Kunstvereine: Kunstvermittlung dezentral und experimentell
Zeitgenössische bildende Kunst als Impulsgeberin für Kulturelle Bildung
In Deutschland existieren über 300 Kunstvereine (vgl. Website ADKV). Die ersten wurden bereits Ende des 18. Jh.s gegründet, um einer breiteren Schicht von BürgerInnen die Teilhabe an Kunst zu ermöglichen. Bis heute hat sich an diesem erklärten Ziel auch bei Neugründungen nichts geändert. In Städten und Regionen engagieren sich Tausende von Menschen in Kunstvereinen, die in ihren Strukturen, Arbeitsbedingungen und Programmen so heterogen sind wie die Kontexte, in denen sie existieren. Seit über 200 Jahren werden in den Satzungen die Grundsätze formuliert, mit denen eine Qualifizierung durch die Auseinandersetzung mit Kunst beschrieben, ihre Vermittlung und die Heranführung an neue künstlerische Positionen angestrebt wird. Integraler Bestandteil der Programms sind daher neben den Ausstellungen immer auch die internen und öffentlich geführten Diskussionen mit Mitgliedern und BesucherInnen gewesen. Bis heute gewährleistet diese spezielle Vereinskonstruktion eine aktive und dadurch lebendige Form des Bürgerengagements und der Vermittlungsarbeit, die sich einzig und allein dem Förderungsgedanken zeitgenössischer Kunst verschrieben hat.
Künstlerische Strategien in der Kunstvermittlung
Seit Ende der 1990er Jahren wurde in deutschen Kunstvereinen zusätzlich zu den Angeboten an Veranstaltungen und Führungen über neue Formen einer Kunstvermittlung nachgedacht (siehe Kathrin Herbold/Johannes Kirschenmann „Bild- und Kunstvermittlung“). Anlass boten nicht nur die Impulse aus der sich verstärkenden Diskussion zur Kulturellen Bildung, sondern auch andere Beobachtungen und Erfahrungen. So hat z.B. der demografische Wandel Auswirkungen auf die Mitgliederstruktur der Vereine: junge Menschen organisieren sich auffallend weniger, wodurch Kunstvereine mit existenziellen Zukunftsfragen konfrontiert werden (siehe Karl Ermert „Demografischer Wandel und Kulturelle Bildung in Deutschland“). Die Ansprache neuer interessierter, vor allem jüngerer BesucherInnen stellte gleichzeitig die bisherige Arbeit mit ihren Angeboten in Frage, denn nur eine Veränderung versprach neue Beachtung. Die sich daraus ergebenden neuen Herausforderungen an Programme und deren Vermittlung ging einher mit veränderten Arbeitsweisen und Strategien von KünstlerInnen, die selber auch die Initiative für eine qualitative Veränderung von Vermittlungskonzepten ergriffen.
Die theoretische und inhaltliche Diskussion in den Kunstvereinen in dem Bestreben, sich neu zu öffnen, ist geprägt von der Suche nach einer gleichberechtigten Begegnung zwischen KünstlerInnen, VermittlerInnen, Beteiligten und BesucherInnen. Die Annäherung an zeitgenössische Kunst soll nicht von vermeintlich „wichtigem“ Vor-Wissen geprägt werden, sondern alle subjektiven Meinungen und Sichtweisen zulassen, da die Existenz allgemein gültiger Bewertungskriterien in der Gegenwartskunst angezweifelt wird. Statt einer einseitigen Informationsvermittlung werden Verhandlungs- und Kommunikationsräume geschaffen, in denen eine nicht-hierarchische Begegnung auf Augenhöhe stattfinden kann. Die Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kunst entzieht sich auf diese Weise jeder genormten und vorhersehbaren Planung.
