Musik aus dem Stegreif schaffen: Muss man zum Komponieren immer vom Pferd steigen?

Gedanken zum Komponieren und Improvisieren, nicht nur in musikpädagogischer Absicht

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von Jürgen Oberschmidt

Erscheinungsjahr: 2023

Abstract

Im Rahmen dieses pointierten Beitrags soll gezeigt werden, wie historische Vorstellungen zum musikalischen Lernen von einem selbsterlebten, reproduzierenden Normalfall geprägt werden, der sich zudem trefflich in die normierenden Sanktionen formaler Lernprozesse in der heutigen allgemeinbildenden Schule pressen lässt.
Betrachtet werden soll dies an musikdidaktischen Konzeptionen zum Musikunterricht an allgemeinbildenden Schulen, instrumentalpädagogischen Lehrwerken, aber auch an Situationen an außerschulischen Lernorten. Vorherrschend ist hier immer noch ein Beibringemodus, dessen Verwurzelungen weit über eine notwendige Inventur des instrumentalen Lernens hinausweisen und sich als Reflex einer „Disziplinargesellschaft“ (Foucault 1994) erweisen werden.
Eine Revision scheint hier nur möglich, wenn man sich nicht einerseits auf elementare Formen des Lehrens und Lernens besinnt und sich das Lehren und Lernen nicht vorrangig am Perfektionieren maschineller Arbeitsprozesse und ihrem Funktionieren anlehnt, wenn anderseits das Improvisieren nicht als randständige Erscheinung des Vermittelns konturiert, sondern bereits im Rahmen der künstlerischen Ausbildung erfahren wird, um dann im Musikunterricht authentisch erlebt werden zu können.

Allein weil sie nicht wußte, welche Richtung sie ging,
hat die Menschheit ihren Weg gefunden.
(Oscar Wilde, zit. n. Haffmans 2010:39.)

Die Komposition, als das Ausgearbeitete, schriftlich Fixierte, Geschaffene, und die Improvisation, als jene Tätigkeit, die spontan und aus dem Moment heraus, eben aus dem Stegreif hervorgebracht wird, scheinen in der Musik wie zwei gegensätzliche Welten aufeinanderzustoßen. Wer sich „ernsthaft“ mit Musik beschäftigt, der meint, eine musikalische Aktion müsse sorgsam geplant und makellos ausgeführt werden. Es geht ihm schließlich um Perfektion – und das betrifft sowohl den schöpferischen Kompositionsprozess als auch den der Reproduktion einer Partitur. Wer es dagegen wagt, sich mit dem Ungeplanten und Unvorhersehbaren zu beschäftigen, der stellt dies in Frage. Musik ist in der ersten Position eben keine Stegreif-Kunst, und bedient man sich ihrer als eine solche, dann schwingen immer einschränkende, wenn nicht gar abwertende Konnotationen gegenüber der zweiteren Position mit.

Musik aus dem ‚Stegreif‘

Das Wort Stegreif stammt aus dem Althochdeutschen (stegareif, stiegereif); was heute zum geflügelten Wort geworden ist, gründet sich also aus einer veralteten Bezeichnung für den Steigbügel am Pferdesattel. Will man die Redewendung ‚aus dem Stegreif‘ heute noch rein wörtlich verstehen, dann beschreibt sie also ein Tun, ohne dabei vom Pferd zu steigen: „Aus dem Stegreif die Reime zu machen, wie leicht war das!“, verkündet Johann Wolfgang von Goethe, und Gotthold Ephraim Lessing bekennt: „Jedes große Genie redet alles aus dem Stegreif“ (jeweils zit. n. Röhrich 1994:1532). Stegreifentwürfe begleiten heute noch das Architekturstudium, in der Schule kennen Lehrkräfte die Stegreifaufgaben nur noch in Bayern. Hier bezeichnen sie das nie ablehnbare und oft gefürchtete Angebot, den Stoff der letzten (Realschule) beziehungswiese der letzten zwei (Gymnasium) Schulstunden schriftlich, aber eben aus dem Stand heraus, zu repetieren. Eingeführt wurde solch ein skriptum extemporale (heute in Bayern auch kurz und mehrdeutig als Ex bezeichnet) vom Leipziger Rektor der Thomasschule Johann Matthias Gesner zu einer Zeit, als der ihm untergebene Kollege Johann Sebastian Bach sich im Wochenrhythmus an handwerklichen Routinen der Predigtstoffe abzuarbeiten hatte, diese Kantaten zwar schriftlich fixierte, dabei wohl aber oft von der Hand in den Mund lebte, man könnte auch sagen, ein skriptum extemporale komponierte: Stets hat er seine Werke umgearbeitet, Wiederaufführungen wurden an aktuelle Gegebenheiten angepasst. Die Musik blieb für ihn im Fluss, jede Komposition eine augenblickliche Momentaufnahme, eine ‚Stegreifmaßnahme‘. An einmalig geschaffene Werke, die alle Zeiten überdauern, dürfte Bach selbst wohl nie gedacht haben. Ein enzyklopädisches Spätwerk wie die Kunst der Fuge, das sich mit dem vergänglichen Wissensstoff seiner Zeit systematisch auseinandersetzt, bestätigt als Ausnahme hier nur die Regel.

Die aus dem Stegreif geschaffene Musik wird für Carl Dahlhaus mit der „abgegriffenen Vokabel“ Improvisation bezeichnet, als „Sammelname für musikalische Phänomene, die man aus dem ein oder anderen Grunde nicht Komposition nennen möchte“ (Dahlhaus 1979:9). Das schwarz auf weiß Niedergelegte wird zum Maßstab erklärt, es stellt sich dar als ein gesicherter Wert – auf Kosten nicht-fixierter Musik und mitunter auch auf all jenem, das sich mit unseren spärlichen Notationszeichen nicht fixieren lässt, um damit zur Nebensache erklärt zu werden: Sound und Klangfarbe bleiben die bis heute vernachlässigten Parameter, auch wenn sie bisweilen für so manche musikalische Praxis das Eigentliche ausmachen: „Der Geist erscheint der Musikwissenschaft bevorzugt auf Papier, sie hält sich an das Werk. Über den Weg zum Werk kann sie nur Angaben machen, wenn er ebenfalls auf Papier, also in Skizzen, niedergelegt ist“ (Uehling 2000:21).

