Partizipation und Teilhabe: Was war? Was ist? Kommt was?
Abstract
Zentrale Themen Kultureller Bildung – und somit auch auf der Wissensplattform Kulturelle Bildung Online besonders präsent – sind Diversität, Transformation, Digitalität und Bildung für nachhaltige Entwicklung sowie Teilhabe und Partizipation. Im folgenden Auszug aus der Studie „Kulturellen Bildung: Was war? Was ist? Kommt was?“ werden die Entwicklungslinien des vergangenen Jahrzehnts bezüglich des Themenfeldes Teilhabe und Partizipation skizziert, die spezifischen Diskurse nachgezeichnet und zusammengefasst sowie mit den abschließenden Erkenntnissen der Studie verknüpft. Somit soll das Wissen der 45-seitigen Studie themenfokussiert zugänglich gemacht werden. Die Studie „Kulturellen Bildung: Was war? Was ist? Kommt was?" gibt einen Überblick über Themen und Diskurse zur Kulturellen Bildung, wie sie auf kubi-online in vielen Fachartikeln reflektiert werden. Des Weiteren zeigt sie auf, in welcher Form und mit welchen Grenzen sich die Wissensplattform als Akteurin in den Diskurs einbringt und zum Wissenstransfer Kultureller Bildung beiträgt. Entstanden ist die Studie als Auftrag der Trägerorganisationen der Wissensplattform Kulturelle Bildung Online anlässlich des zehnjährigen Bestehens von kubi-online.
Grundlagen des Beitrags
Seit 2013, besteht mit der Wissensplattform Kulturelle Bildung Online (kubi-online) ein digitaler Wissensspeicher für Kulturelle Bildung, der Fachdebatten in diesem Feld nicht nur abbildet, sondern diese miteinander vernetzt, neue Diskurse erschließt und das kostenfrei zugängliche Wissen stetig erweitert. kubi-online ist die digitale Fortschreibung des Handbuchs Kulturelle Bildung (2012), herausgegeben von Hildegard Bockhorst, Vanessa-Isabelle Reinwand-Weiss und Wolfgang Zacharias. Aus dem Handbuch, das „erstmals systematisch 179 Beiträge, die die Theorie und Praxis der Kulturellen Bildung umfassend darstellten“ (Über uns) und die alle auf der Wissensplattform zur Verfügung stehen, hat sich kubi-online mit inzwischen über 750 Artikeln zu einem zentralen Akteur des Wissenstransfer in der Kulturellen Bildung entwickelt.
Die Studie „Kulturellen Bildung: Was war? Was ist? Kommt was?" versucht im Auftrag von Redaktion und Rechtsträger von kubi-online, einen themenbezogenen Überblick zu geben, worüber und wie auf der Wissensplattform kubi-online in den letzten zehn Jahren geschrieben – d.h. nachgedacht – wurde. Sie stellt sich auf dieser Grundlage auch das Ziel, Lücken aufzuzeigen und Impulse für ein weiteres Nachdenken auf kubi-online zu geben.
Teilhabe als Dauerbrenner
„Mit den Prinzipien einer ‚Kultur für alle‘ sollte seit den 1970-er Jahren verhindert werden, dass relevante Teile der Bevölkerung von dem Kontakt mit dem kulturellen Leben und dem Erbe ausgeschlossen bleiben.“ (Hoffmann/Kramer 2013/2012) – so bringen Hilmar Hoffmann und Dieter Kramer, die das Thema kulturpolitisch und historisch einbetten, den Anspruch auf (kulturelle) Teilhabe in einem der ersten Beiträge auf kubi-onlineauf den Punkt. Dass sich Kulturelle Bildung diesem Teilhabe-Grundsatz verschrieben hat, zeigen sowohl die Anzahl (der Begriff kommt in 469 Texten vor!) als auch die Inhalt der Texte auf kubi-online. Mit dem Begriff wird der Blick nicht nur auf die kulturellen, sondern ebenso auf die sozialen und gesellschaftlichen Dimensionen Kultureller Bildung gelenkt (Heinrich 2017). Von Anbeginn wird diesbezüglich auf den enormen Unterschied zwischen Anspruch und Wirklichkeit hingewiesen (z.B. Fuchs 2013/2012, Liebau 2015, Heinrich 2017).
Der Begriff Teilhabe erfreut sich aber nicht nur aus (gesellschafts)politischen Überzeugungen heraus so großer Beliebtheit in der Kulturellen Bildung, sondern auch aufgrund seiner Unschärfe. Wird gemeinhin zwischen politischer, sozialer, ökonomischer und kultureller Teilhabe unterschieden (Fuchs 2015, Reinwand-Weiss 2017), so bleibt doch unklar und vieldeutig, was überhaupt mit kultureller Teilhabe gemeint ist (Stoffers 2020). Dieser Aussage von Nina Stoffers kann nach Sichtung der Beiträge nur zugestimmt werden. Es gibt Beiträge mit (unterschiedlichen) definitorischen Schwerpunkten, wie auch Beiträge ganz ohne oder nur mit vagen Definitionen, ebenso wie Beiträge, in denen die Grenzen zwischen Kultureller Bildung und Teilhabe verschwimmen (Maedler/Witt 2014). Elisabeth Braun lässt bereits in einem der ersten Beiträge (eine Definition anklingen: „Teilhabe im Zusammenhang mit Kultureller Bildung ist als zusammenfassender Begriff zu verstehen, der die aktive Produktion künstlerischer Werke genauso meint, wie die Teilnahme an Veranstaltungen und Bildungsmaßnahmen oder die hedonistische Rezeption. Sie hat ihre Mittel auch für die kommunikativ kritische und politische Auseinandersetzung bereitzustellen“ (Braun 2013/2012). Diese Facetten von (kultureller) Teilhabe – und noch weitere – tauchen mit unterschiedlichen Schwerpunkten in den Beiträgen auf. Eine Besonderheit stellen dabei jene Texte dar, die sich mit Audience Development beschäftigen (z.B. Mandel 2014) und das Thema Teilhabe stark in einen Kontext stellen (Hoch)Kultureinrichtungen zu besuchen. Kulturelle Bildung würde hier die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass Menschen nicht nur an Lebensqualität gewinnen, sondern auch Kultureinrichtungen und -angebote nutzen, d.h. teilhaben können.