Erste Praxisbeispiele
Auf der Grundlage dieser Prämissen entwickelte sich eine methodische Vielfalt, wie sie eben künstlerischen und kulturellen Prozessen eigen ist. Als eine der ersten initiierte die KünstlerInnengruppe Kunstcoop© in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) in Berlin von 1999 bis 2002 begleitend und ergänzend zum Ausstellungsprogramm erste exemplarische Projekte (NGBK 2002) einer künstlerischen Kunstvermittlung. In der Folgezeit wurde das Thema vor allem vom kulturpolitischen Dachverband, der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Kunstvereine (ADKV), im Rahmen mehrerer Tagungen behandelt mit dem Ziel einer Qualifizierung der AkteurInnen in den Kunstvereinen und ihrer Aktions- sowie Vermittlungsformen. Hervorzuheben sind hier die erste Tagung „Kunstvermittlung“ 2002 in Kassel (ADKV 2002) und die folgenden in Kooperation mit der Bundesakademie für kulturelle Bildung in Wolfenbüttel (Baumann/Baumann 2006/2009).
Auswirkungen hatte die inhaltliche Diskussion in den Kunstvereinen auf die Kulturpolitik und -förderung in einigen Bundesländern. 2008 startete das Ministerium für Wissenschaft und Kultur in Niedersachsen ein Modellprojekt „Vermittlung an niedersächsischen Kunstvereinen“, das seither in einem jurierten Bewerbungsverfahren Kunstvereinen eine finanzielle Unterstützung, insbesondere für Personalmittel, gewährt. Mit Unterstützung der Landesregierung in NRW konnte die ADKV 2008 und 2009 das Modellvorhaben „COLLABORATION.Vermittlung. Kunst.Verein“ realisieren (ADKV 2010). Auf der Grundlage eines Bewerbungsverfahren realisierten sieben Kunstvereine in NRW mit finanzieller Unterstützung aus Landesmitteln exemplarische Vermittlungsvorhaben. Seit 2008 vergibt die NGBK in Berlin ein Stipendium für Kunstvermittlung und fördert so explizit eine unabhängige und experimentelle Praxis von KünstlerInnen, die sich in der Vermittlungsarbeit qualifizieren können. Weitere Impulse, die ins besondere von ProtagonistInnen der Kunstvermittlungs-Diskurse ausgingen, fanden Eingang in die Vorbereitung und Durchführung von Großausstellungen wie „skulptur projekte münster 07“ und die Documenta-Ausstellungen 2002 und 2007. Die Ansätze der Vermittlungskonzepte an vielen großen und kleinen Museen haben sich gewandelt und Förderprogramme wie der Projektfonds Kulturelle Bildung in Berlin zeigen in ihren Richtlinien auf, dass der künstlerischen Innovation in den Anträgen ein hoher Stellenwert eingeräumt wird.
Kunst verhandeln statt vermitteln
Entstanden sind in den letzten zehn Jahren zahlreiche Projekte, die gezeigt haben, dass in den unterschiedlichsten Kontexten durch künstlerische Ideen Begegnungen, Heranführungen und Beteiligungsformen entstehen können, die ungewöhnliche Prozesse anstoßen und in der Lage sind, Menschen einzubeziehen, um sie zu unvorhersehbarem Engagement zu aktivieren (ADKV 2004). Eine umfangreiche begleitende interviewbasierte Evaluation des ersten Kunstvermittlungsstipendiums der NGBK von 2008-2010 konnte belegen, dass die Steigerung des Selbstwertgefühls, die positiven Auswirkungen auf das Engagement in Schulzusammenhängen, die Erweiterung der Aktionsradien der Beteiligten direkte Folgen aus der Zusammenarbeit mit dem Künstler/Stipendiaten waren (NGBK 2010). Vergleichbare Berichte und Ergebnisse, wenn auch nicht in der gleichen umfassenden Erhebungsmethodik, sind aus vielen der Projekte bekannt.
Die Situation für die Kunstvereine ist jedoch alles andere als gesichert. Trotz ihrer Pionierarbeit in der Förderung und Vermittlung zeitgenössischer Kunst, aus der sich Impulse für viele andere gesellschaftliche Bereiche entwickelten, werden öffentliche Förderungen gekürzt, erfolgreiche Modellversuche wie in NRW nicht fortgesetzt und der gesellschaftliche Wert der Arbeit nicht gewürdigt. Nur auf ihre eigenen Mittel beschränkt, werden sie zwar die begonnenen Fährten weiterverfolgen, aber in weit begrenzterem Maße, als es mit Unterstützung vorstellbar wäre.