Kunstunterricht als ästhetische Achtsamkeitspraxis. Anregungen für eine ganzheitliche Persönlichkeitsbildung

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von Joachim Penzel

Erscheinungsjahr: 2021

Abstract

Unter dem Schlüsselbegriff Achtsamkeit werden heute verschiedene Konzepte der Selbstsorge zusammengefasst, die dazu beitragen, Fähigkeiten der emotionalen und körperlichen Selbstregulierung sowie der Stressbewältigung in Alltagssituationen zu entwickeln. Der folgende Beitrag zeigt, wie eine achtsamkeitsbasierte Pädagogik Schulkultur nachhaltig verändern kann und welchen konkreten Beitrag der Kunstunterricht als Teilbereich der kulturellen Bildung dabei leistet. In der Konsequenz wird deutlich, dass eine Pädagogik der Achtsamkeit wichtige Impulse für ein kollektives, altruistisch ausgerichtetes Wertesystem bietet und dafür Handlungsanregungen stimuliert.

Seit gut 20 Jahren wird der Begriff Achtsamkeit in verschiedenen Lebenszusammenhängen als Leitkategorie für unterschiedliche Konzepte der Selbstsorge und des sozialen Mitempfindens gebraucht. Seinen Alltag achtsam zu meistern bedeutet so viel, wie die Fähigkeit zur Selbstregulierung zu beherrschen, eine hohe Resilienz in Stresssituationen zu besitzen, konzentriert handeln und flexibel reagieren zu können und dabei Zufriedenheit, Freude und Ausgeglichenheit auch im Umgang mit anderen Menschen zu bewahren. Im pädagogischen Kontext wird Achtsamkeit als „fundamentales Querschnittsthema für das sozial-emotionale Lernen“ sowie als Befähigung der Lehrkräfte zur „seelischen und körperlichen Selbstsorge“ verstanden (Valtl 2018:II). Die Achtsamkeitsschulung kann als Bestandteil eines offenen Reformprozesses innerhalb der Gegenwartsgesellschaft betrachtet werden und es ist zu fragen, welchen spezifischen Beitrag die Kunstpädagogik hierbei im Unterrichtsalltag und weiterführend bei der Entwicklung Heranwachsender leisten kann.

1) Warum brauchen wir Achtsamkeit?

> Gesellschaftliche Transformationen durch individuelle Entwicklung anregen

In einer der zahlreichen zusammenfassenden Definitionen heißt es: „Achtsamkeit (englisch mindfulness) ist ein Zustand von Geistesgegenwart, in dem ein Mensch hellwach die gegenwärtige Verfasstheit seiner direkten Umwelt, seines Körpers und seines Gemüts erfährt, ohne von Gedankenströmen, Erinnerungen, Phantasien oder starken Emotionen abgelenkt zu sein, ohne darüber nachzudenken oder diese Wahrnehmungen zu bewerten.“ (wikipedia)
Hier wird Achtsamkeit als eine spezifische Lebenseinstellung beschrieben, die sich jedoch nicht, wie es den Anschein haben könnte, auf ein egoistisches, die individuelle Freude steigerndes Selbstkonzept beschränken lässt. Vielmehr befähigt praktizierte Achtsamkeit zu einem aufmerksamen und wertschätzenden Umgang mit allen Menschen, Lebewesen und Dingen in Natur und Gesellschaft und hat folglich eine starke ethische und ökologische Ausrichtung. Man müsste meinen, dass der achtsame Umgang mit sich selbst (Selbstsorge) und mit anderen (Altruismus = Selbstlosigkeit, Nächstenliebe) nicht nur der normale Zustand menschlichen Lebens, sondern auch das Kernstück jeder Pädagogik sein sollte. Aber im aktuellen sozialen Alltag im Allgemeinen und im Besonderen in der gegenwärtigen Schule mit ihrer hierarchischen Organisationsstruktur und der gesetzlichen Definition von Bildungsstandards ist eine individuell praktizierte Achtsamkeit nicht nur schwer umsetzbar, sondern es erscheint geradezu unwahrscheinlich, dass unter den Lebensbedingungen der entfalteten Informations- und Konsumgesellschaft mit ihren hochgradig individualisierten und leistungsorientierten Lebenskonzepten Achtsamkeit als verbindliche kollektive Wertvorstellung praktiziert wird.