Kulturelle Teilhabe werde häufig in ihrer Bedeutung gegenüber anderen Teilhabedimensionen unterschätzt. Das ist wichtig zu betonen, weil es die gesellschaftliche Verantwortung Kultureller Bildung nochmals besonders hervorhebt. Kulturelle Teilhabe sei aber seit Pierre Bourdieu, auf dessen Theorien sich viele Texte beziehen (z.B. Fuchs 2013/2012, Maedler/Witt 2014, Fuchs 2015, Keuchel 2016/2015, Wischmann 2018), in ihrer Relevanz kaum zu überschätzen. Schon hierin liegt ein großes Spannungsfeld, auf das die Autor*innen eingehen, weil Künsten und Kultureller Bildung einerseits eine verbindende teilhabeorientierte Bedeutung zugesprochen, andererseits aber immer wieder auch ihre Funktionen und Mechanismen der Distinktion und Exklusion kritisch angemahnt werden (z.B. Maedler/Witt 2014, Auma 2018, Menrath 2019/2018, Josties/Gerards 2020/2019, Bücken 2021/2020): „Das Feld der Kunst und Kultur ist von hegemonialen Einschreibungen, Zugangsbarrieren und entsprechenden Diskriminierungsrisiken bzw. Ausschlussrealitäten betroffen.“ (Auma 2018)
Auch wenn Teilhabe alle Menschen – auf kubi-online auch explizit alle Altersgruppen – einschließt, findet eine Problematisierung in der Kulturellen Bildung vorwiegend für marginalisierte Gruppen statt. Rainer Treptow nutzt dafür in einem ersten Überblicksartikel den Begriff der „benachteiligten Kinder und Jugendlichen“. Als benachteiligende Bedingungen werden explizit die nachhaltige Einschränkung der Ressourcen „durch Armut, durch Rassismus, durch gewaltsame Beeinträchtigung oder durch Stigmatisierung“ (Treptow 2013/2012a) genannt. Er stellt demnach einen Zusammenhang von Teilhabe mit den sozialen und (inter)kulturellen Kontexten des Aufwachsens, also mit Herkunftsmilieu, wirtschaftlicher Lage und Bildungshorizont der Eltern her. Dieser Zusammenhang wird in vielen Studien belegt und Programmatiken benannt. Diesen großen Einfluss der „Lebenslage“ unterscheidet Treptow in einem zweiten Beitrag vom Anregungs- und Anerkennungsreichtum der (kulturellen) Infrastruktur, die ebenso wie die persönlichen Kontexte Teilhabe fördern oder eben erschweren könne (Treptow 2013/2012b). Es sind demnach einerseits die gesellschaftlichen Bedingungen, andererseits die institutionellen Gefüge, die unter Teilhabezielen zu beachten sind und auch in den anschließenden Texten reflektiert werden. Begrifflichkeiten der „Benachteiligung“ kommen auch in späteren Beiträgen (z.B. Stoffers 2020, Nagel 2020) vor, werden aber zusehends durch „Marginalisierung“ oder „Diskriminierung“ abgelöst.
Dabei weisen die Autor*innen im Diskurs auf ein wesentliches Anerkennungsparadox hin, was das Nachdenken über Kulturelle Bildung, aber auch die Praxis erschwert: Wie können marginalisierende Lebenslagen anerkannt werden, ohne Stigmatisierungen zu reproduzieren? Denn es ist i.d.R. noch immer die Mehrheitsgesellschaft, die unter dem Thema Teilhabe als Problem definierte Gruppen markiert und stigmatisiert (Mörsch 2018/2016, Wischmann 2018) – und das auch in der Kulturellen Bildung. Demnach wohnt der Definitionsmacht von politischen Programmen und von Trägern, wer mit welchem Angebot „adressiert“ und damit als unterprivilegiert definiert wird, bereits ein paternalistischer Ansatz inne (Josties/Gerards 2020/2019). Auch wenn der Begriff „Zielgruppe“, dem nicht zuletzt die Praxis in den letzten Jahren zunehmend kritisch gegenübersteht, auf kubi-online kaum mehr genutzt wird: Es finden auf der Wissensplattform ebenso wie in diesem Beitrag Ein- und Abgrenzungen von Gruppen als Adressat*innen statt, um bestimmte Entwicklungen und Herausforderungen zu beschreiben. Das Anerkennungsparadox wird auf kubi-online also transparent, kann als Dilemma aber auf der Wissensplattform (noch) nicht gelöst werden.