Ein Erstarken der Improvisationskunst bedeutet für Carl Dahlhaus ein regelrechtes Drohszenario, weil ein solches zum „Zerfall des Kompositions- und Werkbegriffs“ führen könnte, was „nichts geringeres bedeutet, als dass die zentrale Kategorie der europäischen Musik eines halben Jahrtausends preisgegeben würde“ (Dahlhaus 1972:496). So gilt für Dahlhaus eine unumstößliche, nicht zu hinterfragende Gewaltenteilung: Eine Komposition „ist ein in sich geschlossenes, individuelles musikalisches Gebilde […] welches ausgearbeitet und schriftlich fixiert wird, um aufgeführt zu werden, wobei das Ausgearbeitete […] sich im Bewußtsein des Hörers konstituiert“ (Dahlhaus 1979:10f.). Die Rede ist von der Schriftkultur, nicht aber davon, dass der mitgedachte Urtextgedanke kein tausendjähriges Reich der Tonkunst manifestiert, sondern ein relativ junger ist und es noch im 19. Jahrhundert für die Interpretierenden zum guten Ton gehörte, als Bearbeitende der eigenen oder fremden Werke aufzutreten. Und die Musik des 20. Jahrhunderts lehrt uns, dass durch Musik, deren Substrat nicht mehr die Partitur, sondern wie im Falle der Musique concrète eine technisch produzierte Aufnahme ist oder neue Notationspraxen, die ein Werk ins Offene führen, nicht nur das Verhältnis der beiden Pole betrifft, sondern die von Dahlhaus protegierte Werkidee längst in Frage stellt.

Zudem ließ sich immer schon auch Musik schaffen, ohne dabei vom Pferd zu steigen. Was bei Dahlhaus eben auch immer (ab-)wertend mitschwingt, resultiert aus seiner einseitig hochmütigen Perspektive einer sich abendländisch gebenden Opuskultur, die sich gerne als weltweite lingua franca verstehen möchte und dabei leicht verkennt, dass es durchaus musikalische Praxen gibt, die ausschließlich aus dem Stegreif, eben auf dem hohen Ross, entstehen: Für die klassische indische Musik beispielsweise gelten andere Hierarchieebenen: „Es ist traditionellerweise der gottgleiche Guru, der den Musik Lernenden das Improvisieren beibringt“ (Kurt 2008:27). Und nie wird sich ein Mitglied eines stets auf Augenhöhe kommunizierenden Jazzensembles in eine Komponierstube begeben wollen, die hochhängenden Trauben lassen sich hier nur im Kollektiv und schon gar nicht sitzend in einer Schreibstube pflücken. Dass solche aus gemeinsamer Arbeit hervorgehenden Improvisationen keineswegs aus der Luft gegriffen sind, sondern aus einem komplexen System hervorgehen, weiß nur der von Theodor W. Adorno als Ressentiment-Hörer betitelte „Jazz-Experte“ zu beurteilen. Für ihre Verächter*innen bleibt diese Musik in „der simpel-standardisierten Formgestaltung in engstem Umkreis befangen“ (Adorno 1997:190f.). Deutlich wird, dass im Zusammenhang von Komposition und Improvisation nicht nur von verschiedenen Denkkulturen in unterschiedlichen musikalischen Praxen gesprochen wird, sondern dass hier immer dann hierarchisch argumentiert wird, wenn von abendländischen Errungenschaften einer Hochkultur die Rede ist.

Blickwechsel: Komposition und Improvisation in der bildenden Kunst

In der bildenden Kunst stehen Komposition und Improvisation in einem anderen Zusammenhang, der hier zunächst entfaltet werden soll, um dann vor diesem Hintergrund auf den musikalischen Schaffensprozess näher einzugehen. In der Kunst kann ein einmal geschaffenes Werk Raum und Zeit überdauern, es liegt geschlossen vor, um immer wieder neu betrachtet zu werden, auch wenn jede Auseinandersetzung mit dem Dauerhaften zu neuen Entdeckungen führt, die dann im Auge der Betrachtenden liegen. Wassily Kandinsky, der als Synästhetiker selbst von sich sagt, dass er Musik hört, wenn er Farben sieht, gar von Farbklängen oder ganzen Farbsymphonien spricht, die er wie die Tastatur eines Klavieres einsetzt, um damit Vibrationen in der Seele zu erzeugen, betitelt seine Werke mit Improvisation, Komposition und Impression und teilt sie damit quasi in Werkgruppen ein: Äußere Eindrücke bezeichnet er als Impression; das quasi Unbewusst-Plötzliche der Improvisation steht dem Sich-Bewusst-Gemachten der Komposition gegenüber, wenn sich auch beides in der unverrückbaren Rahmung eines geplanten Werkes manifestiert. Es handelt sich also nicht um Grade der kompositorischen Ausarbeitung, nicht um einen unidirektionalen Weg vom Einfall zum Kunstwerk beziehungsweise von der Improvisation zur Komposition, sondern um verschiedene Ebenen, um gleichberechtigte Stufen des Bewusstseins. In der Beschäftigung mit Musik werden uns solche Gedanken zum Schaffensprozess, ein sich ins Bewusstsein drängendes Unbewusstes, wieder begegnen.

