Qualität Kultureller Bildung in Kindertagesstätten und in Kooperationen mit Kindertagesstätten
Zusammenfassung der Ergebnisse einer qualitativ angelegten Expertise mit bildungstheoretischen Impulsen und kultur- und bildungspolitischen Empfehlungen zur Weiterentwicklung Kultureller Bildung in Kindertagestätten und in Kooperationen.
Abstract
Es ist unbestritten, Kulturelle Teilhabe ist ein anthropologisches Grundbedürfnis und Kulturelle Bildung besitzt gerade für die Jüngsten eine zentrale Entwicklungsrelevanz. Wie jedoch die Qualität Kultureller Bildung in Kindertagesstätten und in Kooperationen mit Kindertagesstätten beschaffen sein soll, dies bleibt mithin unbeantwortet, de-thematisiert. Diese Leerstelle greift der vorliegende Beitrag in Form einer kompakten Zusammenfassung der von der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (bkj) beauftragten und im Jahre 2018 veröffentlichten Expertise auf und verdichtet die Ergebnisse dieser qualitativen Studie zur Qualität Kultureller Bildung in Kindertagesstätten und in Kooperationen zu bildungs- und kulturpolitischen Empfehlungen. Einen für die konkrete Praxis Kultureller Bildung in Kindertagesstätten und in Kooperationen vielversprechenden Analyseansatz stellt dabei die Verschränkung von theoretischen Setzungen und den damit referenzierten Qualitätskriterien der Erziehungswissenschaft, der Präventionspolitik sowie der Kulturellen Bildung dar.
In der Langfassung der Expertise finden sich hier ausgesparte Informationen zur Methodik und weitere Detailerkenntnisse.
Problemhorizont: Qualität Kultureller Bildung
Spätestens seit der Jahrtausendwende hat sich das Bild des aktiven Kindes, das sich von Geburt an seine soziokulturelle Umwelt in ko-konstruktiven Prozessen erschließt und diese mitgestaltet, fest in Wissenschaft, Politik und pädagogischer Praxis etabliert. Gleichzeitig hat dies zu einer enormen Aufwertung von Kultureller Bildung von Anfang an geführt. In Folge dessen ist nicht nur das Recht auf Kulturelle Bildung im öffentlichen Bewusstsein (vgl. Schneider 2010) und die Zahl der wissenschaftlichen Publikationen zum Thema Kulturelle Bildung enorm gestiegen, wie dies eindrücklich die von der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e. v. (BKJ) verantwortete Schriftenreihe „Kulturelle Bildung“ im kopaed Verlag mit derzeit fast 70 einschlägigen Fachpublikationen belegt. Vielmehr, deutlich in der 2007 von der Kultusministerkonferenz verabschiedeten „Empfehlung zur kulturellen Kinder- und Jugendbildung“ formuliert, rückt ab 2007 neben der Institution Schule nun auch der vorschulische Bereich in den kulturpolitischen Blick und stellt die unterschiedlichen Akteure im Feld der frühkindlichen Bildung vor die große Herausforderung, sich zu sog. lokalen Bildungslandschaften zusammen zu schließen, um so Bildungszugänge auch für die Jüngsten unserer Gesellschaft zu sichern. Dabei rückt die Kulturelle Kinder- und Jugendbildung im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe verstärkt in den Fokus und damit auch die Kindertagesstätten, da gerade hierin enorme Potenziale liegen, lokale Bildungslandschaften zu etablieren und somit Bildungsgerechtigkeit und Teilhabechancen für junge Menschen zu gewährleisten.
Lokale Bildungslandschaften verstanden als „langfristig angelegte, professionell gestaltete, auf gemeinsames, planvolles Handeln abzielende, kommunalpolitisch gewollte Netzwerke zum Thema Bildung, die ausgehend von der Perspektive des lernenden Subjekts formale Bildungsorte und informelle Lernwelten umfassen und sich auf einen definierten lokalen Raum beziehen“ (Deutsche Kinder- und Jugendstiftung 2010:3), zielen – im konkreten Fall der Kulturellen Bildung in Kindertagesstätten als ein Baustein eines umfassenderen Netzwerkes – auf die Vernetzung von Kindertagesstätten mit Einrichtungen der Jugend- oder Sozialarbeit, mit Kultur- und Kunstinstitutionen, mit Einrichtungen der politischen und Umweltbildung. „Diese unterschiedlichen Akteure“, so der Auftrag der BKJ (2018), „gilt es nicht nur zu vernetzen, sondern in einen gemeinsamen Konzeptdiskurs zu bringen, der die Potenziale und Strukturbedingungen der Kulturellen Bildung aktiv einbindet“ und sie so zu einem sinnvollen Gesamtkonzept zusammenfügt. In diesem Zusammenhang ist es ein längst fälliger Schritt, auch die Kindertagesstätten als einen integralen Bestandteil von Bildungslandschaften zu begreifen und entsprechende Strukturen zu entwickeln.
Zur Schaffung eines tragfähigen und nachhaltig wirkenden Gesamtkonzeptes für Bildungslandschaften und deren Zugänge, so die klare Forderung der damaligen Präsidentin der Kultusministerkonferenz Annegret Kramp-Karrenbauer (2008:1f.), sind nicht nur alle verantwortlichen Akteure im Feld der Elementarpädagogik einzubinden, „auch geht es nicht nur um gesellschaftliche Teilhabe, sondern auch um Anspruch und Qualität.“ Insofern wäre eine „länderübergreifende Schaffung einheitlicher Standards und Qualitätsmaßstäbe […] wünschens- und erstrebenswert. Auch auf diesem Gebiet der Bildung möchte eigentlich jeder nur das Beste für alle.“
Trotz dieser begrüßenswerten Absicht, frühkindliche Kulturelle Bildung strukturell und fachlich fundiert zu sichern, dürfen die damit verbundenen Schwierigkeiten nicht übersehen werden: „In Arbeitsfeldern Kultureller Bildung sind Qualitätsstandards relativ schwierig zu definieren, denn es liegt nahe, dass in der Regel auf keine universell gültigen Vorgaben oder Normen zurückgegriffen werden kann. […] Es sind vielfach selbstgewählte quantitative oder qualitative Zielvorgaben […] In anderen Fachdisziplinen sieht dies anders aus, denn hier geht es oftmals um wissenschaftliche Qualitätsstandards“ (Liebau 2012:955f.; vgl. Stange 2013).
