Personenzentriertes Ausdrucksmalen
„Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“ (Martin Buber)
Abstract
Die leistungsorientierte Dynamik moderner Gesellschaften stellt für viele Menschen eine enorme Belastung dar und führt nicht selten zu persönlichen Krisen bis hin zu psychischen Erkrankungen. Umso wichtiger werden in der heutigen Zeit Orte, an denen Menschen sich in ihrer ursprünglichen Kraft und als heil erleben können. Einen solchen Ort stellt das Personenzentrierte Ausdrucksmalen dar als ein ästhetischer Ansatz in einem Feld, das sich von Kultureller Bildung über Soziale Arbeit bis hin zu Therapie erstreckt. Es verbindet die befreiende Malerfahrung mit der heilsamen Wirkung menschlicher Begegnung, wie sie den Ansätzen von Carl Rogers und Martin Buber zugrunde liegt. Perspektivisch geht es dabei auch um die Frage, inwiefern individuelle und gesellschaftliche Transformationsprozesse zusammenwirken können.
"Ich bin.
Aber ich habe mich nicht.
Darum werden wir erst."
(Ernst Bloch)
Mensch-Sein jenseits von Funktionalität und Effizienz
Unterschiedliche Wissenschaften und Wissenschaftler*innen beschreiben die sich kontinuierlich steigernde Wachstumslogik moderner Gesellschaften in ihren krisenhaften Auswirkungen. So konstatiert der Soziologe Hartmut Rosa einen gesellschaftlichen Beschleunigungsprozess, der das Verhältnis der Menschen zur Welt, zu anderen und zu sich selbst in ebenso grundlegender wie bedenklicher Weise verändert hat und weiterhin verändert. Menschen und Welt werden zunehmend zu Objekten von Prozessen der Aneignung und Verfügung. Als Gegenentwurf dazu entwickelt Rosa mit dem Begriff der Resonanz einen Zugang zur Welt, in dem es – jenseits von Funktionalität und Effizienz – nicht mehr um Aneignung geht, sondern um eine „Antwortbeziehung“, um „Anverwandlung“, um „Berührung“ und um die „Unverfügbarkeit“ dessen, was mir begegnet (Rosa 2016:317ff.).
Aus der Perspektive von Psychologie und Kreativer Gestaltarbeit kommt Kurt F. Richter ebenfalls zur Diagnose einer „Beschleunigungskrise“ (Richter 2011:25), die individuell wie auch gesellschaftlich problematische Konsequenzen nach sich zieht. Kreative Gestaltarbeit setzt diesen Entwicklungen Erfahrungsräume entgegen, in denen Menschen sich sinnlich, kreativ, gestalterisch sowie in unmittelbarer Beziehung erleben und daraus gestärkt hervorgehen können. Kreative Gestaltarbeit hat indessen nicht nur das einzelne Individuum im Blick, sondern „bemüht sich auch um die Erhaltung und Kultivierung zwischenmenschlicher Beziehungen und die Entwicklung von Respekt vor allem Lebendigen und den Dingen dieser Welt“ (Richter 2011:32).
Wiewohl die ersten Ursprünge des Ausdrucksmalens bei dessen Begründer Arno Stern nicht in der Kreativen Gestaltarbeit zu finden sind, hat diese eine große inhaltliche Nähe und Verbindung zum Personenzentrierten Ausdrucksmalen, das im Mittelpunkt dieses Beitrags steht. Personenzentriertes Ausdrucksmalen ist ein Ansatz, in dem Menschen in einem geschützten, bewertungsfreien Rahmen sich in ihren kreativen, schöpferischen Ausdrucksmöglichkeiten entdecken sowie sich in ihrem ursprünglichen Mensch-Sein als „heil“ erleben können. Der Zugang zu Kunst bzw. der individuelle künstlerische Ausdruck ist im Personenzentrierten Ausdrucksmalen stets verbunden mit der Dimension der persönlichen Entwicklung und Bildung. Der Fokus liegt nicht auf einem Ergebnis, das von außen angelegten künstlerischen Kriterien oder Ansprüchen zu entsprechen hat. Bedeutsam ist vielmehr der innere Prozess, den die Malenden beim künstlerischen Tätig-Sein und in der inneren Resonanz auf ihre Bilder erleben.
