Naturverbundenheit und die Künste – Überlegungen zu einem ästhetischen Naturzugang zur Stärkung der Verbundenheit mit der Natur
Abstract
Dieser Beitrag ist als Zusammenfassung einer Bachelorarbeit entstanden und geht der Frage nach, wie Naturverbundenheit durch einen ästhetischen Naturzugang gestärkt werden könnte. Natur und Kunst prägen grundlegend das menschliche Dasein. Kann eine Verknüpfung von den Künsten und der Natur dabei unterstützen, das Mensch-Natur-Verhältnis zu verbessern, um so einen Teil zur Lösung der ökologischen Krise beizutragen? Um die Mensch-Natur-Beziehung zumindest etwas zu konkretisieren, fokussiert sich dieser Beitrag auf den zugegebenermaßen immer noch sehr unspezifischen Begriff der Naturverbundenheit, der zu Beginn eingegrenzt wird. Nach einigen Anmerkungen zu Mensch, Natur und Kunst werden Nachahmung, Muster und Gemeinsamkeiten, Präsenz und Zeitlosigkeit, Kommunikation und Interaktion, Kontakt mit der Natur, Perspektivenwechsel, eigene Natur und eigenes Naturerleben, Auseinandersetzung mit der Welt, Geschichten, Animismus und Anthropomorphismus, Landschaft und Ort, gemeinsames Naturerleben sowie Identität und Bewusstheit als Aspekte eines ästhetischen Naturzugangs zur Stärkung von Naturverbundenheit vorgestellt.
Naturverbundenheit
Der meist sehr positiv konnotierte Naturverbundenheitsbegriff an sich ist äußerst abstrakt und unklar, was eine gewisse Konkretisierung und Eingrenzung erfordert. Eine relativ umfassende Definition liefern Matthew J. Zylstra und Kolleg*innen: „Connectedness with nature (CWN) is therefore defined as a stable state of consciousness comprising symbiotic cognitive, affective, and experiential traits that reflect, through consistent attitudes and behaviors, a sustained awareness of the interrelatedness between one’s self and the rest of nature” (Zylstra et al. 2014:19). Hierin werden die wesentlichen Aspekte von Naturverbundenheit, wie sie in diesem Kontext verstanden werden soll, deutlich. Naturverbundenheit betrifft die eigene Identität und Erfahrungen ebenso wie Emotionen und Gefühle. Dabei wird der Mensch bzw. das eigene Selbst als mit der Natur verbunden angesehen, was sich zudem im Verhalten äußert. Bei Naturverbundenheit handelt es sich außerdem um eine relativ konstante Eigenschaft.
Im Begriff Naturverbundenheit schwingt ebenso die Vorstellung der Mensch-Natur-Beziehung als einer Art Gemeinschaft mit. Dieser Gedanke ist beispielsweise in Aldo Leopolds „Ein Jahr im Sand County“ (Leopold 2019) oder auch in Gregory Batesons „Geist und Natur“ (Bateson 1982) zu finden:
„Mir schien, daß ich in „Schuljunge“ ganz elementare Ideen der Erkenntnistheorie [...] niederschrieb, es ging also darum, wie wir etwas wissen können. Unter das Pronomen Wir faßte ich natürlich den Seestern und den Rotholz-Wald, daß sich teilende Ei und den Senat der Vereinigten Staaten. Und zu dem Etwas, das diese Geschöpfe auf verschiedene Weise wissen, zählte ich „wie man in fünfstellige Symmetrie wächst“, „wie man einen Waldbrand überlebt“, „wie man wächst und doch die gleiche Form beibehält“, „wie man lernt“, „wie man eine Verfassung schreibt“, „wie man ein Auto erfindet und fährt“, „wie man bis sieben zählt“ und so weiter. Wunderbare Geschöpfe mit fast übernatürlichen Kenntnissen und Fertigkeiten.“ (ebd.:10f.)
Diese Idee einer „Mensch-Natur-Gemeinschaft“ ist am deutlichsten in einem Fragebogen zur Erfassung von Naturverbundenheit von F. Stephan Mayer und Cynthia M. Frantz (2004) zu erkennen, der auf den Ansichten Aldo Leopolds basiert. Neben dieser Connectedness to Nature Scale wurden weitere Skalen entwickelt, um die Ausprägung der Naturverbundenheit einer Person messbar zu machen. Faktoren, die hierbei einbezogen werden, sind zum Beispiel: Gefühl des Einsseins mit der Natur bzw. ein Teil dieser zu sein, Empathie, Verantwortungsbewusstsein, Genuss der Natur, das Sammeln von Gegenständen oder Nahrungsmitteln in der Natur, positive Auswirkungen auf das Befinden, in der Natur verbrachte Zeit, multisensorieller und bewusster Naturkontakt, Beziehung zu einem Platz in der Natur, das Erkennen von Gemeinsamkeiten mit der Natur beziehungsweise mit Elementen der Natur und eine spirituelle Bedeutung der Natur (vgl. Brügger et al. 2011:328; Cheng/Monroe 2012:41; Clayton 2003:61f.; Mayer/Frantz 2004:513; Nisbet et al. 2009:724).
Auch wenn die Forschung zum Thema Naturverbundenheit nicht sehr umfangreich ist, stellen diese Aspekte, die mit Naturverbundenheit verknüpft und als Merkmale naturverbundener Menschen angesehen werden, eine hilfreiche Grundlage für Überlegungen zu einem ästhetischen Naturzugang zur Stärkung von Naturverbundenheit dar.
Schließlich ist zum Naturverbundenheitsbegriff anzumerken, dass dieser meist positiv konnotiert ist und häufig auf die positiven Wirkungen von Naturkontakt hingewiesen wird. So kann dieser beispielsweise zu Erholung und Stressreduktion beitragen (vgl. Hartig et al. 1991; Hartig et al. 2003) und wird sogar als sinnvoller Aspekt eines sozioökologischen Public-Health-Verständnisses vorgeschlagen, das zusätzlich den Nachhaltigkeitsgedanken integriert (vgl. Maller et al. 2006).
Dennoch ist im Kontext von Naturverbundenheit zu beachten, dass Natur eben auch Quelle für Ängste und Gefahren sein kann. Wird unter Naturverbundenheit auch eine Integration der unschönen Naturaspekte verstanden (vgl. Nisbet et al. 2009:718), müssen diese zusätzlich zu den deshalb nicht weniger bedeutsamen positiven Wirkungen der Natur auf den Menschen berücksichtigt werden. Naturverbundenheit meint demnach nicht eine Verbundenheit mit einer harmonischen, schönen, idealisierten Natur sondern mit allen Naturaspekten – den angenehmen ebenso wie den unangenehmen.