Was nun Musik und Literatur von den Werken der Architektur und der bildenden Kunst grundlegend unterscheidet, ist, dass die flüchtigen, weil in der Zeit verlaufenden, Künste verschiedene Aggregatzustände annehmen müssen, um überhaupt hervorgebracht werden zu können. Solch eine Trennung zwischen Schöpfenden und Nachschöpfenden kennen wir aus der bildenden Kunst nicht; niemand käme hier auf die Idee, einen Interpretationswettbewerb für Alte Meister auszurufen, solche „Interpretationen“ gelten als Fälschungen. Einen schriftlich fixierten Notentext hingegen gilt es immer wieder vorzutragen, um ihn in seiner klingenden Entfaltung seiner eigentlichen Bestimmung zuzuführen. Dabei trifft die „Objektivität des Textes“ auf die „Spontaneität des Spielers“ (Adorno 2005:114). Dass solch ein Neuschaffen stets den Charakter einer Improvisation annimmt und dem verbürgten Notentext ein immer neu klingendes Gewand anlegt, bleibt Adorno ein Dorn im Auge. Fest steht jedoch, dass jede Interpretation den Charakter einer Improvisation allein schon deshalb annehmen muss, weil sich überhaupt nur ein Bruchteil der Musik schriftlich fixieren lässt und zudem – gerade auch in der Alten Musik – immer auch improvisatorische Momente in das Spiel eingehen. Auch wenn Adorno die Aufgabe der Interpretation gerne auf das Nachgestalten der schriftlichen Hinterlassenschaften eindampfen würde, die eigentliche Botschaft der Musik im Notentext ausmachen möchte, im „Ideal stummen Musizierens“, im „Lesen musikalischer Texte“ (Adorno 2005:11), um auf die Unvollkommenheiten der real klingenden Interpretation gänzlich zu verzichten.

Improvisationen in der Musik berufen sich auf vorgehaltene Muster, die sie nachgestalten, niemand steht hier vor einer weißen Leinwand: So gehört es für Stegreifimprovisateur*innen an der Orgel zur liturgischen Praxis, sich flexibel in das Geschehen der Liturgie einzuwohnen, um dabei gleichzeitig den Anschein eines abgeschlossenen Werkes zu erwecken: „Was wollten doch die Herren Organisten anfangen, wenn sie nicht aus eignem Sinn in ihren Vor- und Nachspielen fantasiren könnten? Es würde ja lauter höltzernes, auswendig-gelernetes und steiffes Zeug herauskommen. […] Wie offt unterhält nicht ein fertiger Violinist (andrer Instrument-Spieler zu geschweigen) sich und seine Zuhörer auf das allerangenehmste, wenn er nur bloß und gantz allein fantaisiret?“ (Mattheson 1739:87f.).

In der Romantik gehörte es hingegen zum ästhetischen Programm, die geschlossene Form zu brechen, das Unabgeschlossene, das Fragment, und eben auch das Improvisatorische zum Ideal einer Komposition zu machen. Sei es, um mit Kandinsky zu sprechen, um das Innere, Unbewusste nach außen zu kehren, oder sei es, weil die großen Formen als etwas Abgeschlossenes und damit auch als zu Ende gedacht gelten, wie der fiktive Wendell Kretzschmar es im Doktor Faustus an Beethovens Spätwerk erläutert (Mann 1990:77). „Quasi improvisato“ liest man in Liszts Klavierwerken. Hier richtet er es sich so ein, dass man ihm beim Improvisieren zuhört: „Der Komponist bietet dem Publikum bei weitem nicht nur Fertigprodukte und industrielle Artikel, sondern wagt es auch, ganz laut zu denken und gewissermaßen vor Zeugen zu arbeiten: Wir treten in die Schmiede selbst ein, in der das Schmiedefeier arbeitet, in die Werkstatt, in der das Werk selbst hergestellt wird. Das Interesse verlagert sich vom abgeschlossenen Werk zum Vorgang, von der bestimmten Form zur unbestimmten und bestimmenden Formung, vom Ergebnis im Passivpartizip der Vergangenheit zum suchenden Verfahren und zum Entwicklungsweg selbst, der zu diesem Ergebnis führt“ (Jankéléwitch 2020:156).

Musik als flüchtige Materie

Was nun die unsterblichen Werke der Musik mit den vergänglichen Schöpfungen der Architektur eint, ist eine ähnliche ontologische Ausgangslage, die sich von der eines Gemäldes unterscheidet. In der Musik wie in der Architektur gibt es eine Partitur bzw. einen architektonischen Bauplan, also eine künstlerische Idee: „Der Klang schickt Zeichen voraus, die ihn hervorrufen: die Noten. Der Komponist notiert einen Rahmen, in den hinein Musik sich begibt; definiert durch die jeweilige Maniera des Komponisten, nimmt sie die Gestalt an, die der Rahmen freiläßt“ (Rihm 1997:152). Architektonische Baupläne der beiden Gestaltungskünste werden dann an die jeweiligen Expert*innen-Teams delegiert, um nun von Handwerker*innen und Steinmetz*innen zur Ausführung und Aufführung gebracht zu werden. Musikalische Bauwerke können dabei überdauern, indem sie im Hier und Jetzt immer wieder neu belebt werden, ein architektonisches Bauwerk hingegen besteht ausschließlich in seiner einmalig geschaffenen Substanz, die dann den strengen Auflagen des Denkmalschutzes obliegt. Wird es zerstört, gilt es als verloren, auch wenn der Bauplan erhalten geblieben ist.