Im Folgenden werden zunächst wesentliche Entwicklungslinien des Personenzentrierten Ausdrucksmalens nachgezeichnet. Eine Beschreibung des geschützten Malortes schließt sich an. Vor diesem Hintergrund wird im Weiteren die Personenzentrierte Malbegleitung auf Basis des Ansatzes von Carl Rogers entfaltet. Im Mittelpunkt steht sodann der Malprozess als Raum existenzieller Begegnung, wie sie im Denken von Martin Buber angelegt ist. Ein Blick auf die Handlungsfelder des Personenzentrierten Ausdrucksmalens ergänzt die Ausführungen. Der Ausblick befasst sich sowohl mit individuellen, alltagsorientierten als auch mit möglichen gesellschaftlichen Wirkungen des Ausdrucksmalens.
Entwicklungslinien des Personenzentrierten Ausdrucksmalens
Die Entwicklungslinien des Personenzentrierten Ausdrucksmalens sind in ihrem Kern mit vier Namen beziehungsweise Personen verbunden: Arno Stern, Bettina Egger, Laurence Fotheringham und Michael Podszun.
Die Wurzeln des Ausdrucksmalens gehen zurück auf Arno Stern (*1924). In Kassel geboren und anfänglich aufgewachsen, verließ er Deutschland mit seiner Familie kurz nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten. Seine weitere Kindheit und Jugend verbrachte er als staatenloser Flüchtling in Frankreich sowie der Schweiz (Stern 2016:10). 1946 übernahm er in einem Pariser Waisenheim die Aufgabe, die Kinder zu beschäftigen. Er ließ sie malen und entdeckte beziehungsweise erfand in diesem Zusammenhang das Ausdrucksmalen als „Malspiel“ (Stern 2016:32f.). Im Lauf seines Lebens fand er damit praktisch weltweit Beachtung. Wesentliche Grundlage ist der „Closlieu“, der Malort, der als geschützter Raum die notwendige Voraussetzung dafür ist, dass Kinder sich dem Malspiel hingeben können – später öffnete Stern seine Räume auch für Erwachsene. Sterns Ansatz beruht auf der Annahme, dass Kinder im Malspiel einer natürlichen Ausdrucksweise und Spur folgen, die sich kulturübergreifend in ähnlicher Weise zeigt und von ihm als „Formulation“ bezeichnet wird (Stern 2016:11). Charakteristisch für diese Formulation sind Ordnung und Struktur der entstehenden Bilder. Damit sich das Malspiel respektive die Formulation ereignen kann, ist es wichtig, dass die Kinder ganz bei sich und in ihrer natürlichen Tätigkeit sind. Der Malbegleiter bleibt im Hintergrund und enthält sich jeglicher Kommentierung der Bilder. Er sorgt in dienender Haltung für die Bereitstellung der notwendigen Materialien (Pinsel, Farben, Papier, Reißnägel und gegebenenfalls ein Schemel) und gibt bei Bedarf eine behutsame, nach Möglichkeit wortlose oder zumindest wortarme Anleitung zur korrekten Handhabung von Pinsel und Farben (Stern 2016:14f.). Die Kinder erleben ihr malendes Tätig-Sein als eine entwicklungsförderliche und Ich-stärkende Erfahrung, für die es kein weiteres Zutun und keine Bestätigung durch Erwachsene braucht.