Mensch, Natur und Kunst
Wenn es um Naturverbundenheit im Kontext eines ästhetischen Naturzugangs geht, stellen sich zunächst grundlegende Fragen zu den Kernaspekten Mensch, Natur und Kunst. Zum einen: Was ist mit den Begriffen Natur und Kunst in diesem Zusammenhang eigentlich gemeint? Zum anderen: Wie stehen Mensch, Natur und Kunst miteinander in Beziehung? Als Grundlage für die Überlegungen zu einem ästhetischen Naturzugang zur Stärkung von Naturverbundenheit werden hierzu zunächst einmal sehr kurz und ohne den Anspruch auf Vollständigkeit einige Anmerkungen vorgenommen.
Mensch und Natur
Der Mensch als Wesen ist gleichermaßen an die Natur und an seine Kultur gebunden. Einerseits benötigt der Mensch Natur und ist auch selbst Natur. Letzteres wird besonders durch seine Biologie deutlich, die Böhme als „Natur, die wir selber sind“ (Böhme 1992:77) bezeichnet. Andererseits erschafft er und entwickelt sich zu etwas, dass er nicht mehr zweifelsfrei als Natur bezeichnen möchte oder sogar als Nicht-Natur beziehungsweise Kultur betrachtet. Durch Veränderung, Beeinflussung und Nutzung der Natur durch den Menschen wird die Grenze allerdings undeutlich. „Der Mensch als Natur- und Kulturwesen kultiviert eben die Natur, und in diesem Prozess verschwimmt die Trennlinie zwischen Kultur und Natur“ (Gebhard 2013:48), so formuliert es Ulrich Gebhard. Thorsten Späker stellt in ähnlicher Weise Natur und Kultur als Pole eines Kontinuums dar (vgl. Späker 2017:12). In einem solchen Verständnis ist nicht nur der Mensch „gleichzeitig Teil und Gegenüber der Natur“ (ebd.:12), sondern nahezu alles ist teils Natur und teils Kultur.
Auf dieser Herangehensweise basierend ist der Begriff Natur in diesem Beitrag folgendermaßen zu verstehen: Natur ist nicht nur dort zu finden, wo sie abgeschlossen und vom Menschen unberührt ist, sondern überall. Auch wenn mittlerweile so gut wie jeder Ort auf der Erde in irgendeiner Weise von der Existenz des Menschen beeinflusst ist, so ist dennoch in jeder Kulturlandschaft, in jeder Zimmerpflanze, in jedem Haustier, in allem Existierenden und auch im Menschen selbst etwas zu finden, dass nicht vom Menschen geschaffen und deshalb letztendlich Natur ist. Natur zu erleben ist demnach nicht nur in unberührter Wildnis möglich, sondern überall dort, wo Natur vorhanden ist. So gesehen sind nicht nur auf dem gesamten Planeten die Spuren unserer Kultur, sondern ebenso Elemente der Natur zu finden, zu denen wir eine Bindung aufbauen können. Naturverbundenheit ist somit nicht an eine zivilisationsferne Wildnis gebunden. Nichtsdestotrotz ist eine naturnahe Umgebung für eine Stärkung von Naturverbundenheit sicherlich förderlich.
Die Beziehung des Menschen zur Natur zeichnet sich nun vor allem dadurch aus, dass sie hochkomplex und ambivalent ist. Die Natur ist ein beliebter Erholungsort, kann jedoch auch tiefgreifende Ängste auslösen. Naturaufenthalte tragen einerseits zum Wohlbefinden bei und können pädagogisch und psychologisch positiv wirken, andererseits gehen von der Natur auch ernstzunehmende Gefahren wie Krankheiten, Verletzungen bis hin zu Naturkatastrophen aus und die Natur bedingt letztendlich auch unsere eigene Sterblichkeit. Der Mensch liebt und braucht die Natur und verspürt eine Sehnsucht nach ihr, während gleichzeitig Naturzerstörung, Artensterben, Klimawandel usw. zu den bedeutendsten Themen unserer Zeit gehören. Eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit der Beziehung zwischen Mensch und Natur ist daher zwingend notwendig.
Natur und Kunst
Neben dem Mensch-Natur-Verhältnis ist ebenso die Beziehung zwischen Natur und Kunst für diesen Beitrag relevant. Hierzu ist an dieser Stelle ebenso der Kunstbegriff einzugrenzen. Im Kontext eines ästhetischen Naturzugangs soll Kunst – ähnlich wie bereits Natur – relativ weit gefasst und abstrakt verstanden werden. Lediglich zwei Kriterien soll „Kunst“ dabei erfüllen: Kunst ist etwas, das zum einen begrifflich abgeleitet „künstlich“ ist, in dem Sinne, dass es geschaffen und gestaltet wird, und das zum anderen in erster Linie und bewusst ästhetisch gestaltet wird, das heißt dem Wort nach sinnlich wahrnehmbar ist beziehungsweise, wie Rudolf zur Lippe es etwas genauer formuliert, „unsere Sinne beschäftigt, in uns Empfindungen und Gefühle entstehen läßt und auf solchen Wegen unser Bewußtsein prägt“ (Lippe 1987:17). Der Begriff Kunst (oder im Plural die Künste) meint in diesem Verständnis somit einen „ästhetischen Gestaltungswillen“ (Junker 2018:108) und dessen Ausdruck.
In einem solchen Kunstverständnis, das sicherlich ungewöhnlich, für das Thema dieses Beitrags jedoch äußerst dienlich ist, wird der Kunstbegriff als sowohl vom konkreten Kunstwerk als auch vom Ausdruckmedium unabhängig und in erster Linie als abstrakter Rahmen verstanden.
Eine Verknüpfung von Kunst und Natur findet nun vor allem mehr oder weniger bewusst durch den Menschen statt. Aber auch darüber hinaus bestehen Gemeinsamkeiten zwischen Natur und künstlerisch-ästhetischer Gestaltung. So können Form, Rhythmus und Farbe als gemeinsame Prinzipien angesehen werden, die sowohl in der Natur als auch in den Künsten eine wesentliche Rolle spielen.
Zu Form in der Kunst beispielsweise schreibt Susanne Langer: „A work of art is essentially an appearance, a “form” in the broadest sense of that very broad word“(Langer 1950:516). Alles, was gestaltet wird, ob physisch oder nicht, besitzt in irgendeiner Art und Weise Form. Von Bedeutung ist dabei, wie einzelne Elemente innerhalb einer Form aufeinander bezogen angeordnet sind, d.h. die der Form zugrunde liegende Struktur (vgl. Langer 1967:23f.). In diesem Sinne ist auch Rhythmus Form. Hier steht allerdings der Zeitaspekt im Vordergrund. Wieland Ziegenrücker definiert Rhythmus im Kontext von Musik als „organisierte[n], strukturierte[n], bewusst gestaltete[n] Zeitverlauf“ (Ziegenrücker 2009:49). Aber auch in anderen Künsten wie dem Tanz oder sprachbezogener Kunst ist Rhythmus von essentieller Bedeutung.
