten Bedeutungszusammenhang von Qualität beziehen. Die Frage nach den „Qualitäten der Künste in der Kulturellen Bildung“ ist in diesem Sinne nicht die Frage nach einem Besser oder Schlechter, sondern die Frage nach dem, was die besonderen Eigenschaften von Kultureller Bildung beschreibt, was sie also qualitativ von andere Bildungszusammenhängen unterscheidet und was die Künste mit dieser Differenz zu tun haben.
Die besondere Qualität Kultureller Bildung
Pädagogisches Handeln lässt sich nach Klaus Prange allgemein so beschreiben, dass es ein kommunikativer Akt ist, der zwischen einem Lernenden und Lehrenden stattfindet, sich auf einen Gegenstand bezieht und Lernen als Absicht in sich trägt (vgl. Prange 2006:12ff.). Dieses Modell erinnert sehr an das didaktische Dreieck (vgl. Jank/Werner; Meyer/Hilbert 2008:55). Pädagogisches Handeln in der Kulturellen Bildung unterscheidet sich nun hinsichtlich der Intention dieses Prozesses. Das Besondere an Kultureller Bildung ist, dass das Zusammenwirken aus Lehrendem, Lernendem und Gegenstand das Potenzial zur ästhetischen Erfahrung birgt. Dieses Potenzial wird in der Kulturellen Bildung intentional mitgedacht. Hier geht es nicht nur um das Lernen, sondern um eine besondere Qualität der Erfahrung.
Ästhetische Erfahrung
Der Begriff der ästhetischen Erfahrung und das damit beschriebene Phänomen sind schwer zu fassen. Nicht umsonst besteht in der philosophischen Ästhetik hinsichtlich der Frage, ob es ein einheitliches und spezifisches Phänomen der ästhetischen Erfahrung gibt, ein reger Diskurs (vgl. Deines/Stephan, Liptow/Jasper, Seel/Martin 2013:7ff). Allein der Gedanke an die Mannigfaltigkeit der Gegenstände, an denen eine ästhetische Erfahrung gemacht werden kann, legt das Problem hinsichtlich eines einheitlichen und spezifischen Phänomens, das mit der ästhetischen Erfahrung beschrieben werden soll, offen. So ist die Erfahrung, die ein Zuhörer in einem Konzert macht, mit Sicherheit eine ganz andere, als wenn er in einem Kunstmuseum steht oder in einem Theaterstück mitspielt. Trotz dieser Vorbehalte gibt es Versuche, das Phänomen der ästhetischen Erfahrungen mit seinen Familienähnlichkeiten über die einzelnen Kunstsparten hinweg zu beschreiben. Eine Definition der Ästhetischen Erfahrung, die für die Kulturelle Bildung fruchtbar gemacht werden kann, liefert Levinson:
„Ästhetische Erfahrung ist eine Erfahrung, deren Kern eine in der ästhetischen Aufmerksamkeit gegenüber einem Gegenstand gegründete ästhetische Wahrnehmung dieses Gegenstands bildet und die eine positive lustvolle, affektive oder evaluative Reaktion auf diese Wahrnehmung selbst oder den Gehalt dieser Wahrnehmung enthält.“ (Levinson 2013:56).
Abbildung 1: Modell der ästhetischen Erfahrung nach Levinson
Erfahrungen lassen sich im Allgemeinen über drei Aspekte bestimmen. Erfahrungen stellen erstens „Arten des kognitiven Zugangs zur Welt und zu uns selbst“ (Deines/Liptow/Seel 2013:16) dar. Während die Wahrnehmung rezeptiv die Informationen der Welt aufnimmt, enthält der Begriff der Erfahrung einen verarbeitenden Aspekt des Weltzugangs. Die Wahrnehmungen werden eingeordnet, bewertet oder reflektiert und unser Welt- oder Selbstbild verändert sich im Laufe dieses kognitiven Prozesses. Erfahrungen sind zweitens immer zeitlich. Das heißt, sie sind in ihrer Dauer begrenzt und klar in die Erfahrung der Zeit einzuordnen. Drittens haben Erfahrungen einen Gegenstand und einen Inhalt (vgl. ebd.): eine Erfahrung lässt uns einem bestimmten Gegenstand auf eine besondere Art und Weise begegnen.