Große Bedeutung erlangte das Ausdrucksmalen in der Schweiz und weit darüber hinaus durch Bettina Egger (*1943), die im Jahr 1965 nach einer Ausbildung bei Arno Stern in Zürich ein eigenes Atelier eröffnete. 1978 gründete sie zusammen mit Robert Wirz das Institut für Humanistische Kunsttherapie in Zürich (IHK). Gemeinsam mit Jörg Merz entwickelte sie ihren eigenen Ansatz des „Lösungsorientierten Malens“ (LOM) als kunsttherapeutische Methode für Kinder und Erwachsene (Egger/Hartmann 2017:175f.). Eine ganz entscheidende Weiterentwicklung ihres Ansatzes im Unterschied zu Arno Stern ist die Hinzunahme des (therapeutischen) Gesprächs zwischen Maler*in und Malbegleiter*in. Zudem erweitert sie den Malprozess – für Arno Stern unvorstellbar – um das Malen mit den Händen, was einen unmittelbaren, haptischen Kontakt zwischen dem Malenden und seinem Bild ermöglicht. In ihrem bislang letzten, gemeinsam mit Urs Hartmann veröffentlichten Buch (2017) bezeichnet sie ihren Ansatz inzwischen als „Personenorientierte Maltherapie“. Ziel der Maltherapie nach Bettina Egger ist es – im Sinne ihres lösungsorientierten Hintergrunds –, mit Hilfe eines mehr oder weniger ‚eindeutigen Bildes‘ zu Einsicht zu gelangen und Klarheit zu finden. Hinsichtlich der Haltung der Malbegleiter*innen betont sie die Bedeutung einer vertrauensvollen Beziehung und bezieht sich auch explizit auf Carl Rogers (Egger/Hartmann 2017:54), wie es bereits der Buchtitel vermuten lässt. Zugleich gelten für den Malprozess jedoch sehr klare Regeln: Die „Farben werden nebeneinandergesetzt und nichts wird übermalt, bis das Bild so weit gediehen ist, dass seine Einzigartigkeit deutlich wird. (…) Wir achten darauf, ob das Dargestellte in seinen Größenverhältnissen zueinander realistisch ist und ob die Farben der Normalität entsprechen“ (Egger/Hartmann 2017:64f.). Wenn diese Regeln nicht eingehalten werden, wenn das Vorgehen diesen „grundlegenden Kriterien des Bildes nicht entspricht“ (Egger/Hartmann 2017:99), intervenieren die Maltherapeut*innen, beispielsweise: „Was ist passiert, dass die Wiese violett ist?“ (Egger/Hartmann 2017:22). Zudem gibt es teilweise ganz konkrete, direktive Anweisungen, wie der Malprozess zu beginnen ist: „Nimm irgendeine Farbe für dieses Gefühl, und trage sie langsam mit der ungeübten Hand auf. Wenn sich das Gefühl verändert, ändere die Farbe“ (Egger/Hartmann 2017:34). Diese normativen und direktiven Zugänge mögen für manche Malende dazu beitragen, sich im Mal- und Begleitprozess sicher zu fühlen, sich auch auf schwierige persönliche Themen einlassen zu können und eine, oder vielmehr: ihre ganz persönliche Entwicklungsspur zu finden. Gleichzeitig stehen diese regelgeleiteten Zugänge jedoch in einer unauflösbaren Spannung zu der humanistischen, ausdrücklich non-direktiven Haltung im Personenzentrierten Ansatz von Carl Rogers.