Dass nun Musik ausschließlich von hochspezialisierten Kunsthandwerker*innen und nicht von den Architekt*innen selbst zur Aufführung gebracht wird, ist eine neuere Erfindung und hängt sicher auch damit zusammen, dass in den Konservatorien um die Mitte des 19. Jahrhunderts die schöpferischen Tätigkeiten aus dem allgemeinen Fächerkanon ausgeschieden sind: „Konnte es bis dahin noch als Regel gelten, dass ein angehender Musiker neben seiner Instrumentalausbildung gleichrangig auch in Harmonielehre und Kontrapunkt unterrichtet wurde und die in diesen Fächern erworbenen Fähigkeiten sowohl am Instrument – in Form der Improvisation – als auch durch eigene Kompositionen zum Ausdruck brachte, kam es nach der Jahrhundertmitte mehr und mehr zu einer Verlagerung der Gewichte: Sofern er sich nicht ausdrücklich als Komponist verstand, wurde der Adept vorrangig als reproduzierender Instrumentalist ausgebildet, während die ursprünglich praktisch ausgeübten Kompositionsfächer zu theoretischen ‚Nebenfächern‘ (auch ‚Pflichtfächer‘ genannt) mutierten oder – im Falle der Improvisation – ganz wegfielen. Das Komponieren erhielt damit den Status einer Spezialistentätigkeit, die nur einigen wenigen ‚Experten‘ vorbehalten blieb“ (Lessing 2011:15).

Der*Die Komponist*in als Vize-Gott

Die Gewaltenteilung zwischen schöpferischem und reproduzierendem Handeln, verbunden mit einem stereotypen, mystifizierenden Bild von Tonschöpfer*innen, welches quasi göttliche Züge annimmt, ist auch Resultat einer Ästhetik, die die Kunst zum Religionsersatz und Wolfgang Amadeus Mozart zum Vize-Gott machte. Ein Gott improvisiert nicht! Nach sechs Tagen wohlfeiler Arbeit, „die Gott zu tun geplant hatte“ (Gen. 2, 3), konnte die Erde nicht anders als gut sein. Wir Menschen, modelliert nach einem festen Entwurf, haben ebenso planvoll zu handeln, Zielvorgaben und Handlungspläne zu entwerfen und uns an den selbstgegebenen Kompetenzrastern zu orientieren (Kurt 2008:18). Gott schuf die Menschen nach seinem Bilde, mit dieser biblischen Schöpfungsgeschichte wird vermittelt, was es heißt, vom Meister belehrt zu werden. Musikalische Kompositionen, zum Teil als göttliche Eingebungen verklärt, entstehen nicht probierend, improvisierend am Klavier, sondern sind stets das Resultat einer geistigen Tätigkeit: „Angesichts der Vielfalt von Erscheinungsweisen, die Individuen zugebilligt wird, verblüfft ein ausgesprochen stereotypes Bild, das vom Künstler existiert. In kräftigen Farben spiegelt es ein Bewußtsein der Distanz des Künstlers zum alltäglichen Leben wider. Er wird gezeigt als ein Sich-berufen-Fühlender, ein ständig Ringender, der nicht selten dem Wahnsinn verfällt, der ob seiner dämonischen Besessenheit Probleme mit sozialen Beziehungen hat und am Ende seines Lebens verkannt, vereinsamt und elend in einer Dachkammer zugrunde geht. Die Vorstellung, daß der Künstler nicht von dieser Welt sei, fixierte der Künstlerroman des 19. Jahrhunderts als eine vorbildliche Existenzform. […] Für Maler oder Musiker, die Werke von absoluter Bedeutung schufen, schien in der irdischen Welt kein angemessener Platz zu sein“ (De la Motte-Haber 1996:340).

In der Zeitschrift Der Klavier-Lehrer lesen wir von einem Autor, der sich nur durch seine Initialen Fl. G. zu erkennen gibt, dass man beim Komponieren vom Klavier besser die Finger lasse: „Obschon das Piano dem Komponisten von grösstem Nutzen, ja unentbehrlich ist, indem es ihm dazu dienen kann, seine Schöpfung mit Händen zusammenzufassen, so ist es doch nicht rathsam, sich desselben während der Arbeit selbst zu häufig oder gar ganz zu bedienen. […] Aber das ist ja eben die Gefahr, dass dann die Komposition gleichsam aus den Händen wächst und nicht frei aus dem Haupte entspringt, woher sie kommen soll. Man wird daher wohl thun, den angehenden Künstler mit Strenge von dem Instrumente fernzuhalten, wenn er nicht auf einem dilettantischen Standpunkte stehen bleiben soll“ (Der Klavier-Lehrer 1878:298). Wen wundern solche mahnenden Worte, wenn die allermeisten Nutzer*innen ihr Klavier ohnehin als eine reine Reproduktionsmaschine kennengelernt haben? Für Tonschöpfer*innen scheinen strengere Regeln zu gelten, als für jene schon erwähnten Brüder und Schwestern im Geiste, die vor der sowieso weißen Leinwand ihren Intuitionen freien Lauf lassen oder die sich ausschließlich mit der profanen Schriftsprache befassen, und die den haptischen Akt des Schreibens als einen wichtigen Teil des Kompositionsprozesses begreifen, als einen Katalysator, bei dem wichtige Gedanken befördert werden oder der sie überhaupt erst entstehen lässt. „Ich denke tatsächlich mit der Feder, denn mein Kopf weiß oft nichts von dem, was meine Hand schreibt“ (Wittgenstein 1977:473).