Die Bestimmung von Levinson und die Ausführungen über die Erfahrung machen den engen Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und Erlebnis deutlich. Der Kern der ästhetischen Erfahrung ist eine ästhetische Wahrnehmung, die durch eine ästhetische Aufmerksamkeit gegenüber einem Gegenstand begründet liegt. Damit diese Wahrnehmung nun zu einer ästhetischen Erfahrung wird, braucht es nach Levinson eine „positive lustvolle, affektive oder evaluative Reaktion“ (Levinson 2013:56) auf eben diese Wahrnehmung. Hierbei sind die drei Adjektive als Aufzählung zu verstehen und es bedarf keiner prinzipiell positiven Reaktion auf die Wahrnehmung. Diese Definition schließt also auch Erfahrungen mit ein, die nicht als schön, wahr und gut eingeordnet werden. Das Entscheidende ist jedoch eine affektive Reaktion, die uns in ein Verhältnis zum Wahrgenommenen setzt und damit die bloße Wahrnehmung zu einer Erfahrung werden lässt.
Das Ästhetische ist dabei ein besonderer Modus der Aufmerksamkeit und der Wahrnehmung. Seel beschreibt ästhetische Wahrnehmung als einen spezifischen Vollzug der sinnlichen Wahrnehmung (vgl. Seel 2003:148). Dieser ist unter anderem durch eine besondere Art der Zeiterfahrung, eine grundsätzliche Offenheit für Simultaneität und Momentaneität und eine bewusste synästhetische Verbundenheit der Sinne gekennzeichnet. In diesem Sinn kann die ästhetische Aufmerksamkeit auch als eine spezifische Aufmerksamkeit gegenüber einem Gegenstand verstanden werden. Es ist also eine bestimmte Haltung des erfahrenden Subjekts und nicht etwa eine bestimmte Beschaffenheit des Gegenstandes, die das Ästhetische bestimmt.
Auch wenn wie oben bereits ausgeführt die spezifische Bestimmung des Phänomens der ästhetischen Erfahrung nur schwer zu fassen ist, so folgen aus diesem Bestimmungsversuch dennoch einige Merkmale, die ästhetischen Erfahrungen, unabhängig von den Gegenständen, an denen Sie gemacht wurden, charakterisieren. Ursula Brandstätter fasst dies in den Leitkategorien Erkenntnis, Sprache, Körper und Zeit zusammen (vgl. Brandstätter 2008:101ff. ). Ästhetische Erfahrung eröffnet einen Erkenntnisraum jenseits von wahr und falsch, sondern geht von einer grundsätzlichen Offenheit aus. Hierdurch entsteht eine Multiperspektivität auf Probleme, Gegenstände und Phänomene. Die in der ästhetischen Erfahrung gemachten komplexen sinnlichen Erkenntnisse lassen sich nur begrenzt in die begriffliche Verfasstheit der Sprache überführen und fordern in dieser Widerständigkeit zur Suche nach neuen Ausdruckmöglichkeiten auf. Die Leiblichkeit spielt in der ästhetischen Erfahrung in doppelter Hinsicht eine Rolle: zum einen als Leib des erfahrenden Subjekts, zum anderen in der Körperlichkeit des wahrgenommenen Objekts, also des Kunstwerks mit seiner je spezifischen Körperlichkeit. Als letztes ist die ästhetische Erfahrung durch ein besonderes Zeitempfinden gekennzeichnet. Die Erfahrung wird in einer Plötzlichkeit wahrgenommen und tritt aus dem alltäglichen Fluss der Zeit heraus (siehe auch Ursula Brandstätter „Ästhetische Erfahrung" auf kubi-online). Diejenigen, die in der Praxis der Kulturellen Bildung aktiv sind, werden diese Momente gut kennen und beschreiben können: es sind die Momente in denen eine Schulklasse plötzlich mit einer zuvor von den Lehrkräften nie gekannten, stillen Aufmerksamkeit dem Pianisten zuhört und sich in diesem Zuhörern zu verändern scheint, die Gänsehautmomente beim eigenen Theaterbesuch oder der Moment, in dem in einem Gemälde plötzlich ‚mehr’ zu erkennen ist als auf der Leinwand offensichtlich wird. Es sind Momente des Erschütterns, der lustvollen Erkenntnis, der Offenheit.