Laurence Fotheringham (*1936) hat als Schüler von Bettina Egger das Ausdrucksmalen in den 1980er Jahren nach Deutschland gebracht. Am Odenwald-Institut, das 1978 von Mary Anne und Karl Kübel als Bildungseinrichtung gegründet wurde, hat er eine umfangreiche Ausbildung konzipiert, die bis heute etabliert und nachgefragt ist. Vor seinem gestalttherapeutischen Hintergrund erweiterte er die kreativen Erfahrungsräume des Malens um Elemente wie Kreistänze, Imaginationsübungen, Rollenspiele oder auch Kreatives Schreiben. Zudem ergänzte er das Repertoire der Arbeitsmittel um Kleister, Spachteln, Schwämme, Farbroller und Sprühflaschen. Die Begleitung ist – im Unterschied zum Ansatz seiner Lehrerin Bettina Egger – weniger lösungsfokussiert, sondern vielmehr beziehungs- und prozessorientiert. Es gibt keinerlei Regeln oder Kriterien für das Bild und seinen Entstehungsprozess. Wesentliche Aufgabe der Malbegleiter*innen ist es, zutiefst präsent zu sein und die Malenden in all ihren Entscheidungen, Aktivitäten und Gefühlen verständnisvoll zu begleiten – mit der Vision, dass Begleitende wie Malende gemeinsam vom Vertrauen in den Prozess getragen sind. Mit dem Motto „Trust the process“ ist sein Ansatz bekannt geworden als „Ausdrucksmalen nach Laurence Fotheringham“ (Odenwald-Institut 2013).
2008 hat Michael Podszun (*1953) die Leitung dieser Ausbildungsreihe – heute „Lehrjahre“ genannt – von Laurence Fotheringham übernommen. Gemeinsam haben Charlotte Schlotheuber und er darüber hinaus als Aufbauausbildung die sogenannten „Wanderjahre“ konzipiert. Im Lauf der Jahre hat Michael Podszun weitere Erfahrungsdimensionen und -horizonte in das Ausdrucksmalen integriert, so zum Beispiel das Plastizieren mit Ton, die Transformation von Bildern in percussive Klangräume sowie das Einbeziehen von Naturerleben als einen besonderen seelischen Resonanzraum in den Selbsterfahrungsprozess. Das Verständnis des Malens mit Händen und Kleister entwickelte sich, inspiriert von der Zusammenarbeit mit Charlotte Schlotheuber, weiter – hin zu einem haptisch-taktilen Erfahrungsraum, der einen Zugang zu tiefen inneren Erlebens- und Entwicklungsdimensionen öffnen kann. So lassen sich wesentliche Erkenntnisse von Heinz Deuser aus der Arbeit am Tonfeld in gleicher Weise in den Kontext und die Erfahrungswelt des Ausdrucksmalens übertragen: „Das haptische Geschehen versetzt uns unmittelbar in ein aktiv-passives Beziehungsverhältnis: Wir berühren etwas und sind selbst berührt. Wir erfahren uns an einem Anderen und wir erfahren ein Anderes durch uns. (…) Im haptischen Vollzug reduziert sich der Weltbezug und Selbstbezug unserer Hände auf das Geschehen in unseren Basissinnen. In ihnen gestalten und organisieren wir uns“ (Deuser 2016:9). Tiefensensibilität, Gleichgewichtssinn wie Oberflächensensibilität werden gleichermaßen stimuliert und stellen ein spezifisches Feld der Selbstvergewisserung, Selbstwirksamkeit und Selbstnährung dar. Neben diesem basalen Bezugsrahmen öffnen sich den Malenden im Personenzentrierten Ausdrucksmalen viele Türen zu möglichen weiteren Bilderfahrungs- und -gestaltungsräumen. Je nach aktueller Befindlichkeit und situativem Bedürfnis der Malenden führen diese unter anderem ins Ästhetisch-Schöne, in die Anwendung von Symbolen, in die Übertragung von persönlichem Erleben in eine Metapher oder zu einer Bildgestaltung mit Bezug zum systemisch-biografischen Kontext des Malenden.