Man kann die Entstehung der weltweit sich ausbreitenden Achtsamkeitsbewegung als ein Schlüsselelement eines auf Selbstorganisation gründenden globalen Reformprozesses verstehen, mit dem seit ca. 20 Jahren in unterschiedlichen sozialen Bereichen eine Veränderung von destruktiven, Körper und Psyche von Menschen schädigenden Lebensbedingungen angestrebt wird. Achtsamkeit ist folglich als ein individuell praktiziertes und kollektiv wirksames Lern- und Entwicklungskonzept zu verstehen, das auf unterschiedliche Herausforderungen der postindustriellen Gesellschaft reagiert. Zu den problematischen Lebensbedingungen der Gegenwart, auf die Achtsamkeitspraktiken reagieren, gehören u.a. (im Folgenden nach Valtl 2018:7-9):

  • Der aktuelle Lebensalltag ist gekennzeichnet von Stress und hohem Tempo, sodass die Fähigkeiten der Selbstregulierung, Entspannung und Entschleunigung geradezu überlebensnotwendig erscheinen.
  • Die Arbeitsbedingungen, die sozialen Umgangsformen und die digitale Kommunikation verursachen eine rasante Zunahme an psychischen Erkrankungen in allen Altersgruppen, sodass eine breitenwirksame Unterstützung zur seelischen Selbstsorge notwendig erscheint.
  • Die Dauerablenkung durch die Massenmedien und der Zwang zur digitalen Dauererreichbarkeit führen zur Erosion von Ruhezeiten und Privatheit. Hier kann Achtsamkeitsschulung dazu beitragen, Zonen der Stille und Entspannung zu schaffen.
  • Durch digitale Medien schwinden die Möglichkeiten authentischer und ganzheitlicher Lebenserfahrungen. Achtsamkeitstraining bietet die Möglichkeit, dem Schwund eines originären intensiven Erlebens entgegenzuwirken.
  • Die forcierte Ökonomisierung aller Lebensbereiche zeigt mit drastischen Umweltfolgen die Grenzen des materiellen Wachstums an. Dadurch erscheinen immaterielle und nichtmaterialistische Erfahrungen und Werte von zentraler Bedeutung.
  • Unter den vorherrschenden sozialen Verhältnissen sind Egoismus und Kapitalismus bis in das Intimleben hinein miteinander verbunden, was zur Erosion kollektiver Moralvorstellungen wesentlich beiträgt. Hier können Achtsamkeitspraktiken eine gesellschaftliche Transformation hin zu einer ethischen und altruistischen Alltagskultur anregen.
  • Achtsamkeit bietet außerdem eine ganzheitliche Lebensorientierung, die dem Zweckrationalismus als Ideologie von Moderne und Postmoderne entgegenwirkt.

Überpointiert könnte man formulieren, dass heutige Menschen durch Vielfalt und Geschwindigkeit der Reize und Anforderungen aus der Lebensumwelt geradezu seelisch zerrissen werden. Die Dissoziation als situativer oder dauerhafter Zustand einer unbewussten inneren Abspaltung von der Umwelt mit dem Ziel des Selbstschutzes ist für zahlreiche psychische Störungen und Krankheiten kennzeichnend. Für die meisten Menschen handelt es sich dabei heute aber nicht um einen Ausnahme- sondern einen normalen Dauerzustand. Das heißt, wir leben in krankmachenden Gesellschaftsumständen und sind, ohne dies einzugestehen, mittlerweile mehrheitlich seelisch aus dem Gleichgewicht geraten (Maaz 2017). Die aktuelle Schule mit ihren überwältigenden Herausforderungslagen trägt wesentlich dazu bei, dass Kinder und Jugendliche an diese destruktiven Lebensbedingungen angepasst werden.