Neben Form und Rhythmus spielt auch Farbe eine entscheidende Rolle in den Künsten. So können unterschiedliche Farbtöne und -nuancen verschiedene Assoziationen und Wirkungen hervorrufen und werden ebenso symbolisch verwendet. Farbe liefert uns Information, hilft uns bei der Einordnung von visuellen Reizen und kann laut Goethe „als ein Element der Kunst betrachtet, zu den höchsten ästhetischen Zwecken mitwirkend genutzt werden“ (Goethe 1955:224).
Auch in der Natur sind Form, Rhythmus und Farbe allgegenwärtig. Ob die Formen verschiedener Blätter, das struktur- und farbenreiche Äußere vieler Tier- und Pflanzenarten, Wolken und Felsformationen, die Wellenbewegungen des Wassers, das Flügelschlagen eines Vogels oder der Jahreskreislauf – Formen, Rhythmen und Farben sind überall in der Natur zu finden.
Kunst und Natur können sich Raum und Zeit nicht entziehen. So müssen beide zwangsläufig im weitesten Sinne Form und Rhythmus besitzen. Dabei steht einer bewussten, gewollten, aktiven und entscheidenden Gestaltung in der Kunst ein Werden, Wachsen, Entwickeln und Sein in der Natur gegenüber. Trotz der Unterschiede im Entstehungs- und Entwicklungsprozess stellen Form, Rhythmus und auch Farbe essentielle Aspekte einer Brücke zwischen Kunstgestaltung und natürlicher Umwelt dar und sollten somit in einen ästhetischen Naturzugangs zur Stärkung von Naturverbundenheit integriert werden.
Mensch und Kunst
Zum Ende dieser vorangestellten Überlegungen soll noch kurz auf die wesentliche Bedeutung der Künste für den Menschen hingewiesen werden, da dies eine entscheidende grundlegende Annahme für das Thema dieses Beitrages ist. Kunstgestaltung und -rezeption unterschiedlicher Art und Weise sind ein existentielles Bedürfnis des Menschen. So ist beispielsweise das grundlegende Recht auf Teilhabe an Kultur und Kunst auch in Art. 27 der Allgemeinen Erklärung für Menschenrechte (vgl. UN General Assembly 1948) sowie in der Road Map for Arts Education der ersten UNESCO-Weltkonferenz zusammen mit dem Recht auf kulturelle Bildung (vgl. UNESCO 2006:3), welche auch eine eigene künstlerische Tätigkeit einschließt (vgl. ebd.:8), explizit genannt.
Kunst und Ästhetik gehören grundlegend zum Menschsein dazu und sind ein wesentlicher Teil des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Aufgrund ihrer existentiellen Bedeutung für den Menschen, sollten sie auch in unsere Naturbeziehung eingebunden werden.
Theoretischer Ansatz eines ästhetischen Naturzugangs zur Stärkung von Naturverbundenheit
Die tiefgreifende Bedeutung der Natur und der Künste für den Menschen und die Verknüpfungen zwischen den Künsten bzw. dem Ästhetischen und der Natur sind Grundlage für die Überlegung, ob ein künstlerisch-ästhetischer Naturzugang zu einer Stärkung von Naturverbundenheit beitragen und welche Elemente dieser umfassen könnte. In diesem Teil des Beitrages sollen nun verschiedene Aspekte dargestellt werden, die hierbei von Bedeutung sein und einbezogen werden könnten. Die folgenden beiden Fragen bilden dabei die Basis:
- Wie können Elemente von Naturverbundenheit durch einen ästhetischen Naturzugang gefördert werden?
- Wie kann ein ästhetischer Zugang eine Auseinandersetzung mit Natur sowie der Mensch-Natur-Beziehung oder auch Selbst-Natur-Beziehung unterstützen?
Ästhetischer Naturzugang
Die zwei grundlegenden Bereiche, die im speziellen Kontext dieses Beitrags unter der Bezeichnung ästhetischer Naturzugang zusammengefasst werden, sind Rezeption, Erfahrung und Wahrnehmung auf der einen und Produktion und Gestaltung auf der anderen Seite. In Bezug auf den Rezeptionsbereich steht eine die bewusste sinnliche Wahrnehmung betonende Erfahrung der Natur und der eigenen Naturbeziehung im Vordergrund, eine „wahrnehmende Auseinandersetzung mit einem Anderen“ (Brandstätter 2014:33), das in diesem Zusammenhang die Natur darstellt. Auf Seiten der Produktion stehen naturbezogener künstlerischer Ausdruck und Gestaltung im Mittelpunkt. Eine Einschränkung auf eine oder mehrere bestimmte Kunstformen findet nicht statt, da die Überlegungen eher abstrakt und allgemein gehalten werden.
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Nachahmung
Ein erster möglicher Ansatzpunkt eines ästhetischen Naturzugangs ist der der Nachahmung. Hierbei soll vom künstlerischen Prinzip der Mimesis ausgegangen werden. Anette Seelinger formuliert hierzu: „Mimesis – das bedeutet zunächst mit dem Anderen in der Form der Nachahmung in Fühlung zu treten; dies impliziert den Vorrang des Objekts, ein Anschmiegen an die Materialität der Gegenstände und des Gegenübers“ (Seelinger 2003:49). Nachahmung schafft dabei eine „Brücke zwischen Innen und Außen, zwischen Subjekt und Objekt“ (ebd.:49). Bereits hierin wird, insbesondere im Begriff der Brücke, die Relevanz für Naturverbundenheit deutlich.
Durch ein „Werden“ zum Anderen in Form von Nachahmung kann dieses im eigenen Körper gefühlt und nachempfunden werden. Juliane Ribke spricht auch von „Identifikationsprozessen“ durch einen „selbstgefühlten Körperzustand“ (Ribke 1995:135). Der Aspekt der Nachahmung soll allerdings nicht auf physische Nachahmung begrenzt werden. Alles, was uns in der Natur begegnet – Farben, Geräusche, Klänge, Bewegungen, Rhythmen, Formen und möglicherweise auch Geschmack und Gerüche – können in Nachahmungsprozesse einbezogen werden.
Dabei geht es nicht um eine exakte Nachbildung sondern vielmehr um einen kreativen Umgang mit dem in der Natur Wahrgenommenen. So ist beispielsweise ein Herausgreifen einzelner Motive und ein Gestalten beziehungsweise Komponieren mit diesen denkbar, ebenso wie eine Nachahmungsimprovisation, z.B. indem der Bewegungslogik eines Tieres nachempfunden wird. Auch eine simultane Nachahmung ist möglich, wie sie beispielsweise die Künstlerin Lisa Lipsett zeigt, indem sie beim Zeichnen fallendem Laub (vgl. Lipsett 2014a) oder dem Flug von Vögeln (vgl. Lipsett 2014b) folgt.