Der Komponist Max Reger hielt sich an die ihm auferlegten Regeln der Kunst, zumindest wenn er vor Publikum, wie hier vor seinem Bewunderer, dem berichtenden Musikkritiker Alexander Berrsche, komponierte: „Reger war noch bei der Arbeit. Er drohte mit dem Finger, deutete auf seine Uhr und sagte: ‚Jetzt müssen S‘ halt warten … aber die paar Takte laß ich nimmer aus. Setzen Eahna halt her zu mir. Mögen S’an Kaffee?‘ Ich setze mich zu ihm an den Biedermeiersekretär, und ehe ich die Zigarette richtig angezündet hatte, war er schon wieder beim Schreiben. Eine Riesenpartitur lag vor ihm, und über die Linien flogen die klaren und festen Züge seiner Handschrift in erstaunlicher Eile. Dazu sagte er halb zu mir, halb zu sich: ‚Jawohl, da lassen wir d‘ Klarinetten scheinbar mitgehen, aber an besonderen Kontrapunkt kriegt’s halt doch noch.‘ In dieser Art ging es weiter, ganz ruhig und mit der heiteren Sicherheit eines spielenden Kindes, und während er die Seite zu Ende schrieb, sah ich auf einmal, daß er keinerlei Entwürfe […] vor sich hatte. ‚Ja Herr Reger‘, platzte ich heraus, ‚haben Sie denn kein Konzept?‘ – ‚Konzept? Das habe ich im Kopf.‘ Er schrieb wirklich direkt ins Reine und war erstaunt, dass ich mich darüber zu wundern schien“ (Wirth 1973:7). Und Reger selbst bedient alle Klischees in seinem Selbstbild, wenn er sich als ein planvoller Schöpfer gibt: „Jahrelang reift ein Werk in meinem Hirn. Über kurz oder lang platzt die Geschichte, und ich sitze eines Tages am Schreibtisch und schreibe Noten“ (zit. n. Stein 1939:85). Rainer Cadenbach hat Regers Weg vom ersten Einfall zum Kunstwerk genauer nachgezeichnet, seinen Umgang mit den nicht immer sorgsam verbrannten Skizzen als notierte Momentaufnahmen analysiert und die inszenierten Flunkereien des Komponisten zumindest gründlich hinterfragen können (Cadenbach 1988).

Gegenüber einem Komponieren im Wolkenkuckucksheim, wo fernab einer musikalischen Praxis Handlungswerke komponiert werden, die nach genauen, verstandesmäßigen Planungen zu realisieren sind, lässt sich das Verhältnis von Komposition und Improvisation auch im Sinne von Carl Dahlhaus als „eine Skala von Möglichkeiten“ beschreiben, „eine Skala, auf der es sozusagen nichts als Übergänge und Zwischenformen gibt“ (Dahlhaus 1979:15). Und auch hier gibt Max Reger ein beredtes Zeugnis, wenn er sich beim Spiel seiner eigenen Kompositionen nicht mehr an die vermeintlich allein im Kopf zur Hirnreife gebrachten Kompositionen erinnerte und Abweichungen gegenüber entsprechend kommentierte: „Schaugn’s dös kommt halt aufs Gleiche hinaus“ (zit. n. Unger 1991:69). Und wenn der Komponist gänzlich unpässlich war, behalf er sich mit einem Wurf aus dem Stegreif: „Auf dem Programm war die Zwischenmusik angekündigt: op. 115 Episoden (2händig). Reger, der nie auswendig zu spielen pflegte, hatte mir vor dem Konzert gesagt: ‚Lieber Freund, i hab mei Noten vergessen‘ und überraschte die Zuhörer mit einer wundervollen Improvisation“ (zit. n. Schreiber 1989: 119).

Wie nun das Komponieren aus einer improvisatorischen Praxis herauswachsen kann, wenn sich das am Klavier klanglich Skizzierte im ausgearbeiteten Notat festigt, lässt sich an den Überlieferungen zu Joseph Haydns Arbeitsweise verfolgen. Das Klavier dient ihm nicht als Behelf, um sich Klänge zu veranschaulichen, er denkt zwar nicht wie Ludwig Wittgenstein mit der Schreibfeder, aber eben mit seinen Fingern. Den Anweisungen der Zeitschrift Der Klavier-Lehrer, der selbsternannten musikpädagogischen Zeitschrift „für alle Gebiete der Tonkunst“ aus dem Jahre 1877, musste er glücklicherweise noch nicht Folge leisten: „Um acht nahm Haydn sein Frühmahl. Gleich nachher setzte er sich an das Klavier und phantasierte so lange, bis er zu seiner Absicht dienende Gedanken fand, die er sogleich zu Papiere brachte: so entstanden die ersten Skizzen von seinen Kompositionen. […] Um vier Uhr ging er wieder an die musicalische Beschäftigung. Er nahm dann die des Morgens entworfene Skizze und setzte sie in Partitur, wozu er drey bis vier Stunden verwendete“ (Dies 1810:211f.).

Komponieren als schulische Ordnungswidrigkeit

Beschäftigen wir uns nun vor dem Hintergrund eines hier diskutierten gefundenen Verhältnisses von Komposition und Improvisation mit musikalischer Bildung und stellen diese Überlegungen dann in den Kontext absichtsvollen Handelns im Rahmen formaler Lernprozesse, so arbeiten wir uns immer noch an dem beschriebenen Gepäck der abendländischen Opuskultur ab, das dann auf die wenig zuträglichen Unterstützungsmaßnamen im System der Schule trifft.