Vor diesem komplexen Hintergrund leisten Achtsamkeitspraktiken für einzelne Menschen eine Kompensation zahlreicher psychischer Mangelerscheinungen und erhöhen die Resilienz gegenüber sozialen Überforderungen. Man hat der Achtsamkeitsbewegung allerdings vorgeworfen, dass sie zwar die psychische Disposition einzelner Menschen stärkt, aber letztlich die krankmachenden Ursachen im gesellschaftlichen Zusammenleben nicht beseitigt, sondern durch diverse Trainingsprogramme die Menschen in ihrer Selbstregulierung optimiert und damit an die destruktiven sozialen Lebensumstände sogar anpasst. Mit dieser Verknüpfung von Entpolitisierung und Ökonomisierung stärke die Achtsamkeitsbewegung letztlich die Tendenz zur Selbstausbeutung der Individuen innerhalb des globalen neoliberalen Wirtschaftssystems (u.a. Rosa 2016).

Diese Vorwürfe verkennen jedoch, dass die diversen Achtsamkeitspraktiken ein Altersgruppen übergreifendes Bildungsprogramm bieten, das die Menschen nicht nur in ihrem persönlichen Wohlbefinden stärkt, sondern auch immun macht gegen ein ökonomisches und soziales Wertesystem, das letztlich auf eine Unterwerfung des Individuums unter die Bedingungen einer auf materiellem Wachstum basierenden Gesellschaft ausgerichtet ist. Die Achtsamkeitsbewegung ist, vergleichbar mit den sozialen Bewegungen für Ökologie, Geschlechtergerechtigkeit, Inklusion und Antirassismus, Bestandteil eines breit angelegten, im Wesentlichen auf Selbstorganisation beruhenden Reformprozesses, der die gesellschaftliche Transformation des globalen Kapitalismus in eine transkapitalistische Organisation des Zusammenlebens vorantreibt. Man könnte diese weltweite Bewegung als eine „sanfte Revolution“ bezeichnen (Guattari 2018), deren wichtigstes Anliegen nicht die gewaltvolle Veränderung der politischen und ökonomischen Zustände ist, sondern die Arbeit an der Persönlichkeitsentwicklung der einzelnen Menschen, die künftig in der Lage sind, sich von entfremdeten Lebensumständen zu emanzipieren, um alternative Formen des Handelns und Zusammenlebens zu erproben (Penzel 2019 a).

Diese existentielle und gleichsam soziale Dimension der Achtsamkeitsbewegung wird besonders deutlich, wenn man deren Entwicklung in den letzten 50 Jahren überblickt. Idee und Methoden der Achtsamkeit wie Meditation und  Yoga wurden in den 1960er-Jahren aus dem Kontext asiatischer Religionen (Buddhismus und Hinduismus) nach Amerika und Europa importiert und haben hier ihre erste Wirkung innerhalb der bildenden Kunst (bspw. der Erfindung des Happenings und der Performance, der Entstehung der Fluxus-Bewegung) sowie in der Psychologie (bspw. der Entstehung neuer Therapieformen wie der Mindfulness-Based Stress Reduction, der Initiatischen Therapie, der Gestalttherapie, Somatic Experiencing u.a.) gezeigt. In den 1980er und 1990er Jahren hat sich im Freizeitbereich eine breit angelegte Achtsamkeitsbewegung entwickelt, die, vergleichbar mit Sport und künstlerischer Betätigung, das individuelle Wohlbefinden der ausübenden Menschen zu verbessern suchte. Ab Anfang der 2000er Jahre wird das Praxiskonzept der Achtsamkeit zunehmend theoretisch fundiert, wissenschaftlich erforscht, institutionell gefördert und in schulische und universitäre Bildungseinrichtungen implementiert. Erst in diesem erweiterten Kontext werden neben den individuellen Wirkungen auch die positiven Effekte für das kollektive Zusammenleben betont und, davon ausgehend, die Potentiale für eine nachhaltige Veränderung des sozialen Lebens diskutiert.