Obschon der intensiv geführte kindheitspädagogische Diskurs um die Qualität kindlicher Bildung mittlerweile tragfähige Theorien, multidimensionale Zugänge und evidenzbasierte Methoden zur Entwicklung und Sicherung von Qualität hervorgebracht hat (vgl. Obermaier 2018a; Obermaier/Müller-Neuendorf 2018b; Viernickel et al. 2018; Tietze et al. 2013), so stellt die Schaffung bildungspolitisch getragener und länderübergreifender Qualitätsstandards nicht nur für den Teilbereich ‚Kulturelle Bildung in Kindertagesstätten und in Kooperationen mit Kindertagesstätten‘ eine immer noch zu leistende Herausforderung dar. So stellt die Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2018:23) einen grundsätzlichen Entwicklungsbedarf fest: „Für den Bereich der frühen Bildung können […] die entwickelten Bildungs- und Erziehungspläne der Länder als Versuch verstanden werden, sich über Qualitätsmaßstäbe zu verständigen. Anders als im Schulbereich gibt es allerdings keine bundesweit einheitlichen Zieldimensionen und ihr Erreichen wird empirisch nicht überprüft.“
Insofern intendierte die vorliegende Zusammenfassung der Expertise einen Beitrag zur Schließung dieser noch offenen Lücke zwischen gelebter kultureller Praxis, bildungspolitischen Forderungen und strukturellen sowie fachlichen Erfordernissen zu leisten.
Kurzzusammenfassung: Methodisches Vorgehen
Die Expertise war qualitativ angelegt und analysierte vor dem nachfolgend entfalteten theoretischen Hintergrund zehn herausragende Projekte aus den Sparten Musik, Theater, Museum und Bildende Kunst, Medien sowie ein Sozialraum- und ein kommunales Netzwerkprojekt, welche sich am MIXED UP Bundeswettbewerb für kulturelle Bildungspartnerschaften beteiligten. Auf Grundlage der vorhandenen Referenzdokumente sowie weiterer verfügbarer Informationen etwa auf den Projekt-Websites wurden die von der BKJ ausgewählten Projekte analysiert. In einem zweiten Schritt wurden mit projektverantwortlichen Expert*innen strukturierte Leitfadeninterviews geführt. Die erkenntnisleitenden Forschungsfragen sowie die konkrete Zuordnung zu den Qualitätsdimensionen finden Sie in der Langfassung.
Als wesentliche fachliche und normative Grundlagen für die Expertise dienten neben den einschlägigen Publikationen zur Qualität (BKJ 2010; 2012; 2017) insbesondere das von der BKJ im Jahre 2016 verabschiedete Positionspapier mit dem Titel „Spiel und Kunst von Anfang an. Kulturelle Bildung für junge und sehr junge Kinder“, das Kulturelle Bildung im Alter von 0 bis 6 Jahren in den Blick nimmt. Die darin formulierten Qualitätskriterien und Qualitätsbereiche, die eine Verdichtung der bereits in der BKJ-Studie mit dem Titel „Qualitätsdimensionen von Kooperationen Kultur und Schule“ (2017) darstellen, wurden dann mit den in der Kindheitspädagogik mittlerweile standardisierten Qualitätsdimensionen verbunden.
Zudem – mit Blick auf den Bereich der pädagogischen Prävention – wurden Qualitätskriterien aus dem Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention (Präventionsgesetz – PrävG; SGB V §20) mit in die Analyse einbezogen, um eine wichtige rechtliche Perspektive hinzuzuziehen und die Anschlussfähigkeit zu überprüfen.
Ein zentrales Ziel der in der Lebenswelt der Kinder angebotenen Projekte liegt in der Stärkung der psychischen Widerstandsfähigkeit (vgl. hierzu den Orientierungsrahmen „Künste bilden Persönlichkeiten“, BKJ 2013), wozu insbesondere Kulturelle Bildung einen besonderen Beitrag zu leisten vermag, versteht man mit Georg Hörmann (1998:115) Gesundheit und Wohlbefinden nicht nur als Abwesenheit von Krankheit, sondern vielmehr als „ein Gleichgewicht der wohlausgewogenen Proportionen“, welches „der Kultivierung der individuellen Lebensführung im Sinne einer harmonischen Gesamtpersönlichkeit dient“ (Mertens 2013:77; zum Zusammenhang von Bildung und Gesundheit vgl. Mertens 2013). Somit referenziert die Analysegrundlage, wie es Abbildung 2 aufzeigt, folgende drei Quellen:
Theoretischer Bezugsrahmen
Rahmenbedingungen Kultureller Bildung — Ausbau der Kindertagesbetreuung und der kommunalen Kultur- und Bildungsangebote
Die Fachkräfteentwicklung im Feld der Kindertagesbetreuung ist beeindruckend: 2020 waren in diesem Teilarbeitsmarkt bereits 675.600 Menschen beschäftigt, zwischen 2006 und 2020 wurden über 323.000 Arbeitsplätze neu geschaffen, dieser strukturelle Aufwuchs „entspricht einer Steigerung des Personalbestands von 92%“ (Autorengruppe Fachkräftebarometer 2021:218). Doch nicht nur die Anzahl an pädagogischen Fachkräften und an betreuten Kindern ist rasant angestiegen – mittlerweile zählt für 98 Prozent der über Dreijährigen der Kitabesuch zum normalen Bestandteil der Bildungsbiografie –, auch die Ansprüche und Erwartungen an eine zeitgemäße Bildung, Betreuung und Erziehung sind mindestens ebenso stark angewachsen und stellen das Ausbildungssystem, Träger, Leitungen und pädagogische Fachkräfte sowie den gesamten Bereich der kommunalen Kultur- und Bildungseinrichtungen wie Musikschulen, Museen, Bibliotheken oder Tanzhäuser sowie die freien Träger der Jugend- und Kulturarbeit vor große Herausforderungen: Denn der Quantität muss nun die entsprechende Qualität folgen, sollen die Reformversprechen etwa von Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit keine bildungspolitischen Leerformeln bleiben (vgl. Obermaier/Bernal-Copano 2018:52; Obermaier 2017).
