Literaturvermittlung in formalen Bildungsinstitutionen
Literatur als Gegenstand der Vermittlung
Literaturvermittlung ist in den Einrichtungen des öffentlichen Bildungswesens deshalb von grundlegendem Interesse für die Initiierung von Lernprozessen, weil Lesefähigkeit und die mit ihr verbundene Möglichkeit zur Teilhabe am literarischen Leben heute als ein wesentlicher Bestandteil von kultureller Literalität betrachtet wird. Als handhabbare Bestimmung für den Literaturunterricht kann für den Begriff „Literatur“ gelten, dass damit literarische Texte gemeint sind, die durch ihre Fiktionalität und durch den damit verbundenen künstlerischen Anspruch ausgezeichnet sind.
Die produktive Begegnung mit Literatur wird in den öffentlichen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen heute vom Kindergarten an mit dem Anspruch verknüpft, literarische Fähigkeiten und stabile Lesegewohnheiten so auszubilden, dass eine selbstbewusste und kritische Teilhabe am literarischen Leben möglich wird. Kindergarten und Schule als die entscheidenden Bildungsinstitutionen sind bestrebt, in Abhängigkeit von der Lese- und Mediensozialisation der Kinder, SchülerInnen Lesefreude zu ermöglichen, Lesemotivation aufzubauen, zu erhalten und weiterzuentwickeln. Die Geschichte des Literaturunterrichts zeigt indes, dass mit der Literaturvermittlung höchst unterschiedliche Ziele verfolgt wurden, an deren Ende zu Beginn des 21. Jh.s die Ausbildung von Lesekompetenz als Bestandteil literarischer Kompetenz angestrebt wird.
Geschichte der Didaktik und Methodik des Literaturunterrichts
Die Vor- und Frühgeschichte der Literaturvermittlung deutscher Literatur, die mit der Mitte des 15. Jh.s beginnt (vgl. Brüggemann 1987), in der Aufklärung mit Herders Schulschrift „Von der Ausbildung der Rede und Sprache in Kindern und Jünglingen“ (Herder 1796) eine wichtige Wegmarke für „eine eigenständige und ausgebaute Didaktik des Literaturunterrichts“ (Haas 1996:1231) hatte und eine nachhaltige Massenwirkung im 19. Jh. mit dem ersten deutschsprachigen Volkslesebuch des Philanthropen Friedrich Eberhard von Rochow (1734-1805) unter dem Titel „Der Kinderfreund“ erreichte, soll hier übergangen werden. Auch die ersten systematischen Gesamtdarstellungen von Formen der Literaturvermittlung für das höhere Schulwesen von Robert Heinrich Hiecke (1842) und Phillipp Karl Eduard Wackernagel (ebenfalls 1842) können hier lediglich Erwähnung finden.
Zum Verständnis der Nachkriegsentwicklung des Literaturunterrichts in Deutschland ist hingegen der Hinweis wichtig, dass sich schon zwischen 1848 und 1918 der Deutschunterricht von der „biedermeierlichen Gefühlskultur“ zum „forcierten Nationalismus“ im Wilhelminismus des Deutschen Reichs (Müller-Michaels 1996:1270) entwickelte. Nach dem Ersten Weltkrieg prägte die gegen eine humanistische Allgemeinbildung ausgerichtete reaktionäre und chauvinistische Idee der „Deutschheit“ die Konzepte der Literaturvermittlung vor allem für die Gymnasien. Dominiert wurde der Diskurs um die „deutschkundliche“ Orientierung des Literaturunterrichts von kulturideologischen Auseinandersetzungen, weil mit der Ausrichtung an Texten aus der Aufklärung, Empfindsamkeit und Klassik auch die Beschäftigung mit antiker, französischer, englischer, russischer etc. Kultur verbunden war, sodass demgegenüber gefordert wurde, deutsche Heldensagen, Literatur des Sturm und Drang, der Befreiungskriege etc. zu behandeln.