Vor dem Hintergrund der Ansätze von Carl Rogers und Martin Buber hat Michael Podszun zudem die Person- und Beziehungsorientierung im Ausdrucksmalen erweitert und vertieft, weshalb diese spezifische Linie des Ausdrucksmalens in Anlehnung an Carl Rogers hier als „Personenzentriertes Ausdrucksmalen“ bezeichnet wird. Jede und jeder Malende ist angesprochen als ein dialogisches Wesen, das mit anderen und anderem in der Welt ist. Die zentrale Dimension der Begegnung, die auch in dem Leitsatz „Alles wirkliche Leben ist Begegnung“ (Buber 1992:15) zum Ausdruck kommt, umfasst vielfältige Facetten des Sich-Berühren-Lassens – von eigenen inneren und äußeren Bildern, von der Malbegleitung und den Mitmalenden oder auch von Texten, Liedern, Tänzen, Klängen und der Natur in ihren mannigfaltigen Erscheinungsformen.
Bevor nun das Personenzentrierte Ausdrucksmalen in seiner Verbindung zu den Ansätzen von Carl Rogers und Martin Buber näher betrachtet wird, gilt die Aufmerksamkeit zunächst noch dem Ort des Malgeschehens.
Das Atelier als geschützter Malort
In seinen Ursprüngen geht das Atelier als geschützter Malort zurück auf den „Closlieu“ bei Arno Stern. Geblieben ist über alle Formen des Ausdrucksmalens hinweg die Idee eines Schutzraumes, der Geborgenheit bietet für Entwicklung und inneres Wachstum. Im Malort nach Arno Stern wird infolgedessen überhaupt nicht über die Bilder gesprochen, um das zweck- und bewertungsfreie Malspiel der Kinder konsequent zu schützen. Im Personenzentrierten Ausdrucksmalen gilt indessen als quasi „Goldene Regel“, dass nicht über die Bilder der anderen gesprochen wird – aus Respekt und Achtung vor den persönlichen, sensiblen Themen, die sich in den Bildern ausdrücken können. Die prozessbegleitende Betrachtung und Würdigung der eigenen Bilder gemeinsam mit der oder dem Malbegleiter*in ist hier hingegen wesentlicher Bestandteil der Malbegleitung (siehe nächstes Kapitel unten).
Gemalt wird im Stehen, so dass der Mensch in seinem ganzen Wesen auch leiblich beteiligt ist. Das Atelier ist mit Malwänden ausgekleidet, an die sich weißes Papier anpinnen lässt. In der Mitte des Raumes befindet sich eine sogenannte Farborgel mit etwa 20 Gouache-Farben, von denen die Malenden sich individuell etwas auf kleinen Holzpaletten oder in Glasschälchen mit an ihren Malplatz nehmen. Während im ursprünglichen Malort von Arno Stern ausschließlich Farben, Wasser und Pinsel zur Verfügung standen, können im Personenzentrierten Ausdrucksmalen auch Schwämme, Spachteln und ähnliches verwendet werden. Darüber hinaus eröffnet das Malen mit Händen und Kleister weitere emotionale Erfahrungs- und Entwicklungsräume (siehe oben, Kapitel 2). Gemalt werden kann, abhängig von der Raumgröße, in Gruppen bis zu zwölf Personen oder auch in begleiteten Einzelsettings. In Malgruppen kann über das individuelle und doch zugleich gemeinsame Tätig-Sein eine tiefe Verbundenheit entstehen, die einen ganz eigenen Resonanzraum eröffnet und jedes einzelne Gruppenmitglied in seinen persönlichen Entwicklungsschritten trägt, anregt und unterstützt.
Die personenzentrierte Malbegleitung
Konstitutiv für das Personenzentrierte Ausdrucksmalen ist die Begleitung der Malprozesse. Wichtigste Aufgabe der Malbegleiter*innen ist es, präsent und in Resonanz mit den Malenden und ihren Bildern zu sein. Die wesentliche Grundlage für diese Begleitung findet sich im Personenzentrierten Ansatz von Carl Rogers. Dieser benennt drei für die Beratungshaltung grundlegende Einstellungen: Echtheit, Akzeptanz und einfühlendes Verstehen (Rogers 2019:67f.). Er geht davon aus, dass jeder Mensch daraufhin angelegt ist, lebenslang zu wachsen und die eigenen Kräfte und Potenziale zur Entfaltung zu bringen. Diese Gaben können insbesondere dann lebendig werden, wenn Menschen in Beziehung erleben, dass der andere ihnen authentisch begegnet, sie bedingungslos akzeptiert und sich tief verstehend auf sie einlässt. Von diesem Vertrauen in die Entwicklungsfähigkeit und -bereitschaft jedes Menschen ist auch die personenzentrierte Malbegleitung getragen.