Denn folgen wir Theodor Litts auf dem ersten Blick sehr weitgefasster Definition von „Bildung“, dann kann ein Mensch als „gebildet“ bezeichnet werden, wenn es „ihm gelungen sei, in dem Ganzen seiner Existenz, in der Mannigfaltigkeit der in ihm vereinigten Gaben, Möglichkeiten, Antriebe, Leistungen eine gewisse Ordnung herzustellen, die das eine zu dem anderen in das rechte Verhältnis setzt und sowohl die Überbetonung als auch die Unterdrückung des Besonderen verhütet. Nun kann aber der Mensch nie und nimmer in sich selbst Ordnung stiften, sei es denn, daß er auch seine Beziehung zur Welt in angemessener Weise geregelt habe. Nehmen wir das eine mit dem anderen zusammen, so dürfen wir als ‚Bildung‘ jene Verfassung des Menschen bezeichnen, die ihn in den Stand setzt, sowohl sich selbst als auch seine Beziehungen zur Welt ‚in Ordnung zu bringen‘“ (Litt 1959:11). Alltägliches pädagogisches Handeln scheint erst dann wirklich die gebotene Kontur zu bekommen, wenn zielkonkretisierende Maßnahmen dem Lernen eine Rahmung stiften, planvolles Handeln sinnvoll strukturiert wird, wie man es von klein auf in den biblischen Schöpfungsbericht in der Kinderbibel hineinlesen kann und es dann im Pädagogikstudium immer wieder betont wurde: Bildungspläne, Methodenprogramme, Stoffverteilungspläne und Kompetenzimperative bilden hier nur die äußere Hülle einer Endlosspirale schulischen Ordnens und Optimierens. Im Inneren, in der Systematik des Faches, sind es die ordnungsstiftenden Maßnahmen der Formenlehre und der musikalischen Analyse, gekrönt von den Epochen der Musikgeschichte. Die oft spärlich erlebte musikalische Praxis bildet sich in den Reproduktionsmechaniken ab, wie wir sie in unserer eigenen Instrumentalsozialisation aufgesogen haben und nun in den Unterweisungen des schulischen Lernprogramms selbst fortschreiben. Praktizierende sind es in ihrer musikalischen Praxis gewohnt, die Finger vom risikobehafteten Komponieren zu lassen und dieses stets den großen Meister*innen zu überlassen. Jedoch lassen sich in den Unterricht auch kleine Gestaltungs- und Erfindungsaufgaben einfügen, die dann nicht ihren ästhetischen Eigenwert entfalten, sondern eher die Auseinandersetzung mit entsprechenden Referenzkompositionen vorbereiten. Damit unterscheidet sich der schulische Musikunterricht weder vom Instrumentalunterricht an den Musikschulen, die Fächer wie Komposition oder Musiktheorie als Ergänzungsfach anbieten, noch von den Tonsatzübungen in den Begleitfächern an Hochschulen und Universitäten: „Während das Erlernen zum Drücken von Tasten zum Erreichen einer möglichst fehlerfreien Wiedergabe von komponierter Musik als Hauptfachtätigkeit angesehen wird, gilt das Erlernen des Herstellens eben dieser Musik als Ergänzung. Mozart: ein Ergänzer. Beethoven auch“ (Beck 2020:54f.).

Das Interesse an der Komposition ist zwar in den letzten Jahren gestiegen, an einer curricularen Verankerung im schulischen Musikunterricht muss aber noch gearbeitet werden. Experimentelles Komponieren und Improvisieren wird in Education-Programme ausgelagert, ist Bestandteil von Projektarbeit. Entlarvend ist dabei, dass sich solch eine Gestaltungsarbeit vornehmlich in den Curricula der Grundschulen verankert finden. Hier darf man sich in der pädagogischen Breitenarbeit noch kreativ entfalten und im eigenen Wahrnehmungskosmos bewegen. Dies weckt Erinnerungen an entwicklungstheoretische Annahmen aus dem frühen 20. Jahrhundert, so sieht Ernst Ferand in Die Improvisation in der Musik die Improvisation als kindlich, die Komposition als erwachsen an. Angewandt auf Kulturen wird dies zu jener bedenklichen ethnozentristischen Perspektive, an der sich Musikunterricht bis heute noch abzuarbeiten hat. So setzt Ferand „der triebhaften, wild wuchernden Phantasie des Morgenlandes“ eine „männliche Komponente des ordnenden lateinischen Intellekts entgegen“ (Ferand 1938:84). Blickt man heute in beliebige Schulbücher, so wird Musik anderer Kulturen immer in alibimäßig erscheinenden Randkapiteln verhandelt. In unsere Vorstellungen vom musikalischen Lernen ist solch ein lateinischer Intellekt bis heute immer noch fest eingegraben. Das Orff-Schulwerk wirkte hier in seiner ganzen Ambivalenz, wenn mit pentatonischen Tongruppen als Vorstufe zur Dur-Skala und damit im Sinne einer traditionellen Musiktheorie gearbeitet wird. Diese Tradition schreibt sich bis heute weitgehend fort.

Auch die jüngst neu eröffnete Vision eines „Musikunterricht[s] im Modus des Musik-Erfindens“ (Kranefeld/Voit 2020) konzentriert sich bisher weitgehend auf den Ist-Stand bestehender Projektarbeit. Es bleibt ein musikpädagogisches Vakuum, wie sich ein entsprechendes musikalisches Vokabular entwickeln kann, wie Techniken erlernt werden, wie sich ein Verständnis für Formgestaltung ausbilden kann, um sich dann zudem noch den Kontexten zu anderen Handlungsfeldern des Musikunterrichts zu öffnen. Das gilt im Besonderen, wenn Formen des Improvisierens eingebunden werden und mit der Vorgabe gebrochen wird, dass es in der Musik immer darum gehen müsse, von Meister*in zu Meister*in belehrt zu werden. Aufbauende Lernprogramme, die das nötige theoretische Rüstzeug voraussetzen und Gestaltungen auf dieser Basis zulassen, sind immer noch weit verbreitet. Sie zeigen sich in manchen Bundesländern als einzige Denkkultur, wenn sich ein kreativer Zugang im Rahmen einer Abiturprüfung darauf beschränkt, eine tonale [sic!] Melodie zu einem gegebenen Text zu gestalten. Nicht nur in diesem Fall scheint es so, dass die historische Musikwissenschaft und eine eurozentristische Musiktheorie unsere einzige Bezugsdisziplin geblieben ist: „Die Clavierkunst wird mehrenteils in 4 Theile abgetheilet. Der Generalbaß ist der erste; die Wissenschaft den Choral zu spielen der zweyte; die sogenannte italiänische Tabulatur die dritte; das Fantasiren, oder das Spielen aus eigener Erfindung die vierte. Es ist aber nicht die Meynung, als müßten sie in dieser Ordnung einander folgen, und man müßte mit dem einen erst fertig werden, ehe man sich an den folgenden wagt“ (Adlung 1758: 625). Bis heute folgt musikpädagogische Praxisliteratur solchen Rezepturen (etwa Riede 2003).