Die den Leseunterricht an Volksschulen einschließende Literaturdidaktik wurde zu Beginn des 20. Jh.s geprägt von Heinrich Wolgast (1896) und seinen Überlegungen zu einer ‚genießenden Leseerziehung‘ sowie von Wilhelm Diltheys Dichtungs- und Verstehenstheorie (1905), die den Erlebnis- und Verstehensbegriff in spezifischer Weise bestimmte. Für die Volksschule lag der Schwerpunkt auf dem Erleben der Dichtung und auf der Einstimmung, ein Konzept, das dann in den reformpädagogischen Überlegungen (z.B. von Lotte Müller und Hugo Gaudig) gleichsam mit einer Lerner- und Schülerorientierung ausgestaltet wurde.
Unter dem faschistischen Regime des Nationalsozialismus wurde die scheinbar affine Idee der völkischen Deutschkunde einerseits aufgegriffen und mit dem Diltheyschen Lebensbegriff verschmolzen. Andererseits wollte die NS-Literaturdidaktik keine ‚Kunde‘ betreiben und ‚Wissen‘ vermitteln, sondern den „Gemeinschaftswillen der Tat“ (vgl. dazu Hegele 1996:70ff.) im Literaturunterricht verwirklicht sehen. Die Schullektüre speiste sich nunmehr aus den vermeintlichen Epochen des Germanen- und Rittertums, der Mystik, der Reformation, des Sturm und Drang und der Befreiungskriege mit der Maßgabe der Eignung der Werke für die nationalsozialistische Weltanschauung (vgl. dazu Müller-Michaels 1996:1273). Damit war zugleich der deutschkundlichen ‚Lebenshilfedidaktik‘ der Boden entzogen.
Nach dem Krieg aber orientierten sich die Konzepte der Literaturvermittlung durchaus wieder an der ‚Lebenshilfe‘, sodass unklar bleibt, so Müller-Michaels (1996:1273), ob nach dem Jahr 1945 ein wirklicher Neuanfang versucht wurde. Erst Mitte der 1950er Jahre unterzogen der französische Germanist Robert Minder und der Literaturwissenschaftler Walter Killy die Textauswahl der im Unterricht eingesetzten deutschkundlichen Lesebücher einer grundlegenden Kritik, indem sie deren Heimat- und Ländlichkeitsidylle sowie die nach wie vor dominierende Blut-und-Boden-Ideologie belegten.
Modernisierungsversuche der Literaturvermittlung nach 1945
Neben der Lesebuchdebatte waren die Konzepte der Nachkriegszeit geprägt von der Suche nach bindenden Bildungszielen als Grundlage einer Methodik des Deutschunterrichts. Während man im Westen Deutschlands elitäre Ideale einer „fairen Führerschaft, wie sie von Robert Ulshöfers Leitbild vom ritterlichen Menschen transportiert wurden“ (Kämper-van den Boogaart 2010:70), verfolgte, waren es im Osten Deutschlands, der späteren DDR, „Helden, Kämpfer, Pioniere, die als Leitbild für eine neue sozialistische Gesellschaft dienten […]“ (Müller-Michaels 1996:1275). Die Methodik zur Dramaturgie des Literaturunterrichts von Robert Ulshöfer und die stark an ästhetischen Konzepten ausgerichteten Vorschläge von Erika Essen strebten jedoch vor allem nach anschaulicher Darstellung und Anwendung. So würden die Vorschläge Ulshöfers zur ‚mittelbaren Interpretation‘, die beispielsweise Verfahren zur Umwandlung einer Erzählung in ein Hörspiel vorsahen, heute als moderne mediengestützte produktionsorientierte Verfahren gehandelt werden.