Nachahmung in einem künstlerischen Rahmen ermöglicht einen flexiblen Umgang, verschiedene Fokussetzungen, ein Abstrahieren und Selbstgestalten des Wahrgenommenen und den Einbezug und die Verknüpfung verschiedener Sinne und Ausdrucksmedien. In jedem Fall ist sie eine umfassende Annäherung an ein Gegenüber und ein Eintauchen in dessen Existenz auf verschiedenen Ebenen.
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Muster und Gemeinsamkeiten
Formen, Rhythmen und auch Farben sind eng mit dem Begriff des Musters verknüpft. Die Fähigkeit Muster zu erkennen hilft uns bei der „Identifikation von Gegenständen“ (Brandstätter 2014:86) und allgemein von jeglichen Reizen (vgl. Zimbardo 1983:251). Auch wenn die konkrete Form von etwas möglicherweise neu für uns ist, hilft uns die Struktur, d.h. das zugrundeliegende Muster, bei der Identifikation und Einordnung. Die vielfältigen Formen und Muster in der Natur sind deshalb auch zentral für die Bestimmung von zum Beispiel Pflanzen, Tieren oder Tierspuren. Ein Zugang zu diesen Mustern der Natur kann aufgrund der engen Verknüpfung mit unserer Sinneswahrnehmung auch künstlerisch-ästhetisch erfolgen. Ebenso Strukturen und Muster, die unseren Sinnen nicht direkt zugänglich sind, weil sie beispielsweise zu groß, zu klein, zu schnell oder zu langsam sind, können in eine künstlerische Auseinandersetzung eingebunden und dadurch erlebbar und spürbar werden.
Neben der Struktur einer Sache sind für Gregory Bateson Muster ein wesentliches Merkmal dessen, was Lebewesen miteinander verbindet. So zeigte er seinen Studierenden in einer Vorlesung einen Krebs und stellte ihnen folgende Fragen: „Wie sind Sie auf dieses Geschöpf bezogen? Welches Muster verbindet Sie mit ihm?“ (Bateson 1982:16). Diese Muster versteht er als dynamische „Metamuster“ (ebd.:19; vgl. ebd.:22), als aus Mustern bestehende Strukturen und Relationen, die Lebewesen miteinander verbinden. Muster und Strukturen stellen in einer derartigen Herangehensweise somit auch eine hilfreiche Basis dar, um Gemeinsamkeiten des Menschen bzw. der eigenen Person mit der Natur zu erkennen. Dies identifizieren beispielsweise Ryan Lumber, Miles Richardson und David Sheffield als förderlich für Naturverbundenheit und zitieren eine Aussage eines*r Teilnehmenden: „They’ve got all the same bones as we have“ (Lumber et al. 2018:61). Sowohl Beziehungen zwischen dem Menschen und anderen Lebewesen als auch in der Natur selbst ebenso wie jegliche Art von Struktur können auf diese Weise – durch Betrachtung als ästhetische Muster – thematisiert, bewusst wahrgenommen und in Gestaltungsprozesse einbezogen werden.
Eine Herangehensweise eines ästhetischen Naturzugangs zur Stärkung von Naturverbundenheit könnte somit eine künstlerische Auseinandersetzung mit diesen verbindenden Mustern sowie den Strukturen in der Natur sein, um dadurch die Aufmerksamkeit auf Beziehungen und ihre Strukturen und Muster jeglicher Art zu richten und durch eine ästhetische Annäherung die Entwicklung eines Bewusstseins und Verständnisses für diese Relationen zu fördern.
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Präsenz und Zeitlosigkeit
Wahrnehmung und Ausdruck sind untrennbar mit dem gegenwärtigen Moment verbunden. Schon dadurch spielen Präsenz und darin empfundene Zeitlosigkeit eine wesentliche Rolle für einen ästhetischen Naturzugang.
In diesem Zusammenhang kann auch der Begriff der Achtsamkeit als bedeutsam angesehen werden. Scott R. Bishop und Kolleg*innen formulieren hierzu: „This leads to a feeling of being very alert to what is occurring in the here-and-now. It is often described as a feeling of being fully present and alive in the moment.“ (Bishop et al. 2004:232) Um die Natur sinnlich wahrzunehmen, müssen wir ihr in der Gegenwart begegnen, d.h. präsent bzw. achtsam und aufmerksam sein. Im Bereich der Kunst ist hierbei ebenso der Begriff des Flow von Bedeutung. Das Erleben von Flow beschreibt Mihaly Csikszentmihalyi als „unified flowing from one moment to the next“ (Csikszentmihalyi 2014:137) und meint damit Erfahrungen aktiver Tätigkeit, die von Präsenz und Zeitlosigkeit, Bewusstheit, Aufmerksamkeit und Verbundenheit geprägt sind und unter anderem durch künstlerisch-kreative Aktivitäten ermöglicht werden (vgl. ebd.:137ff.).
Ästhetische Erfahrungen sind ebenso wie Naturerfahrungen davon geprägt, unmittelbar, direkt und persönlich zu sein und im Hier-und-Jetzt stattzufinden. Auch wenn Achtsamkeit und Flowerlebnisse sehr ausgeprägte Zustände von Präsenz bzw. Zeitlosigkeit darstellen und nicht erzwungen werden können, sollten die Aspekte Präsenz und Zeitlosigkeit in einen ästhetischen Naturzugang zur Stärkung von Naturverbundenheit integriert und Räume für derartige Erfahrungen geschaffen werden.
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Kommunikation und Interaktion
Kommunikation und Interaktion sind wesentliche Aspekte einer Beziehung. Nun können wir mit der Natur nicht auf die gleiche Weise kommunizieren und interagieren wie mit anderen Menschen. Dennoch können Kommunikation und Interaktion, wenn auch in einem etwas weiteren Sinn, für einen ästhetischen Naturzugang eine Rolle spielen.
Paul Klee beispielsweise schreibt, dass „die Zwiesprache mit der Natur [...] für den Künstler conditio sine qua non [ist]“ (Klee 1990:9). Was Zwiesprache mit der Natur bedeuten kann, veranschaulicht Martin Buber am Beispiel eines Baumes:
„Es kann aber auch geschehen, [...], daß ich, den Baum betrachtend, in die Beziehung zu ihm eingefaßt werde, und nun ist er kein Es mehr. [...] Alles, was dem Baum zugehört, ist mit darin, seine Form und seine Mechanik, seine Farben und seine Chemie, seine Unterredung mit den Elementen und seine Unterredung mit den Gestirnen, und alles in einer Ganzheit. Kein Eindruck ist der Baum, kein Spiel meiner Vorstellung, kein Stimmungswert, sondern er leibt mir gegenüber und hat mit mir zu schaffen, wie ich mit ihm – nur anders.“ (Buber 1994:11f.)