In diesen ästhetischen Erfahrungen liegen Bildungspotenziale, derer sich die Kulturelle Bildung bewusst sein muss und die nur aus ihrer eigenen Logik heraus bestimmt werden können.
Folgen für die Kulturelle Bildung
Die Beschreibung des ästhetischen Erlebnisses anhand von Levinsons Definition legt nahe, dass der Gegenstand unerheblich ist. Prinzipiell können ästhetische Erfahrungen an jedem Gegenstand gemacht werden. Kunstwerke spielen in diesem Zusammenhang dennoch eine besondere Rolle: „Kunstwerke sind Artefakte, die ausdrücklich dafür gedacht oder gemacht sind, ästhetische Erfahrungen zu ermöglichen.“ (Levinson 2013:43) Wenn, wie zu Beginn ausgeführt, die Ermöglichung von ästhetischer Erfahrung ein zentrales Merkmal von Prozessen der Kulturellen Bildung ist und die Wahrscheinlichkeit, diese spezifische Erfahrung zu machen erhöht werden soll, so ist eine logische Konsequenz, dass die Gegenstände der Kulturellen Bildung in erster Linie ästhetische Gegenstände, also Kunstwerke sind.
Dabei gilt es die jeweils spezifischen Erfahrungspotenziale der einzelnen Künste als solche wahr und ernst zu nehmen. Denn hinter diesen spezifischen Erfahrungen liegen spezifische Bildungspotenziale. Diese können jedoch nur zur Entfaltung kommen, wenn mit ihnen in ihren eigenen Logiken gearbeitet wird: in einem Tanzprojekt werden andere Erfahrungen gemacht als bei einem Museumsbesuch. Diese gilt es genauer zu erforschen und zu beschreiben. Es ist also notwendig, die einzelnen Künste für sich zu betrachten und zu erforschen, um mehr über die Erfahrungs- und Bildungspotenziale zu erfahren.
Hieraus folgt eine weitere Konsequenz: die jeweiligen Künste haben spezifische diskursive Hintergründe. Diese liefern Bedeutung, Kriterien und Regeln, die Orientierung bieten und das eigene produktive Geschehen aus dem „irgendwie“ herauslösen. Ein Beispiel hierfür ist das Projekt ‚Requiem’ der Berliner Philharmoniker (vgl. Mast/Christine, Miliken/Catherine 2008:60f.). Schulklassen beschäftigen sich im Rahmen dieses Projektes musikalisch produktiv mit dem Themenfeld Tod, Trauer, Sterben und Abschied. Das eigene produktive Tun wird dabei von dem Referenzwerk ‚Ein deutsches Requiem’ von Johannes Brahms begleitet. Dieses Referenzwerk erlaubt es den SchülerInnen Fragen danach zu stellen, wie sich das eigene Werk von Brahms unterscheidet, welche Ideen ähnlich sind, welche formalen Gesichtspunkte entscheidend sind usw. Es ist nicht das Ziel, dass SchülerInnen ein Werk entwickeln, das wie Brahms klingt. Ihre eigene Arbeit hat aber durch das ‚Requiem’ eine Anbindung an einen Kunstdiskurs, an Regeln und Kriterien gefunden.
Diese Diskurse müssen nicht in der „Hochkultur“ verankert sein. Im Rahmen von Graffitiprojekten kann die künstlerische Tätigkeit zum Beispiel in den Gesamtzusammenhang von Street Art gestellt werden. In diesem Rahmen könnte die politische und emanzipatorische Macht eines Banksy, der als Streetart-Künstler neue Perspektiven in den Lebensraum der Stadt bringt, zum Thema werden oder die Gefahren des Sprayens auf offener Straße und die damit verbundenen technischen und konzeptionellen Einschränkungen thematisiert werden.
Die Künste liefern der Kulturellen Bildung eine besondere Qualität: einen Erfahrungsraum, der sich so nur in ihren jeweils spezifischen Logiken, Gegenständen und Wahrnehmungsmöglichkeiten eröffnet. Für die Zukunft gilt es diese weiter theoretisch zu erforschen, um sie in der Praxis fruchtbar zu machen.