Anerkennung ist in diesem Zusammenhang zu einem zentralen Begriff geworden: Anerkennung sei notwendig, damit Teilnehmer*innen und Mitgestalter*innen Lebenssouveränität gewinnen können (Kolland 2014/2013). Anerkennung wird aber auch unter dem Fokus der „Anerkennungsgerechtigkeit“ verhandelt – als Gerechtigkeit unter Ungleichen (vgl. Heinrich 2017) oder als Gleichheitsgrundsatz, der auf die Anerkennung anderer Identitätsentwürfe (Mecheril 2015/2013) oder ästhetischer Praktiken (Wischmann 2018) abhebt. Dies weist Parallelen zum Menschenrechtsansatz Kultureller Bildung auf, wie ihn z.B. Max Fuchs (Fuchs 2013/2012) ausführt. Dabei wird in den Texten vielfach nicht ausgeführt, was eigentlich als Gerechtigkeit verhandelt wird und wie sie erreicht werden kann. Mark Schrödter versucht es über die Unterscheidung von Gerechtigkeitsurteilen: Klassischer Utilarismus, Grundgüteransatz, Kompetenzansatz, Capability-Approach (Schrödter 2013/2012). Den letzteren Ansatz der „Verwirklichungschancen“ verbindet er 2022 mit der Bedeutung von „intrinsisch wertvollen Gütern“, die für die Kulturelle Bildung ein guter Ansatz seien, um Gerechtigkeit zu unterstützen (Schrödter 2022).
Dem formulierten Anspruch Kultureller Bildung, dass sie Teilhabe fördert, wird von den Autor*innen vielfach verhalten bis kritisch begegnet, auch wenn ihr das Potenzial zugeschrieben wird, einerseits sach- und ausdrucksbezogene Gestaltung und andererseits soziale Verständigung (Kommunikation und Interaktion) zu ermöglichen. Kulturelle Bildung folge zwar der Vision, dass mittels und in der kulturellen Praxis die Spaltung zwischen Teilhabe und Nicht-Teilhabe überbrückt werden könne. Zugleich wird debattiert, inwiefern die Erfahrung von Teilhabe auf die kulturpädagogische Arbeit begrenzt bleibt oder Kulturelle Bildung auch darüber hinaus Unterstützung geben kann, um Lebenslagen zu verändern. Letzteres wird bezweifelt: Auch ein Höchstmaß an kultureller Teilhabe sei nicht dazu in der Lage, gesellschaftliche Ungleichheiten aufzuheben (Krebber-Steinberger 2016). Spätestens im Zuge dieser kritischen Sichtweise halten die Cultural Studies Einzug auf kubi-online (z.B. Kolland 2014/2013, Keuchel 2016/2015, Aktas et al. 2018, Menrath 2019/2018). Mit ihnen kommen Ansätze, welche die Heilserwartungen und Harmonie Kultureller Bildung aufgeben und Kultur vielmehr als Raum für Konflikt und Prozess, d.h. als Aushandlungsraum und Erprobungsfeld, verstehen.
Insgesamt ist der Teilhabebegriff als eigenständiger Diskurs für ein weiteres Nachdenken über Kulturelle Bildung nur bedingt tragfähig – weil er erst in engem Zusammenhang mit den folgenden Begriffen der Partizipation, der Diversität oder Digitalität entfaltet, konkretisiert und problematisiert werden kann.
Partizipation – von der Kulturnutzung bis zur Demokratieförderung
Partizipation ist – noch vor „Teilhabe“ – in der Verschlagwortung durch die Autor*innen auf kubi-online mit 65 Nennungen der häufigste Begriff und wird durch die Suchfunktion auf kubi-online in insgesamt 335 Artikeln gefiltert. Ähnlich wie bei Teilhabe sind diese Zahlen zunächst Indikatoren für Folgendes:
- Dem Thema wird aus Überzeugung große Bedeutung beigemessen.
- Der Begriff ist so positiv konnotiert, dass er hohe Strahlkraft hat.
- Es gibt eine legitimatorische Funktion. Die Autor*innen sprechen in diesem Zusammenhang zum Teil von einer „Partizipationskonjunktur“, die Symptom einer Krise sei.
- Der Begriff hat so viele Bedeutungen und Interpretationen, dass vieles darunter gefasst und damit vieles auch verwässert wird.
Das Thema Partizipation hat in zehn Jahren kubi-online kontinuierlich Texte hervorgebracht, einige von ihnen sind im Umfeld des Kongresses „Illusion Partizipation - Zukunft Partizipation“ der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung im Jahr 2015 entstanden. Durch die vielfältigen Aspekte, was unter Partizipation gefasst wird, lassen sich keine grundsätzlichen Verschiebungen erkennen. Kontinuität besteht in der Vielfalt unterschiedlicher Partizipationsverständnisse.
Auf die vielen Dimensionen von Partizipation und auf Ersatzbegrifflichkeiten für Partizipation macht Jörg Zirfas frühzeitig auf kubi-online aufmerksam. Die semantischen Unschärfen ermöglichen es seinen Ausführungen nach, vieles unter Partizipation zu fassen, was den „eigentlichen“ Zielen nicht immer entspricht (Zirfas 2015). Partizipation wird in anderen Texten als konstitutives Merkmal in demokratischen Gesellschaften beschrieben (Becker 2015, Geiger 2016), ebenso wird vom Partizipationsrecht als Freiheitsrecht, Menschenrecht bzw. Kinderrecht gesprochen (Dengel/Krüger 2019, Köhler 2022), das Menschen zusteht, um an allen sie betreffenden Entscheidungen mitzuwirken, indem z.B. Mitsprache- und z.T. auch Mitgestaltungsrechte gesetzlich festgeschrieben sind (Fuchs 2015). Begründungen und Ziele von Partizipation ergeben sich jenseits dieser grundsätzlichen Ausgangsbedingungen aber genauso aus veränderten Rezeptions- und Erwartungshaltungen von jenen, die kulturelle Angebote besuchen. Diese Begründungslinien für Partizipation verweisen darauf, dass sich das Verhältnis von Kunstschaffenden und Kunstrezipierenden verändert hat, dass sich Rezipient*innen zusehends hin zu Agierenden entwickeln, dass lern- und motivationspsychologische Perspektiven an Bedeutung gewinnen oder dass gesellschaftliche Wandlungsprozesse aufgegriffen werden, z.B. weil es notwendig ist, in Museen durch Aktivierung auch Gegenerzählungen zu ermöglichen (Piontek 2017/2016). Partizipation wird zugleich als Zustand und Vorgang beschrieben, als Ergebnis und Prozess, als Voraussetzung und Ziel. Ein Containerbegriff.