Plädoyer für eine neue Schulkultur

Experimentieren, Improvisieren zielt auf ein unvorhersehbares Tun, das sich eher an eingewohnten Gepflogenheiten, und zwar jener, die alle Lernenden in ihren Gestaltungsprozess einbringen, orientiert: Eine Ausgangsaktion führt zu Anschlüssen, die verworfen oder weiter ausgearbeitet werden. In Gruppenprozessen geht es dann auch immer darum, wie sich andere zu einem ersten Entwurf verhalten, ihm gerecht werden, indem sie ihn weiterführen, spiegeln, ausformulieren, konkretisieren. Die Komposition ist dann das Ergebnis eines Aushandlungsprozesses, der im freien Experiment beginnt und sich in einer Komposition verdichtet, auch wenn diese nicht notiert wird, sondern sich als innerer Besitz einer Gruppe festigt und von dieser in den angemessenen Polen zwischen Gebundenheit und Freiheit auch jederzeit reproduziert werden kann. Wenn Ideen durch das Nadelöhr der Notation gezwängt werden, geht das Herz, die Seele leicht verloren. Deutlich wird dies, wenn die englischen und französischen Begriffe für das Auswendigspielen vergegenwärtigt werden: ‚Playing by heart‘ oder ‚Jouer par cœur‘. Wo in diesen Arbeitsprozessen intuitive Erfindung aufhört und rationale Ausarbeitung anfängt, die zugleich in eine Probenarbeit mündet, lässt sich hier nicht so einfach ausmachen, wie die bestimmende Musikwissenschaft sich das für den Arbeitsprozess eines Joseph Haydn wünscht. Komponieren in der Gruppe bedeutet zudem, dass sich hier jede*r Einzelne immer wieder neu erfinden muss. Die Auseinandersetzung mit Referenzkompositionen kann diesen Prozess begleiten, ohne dass zu diesen hingeführt wird oder sie gar den Ausgangspunkt zum eigenen Tun bilden.

Solch ein Unterrichtsszenario, das hier nur angedeutet werden soll, verschlingt viel von jenem Parameter, der in der Schule am strengsten verwaltet wird, nämlich die Zeit: In den täglichen Optimierungsszenarien und der Suche nach einer Ordnung der Dinge bleibt selten die Zeit, um einmal vom Pferd zu steigen, zumal in einem randständigen künstlerischen Fach, das oft nur einstündig oder epochal angeritten wird. Kulturelle Bildung bleibt in der Schule leider oft nur eine Kryptowährung und dient nicht als Anlagegut, mit dem sich unser jugendliches Humankapital auf die Welt von morgen vorbereiten darf. Für die zerbrechlichen Vorgänge des Improvisierens und Komponierens gilt das in besonderem Maße. Thomas Taxus Beck möchte in seinem Plädoyer für kreative Gestaltungsarbeit auch jenen „Sachdienliche Hinweise für Schule und Musikschule“ geben, die sich noch an den überkommenen aber immer noch tradierten Konventionen abarbeiten: „Nicht alle Komponist*innen sind von der Welt isolierte Einzeller, die als genialistische Asketen in muffigen Kellerräumen oder zugigen Dachgauben hausen und à la Spitzweg vergeistigt vor sich hin schöpfen. Oder als menschenfeindliche Misanthropen jegliche Berührung mit der niederen Gattung Homo sapiens vermeiden“ (Beck 2020:59).

Ein Musikunterricht, der sich als ein solcher im Modus des Erfindens bezeichnen möchte, muss Anschlüsse suchen zu anderen Handlungsfeldern und das Gestalten nicht nur einbetten in die Ganzheit des Musikunterrichts, sondern auch in die der eigenen Lebenserfahrung. Hier gilt es, sich auf elementare Formen des Lernens zu besinnen (Oberschmidt 2021b) und aufzubauen auf das, was die jungen Lernenden in ihren Unterricht einbringen (Richter 2008).

Musikunterricht darf sich nicht auf Werke und damit auf Ergebnisse schöpferischer Prozesse verengen und damit einen einseitigen Musikbegriff bemühen, der die Aspekte direkter Kommunikation der Menschen mittels Musik außer Acht lässt. Das Streben nach einer totalen Kontrolle und Operationalisierbarkeit des musikalischen Lernens, der vorauseilende Gehorsam, den Musikunterricht systemrelevant in ein System Schule zu stellen, hat den Musikunterricht in eine Sackgasse geführt (Oberschmidt 2022). Dass Schule sich der Instrumente eines Überwachungsstaates bedient, ist eine alte Geschichte und inzwischen lange Erzählung: Michel Foucaults Buch über „Überwachen und Strafen“ beispielsweise macht die uralten Gründe unserer modernen Disziplinargesellschaften aus und exemplifiziert dies am Beispiel des Militärs, des Gefängnisses und eben explizit auch der Schule (Foucault 1994). Heute erinnern manche Diskussionen über das permanente Optimieren, Verwalten und Buchhalten in Form von Kompetenztabellen an serielle Kompositionstechniken, die mit dem Streben nach einer Kontrolle über alle musikalischen Parameter das Wesentliche der Musik verloren haben. Eingeleitet wurde damals der Umschlag unter anderem durch eine Improvisationsbewegung in den 1970er Jahren, die sich auch gegen das Kultur-Establishment stellte und gerade bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik kontrovers ausgetragen wurde. Für den Musikunterricht bedeutet dies, dass er sich immer mit notwendigen Überschreitungen auseinandersetzen muss: mit Überschreiten von Genre-Grenzen, eigenen Traditionen, von Grenzen zwischen den Kontinenten, etwa durch Einbindung mündlich überlieferter Traditionen der Kunstmusik anderer Kulturen, mit ihren philosophischen und spirituellen Einflüssen. Die Diskussion über Improvisation, Komposition und den Platz, den die kreative Gestaltungsarbeit, die Auseinandersetzung mit eigenen Vorstellungen, Deutungen, Sinnzuschreibungen im Musikunterricht an allgemeinbildenden Schulen einnehmen soll, führt weit über curriculare oder fachdidaktische Überlegungen hinaus, wenn wir Musik, wie sie unmittelbar aus dem realen Klangempfinden entsteht, eine Chance geben möchten.