2) Warum brauchen wir Achtsamkeit als Bildungskonzept?

> Emotionale und soziale Kompetenzen als Bestandteile einer ganzheitlichen Persönlichkeitsentwicklung gezielt fördern

Die Umsetzung von achtsamkeitsbasierten Ansätzen im aktuellen Bildungssystem steht heute nicht mehr am Anfang, sondern befindet sich in einem fortgeschrittenen Zustand. Ausgehend von vielfältigen Praxiserfahrungen in verschiedenen Schulen gibt es mittlerweile eine ausgedehnte empirische Wirkungsforschung, die die positiven Effekte achtsamer Lehr- und Lernprozesse von Heranwachsenden bestätig, insbesondere bei der Entwicklung von Fähigkeiten der Selbstregulation und Resilienz gegen verschiedene Arten von Stress, der Entfaltung von Ausgeglichenheit, Zufriedenheit und Aggressionskontrolle, der Förderung von Konzentrationsvermögen und Entscheidungskompetenzen, insbesondere der Reaktivität und Flexibilität, sowie der Entwicklung von Beziehungskompetenzen wie Toleranz, Wertschätzung anderer und Mitgefühl (Überblick Valtl 2018:11). Auf dieser Grundlage werden achtsamkeitsbasierte Schulprogramme und Studiengänge entwickelt sowie spezielle Fortbildungsprogramme angeboten. Innerhalb der Bildungswissenschaften werden die theoretisch-methodischen Grundlagen einer „Pädagogik der Achtsamkeit“ (Valtl 2018) und einer „achtsamen Schule“ (Rupprecht 2015; Rechtschaffen 2016; Hawkins 2018) gelegt und verschiedene praktische Unterrichtsbausteine, sogenannte Toolboxen, für unterschiedliche Altersgruppen ausgearbeitet (Kaltwasser 2008, 2016, 2020; Jensen 2014; Ostermayer 2015; Born-Kaulbach u.a 2016; Jennings 2017; Teufel 2017; Greenland 2018; Rechtschaffen 2018; Hohmann/Wedewardt 2021). In dieser Weise haben sich achtsamkeitsbasierte pädagogische Ansätze zu einem Querschnittsthema bzw. aus Sicht der Lehrkräfte zu einer Querschnittsqualifikation entwickelt. Diese beginnen, wenn auch noch langsam und punktuell, Schulkultur nachhaltig zu verändern.

Mindfulness in Schools Projects: Für die Integration von Achtsamkeitspraktiken in den schulischen Alltag hat sich folgende übergreifende Methode aus dem Kontext des „Mindfulness in Schools Projects“ (MiSP) mit drei Schritten etabliert (Valtl 2018 a:15f):

  • Be mindful (achtsam sein)
  • teach mindfully (achtsam lehren)
  • teach mindfulness (Achtsamkeit lehren)

Im ersten Schritt (be mindful) geht es für Lehrpersonen darum, Achtsamkeit für sich selbst zu kultivieren, was sowohl der eigenen Gesundheit wie der Präsenz im Alltag dient. Im zweiten Schritt (teach mindfully) prägt Achtsamkeit den Stil des Lehrens, wodurch z. B. schulische Leistungsanforderungen situativ angemessener gestaltet und kontemplativ-(selbst)re-flexive Zugänge bei geeigneten Unterrichtsgegenständen stärker genutzt werde können. Erst im dritten Schritt (teach mindfulness) wird Achtsamkeit selbst zum Lerngegenstand und die Schüler*innen erlernen Achtsamkeitsübungen, die sie aktuell und in ihrer ganzen weiteren Biographie dafür nutzen können, mit Belastungen zurecht zu kommen und sich in Bezug auf Aufmerksamkeit und Emotionen selbst zu regulieren (ebd.).