Nicht alle Texte auf kubi-online definieren Partizipation explizit, gleichwohl geht aus vielen Fachbeiträgen ein spezifisches Grundverständnis hervor. Eine mehrfach ähnlich formulierte Definition fasst Partizipation als Mitbestimmung in und an der Gemeinschaft in den Spielräumen der Kultur oder als „Vermittlungsprinzip zwischen den Individuen und den allgemeinen, sozialen oder politischen Institutionen“ (Zirfas 2015) bzw. als Vermittlungsverhältnis und -handeln zwischen Individuum, Gemeinschaft und Gesellschaft (Schwanenflügel/Walter 2013/2012). Diese Vermittlung kann sich auf unterschiedliche Praxen beziehen: auf soziale, kulturelle, ökonomische, technische oder auch pädagogische bis hin zu politischen. Damit sind unterschiedliche Dimensionen von Partizipation berührt, wie sie in ein Verhältnis zu kultureller Bildungsarbeit gesetzt werden können, aber in den Texten selten erwähnt werden. Neben diesen unterschiedlichen Dimensionen gibt es auch unterschiedliche „Grade“ von Partizipation, ein Aspekt, der in den Fachtexten weniger bedeutsam ist. Für manche beginnt sie erst dort, wo es etwas zu entscheiden gibt (Becker 2015) und gemeinsam ausgehandelt wird. Für andere umfasst Partizipation die Schritte sich positionieren, sich einbringen und andere aktivieren zu können (Helbig 2016). Auch hier bleibt eine Übersetzung in die Kulturelle Bildung meist vage.
Der begriffliche Bedeutungshorizont von Partizipation auf kubi-online ist wie bereits erwähnt weit gefasst, weswegen sich die Texte zum Thema Partizipation in ihrer Ausrichtung nur schwer aufeinander beziehen lassen. Geclustert werden kann Folgendes:
- Partizipation wird mit Teilhabe gleichgesetzt bzw. unmittelbar auf diese bezogen. In diesem engen Verständnis geht Partizipation mit der Nutzung kultureller Güter und der Teilnahme an kulturellen Angeboten einher – angelehnt an den englischen Begriff der cultural participation (Kulturpartizipation). Nach Max Fuchs ist diese Form der Teilnahme der eigentlichen Teilhabe aber erst vorgeschaltet (Fuchs 2015). Hervorzuheben ist, dass Texte, die sich mit kultureller Teilnahme und Teilhabe auseinandersetzen, sehr grundsätzlichen Charakter haben und keinen Praxistransfer anbieten; Texte, die sich explizit und differenziert mit Kulturnutzung beschäftigen, verwenden den Begriff „Partizipation“ dagegen selten.
- In einem weiteren Verständnis wird Partizipation als Teilhabe an Öffentlichkeit gefasst, d.h. sie ermöglicht den Zugang zu gesellschaftlichen, politischen, kulturellen und ökonomischen Ressourcen (Geiger 2016). Hier wird eine große Nähe zum bereits dargelegten Teilhabe-Diskurs erkennbar. Zugleich wird die damit verbundene Teilhabebegrifflichkeit erweitert, weil sie als „Beteiligung an Entscheidungen“ präzisiert und damit von „reiner“ Teilnahme abgegrenzt wird. Partizipation bedeutet demnach, sich „als gleichberechtigtes Subjekt an öffentlichen Diskursen und Entscheidungen zu beteiligen und dabei eigene Interessen wirksam einzubringen. Partizipation kann als ein für alle Lebensbereiche relevantes Gestaltungsprinzip verstanden werden. Dies schließt genuin politische Partizipation … ebenso ein wie lebensweltliche Partizipation“ (Lindner 2015).
- Insbesondere jene Autor*innen, die Partizipation als politische Vermittlung von Interessen verstehen, erkennen in Partizipation ein zentrales Prinzip des Politischen. Damit begründen sich – der Kulturellen Bildung naheliegende – Prinzipien der Mit- und Selbstbestimmung, der Mündigkeit und Freiheit, der Repräsentation und Öffentlichkeit, der Konsensorientierung und Aushandlung.
- Einige Texte rekurrieren nicht nur auf einen politischen Partizipationsbegriff, sondern gehen einen Schritt weiter und stellen eine direkte Verbindung von Partizipation mit Politischer Bildung her. Partizipation wird dabei nicht nur als politisches Prinzip hervorgehoben. Vielmehr geht es explizit darum, in Bildungsprozessen gesellschaftliche Bedingungen von Demokratie zu erlernen und dabei Partizipations- und Ermächtigungserfahrungen, wie sie z.B. in der Kulturellen Bildung möglich sind, in ein politisches Handeln zu überführen. Kulturelle Bildung sei dabei „weit mehr als Demokratieerziehung oder die Vermittlung von Kenntnissen über politische Strukturen und Prozesse. Sie verortet sich im Kontext von Mitbestimmung, Mitgestaltung, Partizipation und politischem Handeln.“ (Witt 2018/2017). Dazu bietet sie Möglichkeiten, sich als Subjekt zu entwerfen, Themen aufzugreifen, Positionierungen zu schaffen – diese Formen der Selbst- und Weltaneignung sind Voraussetzungen, politisch zu urteilen und zu handeln.