Bildungstheoretische Verortung — der sozialökologische Ansatz
Bei der Begründung von bildungstheoretischen Zugängen und der Analyse von Arrangementen Kultureller Bildung ist insbesondere der sozialökologische Ansatz als ein unverzichtbarer Bezugsrahmen zu werten, da er ermöglicht, phänomenologische Perspektiven mit strukturellen Umweltmerkmalen zu verbinden. In dieser Hinsicht hat sich einerseits ein frühkindliches Bildungsverständnis durchgesetzt, das Bildung als einen von Geburt an verlaufenden, komplexen und ganzheitlichen Prozess begreift, durch den die sich entwickelnde Person erweiterte, differenziertere und verlässlichere Vorstellungen über sich und ihre Umwelt erwirbt und zu vielfältigen Aktivitäten und Tätigkeiten motiviert und befähigt wird, die es ihr ermöglichen, die Eigenschaften ihrer Umwelt zu erkennen, zu erhalten sowie diese eigenaktiv und kreativ mitzugestalten (vgl. Bronfenbrenner 1981: 44; Obermaier 2015a; Obermaier, Köhler et al. 2016). Im Zentrum dieses Bildungsansatzes steht also das aktive, realitätsverarbeitende Kind. Ziel einer sozialökologisch orientierten Pädagogik ist sonach, bildungsförderliche Umweltarrangements bereitzustellen, durch welche die Enkulturations- und Bildungsprozesse der sich entwickelnden Kinder gestärkt werden. In deutlicher Distanz zu umweltausblendenden Zugängen formuliert Bronfenbrenner eine „Theorie der Umweltkontexte und ihrer Auswirkungen auf die Kräfte, die das psychische Wachstum unmittelbar beeinflussen“ (Bronfenbrenner 1981:22).
Im Zentrum dieser Theorie steht dabei das sich entwickelnde Individuum in seiner je spezifischen soziokulturellen und damit soziohistorischen Eingebundenheit. Diese aktiv-realitätsverarbeitende Auseinandersetzung des Kindes in und mit seinen Umweltkontexten unterschiedlicher Reichweite verläuft in weiten Teilen sinnlich-ästhetisch und befördert dabei einen fortlaufenden Entwicklungs- und Bildungsprozesss, der zwischen den Ebenen Wahrnehmung, Vorstellung und Veränderung zirkuliert und zu immer höherer Komplexität der Umwelterfahrung, -durchdringung, und partizipativer Gestaltung führen soll. In diesem Verständnis ereignet sich Bildung eben gerade nicht nur exklusiv im Kontext außerordentlicher, rarer und die komplette Person transformierender (kritischer) Lebensereignisse im Lebenslauf. Vielmehr sind dies die subtilen, unspektakulären, leisen, spielerischen Alltagserfahrungen im ständigen Prozess des Ausbalancierens am Scharnier zwischen Ich und Welt, die insbesondere den kindlichen Bildungsprozess ausmachen (vgl. Schäfer 2011). Dabei sind es vorwiegend die negativen (im Rousseauschen Sinne die ergebnisoffenen), widerständlichen Erfahrungen, in denen an Bekanntem Neues entdeckt und bislang Fremdes in Eigenes assimiliert wird. Bildsame Erfahrungen von Kultur dieser Art sind vornehmlich über sinnlich-ästhetische Irritationen vermittelt, die im kindlichen Lernprozess der ersten Jahre bearbeitet und danach wahrscheinlich vergessen werden, im Rückblick auf Gelerntes aber wiedererinnert werden können und so ganz beiläufig zu Handlungsfähigkeit, Partizipationsfähigkeit und idealiter auch zu Verantwortung für sich und andere führen (vgl. Benner 2011:17f; Meyer-Drawe 2008). Der sozialökologisch verstandene Prozess der Bildung ist sonach stark an den kindlichen, sinnlich-ästhetischen Deutungen, dem persönlichen Erleben und Bewerten orientiert:
„Die Betonung liegt nicht auf den traditionellen psychischen Prozessen der Wahrnehmung, der Motivation, des Denkens und des Lernens, sondern auf ihrem Inhalt: Was wird wahrgenommen, gewünscht, gefürchtet und gedacht oder als Wissen erworben, und wie verändert sich das Wesen dieses psychologischen Materials durch den Einfluß (sic!) der Umwelt auf die Person, die ihr ausgesetzt ist und sich mit ihr auseinandersetzt.“
(Bronfenbrenner 1981:25)
Demgemäß verfolgt eine sozialökologisch orientierte Kindheitsforschung, wie diese hier erkenntnis- und handlungsleitend ist, das Ziel, einerseits auf der Grundlage einer offenen Heuristik eine Theorie kindlicher Bildungsprozesse zu fundieren und andererseits ein detaillierteres Verständnis der Empirie kindlicher Lebensumwelten zu erlangen, um auf diesem Fundament kindorientiert bildungsförderliche Arrangements (bildungspolitisch) einfordern und mit Blick auf Kulturelle Bildung in Kindertagesstätten und Kooperationen mit Kindertagesstätten evidenzbasiert gestalten zu können.
Bedeutung Kultureller Bildungsangebote
Der Maßstab, inwieweit Praxen Kultureller Bildung dann auch als gelingend und bildungsförderlich eingeschätzt werden können, gründet letztlich in den empirisch zu leistenden Nachweisen darüber, ob diese normativen Setzungen auf den in den nächsten Abschnitten ausformulierten Ebenen (bspw. Partizipationsgrade, Kindorientierung, Aktivierungspotenzial, positive Rollenübernahme, Gestaltungsraum, Lebensweltbezug etc.) im hier entfalteten Bildungsverständnis eingelöst werden können. Konkret geht es dabei um die Nachweise, dass die pädagogischen Settings in Kindertagesstätten und in Kooperationen non-formaler und informeller Bildung geeignet sind, den je individuellen Auseinandersetzungsprozess hinreichend zu ermöglichen, entwicklungsförderlich anzureichern, nachhaltig zu sichern und im Sinne einer ganzheitlich orientierten, diversitätssensiblen Pädagogik fähig sind, entwicklungshemmende Kontexte zu kompensieren, um so Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit positiv zu unterstützen.
Entsprechend der sozialökologisch orientierten Bildungsperspektive, wie diese insbesondere in Artikel 31 der UN-Kinderrechtskonventionen eine rechtliche Fundierung erhält, sind in erster Linie ästhetische und kulturelle Bildungs- und Erfahrungsqualitäten als die zentralen Entwicklungsmotoren aufzufassen und rechtlich zu schützen: So sind wir verpflichtet, das Recht des Kindes auf Ruhe und Freizeit anzuerkennen, das Recht auf Spiel, altersgemäße und aktive Erholung sowie auf die freie Teilnahme am kulturellen und künstlerischen Leben zu achten und zu fördern sowie – im Sinne von Partizipation und dem Prinzip der Freiwilligkeit – das Recht des Kindes auf volle Beteiligung am kulturellen und künstlerischen Leben durch die Bereitstellung adäquater, kindgerechter Arrangements zu sichern (vgl. UNICEF 1992:35f.).