Die Natur wird hier zum Subjekt. Ein derartiges Verständnis von Natur ist ebenfalls bei dem Biologen Jakob von Uexküll zu finden: „Die lebende Zelle verhält sich äußeren Objekten gegenüber nicht als Objekt, sondern als Subjekt“ (Uexküll 1931:386). Wird die Natur subjektiviert, kann das sicherlich auch unsere Naturbeziehung beeinflussen. Die Künste erlauben es zudem durch ihre Distanz zur Realität in besonderem Maße, Naturelemente oder die Natur selbst als Subjekt zu betrachten, ohne die objektivierende, naturwissenschaftliche Sichtweise aufzugeben.
Von Jakob Johann von Uexküll ist es auch nicht mehr weit zur Biosemiotik. In der biosemiotischen Sichtweise werden Zeichen, Mitteilungen und Bedeutungen als wesentliche Grundlage allen Lebens und nicht nur der menschlichen Kultur angesehen. Marcello Barbieri definiert: „Biosemiotics is the synthesis of biology and semiotics, and its main purpose is to show that semiosis is a fundamental component of life, i.e., that signs and meaning exist in all living systems” (Barbieri 2009:221). Auch eine biosemiotische Betrachtungsweise bietet aufgrund der Betonung von Zeichen und Mitteilungsprozessen Anknüpfungspunkte für einen ästhetischen Naturzugang und eine ästhetische Auseinandersetzung mit Natur.
Darüber hinaus ist auch im weitesten Sinne „künstlerische Interaktion“ mit Natur möglich, z.B. durch das Integrieren von Pflanzenwachstum, Geräuschen, Klängen und vielem mehr in die Gestaltung von Kunst. Sicherlich bringt in diesem „Interagieren“ die Natur von sich aus keine Kunst mit ein. Erst durch menschliche Entscheidung, Betrachtung und durch unser Zulassen wird sie Teil des künstlerischen Gestaltungsprozesses. Dabei ergibt sich zwangsläufig die Frage, wie viel wir selbst kontrollieren und gestalten und welchen Anteil wir der Natur „überlassen“.
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Kontakt mit der Natur
Naturerfahrung und Naturkontakt sind grundlegende Voraussetzungen für die Entwicklung von Naturverbundenheit. In einem ästhetischen Naturzugang im Zusammenspiel von Wahrnehmung und Gestaltung wird die Natur nicht nur in passiver Haltung wahrgenommen, sondern kann auch aktiv im künstlerischen Tun und in aufmerksamer Begegnung mit allen Sinnen erfahren und erlebt werden. Zudem wird ein „Gestaltungselement“ (Eckmann 2003:13) integriert, zu dem Theo Eckmann schreibt: „Wer Welt konkret an-geschaut und begriffen hat, wer gelernt hat, an Inhalten inne zu halten, sie zu gestalten und seinen Eindruck als Ausdruck weiterzugeben, der verantwortet diese Welt auch mit einer eigenen Haltung und einem eigenen Geist“ (ebd.:13). Für eine künstlerisch-ästhetische Auseinandersetzung mit Natur im direkten Naturkontakt mit allen Sinnen ist dieses Anschauen, Begreifen und Innehalten notwendige Voraussetzung. Durch Ausdruck und Gestaltung wird zusätzlich das eigene Selbst einbezogen und somit Beziehung ermöglicht. In ästhetischen Prozessen können wir mit der Natur und ihren Elementen in direkten, unmittelbaren Kontakt treten und uns dadurch tiefgreifend mit Natur, uns selbst und unserer Beziehung zu ihr auseinandersetzen; wir können uns direkt und körperlich und möglicherweise auch darüber hinaus mit Natur verbunden fühlen. Auch der Geruchs- und vor allem unser Geschmackssinn sollten, auch wenn sie in den Künsten meist kaum eine Rolle spielen, in den wahrnehmenden Kontakt mit der Natur, der in einen eigenen Ausdruck mündet, integriert werden. Da beide essentiell für unsere Nahrungsaufnahme sind, betonen sie auf besondere Weise den Versorgungsaspekt der Mensch-Natur-Beziehung.
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Perspektivwechsel
Der Mensch nimmt die Welt zwangsläufig aus menschlicher Perspektive wahr und kann diese auch niemals wirklich verlassen. Dennoch ist es möglich, insbesondere in den Künsten, unsere Wahrnehmung aktiv zu beeinflussen und den Blickwinkel zu verändern. Dies wurde bereits beim Aspekt der Nachahmung deutlich. Im Nachahmungsprozess können wir uns, zumindest bis zu einem gewissen Punkt, in ein Tier oder ein anderes Lebewesen hineinversetzen, einfühlen und versuchen, die Welt aus seiner Perspektive wahrzunehmen. So können ebenso die Umwelt, die Wahrnehmungsweise eines Lebewesens oder die Beziehungen, die für das jeweilige Lebewesen von Bedeutung sind, einbezogen werden.
Neben dieser Perspektivübernahme können wir auch den eigenen Blickwinkel beziehungsweise Wahrnehmungsfokus verändern. In einer künstlerisch-ästhetischen Auseinandersetzung ist es uns möglich und erlaubt, flexibel und spielerisch mit diesen umzugehen. So können wir zum Beispiel unsere Aufmerksamkeit auf bestimmte Aspekte unserer Sinneswahrnehmung richten und uns beispielweise ganz bewusst auf das Hören, Fühlen oder Riechen konzentrieren. Ebenso steht es uns offen, aus welcher Richtung wir die Welt betrachten und worauf wir uns fokussieren. Wir können selbst unseren Blickwinkel wählen und so auch mal die Grenzen unserer alltäglichen Naturwahrnehmung überschreiten. Genauso können wir auch in der Fokussetzung variieren. Von Atomen und Molekülen bis hin zu Wetterphänomenen und Klima oder Planetenkonstellationen, alles kann in ästhetische Prozesse eingebunden werden.