Eine solche Zusammenführung von politischen Bildungsprozessen mit Kultureller Bildung eröffnet für Kulturelle Bildung (und auch für Politische Bildung) Spannungsfelder, die von den Autor*innen ausgeführt werden. Erstens: Politische Partizipation ist der Demokratie normativ verpflichtet (Dengel/Krüger 2019), womit vorsichtig Fragen danach aufgeworfen werden, inwieweit diese normative Setzung dem Bildungsansatz Kultureller Bildung entspricht. In diesem Zusammenhang werden didaktische wie methodische Distanzen zwischen Kultureller und Politischer Bildung betont, auch wenn Polaritäten zwischen „Sachlichkeit“ (Politische Bildung) und „Emotionalität“ (Kulturelle Bildung“) nicht (mehr) tragfähig scheinen. Für ein zweites Spannungsfeld verweisen Autor*innen darauf, dass die Forderung nach Partizipation Ausdruck davon sei, dass das politische System an Legitimation verliert. Hierbei bestehe die Gefahr, dass politische Probleme pädagogisiert und ihre Lösung als Auftrag an Kulturelle oder Politische Bildung adressiert werden, anstatt sie politisch zu lösen (Fuchs 2015). In einer dritten Problematisierung wird betont, dass Kulturelle Bildung in eine „marktkonforme“ Demokratie eingebettet ist. Politisch Kunst zu betreiben, bedeutet entsprechend, dass die Politiken der eigenen partizipativen und künstlerischen Praktiken kritisch betrachtet werden müssen (Scheurle 2017). Eine vierte kritische Linie ist mit dem Kompetenzdiskurs verbunden: Sie fragt, inwiefern Kulturelle Bildung dadurch instrumentalisiert wird, dass sie einer – letztlich konstruierten – politischen Persönlichkeit emotionale und soziale Fähigkeiten, wie Empathie und Kompromissfähigkeit, vermitteln soll. Diese Anpassungsleistung und Indienstnahme widersprechen den Bildungszielen der Emanzipation oder der Widerständigkeit, wie sie Kultureller Bildung zugeschrieben werden (Fuchs 2015 und Fuchs 2017). - Partizipation wird in einigen Fachbeiträgen als (kultur)pädagogisches bzw. als Vermittlungsprinzip verstanden und damit auf den Bildungsprozess im Engeren fokussiert. Damit wird Partizipation bildungstheoretisch bzw. pädagogisch betrachtet bzw. als Prinzip der Jugendbildung hervorgehoben: „Es geht um pädagogische und nicht um politische oder ethische Problematisierungen und kritische Perspektiven zum Zusammenhang von Partizipation und Kultureller Bildung.“ (Zirfas 2015).
In Texten, die hier zugeordnet werden können, bleiben Bezüge zum Bildungsauftrag der Moderne oder der Kulturellen Bildung, wie sie Jörg Zirfas (ebd.) herstellt, die Ausnahme. Stärker dagegen wird in diesen Fachbeiträgen die subjektive Seite fokussiert, indem dieses Partizipationsverständnis auf Subjekte sowie auf die Einflussnahme von Subjekten zielt (Geiger 2016). Als Bildungsprinzip ist Partizipation quasi „in die DNA“ von Kultureller Bildung als Selbstbildung und Persönlichkeitsentwicklung eingeschrieben (Lindner 2015). Damit verschwimmen Begriffe und Grenzen zusehends. Indem Partizipation auch die Befähigung meint, selbstbestimmt, mitbestimmend und solidarisch handeln zu können, befindet sich der Begriff in unmittelbarer Nähe zum Begriff der Bildung (Zirfas 2015). - Partizipation als künstlerisches Prinzip wird – unter diesem Begriff – in den hier ausgewerteten Beiträgen nur in Ausnahmen beschrieben (Jas 2019/2018), was überraschen mag. Erwähnt wird dieser Partizipationsansatz insbesondere in Beiträgen zu den Darstellenden Künsten, die es mit ihren sozialen und kollektivistischen Ansätzen erlauben, eine Nähe zu partizipativen Grundbegriffen herzustellen.
- Zusätzlich zur bisher erörterten gesellschaftlichen und politischen Dimension bzw. zur kulturpädagogisch-künstlerischen Arbeit von Partizipation kann durch die Beiträge zuletzt ein Blick auf Partizipation als Selbstverständnis in den Einrichtungen und Trägerstrukturen der Kulturellen Bildung gelenkt werden. In den Fokus rücken damit die Träger als lernende und sich verändernde Organisationen (Piontek 2017/2016). Auch diese Dimension findet sich selten. Historisch wird in den Beiträgen der Anschluss zur Neuen Kulturpolitik und zur soziokulturellen Bewegung (1970-er Jahre) gesucht, die Partizipation als pädagogische Form des sozialen oder politischen Lernens (Zirfas 2015) eben auch auf die Einrichtungen beziehen. Inwieweit Partizipation geradezu notwendig ist, um echte und dauerhafte Veränderungen in den Fachstrukturen Kultureller Bildung zu ermöglichen, die wiederum zu mehr Teilhabe, Diskriminierungsfreiheit, Demokratie etc. beitragen, wird in den Texten wenig verhandelt. Es besteht in dieser Partizipationsperspektive sogar die Gefahr, dass Partizipation als Instrument für andere Ziele genutzt wird, die nicht das einzelne Subjekt als Akteur*in (Piontek 2017/2016) fokussieren, sondern Partizipation für die Interessen von Einrichtungen nutzen.