Herausforderungen für Forschung und Praxis im Bereich Kultureller Bildung
Trotz dieser rechtlich beachtlichen und begrüßenswerten Stärkung des ästhetischen und kulturellen Bildungsbereichs, der seit 2006 auch in den länderspezifischen Bildungsplänen für den Elementarbereich explizit aufgenommen wurde, ist nicht nur nach Einschätzung der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e.V. (2016:17) eine kulturelle Bildungspraxis und Bildungsförderung in der hier beschriebenen Akzentuierung „im Alltag frühkindlicher Bildungs- und Betreuungseinrichtungen noch lange keine Selbstverständlichkeit.“ Dies verwundert auch kaum, denn erst sehr spät wurde dem Aspekt der Bildung in der frühkindlichen Bildungsbiografie eine theoretische und methodologische Aufmerksamkeit geschenkt (vgl. Fölling-Albers 2013) mit dem Effekt, „[d]ass in der gegenwärtigen Debatte um frühkindliche Bildung und Erziehung wahllos alles als Bildung bezeichnet wird – gleichgültig ob es sich um eine spezifische Förderung […] handelt, um eine Technik, die Kinder beherrschen sollen […] oder >Kompetenzen< in einem Lernbereich“ (Schäfer 2003:15; H.i.O.; kritisch dazu vgl. Obermaier & Schilling 2022).
In ähnlicher Weise herrscht bei der Bestimmung der wesentlichsten Bildungsdimension in der Kindheit, der sinnlich-ästhetisch leibgebundenen Bildungsdimension, eine enorme Variationsbreite, wie dies etwa Kathrin Borg (2012:4) kritisiert: „Insbesondere im Elementarbereich wird der Begriff Ästhetische Bildung inflationär gebraucht – mit der Konsequenz, dass alles, was im weitesten Sinne mit künstlerischen Tätigkeiten zu tun hat, mit Ästhetischer Bildung betitelt wird.“ Zudem, so eine aktuelle Befragung von Erzieher*innen zur ästhetischen Bildung und Praxis in Kindertagesstätten, ist ein explizites Fach- und Handlungswissen um kulturelle und ästhetische Bildung in der frühen Kindheit wenig ausgeprägt (vgl. Köhler/Obermaier 2017).
Auch mit Blick auf die Erforschung von Transferprozessen ästhetisch-künstlerischer Bildung kann berechtigt Entwicklungsbedarf konstatiert werden. So stellt etwa Christian Rittelmeyer in seiner Studie über die Effekte ästhetischer Bildung fest: „Ein wesentlicher Grund für die hierzulande beobachtbare Abstinenz auf dem Gebiet der Transferforschung dürfte in der verbreiteten Überzeugung zu suchen sein, dass man künstlerische Tätigkeiten durch solche Studien instrumentalisiert und dabei das Eigentümliche der ästhetischen Erfahrung, ihre Unbezogenheit auf äußere Zwecke, aus dem Blick verliert“ (2013:219). Ähnliche Haltungen Kulturschaffender identifizieren auch Michael Obermaier und Rita Molzberger (2017:285f.) in ihrer strukturierten Diskursanalyse, die sie bei Kulturverantwortlichen im Rahmen eines mehrtägigen Kongresses zum immateriellen Kulturerbe des modernen Tanzes durchführten. Dies gründet sicherlich auch in dem Umstand, dass sich im Bereich Kultureller Bildung „unterschiedliche Institutionen und Menschen in verschiedenen Rollen und Professionen unter bestimmten Rahmenbedingungen (finanzielle, organisatorische, räumliche, rechtliche etc.) an einem ausgewählten Ort [treffen]. Häufig kollidieren dabei unterschiedliche Ziele, Erwartungen, Interessen, Inhalte, Ansprüche, Wissensbestände, Herangehensweisen und nicht zuletzt Qualitätsverständnisse“, wie dies in der BKJ-Publikation (2017:4) festgestellt wird. Ohne näher die Gründe des Forschungsdefizits bzw. den Mangel an flächendeckender fachlicher Fundierung auszubreiten ist es eindeutig, dass die konzeptionellen Grundlagen sowie die Qualitätsdiskurse aus der Kindheitspädagogik mit der Ästhetischen/Kulturellen Bildung stärker verknüpft werden müssen.
Obschon klare Weiterbildungsbedarfe für Praktiker*innen sowie erhebliche Forschungsbedarfe im Bereich der kulturellen und ästhetischen Bildung angesprochen sind, so hat sich auf der anderen Seite im Zuge des Ausbaus der akademischen Kindheitspädagogik eine Qualitätsdiskussion und -forschung etabliert, die es erlauben, eine methodisch und theoretisch fundierte Analyse (kindheits-)pädagogischer Arrangements vorzunehmen. Dieser Zugang eignet sich zur theoriebasierten Kategorisierung und multidimensionalen Bewertung bzw. zur Charakterisierung von Konzepten und Modellen, wie dies anhand von sechs Kerndimensionen der pädagogischen Qualitätsforschung an anderer Stelle skizziert wird (vgl. Obermaier 2018; Obermaier/Müller-Neuendorf 2018; 2015; 2010).
Das Verständnis Kultureller Bildung im frühkindlichen Alter in den BKJ-Fachverbänden
Kulturelle Bildung, wie dies Max Fuchs (2008:11) in seinem gleichnamigen Buch feststellt, führt mit den beiden Wortbestandteilen ‚Kultur‘ und ‚Bildung‘ die in der deutschen Sprache wohl komplexesten und am meisten diskutierten Begriffe zusammen. Angesichts der Uferlosigkeit dieser seit der Antike immer wieder reflektierten Konstrukte wird an dieser Stelle an die Schriftenreihe Kulturelle Bildung der BKJ im kopaed Verlag verwiesen, sodass im Folgenden letztlich nur kleinere Akzentuierungen des innerhalb der BKJ geteilten Verständnisses von Kultureller Bildung im frühkindlichen Alter vorgenommen werden können.
Theoretische Zugänge zu Kultureller Bildung
Wie im vorigen Abschnitt erörtert, hat sich aktuell ein frühkindliches Bildungsverständnis durchgesetzt, das Bildung als einen von Geburt an verlaufenden, komplexen und ganzheitlichen Prozess begreift, durch den das sich entwickelnde Kind erweiterte, differenziertere und verlässlichere Vorstellungen über sich und seine soziokulturelle Umwelt erwirbt und zu vielfältigen Aktivitäten und Tätigkeiten motiviert und befähigt wird, die es ihm ermöglichen, die Eigenschaften seiner Umwelt zu erkennen, zu erhalten sowie diese eigenaktiv und kreativ mitzugestalten.