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Eigene Natur und eigenes Naturerleben
Dass ein Mensch sich selbst als Teil der Natur begreift, wird als wesentlicher Aspekt von Naturverbundenheit aufgefasst. Von Bedeutung ist dabei vor allem unser Körper. In ihm wird, wie Böhme schreibt, die „Naturbeziehung zu einer Selbstbeziehung“ (Böhme 1992:53). Zur Rolle der Ästhetik formuliert er weiter: „Sie hätte in der Entfaltung des Sinnenbewußtseins die Möglichkeit, den Menschen in bewußte leibliche Existenz einzuüben, zu lehren, was es heißt, selbst Natur zu sein“ (ebd.:23). Neben einer Betonung unsere Sinne im Ästhetischen steht vor allem in Tanz und Bewegung ganz konkret unsere Existenz als körperliche Wesen im Mittelpunkt. Doch nicht nur unsere Körperlichkeit als Ausdruck unseres Natur-Seins ist von Bedeutung. In der Beschäftigung mit dem eigenen Bedürfnis nach Ästhetik und künstlerisch- gestalterischem Ausdruck und der Fähigkeit dazu, wird eben dieser grundlegende Aspekt des menschlichen Wesens, der ebenso als Teil seiner Natur betrachtet werden kann, in den Fokus gerückt. In einem ästhetischen Naturzugang können wir somit nicht nur der uns umgebenden Natur begegnen, sondern auch der Natur in uns selbst.
Der Mensch ist Teil der Natur und selbst Natur, aber auch ihr Gegenüber. Daraus ergibt sich eine hoch komplexe und zum Teil widersprüchliche Beziehung. Aufgrund der Art der Mensch-Natur-Beziehung ist unser Naturverständnis zudem immer subjektiv (vgl. Brämer 1998:77) und, da letztendlich unser Leben davon abhängt, immer auch von Emotionen geprägt. Daraus folgt, dass für eine Förderung von Naturverbundenheit auch eine Auseinandersetzung mit den zahlreichen Facetten der eigenen Naturbeziehung und des eigenen Naturerlebens von Bedeutung ist. Eine ästhetische Herangehensweise kann dabei unterstützen, indem sie Emotionen, persönliche Sichtweisen und andere Aspekte der individuellen Naturbeziehung zum Thema macht. In ästhetischer Gestaltung können diese zum Ausdruck gebracht, an sich und in der Gestaltung wahrgenommen, reflektiert und ins Bewusstsein gerückt werden. (vgl. auch Jäger/Kuckhermann 2004:38f.)
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Auseinandersetzung mit der Welt
Eine Auseinandersetzung mit der Welt ist für eine Stärkung von Naturverbundenheit grundlegend, schon allein deshalb, da sich große Fragen wie „Was ist Natur?“, „Was ist der Mensch?“ oder auch „In welchem Verhältnis stehen beide zueinander?“ ergeben. Eine abschließende oder eindeutige Antwort auf diese Fragen gibt es nicht. Die Welt und die menschliche Existenz sind paradox und von Widersprüchen geprägt. Dies äußert sich ebenso in der ambivalenten Naturbeziehung des Menschen. Wir müssen lernen damit umzugehen und versuchen diese Uneindeutigkeit zu akzeptieren, insbesondere dann, wenn das Ziel eine Stärkung von Naturverbundenheit ist. Ursula Brandstätter betont den engen Zusammenhang ästhetischer Prozesse mit einer divergenten Form des Denkens und bezieht sich dabei auf Gunter Otto (vgl. Brandstätter 2014:72). Laut diesem ist „divergentes Denken“ davon geprägt, Mehrdeutigkeit und Komplexität, das Vorhandensein „einer Vielzahl möglicher Lösungen“ zu akzeptieren und bestehen zu lassen (Otto 1998:207). Im künstlerischen Ausdruck sind wir nicht an Logik und Eindeutigkeit gebunden, im Gegenteil. In den Künsten können Uneindeutigkeit, Komplexität, Absurdität und das Paradoxe und Widersprüchliche bestehen bleiben, erzeugt, verschoben, erlebt und reflektiert werden. Da Naturverbundenheit, wie sie in diesem Beitrag beschrieben und gemeint ist, sich nicht nur auf die harmonischen, schönen und angenehmen Seiten der Natur bezieht, sondern auch auf die gefährlichen, unangenehmen und zerstörerischen, was letztendlich auch unsere eigene Sterblichkeit miteinschließt, ist die Offenheit gegenüber Uneindeutigkeit und Widerspruch eines ästhetischen Naturzugangs ein bedeutendes Element dieses Ansatzes.
Abschließend soll betont werden, dass eine ästhetische Auseinandersetzung mit der Welt beziehungsweise der Natur nicht gleichzusetzen ist mit einer Auseinandersetzung mit der Umweltproblematik. Im Kontext des Ziels, Naturverbundenheit zu stärken, sind grundsätzlich alle Aspekte der Natur und unserer Beziehung zu ihr von Bedeutung.
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Geschichten
Gregory Bateson erzählte folgende Geschichte:
„Ein Mann wollte wissen, wie es sich mit dem Geist verhält – nicht in der Natur, sondern in seinem eigenen großen Computer. Er fragte ihn [...]: „Rechnest du damit, daß du jemals denken wirst, wie ein menschliches Wesen?” Die Maschine machte sich daran, ihre eigenen Rechengewohnheiten zu analysieren. Schließlich druckte sie ihre Antwort auf einem Stück Papier aus, wie dies solche Maschinen zu tun pflegen. Der Mann eilte hin, um die Antwort zu erfahren, und fand die sauber getippten Worte vor: Das erinnert mich an eine Geschichte.“(Bateson 1982:22)
Bateson verdeutlicht hier, dass er die narrative Struktur für die zentrale Form, das grundlegende Muster des menschlichen Denkens hält (vgl. Bateson 1982:22f.). In ähnlichem Sinn formuliert der Psychologe Jerome Bruner: „We organize our experience and our memory of human happenings mainly in the form of narrative – stories, excuses, myths, reasons for doing and not doing, and so on“ (Bruner 1991:4). Aufgrund der Struktur von Erzählungen und der großen Ähnlichkeit dieser mit dem tatsächlichen Erleben sind Geschichten besonders geeignet, um Erlebnisse und Erfahrungen auszudrücken (vgl. Bruner 2004:692; Nünning/ Nünning 2003:5f.). Nicht nur die äußere Handlung, sondern vor allem Subjektives wie Emotionen, Gedanken und Wahrnehmungen können dabei einbezogen werden. Zudem stellen Geschichten eine besondere Möglichkeit des Teilens von Erfahrungen mit anderen dar und können dadurch eine Verbindung zwischen persönlichem und gemeinsamem Naturerleben unterstützen und auf diese Weise auch eine soziale Dimension von Naturverbundenheit integrieren.
Darüber hinaus erzeugen Geschichten Relevanz. Bateson schreibt hierzu: „Eine Geschichte ist ein kleiner Knoten oder Komplex der Art von Verbundenheit, die wir als Relevanz bezeichnen. [...] und ich möchte annehmen, daß irgendein A für irgendein B relevant ist, wenn beide, A und B, Teile oder Komponenten derselben ‚Geschichte‘ sind.“ (Bateson 1982:22f.)