Der Fachbeitrag, der bezüglich der Begrifflichkeiten rund um Partizipation wohl am breitesten aufgestellt ist und der zugleich die damit verbundene Suchbewegung anschaulich macht, ist vom Forschungscluster „Interaktion und Partizipation“ des Netzwerks Forschung Kulturelle Bildung (Hallmann et al. 2021). Die Autor*innen greifen bspw. die demokratische Dimension auf, die dazu führt, durch Partizipation soziale Ungleichheiten und politisch-soziale Spaltungen zu verringern. Sie definieren in ihrem Text aber noch weitere Perspektiven, z.B. Partizipation als Kultur für und v.a. von und mit allen, was den Teilhabediskurs spiegelt. Bezogen auf die Praxis Kultureller Bildung geht es den Autor*innen insbesondere um ein demokratisches Verständnis der Arbeit als kollektivem Prozess. Hier klingt die Frage nach den Rollenverständnissen und Zuschreibungen an: „Wann sprechen wir von Besucher*innen, wann von Teilnehmer*innen, von Nutzer*innen, Stakeholdern, Akteur*innen?“ (Hallmann et al. 2021) Die im Beitrag formulierte Kritik an Institutionen, Strukturen, Denkweisen, kulturellen und sozialen Praktiken in der Kulturellen Bildung verdeutlicht: Transformative Prozesse für und mit Partizipation sind (noch) die Ausnahme.
Diskutiert wird in Texten zum Thema Partizipation notwendigerweise der enge Zusammenhang zu Macht und Privilegien (Zirfas 2015): In unterschiedlichem Ausmaß werden in Fachbeiträgen einerseits asymmetrische Macht- und Hierarchieverhältnisse erwähnt (Zirfas 2015, Geiger 2016, Piontek 2017/2016). Auf adultistische Strukturen aber und darauf, wie diese in der Kulturellen Bildung für und durch mehr Partizipation überwunden werden können und müssen, wird auf kubi-online nur am Rande eingegangen. Am stärksten gelingt dies in Beiträgen zur Juryarbeit im Kinder- und Jugendtheaterbereich (z.B. Köhler 2022) – mit dem kritischen Ergebnis, dass es in diesem Format trotz aller Bemühungen nur bedingt gelungen sei. Partizipation hat anderseits einen weiteren machtkritischen Aspekt: Sie ist eng mit Voraussetzungen verknüpft, die nicht nur in den strukturellen Gegebenheiten liegen, sondern eben auch auf der Ebene der Person (Geiger 2016). Partizipation bevorteilt, das weisen Autor*innen nach, artikulationsstarke Milieus. Sie verstärkt daher die soziale Selektivität durch und in der Kulturellen Bildung (Lindner 2015). Die Schlussfolgerungen hierzu könnten in verschiedene Richtungen diskutiert werden: Löst Partizipation das Teilhabe-Dilemma in der Kulturellen Bildung oder wirkt sie, ganz im Gegenteil, als Verstärker? Unter welchen Bedingungen gelingt das Erstere, unter welchen das Zweitere? Lässt sich die Lücke zwischen privilegierten Partizipierenden und marginalisierten Nicht-Partizipierenden überhaupt (kultur)pädagogisch schließen oder lässt sie sich nur wirtschafts-, bildungs- und sozialpolitisch lösen (Dengel/Krüger 2019)?
In den Texten werden weitere Problematiken benannt: Weil Partizipation positiv konnotiert ist, wird bspw. verkannt, dass es auch kritische Formen gibt (Fuchs 2015), dass Partizipation auch als Unterwerfungsgeste gedeutet werden kann (Seitz 2015/2012) oder dass ein Recht auf Nicht-Partizipation bestehe. Vieles würde als Partizipation etikettiert, ohne entsprechende Ansprüche und Prinzipen zu erfüllen (Robel/Meyer 2020). Letztere Tendenz wird dadurch forciert, dass die ausgeführte Vielschichtigkeit des Begriffes dafür genutzt werden kann, ihn eigenständig zu definieren bzw. zu interpretieren. So changieren die Fachbeiträge zwischen einer affirmativen Haltung zur Partizipation, unterschiedlichen Begriffsauslegungen und kritischem Bewusstsein. Hilfreich wäre daher, sich nicht nur klar und umfassend zur pädagogischen, strukturellen und gesellschaftlich-politischen Partizipation zu bekennen, sondern den Begriff und seine Dimensionen in der Kulturellen Bildung genauer zu differenzieren und zu klären, das betrifft sowohl das Nachdenken über Partizipation als auch die partizipative Praxis.
Fachbeiträge, die spartenbezogene Einblicke in die Kultureller Bildung geben, führen zum Eindruck, dass Partizipation insbesondere in der Theaterpädagogik und der Museumsarbeit, aber auch in der baukulturellen Bildung (Robel/Meyer 2020) für fachliches und pädagogisches Handeln und für entsprechende Reflexionen bedeutsam ist. Es fällt auf, dass die Möglichkeiten und Ausdrucksformen von Partizipation in den Sparten sehr unterschiedlich sind und zudem oftmals wenig auf die oben genannten Verständnisse und Aspekte bezogen werden. Als besonders vielfältig erweist sich der Diskurs im Theaterbereich: Dort werden neue Akteur*innenkonstellationen des „Zuschauens“ gefunden – Rezipient*innen werden zu Teilnehmenden, Ko-Autor*innen oder Ko-Produzent*innen –, arbeiten Profis und Nicht-Profis zusammen (Seitz 2015/2012) oder werden Hierarchien, z.B. der (höhere) Status von Expert*innen-Rollen, mittels kollektiver Arbeit in der Theaterpädagogik aufgehoben. Wolfgang Sting führt dazu produktionsästhetische und performative Strategien aus, die im sozialen Prozess des Theaterschaffens liegen und durch die Partizipation stark gefördert werden kann (bzw. die wiederum Partizipation fördern) (Sting 2017).