In einer ersten begrifflichen Annäherung kann sonach mit Max Fuchs und Eckart Liebau (2012:28) Kultur „als die Art und Weise verstanden werden, wie der Mensch die Welt zu seiner gemacht hat und macht; Bildung kann demgegenüber verstanden werden, wie der Mensch sich selbst in der Welt gemacht hat und macht.“ Die Begriffskomplementarität lässt sich auch so verstehen, dass Kultur die objektive Seite von Bildung und Bildung die subjektive Seite von Kultur darstellt – zwei Seiten der gleichen Medaille, nämlich der Persönlichkeitsentwicklung am Scharnier zwischen Ich und Welt. Entgegen einer Engführung des Kulturbegriffs nur auf die Künste verschränkt der hier vorgestellte sozialökologische Bildungsbegriff vier verschiedene Deutungszugänge zum Kulturbegriff (vgl. Liebau 2012; Fuchs 2012:65f.):
- In einer anthropologischen Perspektive erscheint der Mensch als ein kulturell verwiesenes Wesen, die Gestaltung der Welt und seiner selbst gilt dabei als grundlegende conditio humana des Gattungswesens Mensch.
- In einer ethnologischen Perspektive wird Kultur als Lebensweise spezifischer Gruppen verstanden, so etwa Gruppen eines Sprachraums oder eines Milieus.
- In einer pädagogisch-normativen Perspektive wird Kultur verstanden als rechtlich geschützter Entfaltungs- und Entwicklungsraum des Menschen, den er sich mittels Kulturtechniken erschließen und diesen sowie sich selbst gestalten kann.
- Der soziologische Kulturbegriff fokussiert das sog. gesellschaftliche Makrosystem mit den Teilsystemen Kunst, Religion, Sprache, Rechtsprechung und Wissenschaft und dient zur Selbstbeobachtung der Gesellschaft.
Basierend auf diesen verschränkten Zugängen zu Kultureller Bildung lassen sich entlang des Positionspapiers „Spiel und Kunst von Anfang an“ (BKJ:2016) vier zentrale Verständnisdimensionen differenzieren, die nachfolgend als kurze Thesen vorgestellt und mit ausgewählten Zitaten referenziert werden.
Vier zentrale Thesen des BKJ-Positionspapiers
- Ästhetische Erfahrung ist die Grundlage Kultureller Bildung.
„Sinnliche Erfahrungen und die spielerisch-kreative Auseinandersetzung mit der Umwelt bilden den Ausgangspunkt der Bildung und Entwicklung des Menschen als kulturelles Wesen. Kinder – ebenso wie Erwachsene – sammeln durch sinnliche Erfahrungen neue Erkenntnisse […] In diesem Moment rückt die eigene Wahrnehmungstätigkeit ins Bewusstsein und gewinnt an Bedeutung. Diesen Prozess nennt man ästhetische Erfahrung. Ästhetische Erfahrungen sind Ausgangspunkt und Grundlage Kultureller Bildung.“ (BKJ 2016:5).
Insofern greift diese These die anthropologische Perspektive auf und betont die Zentralität der ästhetischen Erfahrung als die Grundbedingung für gelingende Bildungsprozesse.
- Ästhetische Erfahrungen sind bedeutungsoffen und bewertungsfrei.
„Eine ästhetische Erfahrung lässt sich nicht darauf festlegen, dass etwa einem bestimmten wahrgenommenen Element eine bestimmte Bedeutung gegeben wird. Sie ist deshalb auch eine Erfahrung von Freiheit in der Sinnzuschreibung der erfahrenen Welt. Wenn das Kind in der Begegnung mit der Kunst oder anderen kulturellen Phänomenen und Objekten diese Freiheit erfährt, öffnet sich ihm ein wertvoller Erfahrungsraum. Hier wird ihm bewusst: Die Welt ist gemacht, aber ich kann sie auch gestalten. Ich ordne meine Welt – ich kann das und darf das auch. Diese bewusste Erfahrung hat Einfluss auf die Erwartungshaltung, mit der das Kind in seinem zukünftigen Leben der Welt gegenüber tritt“ (BKJ 2016:5).
Insbesondere das Aufgreifen der ethnologischen Perspektive zeigt, wie vielfältig und milieuabhängig phänomenologische Deutungen sind und verweist auf das grundlegende Erfordernis einer diversitätssensiblen Reflexion Kultureller Bildungsangebote.
- Ganzheitliche Kulturelle Bildung wird durch die Kombination sinnlich-ästhetischer und kulturell-künstlerischer Zugänge befördert.
In einem soziologischen Begriffsverständnis ist Kunst ein Teilsystem des Makrosystems Kultur, dem wir von Geburt an in der jeweiligen milieuspezifischen Interpretation und Ausformung begegnen, das wir uns sukzessive aneignen (können) und mit dem wir uns auseinandersetzten (müssen), um Sinnstrukturen zu entdecken, individuell zu interpretieren und aktiv zu gestalten.
„Im Zusammenspiel der sinnlich-ästhetischen und der kulturell-künstlerischen Dimension wird Kulturelle Bildung als Ganzes befördert. In der Begegnung mit Kunst wird das Kind von dem künstlerischen Objekt oder Geschehen beeindruckt. Dadurch verhält es sich zu dem Werk oder Ereignis. In diesem Prozess der Rezeption ist das Kind nicht passiv. Denn es findet für sich einen Sinn in dem Gesehenen oder Erlebten. […] Das Kind experimentiert, erfindet und strukturiert schließlich, damit eine Form entsteht. Dem Inneren wird eine äußere Gestalt gegeben. Dadurch wird das Hervorgebrachte zu einem Gegenüber, das es mit Abstand betrachten kann, mit dem es sich auseinandersetzen kann – und mit dem sich auch andere auseinandersetzen können. Auf diese Weise wird das künstlerische Medium zur Quelle von Erkenntnis“ (BKJ 2016:6f.).
- Das Spiel ist Hauptmotor Kultureller Bildung, gerade im Bereich der frühkindlichen Bildung.
Obschon die älteste uns gegebene Aneignungsform von Kultur im freien, selbstzwecklichen, Konsequenz freien und vom Anforderungscharakter her im ausbalancierten Gleichgewicht von Über- und Unterforderung geprägten Spiel liegt, ist es schon verwunderlich, dass es erst Friedrich Wilhelm August Fröbel um 1820 war, der dem Spiel die breitenwirksame Bedeutung für die kindliche Entwicklung einräumte. Zu den größten Verdiensten Fröbels zählt sein ungebrochenes Engagement für das Recht der Kinder auf ihr Spiel geknüpft an die Verpflichtung der Erwachsenen, das kindliche Spiel in einer altersangemessenen Spielpflege zu unterstützen und zu begleiten, um Kultur zu erfahren und mitzuprägen. Diese pädagogisch-normativen Forderungen sind zeitlos gültig (vgl. Obermaier 2013:106ff.).