„Eines der befriedigendsten Gefühle, die ich kenne – und gleichzeitig eines der wachstumsförderndsten Erlebnisse für den anderen –, habe ich, wenn ich einen anderen auf dieselbe Weise genieße wie zum Beispiel einen Sonnenuntergang. Menschen sind genauso wundervoll wie ein Sonnenuntergang, wenn ich sie sein lassen kann. Ja, vielleicht bewundern wir einen Sonnenuntergang gerade deshalb, weil wir ihn nicht kontrollieren können. Wenn ich einen Sonnenuntergang betrachte, wie ich es vor ein paar Tagen tat, höre ich mich nicht sagen: ‚Bitte das Orange etwas gedämpfter in der Ecke und etwas mehr Violett am Horizont und ein bisschen mehr Rosa in den Wolken.‘ Das mache ich nicht. Ich versuche nicht, einem Sonnenuntergang meinen Willen aufzuzwingen. Ich betrachte ihn mit Ehrfurcht“ (Rogers 2019:32, Hervorhebung im Original).
Dieser liebevoll-ehrfürchtige Blick gilt im Personenzentrierten Ausdrucksmalen sowohl den Malenden als auch ihren Bildern. Die Bilder werden weder analysiert noch interpretiert. Vielmehr begeben sich Begleitende und Malende in der Bildbetrachtung gemeinsam auf eine wohlwollende Entdeckungsreise. Es geht darum, das Bild, seinen Entstehungsprozess und die Resonanzen, die es auslöst, miteinander zu würdigen. Eine solche wertschätzende Begegnung steht am Ende jedes Malprozesses. Während der Malprozesse halten sich die Begleitenden präsent im Hintergrund, sind jedoch an der Seite der Malenden, wenn der Malprozess stockt beziehungsweise der oder die Malende Unterstützung wünscht.
Der Malprozess als Raum existenzieller Begegnung
Ausdrucksmalen kann – in Anlehnung an Laurence Fotheringham – auf unterschiedlichen Ebenen wahrgenommen werden, je nachdem, was für den Malenden oder die Malende aktuell bedeutsam ist und wird.
- „Freude am Malen: Das wertfreie und schützende Setting des Ausdrucksmalens lädt dazu ein, die ursprüngliche Freude am Malen für sich zurück zu gewinnen.
- Lernen: Durch die Konfrontation mit schwierigen Situationen im Malprozess lernen die Malenden, diese Situationen zu meistern und sie zu einem befriedigenden Abschluss zu bringen. Mit regelmäßiger Übung entwickeln sie kreative Phantasie und Durchhaltevermögen. Selbstwert und Selbstvertrauen werden gestärkt und bisher verborgene Kräfte und Fähigkeiten entdeckt.
- Selbsterfahrung: Ausdrucksmalen ist wie ein Spiegel, der die Art und Weise, wie sich die Malenden in der Welt bewegen, aufzeigt. Das Bild reflektiert ihre Werte und Überzeugungen und konfrontiert sie mit allen Tricks und Täuschungen, die sie unbewusst brauchen, um ihre Realität nicht sehen zu müssen. Über das Malen lassen sich Wege entdecken und einüben, die mit ihrem wahren Selbst im Einklang sind.
- Therapeutische Ebene: Die Malenden können mit ungelösten Themen aus ihrer Biografie in Berührung kommen. Eine einfühlsame Begleitung und die tragende Umgebung können ein Freiwerden und den Ausdruck unterdrückter Gefühle ermöglichen. Alte Lasten können so transformiert und ein neuer Zugang zu ursprünglicher Kraft, zu Gesundheit und Ganzheit gefunden werden.