In der Museumsarbeit erweist sich, vor dem Hintergrund ganz anderer funktionaler und konzeptioneller Ausgangsbedingungen, der Grat zwischen Partizipation und Audience Development als äußert schmal: „Kunst wirkt für Kulturelle Bildung daher erst dann fruchtbar, wenn sie den verschiedenen Kunstpublika (sic!) einen Aneignungsprozess ermöglicht, sei es über Partizipation oder Vermittlungsprogramme, die die Kunstwerke den Rezipient*innen näherbringen.“ (Sawer 2020)
Partizipation wird in die Bildungs- und Vermittlungsabteilungen von Museen delegiert (Abel-Danlowski 2022) und kann damit wohl kaum zur grundsätzlichen Weiterentwicklung von Museumsarbeit beitragen. In Beiträgen zur Museumsarbeit wird auch ein sehr niedrigschwelliges Verständnis offenkundig, das Partizipation vor allem dazu nutzt, um Verstehen, Erleben und Genießen von Kunstwerken zu ermöglichen („Verstehende Teilhabe“ (ebd.)). Partizipation ist aber (siehe oben) weit mehr als subjektives Agieren und Reagieren als Rezipient*in. Anja Piontek bildet hier eine Ausnahme, indem sie Wege aufzeigt, Museen als partizipative Orte zu beschreiben (Piontek 2017/2016, 2018). Für die Musik weist Steffen Geiger darauf hin, dass der Begriff Partizipation selten verwendet wird, obwohl sich partizipative Methoden in unterschiedlichen musikpädagogischen Ansätzen spiegeln. Das trifft insbesondere dann zu, wenn mittels Didaktik die schöpferische musikalische Gestaltung von Teilnehmer*innen angeregt werden soll. Breite Partizipation, die Kinder und Jugendliche über Inhalte oder Settings der musikalischen Arbeit mitbestimmen lässt und die sich bspw. in Kinder- und Jugendchören oder -orchestern findet, wird dagegen unter dieser Überschrift nicht diskutiert (Geiger 2016).
Kommt was?
Unter dem Thema Partizipation ist auf kubi-online auch eine Diskurslücke im Medienbereich und in Verbindung mit Digitalität zu konstatieren. Diese Lücke bezieht sich nicht auf Partizipation als Teilhabe und Nutzung von (digitalen) Medien, darauf gehen einige Texte ein. Vielmehr fehlt es an Fachbeiträgen, welche die Frage diskutieren, wie sich Partizipation in der Kulturellen Bildung und in der kulturellen Medienbildung verändert und verändern muss, weil Digitalität Prozesse der Enthierarchisierung, Entschulung und Entpädagogisierung beschleunigt, direkte Beteiligungsmöglichkeiten ermöglicht (Helbig 2016) oder die Trennung von Produzierenden und Konsumierenden auflöst. Eine weitere Leerstelle auf kubi-online betrifft die partizipative Impulskraft von Jugendkulturen.
Das Themenfeld Partizipation lenkt die Aufmerksamkeit, wenn auch weniger offensiv als die Themenfelder Teilhabe oder Diversität, darauf, wie gesellschaftliche Transformationen mit Kultureller Bildung verbunden sind, und ebenso darauf, wie sich in der Kulturellen Bildung adäquate – d.h. partizipative – Bildungssettings bzw. Lernsituationen arrangieren und implementieren lassen. Letzteres wird in den Texten nur selten ausgeführt. So endet der Diskurs zu den vielen Facetten von Partizipation auf kubi-online häufig dann, wenn konkrete Übersetzungen und praxisbezogene Beschreibungen zu leisten wären.
Generelles Fazit der Studie
Die Wissensplattform kubi-online ist durch ihren breiten Diskursansatz sehr harmonisch. Positionen, die in einem grundsätzlichen Widerspruch zueinanderstehen, werden nicht sichtbar. Ggf. werden konträre Positionen davon überdeckt, weil die unterschiedlichen Artikel nebeneinanderstehen. Die vermutlich treffendere Begründung aber ist, dass die Wissensplattform einen Facettenreichtum bietet, der die hohe Integrationsfähigkeit des Containerbegriffs Kultureller Bildung und seiner Diskurse nutzt. Über die zehn Jahre ihres Bestehens hinweg sind Diskurse daher erweitert und differenziert worden, stellen aber – so mein Eindruck – zentrale Säulen Kultureller Bildung nicht infrage. Es zeichnen sich indes Veränderungen ab, die nicht nur historische Linien weiterentwickeln, sondern die weitere Impulse einläuten könnten:
- Das Verständnis der Künste und ästhetischen Praktiken ist spätestens mit den Themen Diversität und Digitalität einem massiven gesellschaftlichen Wandlungsprozess unterworfen. Längst hat sich ein enger und auf Künste oder Hochkultur begrenzter Begriff als obsolet erwiesen, was sich auch im Diskurs und in der Praxis Kultureller Bildung spiegelt. Je weiter aber der „Kultur“-Begriff genutzt und auch zusehends kritisch reflektiert wird, um so mehr stellt sich die Frage, was der zentrale Gegenstand Kultureller Bildung ist, wie sich also ihre Spezifik fachlich-methodisch beschreiben und entwickeln, in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung erklären und auch strukturell-politisch fassen lässt.