„Im Spiel setzen sich Kinder mit der Welt auseinander. Dabei lernen sie, sich die Welt zu erklären und diese zu verstehen. Sie erkunden Materialien und Objekte, kombinieren sie miteinander und verwandeln sie mit Hilfe ihrer Phantasie. Sie probieren sich in unterschiedlichen Rollen aus. Spielen ist eine Ausdrucksform von Kindern, die sie selbst ihrem Entwicklungsstand gemäß weiterentwickeln“ (BKJ 2016:6f.).
Qualitätsdimensionen als theoretischer Bezugsrahmen
Der qualitätsorientierte Zugang zur Erfassung und Evaluation hinreichender Bedingungen von Bildungsförderung im Kindes- und Jugendalter in den Settings Kindertagesstätten und Schule orientiert sich an der von Urie Bronfenbrenner (1981) entwickelten sozialökologischen Konzeption von Bildung und Entwicklung. Von einem qualitativ hochwertigen pädagogischen Arrangement kann in diesem Zusammenhang erst dann gesprochen werden, wenn Bildung „das körperliche, emotionale, soziale und intellektuelle Wohlbefinden und die Entwicklung der Kinder in diesen Bereichen fördert und die Familien in ihrer Betreuungs- und Erziehungsaufgabe unterstützt“ (Tietze 1998:20; Obermaier 2013:116; 2018) sowie im Sinne „funktionaler Integration von Wissenschaft in die Sozialpolitik“ (Bronfenbrenner 1981) eine enge Kooperation unterschiedlicher Interessensträger, möglichst im Sinne von Bildungslandschaften, ermöglicht.
Überträgt man nun den Qualitätsbegriff auf das außerfamiliäre Setting Kindertagesstätte, so kann die Qualität von pädagogischen Angeboten zur Kulturellen Bildung in Kindertagesstätten und in Kooperationen mit Kindertagesstätten auf folgenden Dimensionen angesiedelt und nachfolgend näher bestimmt werden: Prozessqualität, Orientierungsqualität, Strukturqualität, Kontextqualität und Ergebnisqualität sowie Organisations- und Managementqualität.
Die in Abbildung 3 dargestellten Qualitätsdimensionen wirken komplex zusammen, so dass eine idealtypische Auftrennung hier nur aus Gründen der Vereinfachung vorgenommen wird.
Auf jeder Qualitätsdimension können dann weitere Indikatoren und Kriterien bestimmt werden, welche es erlauben, die Reichweite, die Belastbarkeit sowie die Nachhaltigkeit von pädagogischen Angeboten zur Kulturellen Bildung in Kindertagesstätten sowie in Kooperationen mit Kindertagesstätten auf eine objektive Bewertungsgrundlage zu stellen. Diese sechs Qualitätsdimensionen dienten als konzeptioneller Bewertungsrahmen, innerhalb dessen möglichst ganzheitliche, lebensweltbezogene Angebote Kultureller Bildung in Kindertagesstätten sowie deren Kooperationen analysiert wurden. In Anlehnung an das Positionspapier der BKJ mit dem Titel „Spiel und Kunst von Anfang an. Kulturelle Bildung für junge und sehr junge Kinder“ (2016), an die Bundesrahmenempfehlungen der Nationalen Präventionskonferenz sowie dem Leitfaden Prävention des GKV-Spitzenverbandes wurden so für jede der sechs Qualitätsdimensionen Indikatoren und Kriterien zugeordnet, gebündelt und als Fragen formuliert, die dann auch die Grundlage für die strukturierten Leitfadeninterviews bildeten. Eine differenzierte und jeweils auf die Qualitätsdimensionen bezogene Diskussion der Teilergebnisse finden Sie hier.
Konzeptionelle Überlegungen und Empfehlungen
Die hier in Empfehlungen zusammengefassten Ergebnisse zur Qualität von kulturellen Angeboten in Kindertageseinrichtungen und in Kooperationen liefern viele aufschlussreiche Hinweise zur zukünftigen Organisation, Finanzierung und Gestaltung, der fachlichen Fundierung, der inhaltlichen Konzeption und zur Zusammenarbeit von Kindertageseinrichtungen, Kulturschaffenden, Kulturinstitutionen und Kommunen. Die Ergebnisse entstammen aus der Analyse von zehn herausragenden Projekten aus den Sparten Musik, Theater, Museum und Bildende Kunst, Medien sowie ein Sozialraum- und ein kommunales Netzwerkprojekt, sodass die Empfehlungen wesentliche Bereiche Kultureller Bildung abdecken. Nach einer pointierten Klärung des Evidenzverständnisses werden in den folgenden drei Abschnitten die Empfehlungen auf einer fachlichen, einer strukturellen und einer politischen Dimension gebündelt.
Vorbemerkung: Klärung des Evidenzverständnisses
Neben der Organisation und des reibungslosen Ablaufs der Angebote sind die inhaltlichen Aspekte zentral für die Organisations- und Managementqualität. In der Medizin, Pflege und Psychologie wird die Güte eines therapeutischen Angebots oder einer Intervention abhängig gemacht von der Frage, ob die jeweilige Maßnahme evidenzbasiert entwickelt wurde (vgl. Sackett et al. 2000). Die Evidenzbasierung eines Angebots nimmt hierbei die fachliche Fundierung dieser Angebote und deren Wirkungen genauso in den Blick wie die wissenschaftlich korrekte Überprüfung und Bewertung oder ökonomischen Aspekte wie Effektivität und Effizienz solcher Maßnahmen. Übertragen auf die Angebote Kultureller Bildung für Kinder aus Kindertageseinrichtungen bedeutet dies, dass die Angebote entsprechend des aktuellen Forschungsstands bei der inhaltlichen Gestaltung als auch der Vermittlung der Inhalte konzipiert wurden, was etwa durch entsprechende Fachkonzeptionen, Gegenstandsklärung, Zielpräskription und -begründung, durch ein Evaluationsdesign, Referenzdokumente etc. intersubjektiv nachvollziehbar gemacht wird.