- Spirituelle Ebene: Über das Ausdrucksmalen können sich die Malenden mit jenen Seiten in sich versöhnen, die sie bis jetzt nicht wahrnehmen wollten oder abgelehnt haben. Es öffnet ihnen Wege, sich selbst zu vergeben und sich anzunehmen wie sie sind. Diese Versöhnung mit dem Selbst führt zu innerem Frieden mit sich und anderen und gibt Möglichkeit, sich mit dem Göttlichen zu verbinden“ (Fotheringham/Podszun o.J.:4).
Auf allen genannten Ebenen geht es letztlich um die Dimension der Begegnung, wie sie in der Dialogphilosophie von Martin Buber eindrücklich zum Ausdruck kommt: „Ich werde am Du; Ich werdend spreche ich Du. Alles wirkliche Leben ist Begegnung“ (Buber 1992:15). Begegnung in diesem Sinne meint, sich auf ein Gegenüber in einer Weise einzulassen, die mich existenziell berührt. Als Malende*r begegne ich im Malen zuallererst mir selbst und dem Bild, das aus dem Tun meiner Hände aufsteigt. An diesem schöpferischen Prozess bin ich mit allen Sinnen beteiligt und erlebe mich als (selbst-)wirksam. Begegnung nimmt hier die Gestalt eines inneren Dialogs an, sie ermöglicht eine unmittelbare und tiefe Selbst-Begegnung. In der Malbegleitung und in der Bildbetrachtung begegnen sich zugleich Malende und Begleitende als zwei Menschen, die sich gegenseitig in ihrem Entwicklungspotenzial berühren und inspirieren. Darüber hinaus können sich im Malprozess über die Verbindung mit der eigenen Seele auch spirituelle Begegnungen ereignen.
Von den spezifischen Anliegen der Malenden hängt ab, ob das Personenzentrierte Ausdrucksmalen mit diesen verschiedenen Ebenen nun eher dem Feld der Kulturellen Bildung, der Sozialen Arbeit oder der Therapie zuzuordnen ist. Entscheidend ist zugleich der berufliche Hintergrund der Malbegleitung sowie das Setting bzw. die Organisation, in die es jeweils eingebunden ist.
Handlungsfelder des Personenzentrierten Ausdrucksmalens
Eine umfangreiche und langjährige Praxis hat das Personenzentrierte Ausdrucksmalen in Einzelseminaren und Ausbildungskursen am Odenwald-Institut sowie in Ostdeutschland in der Evangelischen Erwachsenenbildung Sachsen. Über die Absolvent*innen dieser Ausbildungen findet das Personenzentrierte Ausdrucksmalen darüber hinaus in unterschiedlicher Weise Verbreitung in ganz Deutschland.
Einige Teilnehmer*innen, beispielsweise Lehrer*innen und Ärzt*innen, übernehmen die personenzentrierte Haltung in ihren beruflichen Alltag, ohne nun direkt ein eigenes Atelier zu eröffnen. Andere Absolvent*innen wie etwa (Diplom- und Sozial-) Pädagog*innen oder (Kunst-) Therapeut*innen können das Personenzentrierte Ausdrucksmalen umfassender in ihren beruflichen Alltag integrieren und es dadurch in Institutionen der Erwachsenenbildung, Einrichtungen der Sozialen Arbeit oder auch in Kliniken etablieren. Daneben gibt es etliche Ausdrucksmaler*innen, die sich als niedergelassene Atelierleiter*innen selbständig machen oder dies in eine bereits existierende Selbständigkeit einbinden, oft auch in Verbindung mit Supervision, Coaching oder Therapie.