Verwendete Literatur

  • Adlung, Jacob (1758): Anleitung zu der musikalischen Gelahrtheit. Erfurt: Jungnicol.
  • Adorno, Theodor W. (1997): Einleitung in die Musiksoziologie. In: Gesammelte Schriften, Bd. 14 (169-433). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
  • Adorno, Theodor W. (2005): Zu einer Theorie der musikalischen Improvisation. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
  • Beck, Thomas Taxus (2020): Ein Dreiklang ist kein Wald oder Praxisschock Kompositionspädagogik. Regensburg: ConBrio.
  • Cadenbach, Rainer (1988): Max Reger – Skizzen und Entwürfe. Quellenverzeichnis und Inhaltsübersichten. Wiesbaden: Breitkopf & Härtel.
  • Dahlhaus, Carl (1972): Komposition und Improvisation. In: Neue Zeitschrift für Musik 133 IX/1972, 493-499.
  • Dahlhaus, Carl (1979): Was heißt Improvisation? In: Brinkmann, Reinhold (Hrsg.): Improvisation und neue Musik (9-23). Mainz: Schott.
  • De la Motte-Haber, Helga (1996): Handbuch der Musikpsychologie. Laaber: Laaber.
  • Der Klavier-Lehrer (1878). Musikpädagogische Zeitschrift, Organ der deutschen Klavierlehrervereine. Hrsg. v. Emil Breslauer.
  • Dies, Albert Christoph (1810): Biographische Nachrichten von Joseph Haydn. Wien: Camesinaische Buchhandlung.
  • Ferand, Ernst (1938): Die Improvisation in der Musik. Eine Entwicklungsgeschichte und psychologische Untersuchung. Zürich: Rhein.
  • Foucault, Michel (1994): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
  • Haffmans, Gerd (2010): Oscariana oder Wildes Denken. Glänzende Gedanken von Oscar Wilde aus dem Gesamtwerk gezogen von Gerd Haffmans. Leipzig: Haffmans Verlag bei Zweitausendeins.
  • Jankéléwitch, Vladimir (2020): Zauber, Improvisation, Virtuosität. Schriften zur Musik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
  • Kranefeld, Ulrike/Voit, Johannes (Hrsg.) (2020): Musikunterricht im Modus des Musik-Erfindens. Fallanalytische Perspektiven. Münster/New York: Waxmann.
  • Kurt, Ronald (2008): Komposition und Improvisation als Grundbegriffe einer allgemeinen Handlungstheorie. In: Kurt, Ronald/Näumann, Klaus (Hrsg.): Menschliches Handeln als Improvisation. Sozial- und musikwissenschaftliche Perspektiven (17-46). Berlin: transcript.
  • Lessing, Wolfgang (2011): Kinderkomposition im Spannungsfeld von Prozess- und Produktorientierung. In: Vandré, Philipp /Lang, Benjamin (Hrsg.): Komponieren mit Schülern. Konzepte – Förderung – Ausbildung (15-21). Regensburg: ConBrio.
  • Litt, Theodor (1959): Naturwissenschaft und Menschenbildung, 2. verb. Auflage. Heidelberg: Quelle & Meyer.
  • Mann, Thomas (1990): Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde. Frankfurt a. Main: Fischer.
  • Mattheson, Johann (1739): Der vollkommene Capellmeister. Hamburg: Christian Herold.
  • Oberschmidt, Jürgen (2021a): Musik erfinden. In: Musik & Bildung I/2021, 12-18.
  • Oberschmidt, Jürgen (2021b): Vom Atom zum Weltsystem? Über die Elemente und das Elementare in musikpädagogischer Hinsicht. In: Stange, Christoph/Zöllner-Dressler, Stefan (Hrsg.): Denkkulturen in der Musiklehrer*innenbildung (43-60). Münster: Waxmann.
  • Oberschmidt, Jürgen (2022): Plädoyer für einen No-Education-Musikunterricht. In: musikunterricht aktuell H. 16, 8-12.
  • Richter, Christoph (2008): Musikunterricht von unten. Curriculare Arbeit und aufbauender Unterricht von den Schülern aus. In: Diskussion Musikpädagogik H. 37, 11-21.
  • Riede, Bernd (2003): Wir erfinden Musik. Komponieren, Improvisieren, Arrangieren. Bamberg: Buchner.
  • Rihm, Wolfgang (1997): Offene Enden – Loses zu Klang und Schrift. In: Wolfgang Rihm: ausgesprochen, Schriften und Gespräche Bd. 1 (150-158). Mainz: Schott.
  • Röhrich, Lutz (1994): Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Bd. 5. Freiburg: Herder.
  • Schreiber, Ottmar (1989): Max Reger in seinen Konzerten, Teil 1: Reger konzertiert. Bonn: Dümmler.
  • Stein, Fritz (1939): Max Reger. Potsdam: Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion.
  • Uehling, Peter (2000): Regula und Digitus. Über die Improvisationspraxis der Komponisten. In: Neue Rundschau III/2000, 20-32.
  • Unger, Hermann (1921): Max Reger. Darstellung seines Lebens, Wesens und Schaffens: München: Drei Masken Verlag.
  • Wirth, Helmut (1973): Max Reger in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek: Rowohlt.
  • Wittgenstein, Ludwig (1977): Vermischte Bemerkungen, Werkausgabe Bd. 8 (445-573). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

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Jürgen Oberschmidt (2023): Musik aus dem Stegreif schaffen: Muss man zum Komponieren immer vom Pferd steigen?. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://kubi-online.de/index.php/artikel/musik-aus-dem-stegreif-schaffen-muss-man-zum-komponieren-immer-pferd-steigen (letzter Zugriff am 16.07.2024).

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