Hier ist indes ein umstrittenes Thema angesprochen, denn Begriffe wie Ökonomisierung, Evidenzbasierung oder Standardisierung stoßen gerade in der Diskussion um (Kulturelle) Bildung zurecht auf kritischen Widerstand, geht es doch auch um grundlegende Deutungshoheiten (vgl. Obermaier 2011; 2017; Klinge 2014; Reinwand-Weiss 2015, Fuchs 2016). Es liegt auf der Hand, „Wirkungsnachweise sind für die Weiterentwicklung der Praxis und Theorie Kultureller Bildung vergeblich, wenn sie auf Transfereffekte reduziert und nicht in bestehende Kontexte der Bildungsforschung eingeordnet werden, des Weiteren bleiben sie akademische Fingerübungen, wenn kein Wissenstransfer der Erkenntnisse in die pädagogisch-künstlerische Praxis stattfindet“ (Reinwand-Weiss 2015, o. S.). Insofern erscheint der Vorschlag von Max Fuchs zielführend, sich proaktiv mit dem Begriff Evidenz und der dahinterstehenden Politik zu befassen mit dem Ziel, seine Relevanz für Praxis, Forschung und Politik gerade für die Kulturpädagogik zu klären und einen Anschluss an die erziehungswissenschaftlichen und kindheitspädagogischen Diskurse zu suchen. Denn gerade „angesichts einer zunehmenden Verwissenschaftlichung der Kulturpädagogik in ihren einzelnen Sparten scheint es nötig zu sein, diese Debatten aufzugreifen und für das eigene Feld zu vertiefen: Es gibt so gesehen einen Bedarf an einer ‚nachholenden Modernisierung‘“ (Fuchs 2016, o. S.).
Obschon die Orientierung an Evidenz in dem untersuchten Feld eine noch kurze Tradition hat und deshalb kein gängiger Standard ist, wird der theoretische und methodische Anschluss an Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung sicherlich auch dazu verhelfen, Grenzen der Erforschbarkeit nachzuweisen.
Fachliche Empfehlungen für Kindertagesstätten und ihre Kooperationspartner
Für die untersuchten Projekte konnte eine gute Orientierungsqualität attestiert werden, die je individuellen künstlerisch-ästhetischen Weltzugänge sind gewährleistet. Mögliche Transfer- und Folgeprojekte sollten weiterhin konsequent an den Bedürfnissen und Interessen der Kinder orientiert sein. Die in den Projekten getragene Haltung zeigte eine eindeutige Positionierung zugunsten der Kinder. Freiwilligkeit, Partizipation und Offenheit sollen daher in bestehenden und zukünftigen kulturellen Angeboten handlungsleitend sein.
Auch bei der Gestaltung der Prozesse sollten sich mögliche Nachahmer- und Folgeprojekte an der Ausgestaltung der Prozesse innerhalb der untersuchten Projekte orientieren. Alle untersuchten Projekte erfüllten die von der BKJ definierten Kriterien zur pädagogischen Prozessgestaltung, da es sich innerhalb der (untersuchten) ästhetischen und kulturellen Settings um offene und freiwillige Bildungsangebote handelte, die umfassende Beteiligungsformen boten, subjektive Zugänge eröffneten, altersgerecht, ergebnisoffen, an der Erlebenswelt orientiert und spielerisch konzipiert waren.
Strukturelles Entwicklungspotenzial liegt vor allem in der Qualität der schriftlichen Konzeptionen kultureller Angebote. Bei der inhaltlichen Gestaltung zukünftiger Konzeptionen sollte die fachlich auch für Außenstehende nachvollziehbare Fundierung von Angeboten und Projekten zum Standard werden. Da die Evidenzbasierung in dem untersuchten Feld eine noch kurze Tradition hat und deshalb kein gängiger Standard ist, sollte von zukünftig zu etablierenden Modellprojekten verständliche replizierbare Manuale für die Etablierung und Aufrechterhaltung kultureller Angebote für Kinder aus Kindertageseinrichtungen abgeleitet werden. Hier zeigt sich, wie dies aus der Diskussion um Evidenzbasierung innerhalb der Kulturpädagogik hervorgeht, eine Orientierung an Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung als zielführend. Durch diese Vorgehensweise wäre eine Orientierung an klar definierten Qualitätskriterien kultureller Angebote für Kinder in Kindertageseinrichtungen ermöglicht (Strukturqualität) und somit einerseits der Anschluss an den erziehungswissenschaftlichen Diskurs um Qualität und Bildung geschaffen sowie andererseits die Öffnung hin zum Präventionsgesetz erreicht.
Betrachtet man die Entwicklung in der kulturellen und ästhetischen Bildung in Kindertagesstätten aus der Sicht einer*eines interdisziplinär denkenden Erziehungs- oder Sozialwissenschaftler*in, ist eine Verstetigung und Etablierung Kultureller Bildung nur mit dem Mittel der Evidenzbasierung gegenüber Trägern und Mittelgebern zu legitimieren und fachwissenschaftlich zu begründen (Strukturqualität). Dies bedeutet keinesfalls, sich aktuellen Deutungshoheiten und deren Institutionen anzudienen, sondern vielmehr müssen Aussagen theoretisch wie methodisch so fundiert werden, dass die Evidenzbasierung der Entwicklung und der Legitimation Kultureller Bildung dient. Daher kann an dieser Stelle nur zu mehr Forschung in dem Bereich der Kulturellen Bildung für Kinder insbesondere im Setting Kindertagesstätte und in Kooperationen aufgefordert werden. Denn auch wenn die Angebote ergebnisoffen für die Kinder gestaltet sein sollen, so sind doch die Wirkungen der Projekte hinsichtlich der Erreichbarkeit der Kinder vor allem aus bildungsfernen Schichten auch im Hinblick auf die Reduktion der kulturellen Bildungschancen der Kinder aus unterschiedlichen sozialen Schichten oder Milieus zentral. Um Kulturelle Bildung als Angebot in den Kitas zu verstetigen, ist natürlich der Fokus auf die Aus- und Weiterbildung der pädagogischen Fachkräfte zu legen. Der Bereich der Kulturellen Bildung ist in die Lehrpläne der Ausbildung kindheitspädagogischer Fachkräfte dauerhaft zu implementieren und stark zu verbreitern. Erst auf dieser fachlichen Basis ist gesichert, dass dem anthropologischen Grundbedürfnis der Kinder nach Kultureller Bildung entsprechend Rechnung getragen wird.