In diesen vielfältigen Settings erreicht das Personenzentrierte Ausdrucksmalen eine Vielzahl von Menschen, die sich aus ganz unterschiedlichen Beweggründen in die Malprozesse begeben: Manche wollen sich mit Freude dem Malen hingeben; etliche suchen eine Auszeit; andere wollen sich weiterentwickeln; einige sind dabei, sich neu zu orientieren und viele befinden sich in belastenden Situationen bis hin zu psychischen Erkrankungen. Diese individuellen Anliegen korrespondieren unmittelbar mit den weiter oben ausgeführten fünf Ebenen des Ausdrucksmalens: Freude am Malen, Lernen, Selbsterfahrung, therapeutische und spirituelle Ebene. Für jede*n Malende*n erschließen sich persönliche Zugänge, in denen das Ausdrucksmalen wirksam werden und neue Perspektiven eröffnen kann.
Entwicklungsperspektiven in Alltag und Gesellschaft
Bedeutsam ist, dass die heilsamen Erfahrungen von Entwicklung und innerem Wachstum in den Alltag der Malenden hinein ausstrahlen. Viele Malende können den An- und Herausforderungen ihres Alltags offener und mutiger begegnen. Ihr Vertrauen ins Leben und in die eigenen Kräfte ist gewachsen. In den intensiven (Selbst-)Erfahrungen während des Malprozesses haben sie an innerer Stärke und Selbstvertrauen gewonnen, sich auf die Begegnung mit Menschen und mit der Welt einzulassen und sich in diese einzubringen. Dies korrespondiert unmittelbar mit dem Dialogischen als Lebensprinzip bei Martin Buber. „Bei sich beginnen, aber nicht bei sich enden; von sich ausgehen, aber nicht auf sich abzielen; sich erfassen, aber sich nicht [nur; Anmerkung der Autor*innen] mit sich befassen“ (Buber 2010:42). Die Kraft der Ateliertätigkeit will sich auch in die Gestaltung meines Lebens ausweiten. Der Prozess des Malens lehrt mich, wie ich mich in die Möglichkeiten des Lebens einbringen kann.
Kurt F. Richter betont, dass diese mehr individuellen Entwicklungsperspektiven darüber hinaus notwendigerweise in einen Kontext von gesellschaftlichen Veränderungen zu stellen sind. „Wichtig erscheint mir, dass ein ökologisches und soziales Bewusstsein entsteht, […] das die Vernetzung und Interdependenz alles Seienden berücksichtigt. Daraus kann sich der Mensch nicht ungestraft, d.h. ‚ohne Nebenwirkungen‘ ausklinken“ (Richter 2011:32).
Positiv formuliert geht es darum, über Ausdrucksmalen und Kreative Gestaltarbeit an der Gestaltung einer menschlichen, lebensdienlichen Gesellschaft mitzuwirken, wozu auch Hartmut Rosa vor dem Hintergrund seiner Resonanztheorie ermutigt: „Eine bessere Welt ist möglich, und sie lässt sich daran erkennen, dass ihr zentraler Maßstab nicht mehr das Beherrschen und Verfügen ist, sondern das Hören und das Antworten“ (Rosa 2016:762, Hervorhebung im Original).
Im geschützten Begegnungs- und Resonanzraum des Malens erlebe ich mich in einer umfassenden und tiefgreifenden, individuellen Ganzheitlichkeit, die zugleich aufgehoben ist in einer existenziellen Verbundenheit mit allen und allem. Dies kann die Entwicklung einer achtsamen Haltung des Hörens und Antwortens anstoßen wie auch vertiefen. Viele Ausdrucksmaler*innen erleben und entwickeln eine Kraft und Lebensenergie, die bis in gesellschaftliche Zusammenhänge hinein wirksam werden kann. Solche hier abschließend skizzierten Verbindungslinien von individuellen und gesellschaftlichen Transformationsprozessen sind komplex und an anderer Stelle in ihren Möglichkeiten und Grenzen weiter zu beleuchten.