Die 1960er-Jahre sind in der BRD ausgezeichnet durch die Wende von der Methodik zur Didaktik als Theorie der Bildungsinhalte und der Lehrpläne. Hermann Helmers legte Mitte der 60er Jahre als erster mit seiner „Didaktik der deutschen Sprache“ eine Fachdidaktik vor, die ein wichtiger Schritt zur Systematisierung deutschdidaktischer Wissensinhalte war. Auch in der DDR wurde auf didaktischer Grundlage ein System der Inhalte entwickelt, das „trotz vieler Einseitigkeiten in der Auslegung der Texte wohlbegründet, ausgewogen in der Berücksichtigung historischer und systematischer Aspekte (war)“ (Müller-Michaels 1996:1276). Die Lesedidaktik war in dieser Zeit mit dem Problem literarischer „Verfrühung“ befasst, die mit dem literarästhetischen Lesebuch („Lesebuch 65“) entstanden war und das Problem aufwarf, ob hochkomplexe literarische Texte (z.B. Lyrik von Paul Celan) Unterrichtsgegenstand in der Grundschule sein sollten.
Die „Politisierung der literaturdidaktischen Bildungsziele“ (Kämper-van den Boogaart 2010:58) führte in Westdeutschland vor allem mit dem ideologiekritischen Konzept des „Kritischen Lesens“ nach Hubert Ivo 1969 zu einer Modernisierung der Literaturvermittlung in den 1970er Jahren. Die ‚Entdeckung‘ der Lernenden als subjektive RezipientInnen von Literatur unter Bezug auf die von Hans Robert Jauß und Wolfgang Iser begründete literaturwissenschaftliche Rezeptionsästhetik ermöglichte das die Literaturvermittlung in den 1980er Jahren prägende Konzept des handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterrichts. Und auch für die Entwicklung der Literaturvermittlung in der DDR lässt sich zeigen, dass dort die subjektiven Formen literarischer Rezeption für den Unterricht bedacht wurden (vgl. Kämper-van den Boogaart 2010:63ff.). Bis dann mit den internationalen Leistungsvergleichsstudien (PISA, IGLU etc.) das Lesen zu dem zentralen bildungspolitischen Thema werden und ‚Lesekompetenz‘ zu dem fachdidaktischen Schlüsselbegriff werden sollte, gab es für den gymnasialen Literaturunterricht eine Vielzahl poststrukturalistisch begründeter Modellierungen zur Vermittlung von Literatur. In der Grundschule und den übrigen Schulformen blieb dagegen der handlungs- und produktionsorientierte Literaturunterricht nach wie vor das beherrschende Paradigma.
Lesekompetenz als Grundkategorie der Fachdidaktik
Noch bis weit in die 1990er Jahre hinein war der Kompetenzbegriff in der Literaturdidaktik deskriptiv gebraucht worden. Für Jürgen Kreft (1977) etwa war ‚Kompetenz‘ eine Kategorie, um „Grundprobleme der Literaturdidaktik“ (Kreft 1977) im „System der Ich-Abgrenzungen“ (Kreft 1977:82) so zu verorten, dass Metaprobleme der Literaturdidaktik als gesellschaftliche und sprachliche Aspekte sowie als Dimensionen der äußeren Natur und der inneren Natur des Menschen beschreibbar werden konnten. Seit den internationalen Leistungsstudien – und entscheidend befördert durch das sogenannte KliemeGutachten zu nationalen Bildungsstandards (2007) – wird der Kompetenzbegriff in normorientierter Hinsicht gebraucht. Für die Literaturvermittlung in der Schule wird nunmehr an der Modellierung von Lesekompetenz und literarischer Kompetenz (Frederking 2010) gearbeitet mit der Folge, dass der Kompetenzbegriff einerseits in seiner literalen Variante (Literalität) die Konzepte der Literaturvermittlung bestimmt (vgl. Bertschi-Kaufmann/Rosebrock 2009), andererseits an den Umgang mit Literatur in Hinblick auf literarische Lernprozesse (Literarität) gebunden ist (vgl. dazu Spinner 2006).