Strukturelle Empfehlungen für Kommunen und Träger kultureller Angebote
Strukturelle Defizite in den kulturellen Angeboten und in den Kooperationen von Kulturschaffenden, Kulturinstitutionen und Kindertageseinrichtungen sollten durch die Etablierung von Koordinationsstellen Kultureller Bildung in den Kommunen behoben werden. Hierdurch würden Verantwortlichkeiten und klare Zuordnungen bei der Etablierung von Projekten erreicht (Management- und Organisationsqualität). Hier konnten zwar wenige, aber dafür hervorragende Beispiele identifiziert werden, wie die Zusammenarbeit von Kultureinrichtungen und Kindertageseinrichtungen durch kommunale Koordinator*innen zu einer großen Anzahl von vernetzten Akteuren wachsen kann und so nachhaltig zu Bildungslandschaften verbunden werden. Die hier untersuchten Projekte, die über eine solche Koordinationsstelle verfügten, erschienen besonders erfolgreich. Gerade die mehrfach als hoch aufwändig zu verwaltende Finanzierung sollte unbürokratisch abgewickelt und in die kommunale Finanzplanung fest integriert werden. So kann diese aufwändige Verwaltungstätigkeit dann durch Fachleute übernommen werden.
Mit Blick auf die Träger Kultureller Bildung ist eine Ausweitung der Angebote für Kinder dringend einzufordern und die Potenziale, welche die Institutionen in der Regel für Erwachsene in aller Breite und Tiefe bereitstellen, müssen in gleicher Weise auch Kindern zugänglich gemacht werden. Hier sind die Möglichkeiten – auch hinsichtlich der Lernortkooperation – längst nicht ausgeschöpft. Insbesondere Träger in Vereinsstrukturen stehen hier, so ein Ergebnis der Interviews, vor der strukturellen Finanzierungshürde, dass aufgrund der stets nur temporären Projektförderungen fachlich ausgewiesenes Personal auf Dauer kaum zu beschäftigen ist.
Weiterhin ist es empfehlenswert, eine innovative und an den Qualitätsdimensionen aus dem Leitfaden Prävention orientierte Struktur zu etablieren, wodurch geeignete Projekte Kultureller Bildung im Setting Kindertagesstätte dauerhaft über das Präventionsgesetz finanziert werden könnten (Strukturqualität). Damit würde der fachlich nachweisbare Zusammenhang von Bildung, Gesundheit und sozialer Herkunft strukturell in den Blick genommen und ein wesentlicher Beitrag zur Chancengerechtigkeit geleistet werden. Dieser Zugang wurde von keinem der untersuchten Projekte gewählt.
Zudem sollten zukünftige Projekte darauf achten, die kulturellen Angebote für Kinder aus Kindertageseinrichtungen in den Sozialraum zu integrieren, um eine hohe Akzeptanz und Reichweite sowie ein kontinuierlich wachsendes Netzwerk zu schaffen (Kontextqualität). Selbstverständlich sollten die Eltern in alle Projekte eingebunden werden, damit diese im Sinne tragender Erziehungs- und Bildungspartnerschaften die Ziele der kulturellen Bildungsangebote mit unterstützen, um einen nachhaltigen Effekt bei den Kindern zu fördern. An dieser Stelle zeigt sich deutlich, dass kooperative Rahmenbedingungen und Kulturelle Bildung v.a. abhängig sind von vorhandenen und belastbaren Infrastrukturen, die sich in erster Linie in Großstädten finden. Insofern – ist die Förderung Kultureller Bildung für alle Kinder das erklärte Ziel – muss hier besonders in ländliche Regionen investiert werden, um den Auf- und Ausbau von Kooperationen und Bildungslandschaften nachhaltig zu fördern.
Darüber hinaus sollten verstetigte Modellprojekte für alle Sparten Kultureller Bildung gefördert werden und kulturellen Austausch leisten, damit Projekte Kultureller Bildung nicht temporäre Einzelprojekte bleiben, sondern strukturell in die Bildungslandschaft für Kinder im Setting Kindertageseinrichtungen verankert werden. Eine Begleitforschung muss dann natürlich neben der fachlichen und strukturellen Verankerung die Effekte der kulturellen Bildungsangebote im Zeitverlauf untersuchen (Ergebnisqualität).
(Bildungs-)Politische Empfehlungen
Kinder haben von Anfang an ein Recht auf volle Beteiligung am kulturellen und künstlerischen Leben, was die (Bildungs-)Politik vor große Herausforderungen stellt. Die Ergebnisse zeigen deutlich auf, dass Kulturelle Bildung in Kindertagestätten und in Kooperationen nur dann gelingen kann, wenn diese einen entsprechenden politischen Rückhalt hat, der sich auf viele verschiedene Bereiche bezieht: Mit Blick auf die Strukturqualität könnte der Bereich der Kulturellen Bildung in den Bildungsplänen der Länder wesentlich mehr Gewicht erhalten und so zu einer nachhaltigen Implementierung in den Alltag in Kindertagesstätten führen. Kulturelle Bildung ist eben nicht ein Bildungsbereich neben anderen, sondern ein zentraler, der mehr Aufmerksamkeit, auch in den Ausbildungen, verdient. Der schon jetzt sichtbare Fachkräftemehrbedarf muss daher politisch und finanziell gesichert sein, damit Kulturelle Bildung nicht an der Personal- oder Finanzierungsfrage scheitert.
In Fortführung der strukturellen Empfehlungen muss die Kommunalpolitik dafür Sorge tragen, dass strukturelle Defizite in den kulturellen Angeboten und in den Kooperationen von Kulturschaffenden, Kulturinstitutionen und Kindertageseinrichtungen durch die Etablierung von Koordinationsstellen Kultureller Bildung in den Kommunen behoben werden. Zudem müssen unbürokratische Finanzierungs- und Kooperationsmodelle entwickelt werden, die es einerseits vor allem kleinen und ressourcenschwachen Trägern von Kindertagestätten erlauben, von den kulturellen Angeboten zu partizipieren, und andererseits den Aufbau regionaler Bildungslandschaften begünstigen.
Zudem ist zu gewährleisten, dass sich alle öffentlich getragenen Kultureinrichtungen wie Museen, Theater, Bibliotheken, Tanz-, Literatur- oder Konzerthäuser im Sinne von Partizipation für junge Kinder und deren Eltern öffnen sowie entsprechende Kooperationsstrukturen in den Sozialraum bieten. Hier sind entsprechende Modellprojekte zu fördern mit dem Ziel, flächentaugliche Angebote für Kulturelle Bildung zu entwickeln. Um fachliche und wissenschaftliche Lücken im Bereich Kultureller Bildung in der Kindheit zu schließen, müssen Vorhaben der Bildungsforschung in diesem Bereich gefördert und gleichzeitig entsprechende Transferstrukturen etabliert werden. Erst die „funktionale Integration“ von Wissenschaft in die Politik garantiert eine am Kind orientierte, diversitätssensible und qualitativ hochwertige Kulturelle Bildung.