Demnach hat, sobald wir selbst Teil einer Geschichte sind, ob tatsächlich oder durch Identifikation, die Erzählung und das, wovon sie erzählt, für uns Bedeutung. Geschichten können uns ansprechen, Freude bringen und uns berühren, da in ihnen in besonderer Art und Weise ausgedrückt werden kann, wie wir die Welt erleben. Dadurch werden in ihnen die Dinge, die uns beschäftigen und für uns Relevanz haben, greifbar und verständlich. Die enge Verknüpfung des Narrativen beispielweise mit Allegorie und Metapher, ermöglicht zudem eine Bedeutung und Interpretation über den konkreten Inhalt hinaus. Dies unterstützt die Rolle von Geschichten in Bezug auf eine Auseinandersetzung zum Beispiel mit Zusammenhängen, der Welt, Natur- und Selbstverständnis. Allerdings geht mit Geschichten ebenso eine Anfälligkeit für unreflektierte Fehlinformation und -interpretation einher, die unbedingt berücksichtigt werden sollte.
Auch wenn Geschichten häufig mit dem Sprachlichen verknüpft werden, soll schließlich darauf hingewiesen werden, dass sich dieser Aspekt im Zusammenhang des hier entwickelten Ansatzes nicht nur auf die Sprache bezieht, sondern auf alles, was im weitesten Sinne als Geschichte in künstlerisch-ästhetischer Gestaltung mit unterschiedlichen Medien zum Ausdruck gebracht werden kann.
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Animismus und Anthropomorphismus
Animismus und Anthropomorphismus, also eine Beseelung bzw. Vermenschlichung, in diesem Fall der Natur, sind vor allem deshalb für Naturverbundenheit relevant, da sie sehr deutlich die subjektiv-emotionale Seite der Mensch-Natur-Beziehung betonen. Ulrich Gebhard formuliert hierzu:
„Die animistisch-anthropomorphe, subjektivierende Perspektive gegenüber Naturphänomenen zielt auf eine andere Dimension als die naturwissenschaftliche, objektivierende Perspektive. Während die Biologie beschreibt und erklärt und damit ein möglichst objektives Bild der zoologischen oder botanischen Wirklichkeit entwirft, erhält die Wirklichkeit durch die Anthropomorphismen eine symbolisch vermittelte, subjektive Bedeutung.“ (Gebhard 2013:70f.)
Auch wenn durch die großen Unterschiede dieser beiden Sichtweisen ein Konfliktpotential gegeben ist und z.B. eine unangemessen anthropomorphe Betrachtung vor allem von Säugetieren auch die Gefahr eines schädlichen Anthropozentrismus birgt (vgl. ebd.:66) hält Gebhard eine „Koexistenz“ (ebd.:57) beider Perspektiven für möglich und förderlich.
Ein kunstbezogener, ästhetischer Naturzugang eignet sich nun insofern für die Einbindung animistischer und anthropomorpher Aspekte, da Symbolisierungen und das Zusammenspiel von Realität und Imagination zentrale Elemente künstlerisch-ästhetischer Prozesse sind. Auch das Magische und Spirituelle wird in den Künsten nicht ausgeschlossen. Durch eine gewisse Distanz zu der naturwissenschaftlich betrachteten Realität bieten die Künste einen geeigneten Rahmen für eine Integration von Animismen und Anthropomorphismen unterschiedlicher Art und eine auf diese Weise subjektive Naturbeziehung. Durch eine ästhetische Auseinandersetzung kann außerdem der Umgang mit animistischen und anthropomorphen Perspektiven reflektiert und ins Bewusstsein gerückt werden.
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Landschaft und Ort
Wenn wir Natur erleben, begegnen wir nicht nur der Natur an sich, sondern vor allem einem bestimmten Ort, einer bestimmten Landschaft. Diese sind so etwas wie „konkrete“ Natur, für uns sichtbar und wahrnehmbar. Dort können wir Natur entdecken, unmittelbar erfahren und auch in ästhetische Prozesse einbinden. Der bekannte Land-Art-Künstler Andy Goldsworthy beispielsweise schreibt:
„Meine gelungensten Kunstwerke sind heute solche, die derart mit ihrem Entstehungsort verwurzelt sind, daß sie nicht mehr von ihm getrennt werden können – das Kunstwerk ist zugleich der Platz, an dem es entstanden ist. Atmosphäre und Gefühle beeinflussen mich derzeit stärker als das Aufsammeln eines Blattes, eines Stockes, eines Steins . . .“ (Goldsworthy 1999:6)
Goldsworthy benennt hier den Begriff der Atmosphäre, der als „Grundbegriff einer neuen Ästhetik“ (Böhme 1995:21) besonders von Gernot Böhme geprägt wurde. Sowohl Kunst als auch Natur haben die grundlegende Eigenschaft, Atmosphären hervorrufen zu können (vgl. ebd.:35). Atmosphären zeichnen sich dadurch aus, dass sie gleichermaßen durch Subjekt und Objekt entstehen. In ihnen „fließen Selbstanteile und Weltanteile zusammen“ (Gebhard 2013:106). „Die Atmosphäre ist die gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen“ (Böhme 1995:34), so formuliert es Gernot Böhme. In der Betonung dessen, was zwischen Mensch und Natur entsteht und somit der Beziehung, zeigt sich auch die Bedeutung von Atmosphären für eine Stärkung von Naturverbundenheit.
Plätze in der Natur und Landschaften sind Ökosysteme und Lebensraum und können eine ganz persönliche Bedeutung für uns besitzen. In eigener künstlerisch-ästhetischer Gestaltung können die Besonderheiten einer Landschaft oder eines Ortes in der Natur auf vielfältige Art und Weise zum Ausdruck gebracht und ebenso in einer ästhetischen Auseinandersetzung bewusst wahrgenommen werden: Farben, Formen und Rhythmen, Muster, Gerüche und Geschmack, Geräusche und Klänge, Atmosphären, Beziehungen, Lebewesen, Bewegungen und Veränderungen, symbolische Bedeutung usw. Nicht nur die Beziehung zur Natur an sich als ein Gesamtes, sondern auch eine Fokussierung auf Verbundenheit mit der Natur bestimmter Landschaften und Orte sollte Teil eines ästhetischen Naturzugangs sein, da wir hier der Natur ganz konkret und greifbar begegnen.
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Gemeinsames Naturerleben
Nicht nur persönliche, subjektive Naturerfahrungen als Einzelperson sind für Naturverbundenheit wesentlich, sondern auch gemeinsame Erlebnisse mit anderen Menschen (vgl. z.B. Gebhard 2013:99; Hsu 2009:503). Ein künstlerisch-ästhetischer Naturzugang bietet hierfür einen geeigneten Rahmen, indem er sowohl eine Grundlage für die Entwicklung und Vertiefung einer Beziehung zur Natur als auch zu anderen Menschen sein kann. So setzen wir uns beispielsweise im gemeinsamen Gestalten, im Erzählen und Teilen von Naturerlebnissen und Emotionen, in verbaler und nonverbaler Kommunikation nicht nur mit der Natur, sondern auch mit unseren Mitmenschen auseinander und begegnen ihnen auf vielfältige Weise. Durch die zentrale Rolle der Kunst für menschliche Kultur, Gesellschaft und zwischenmenschliche Beziehungen schafft ein ästhetischer, kunstbezogener Zugang zur Natur eine Basis, um auch die soziale Dimension von Naturverbundenheit einzubinden.