Perspektiven zukünftiger Literaturvermittlung: Literalität
Der Begriff des Lesens wird in in unspezifischer Weise zurzeit von textpsychologischen Forschungsansätzen geprägt, die ihn nicht als Tätigkeit, Handlung oder Operation situierter literaler und sozialer Praxis fassen, sondern Lesen als mentalen Vorgang konstruieren. Bei Christmann etwa wird Lesen definiert als „Fähigkeit, visuelle Informationen aus graphischen Zeichenfolgen zu entnehmen und deren Bedeutung zu verstehen“ (Christmann 2010:148). Diese technisch-operative Definition, die als Kategorie für empirische Forschungen zum alltäglichen zweckorientierten Umgang mit Texten jeglicher Art sinnvoll ist, findet ihre Rahmung in dem international gebräuchlichen Begriff der „Reading literacy“. In der Praxis des Leseunterrichts folgen daraus Arbeitstechniken zum Verstehen von Texten, etwa das Unterstreichen wichtiger Begriffe im Text oder das Zusammenfassen von Textabschnitten.
Diese Perspektive auf die Literalität und den Gebrauch von Schrift in Texten hat den Blick auf die individuellen Erwerbsbedingungen grundlegend erweitert, weil sie erstens verdeutlicht, dass Lese- und Mediensozialisation (vgl. Groeben/Hurrelmann 2004) gleichsam mit dem Beginn des Spracherwerbs das Sprach- und Schriftbewusstsein prägen und zweitens darauf verweist, dass Formen und Funktionen von Literalität in hohem Maße kulturell geprägt sind. Dieses neue Literalitätsverständnis führt zusammen mit den Einsichten aus der Lese- und Mediensozialisationsforschung zur Entwicklung von Konzepten der Literalitätserziehung bereits in Kindergarten und Vorschule (vgl. dazu Andresen 2010). Dabei ist beispielsweise wichtig, dass die frühe Schriftorientierung über das Vorlesen und die angeleitete Medienrezeption mit der Produktion eigener Texte verbunden werden kann, indem Kinder etwa Erwachsenen ihre Texte diktieren (vgl. dazu Merklinger 2011). Außerdem gehören zu modernen Konzepten der Literaturvermittlung im Hinblick auf die Literalitätsdimensionen die Leseförderung (Rosebrock 2010) und die Didaktik der Gebrauchstexte (Maiwald 2010).
Perspektiven zukünftiger Literaturvermittlung: Literarität
Für Konzepte der Literaturvermittlung aber sind persönliche Erfahrungen, Imagination und subjektive Emotionen und Affekte wesentlicher Bestandteil literarischen Lernens. Das mit der Perspektivübernahme mögliche Fremdverstehen und die Bereitschaft, sich darauf einzulassen, gehören ebenso zum literarischen Lernen, wie die in literarischen Texten wirksame Symbolik von Wörtern und Textzusammenhängen. Und schließlich wird neben dem symbolischen Verstehen die Offenheit für das Verstehen moralischer Konflikte herausgefordert, in denen sich literarische Figuren befinden (vgl. dazu Spinner 2006; Frederking 2010).
Literaturvermittlung und kreatives Schreiben
Neben Konzepten des textnahen Lesens (Kämper-van den Boogaart 2010) und Formen der ‚intertextuellen Lektüre‘ gehört beispielsweise im identitätsorientierten Literaturunterricht (Frederking 2010) der produktive und kreativschreibende Umgang mit literarischen Texten zu den wichtigen Methoden der Literaturvermittlung (siehe Lino Wirag „Zeitgenössische Formen informeller Literaturvermittlung“). Kreative Formen dazu sind beispielsweise das antizipierende Schreiben, bei dem Erwartungen an einen Text kreativ entworfen werden. Andere kreative Schreibaufgaben richten sich auf Texterweiterungen, indem etwa der innere Monolog einer Figur gestaltet wird, oder sie fordern das analoge Schreiben heraus, bei dem die Lernenden an literarischen Genres orientiert eigene Texte herstellen bis hin zur Parodie beispielsweise von Märchen. Weniger im Blick dabei ist bisher, dass in Texten der Kinder von Schulbeginn an literarästhetische Dimensionen im Spiel sein können, sodass sich in ihren Texten literarische und mediale Erfahrungen indirekt und aktiv gestalten (vgl. dazu aber Kruse 2011).