- Das Bildungsverständnis Kultureller Bildung fußt auf bestimmten anthropologischen und kulturellen Annahmen dessen, was Subjekte und Identität auszeichnet und wie Prozesse der Subjektivierung verlaufen. Bildung als subjektive Seite von Kultur ist untrennbar mit Subjektivierung und Subjektivität verbunden. Spätestens mit der digitalen Transformation hin zu Künstlicher Intelligenz oder mit Theorien zum Posthumanismus werden diese Grundannahmen neu verhandelt, Debatten, wie sie auf kubi-online gerade erst sichtbar werden. Wie lässt sich die Idee vom kritischen Subjekt, das der Aufrechterhaltung des aufklärerischen Modus (Leeker 2022) und auch vielen Leitideen Kultureller Bildung entspricht, halten bzw. den Transformationen entsprechend weiterentwickeln?
- Der Begriff „Kulturelle Bildung“ und seine Konzepte geraten von zwei Seiten unter Druck – sowohl in Hinsicht auf „Kultur“ als auch bezüglich „Bildung“. Dieser Druck wird im Zuge der Transformation oft positiv gerahmt und inhaltlich-fachlich verhandelt, ist aber letztlich Ausdruck gesellschaftlicher und politischer Krisen und Transformationen, zu denen sich Kulturelle Bildung positionieren muss. Längst ist auch Kulturelle Bildung vom Verteilungskampf um Aufmerksamkeit, Deutungshoheit und Ressourcen betroffen – nach innen wie nach außen. Daher sind die Akteur*innen – die Praxisbezogenen, die Forschenden, die Lehrenden, die Politischen – gefordert, den Begriff „Kulturelle Bildung“ weiterhin nicht nur auf seine Eigenständigkeit, Anschlussfähigkeit und Tragfähigkeit in den Bereichen von Jugend, Bildung/lebensbegleitendes Lernen und Kultur sowie zu allen verknüpften gesellschaftlichen Bereichen hin zu prüfen, sondern ihn offensiv in Debatten einzubringen, weiterzuentwickeln und zu stärken. Und dies sollte mindestens in dreierlei Hinsicht geschehen: als fachliches Konzept, als strukturelle Weiterentwicklung und ebenso als politische Strategie.
Gerade ein Begriff, der in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Funktionen erfüllt, braucht Plattformen für den gemeinsamen Diskurs. - Die Anforderungen und Ansprüche wachsen. Im Feld der Kulturellen Bildung gibt es dazu bereits historisch viele Programmatiken, z.B. „Kultur für alle“. Durch die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen nehmen, dieser Eindruck entsteht, Programmatiken eher zu. Gesellschaftliche Transformationsdiskurse sind in der Kulturellen Bildung längst angekommen, aber: „Wenn die Programmatik prominenter wird als die Praxis, besteht dann nicht die Gefahr der Überfrachtung der Praxis?“ (Sting 2017). Inwieweit und wann aus Programmatiken (neue) Paradigmen werden, wo normativ-ideologische Überformungen oder politische Instrumentalisierungen stattfinden könnten und wie es um Kulturelle Bildung als Ort für Aushandlung, als kritisches Korrektiv, als Plattform für unterschiedliche Werthaltungen zukünftig tatsächlich bestellt ist, das wären zentrale Fragestellungen.
- Auf kubi-online finden sich reichhaltige theoretisch-konzeptionelle Grundlagen, gesellschaftliche Diskurse und Praxisbeschreibungen zu Kultureller Bildung. Perspektiven auf die Träger- und Förderstrukturen Kultureller Bildung dagegen fehlen vielfach. Diese Akteur*innenstrukturen sind aber nicht nur in die fachlichen und gesellschaftlichen Kontexte eingebettet, sondern sind Gestaltungsakteur*innen bzw. Schaltstellen. Sie ‚übersetzen‘ z.B. Theorie unter den politischen Bedingungen in Praxis. Durch diesen engen Zusammenhang sollten dringend gouvernementale Perspektiven auf der Wissensplattform gestärkt werden – sowohl als Reflexion der Praxis zu ihren Rahmenbedingungen, als auch als Forschung zum öffentlichen System Kultureller Bildung oder zu zivilgesellschaftlichen Trägerstrukturen, zu Förderstrategien oder zu struktureller Transformation und Innovation.
Und hier schließt sich der Kreis: Die Differenzierung und Diversifizierung Kultureller Bildung in unterschiedliche Handlungs-, Professions-, Forschungs- und Politikfelder hat einerseits dazu beigetragen, dass Kulturelle Bildung starke und breite Relevanz entfalten konnte. Zugleich sind die Fragen, wie sie auf kubi-online kaleidoskopartig betrachtet werden können, oft sehr spezifisch und kleinteilig. Die Autor*innen versuchen i.d.R., diese Einzelaspekte in größere Zusammenhänge einzubetten. Welche Eindrücke dennoch bspw. entstehen: Obwohl gesellschaftliche Fragen verhandelt werden, fehlt i.d.R. eine gesellschaftspolitische undinsbesondere eine gesellschaftskritische Perspektive, die über das Einzelthema hinausweist. Obwohl einzelne Sparten ihre spezifische Wirksamkeit aufzeigen können, mangelt es i.d.R. an einer Kontextualisierung in übergreifende Diskurse. Wichtige inhaltlich-methodische oder auch akademische Debatten laufen so Gefahr, einem Rückzug in die Fachlichkeit und der Selbstreferenzialität Vorschub zu leisten. Kulturelle Bildung nicht nur als gesellschaftspolitisches Feld, sondern als politische Akteurin wiederzuentdecken, wäre eine wichtige Aufgabe.