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Identität und Bewusstheit
Ebenso wie die Beziehung zu anderen Menschen, ist auch die Beziehung zu uns selbst und unser Selbstkonzept bezüglich der Natur, das als ein Teil unserer Identität verstanden werden kann, ein zentrales Element von Naturverbundenheit. Der in diesem Beitrag dargestellte Ansatz eines ästhetischen Naturzugangs stellt die subjektive und emotionale Seite der Mensch-Natur-Beziehung in den Mittelpunkt. Eine solche Auseinandersetzung mit der Natur ist daher immer auch eine Auseinandersetzung mit sich selbst. „In der ästhetischen Erfahrung gehen Ich-Erfahrung und Welt-Erfahrung eine Einheit ein“ (Brandstätter 2014:33), so schreibt es Ursula Brandstätter. Auch eine ästhetische Gestaltung zwischen Nachahmung und Ausdruck von Eigenem verbindet Selbst und Welt. Der Selbstbezug eines künstlerisch-ästhetischen Naturzugangs und dessen Potential für eine Entwicklung und Auseinandersetzung mit der eigenen naturbezogenen Identität, die sich sowohl auf die individuelle Persönlichkeit als auch auf das Menschsein an sich beziehen kann, sollten unbedingt berücksichtigt werden. Unabhängig davon, wie unser subjektives Naturverständnis aussieht, sind wir an die Natur gebunden. Zentrales Ziel eines ästhetischen Naturzugangs zur Stärkung von Naturverbundenheit ist es deshalb, diese bestehende Verbundenheit ins Bewusstsein zu rücken. Daran anknüpfend geht es vor allem darum, eine bewusste Begegnung mit der Natur und eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit der Mensch-Natur- beziehungsweise Selbst-Natur-Beziehung zu ermöglichen. Alle beschriebenen Punkte beziehen sich im Grunde in irgendeiner Art und Weise auf dieses Ziel. Im Wesentlichen geht es darum, Natur und unsere Beziehung zu ihr zu reflektieren, zu hinterfragen, selbst zu gestalten, bewusst zu erfahren, zu sehen, zu hören, zu riechen, zu schmecken und zu spüren, uns selbst als Teil und Gegenüber der Natur zu erleben und den vielfältigen Facetten der Natur zu begegnen; diese lösen unterschiedlichste Emotionen in uns aus und lassen unsere Beziehung zur Natur zu einem unauflösbaren Paradox werden.
Fazit
Im Mittelpunkt dieses Beitrages steht das Verhältnis zwischen Mensch und Natur (siehe hierzu auch Ulrich Gebhard „Naturerfahrung und Kulturelle Bildung“). Der in diesem Zusammenhang gewählte Begriff der Naturverbundenheit ist ein äußerst abstrakter und bedarf sicherlich einer noch ausführlicheren Auseinandersetzung. Dennoch schafft er einen Rahmen, innerhalb dessen es darum geht, dass Mensch und Natur miteinander in Beziehung treten. Im speziellen Fall der in diesem Beitrag aufgegriffenen Aspekte findet dieses In-Beziehung-Gehen in einem künstlerisch-ästhetischen Kontext statt. Ohne explizit auf das Handlungsfeld der Kulturellen Bildung einzugehen, kann der Beitrag daher durchaus in dieses eingeordnet werden. Natur und Kultur, so gegensätzlich sie auf den ersten Blick auch wirken mögen, sind untrennbar miteinander verknüpft. Eine Kulturelle Bildung muss sich deshalb, insbesondere in der gegenwärtigen Situation unserer Welt, in der Nachhaltigkeit und ein achtsamer und bewusster Umgang mit Natur zwingend notwendig sind, auch mit Naturaspekten und der Mensch-Natur-Beziehung auseinandersetzen.
In diesem Beitrag wurden nun, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, einzelne Elemente angesprochen und beschrieben, die für einen ästhetischen Naturzugang von Bedeutung sein können, wie er auch im Rahmen der Kulturellen Bildung umgesetzt werden kann bzw. auch schon umgesetzt wird. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass die vorgenommenen Ausführungen sehr theoretisch gehalten wurden, um grundlegende Überlegungen zu verdeutlichen. Eine sehr viel praktischere Darstellung, in der auch einzelne der hier beschriebenen Aspekte auftauchen, ist beispielsweise in dem kubi-online-Beitrag „Mit der Kunst im Leben wachsen – Von der ästhetischen Arbeit im Draußen-Sein“ von Karin Bergdolt zu finden.
Die im vorliegenden Beitrag auf theoretische Weise dargestellten Elemente Nachahmung, Muster und Gemeinsamkeiten, Präsenz und Zeitlosigkeit, Kommunikation und Interaktion, Kontakt mit der Natur, Perspektivenwechsel, eigene Natur und eigenes Naturerleben, Auseinandersetzung mit der Welt, Geschichten, Animismus und Anthropomorphismus, Landschaft und Ort, gemeinsames Naturerleben sowie Identität und Bewusstheit sollen als mögliche Ansatzpunkte eines ästhetischen Naturzugangs zur Stärkung von Naturverbundenheit bzw. zur Auseinandersetzung mit der Natur und unserer Beziehung zu ihr verstanden werden, die erweitert, verändert, diskutiert, praktisch umgesetzt und angepasst werden können und müssen.
Im Zentrum eines ästhetischen Naturzugangs zur Stärkung von Naturverbundenheit stehen in jedem Fall der Mensch als einzigartiges Lebewesen, das Kunst und Ästhetik ebenso wie Beziehung und Bindung benötigt und in höchstem Maße dazu fähig ist, sowie die Natur mit ihren vielfältigen und unzähligen Facetten. Diese Natur stellt unsere Lebensgrundlage dar. Wir können sie als Umwelt, als Gemeinschaft deren Teil wir sind, als (Beziehungs-)Gegenüber und auch sonst auf vielfältige Art und Weise betrachten und erleben und ebenso eine positive Beziehung zu ihr aufbauen, die uns auf dem Weg zu einer nachhaltig lebenden Gesellschaft unterstützen kann. Ein künstlerisch-ästhetischer Zugang zur Natur stellt hierbei eine mögliche Herangehensweise dar, wie Natur begegnet werden und eine Auseinandersetzung mit Natur stattfinden kann.