Abb. 1 Ziele der Pädagogik der Aktsamkeit
Abb. 1) Ziele der Pädagogik der Achtsamkeit (Valtl 2018 b:2))

Ausführlicher kommentiert bedeutet dies:

  1. Be mindfull = Selbstsorge der Lehrkräfte: Lehrberufe gehören heute aufgrund der extrem vielschichtigen Anforderungen zu den hinsichtlich diverser Krankheiten am meisten anfälligen Tätigkeitsbereichen der Gesellschaft. Man muss es deutlich formulieren: Ein Großteil der heutigen Schulen macht die dort arbeitenden Menschen krank. Insbesondere Überlastungsstörungen wie Burn-out treten in der Berufsgruppe der Lehrer*innen überproportional häufig auf. Daher können Praktiken der Selbstsorge, bspw. zur Stressbewältigung, zum emotionalen und körperlichen Gesundheitsmanagement, zur gewaltfreien und wertschätzenden Kommunikation einen wichtigen Beitrag für die Verbesserung der psychischen und sozialen Disposition der Lehrkräfte leisten. Zu diesem Zweck werden von einigen Schulämtern und Universitäten, von Krankenkassen und beruflichen Fortbildungseinrichtungen entsprechende Kurse (bspw. für eine achtsame Lebensgestaltung, Yoga oder Meditation, gewaltfreie Kommunikation) angeboten. Diese Praktiken haben erfahrungsgemäß aber nur eine nachhaltige Wirkung, wenn sie nicht als situative Rettungsmaßnahmen verstanden, sondern als Chance zur ganzheitlichen Änderung des eigenen Lebensstils und des persönlichen Weltverhältnisses genutzt werden.
  2. Teach mindfully = Achtsam lehren und lernen: Im turbulenten Schul- und Unterrichtsalltag geht es zunächst darum, dass die Lehrkräfte versuchen, eine Kultur der Achtsamkeit bspw. durch Entschleunigung und Ruhe, durch Verminderung von Leistungsdruck und sozialen Stress, durch gewaltfreie und wertschätzende Kommunikation in ihrem Lehrstil umzusetzen. Hierbei sollten erlernte Techniken der Selbstregulierung wie Präsenz und Fokussierung, Selbstdistanz und Offenheit für Unerwartetes angewendet werden. Die einzelne Lehrkraft hat die Chance, mit dem eigenen achtsamen Verhalten und der daraus resultierenden Unterrichtsführung das Lernklima grundsätzlich positiv zu beeinflussen. In diesen Bereich gehören beispielsweise auch das Einführen von Ritualen zur Rhythmisierung des Unterrichts, das Einrichten von Stille- und Ruhezeiten oder von Aktivierungs- und Bewegungsanlässen im Lernprozess oder die Einführung von Kommunikationsregeln für den Klassenverband (Jennings 2017; Kaltwasser 2016). Die Organisation achtsamer Lehr- und Lernprozesse auf der Grundlage einer „Resonanzpädagogik“ (Rosa/Endres 2016) geht von der Einsicht aus, dass sich das sozial-emotionale Klima von Kollektiven steuern lässt. Die Bedingungen, unter denen Menschen zusammenleben und handeln, werden zumeist als voraussetzungslos betrachtet. Tatsächlich sind sie aber nur unbewusst (und das heißt unachtsam) eingerichtet und können folglich nach einer Reflexion auch verändert werden. Achtsam zu lehren bedeutet, das sozial-kommunikative Schulklima bzw. die schulische Alltagskultur bewusst zu gestalten.
  3. Teach mindfulness = Achtsamkeitspraktiken erlernen: Es gibt mittlerweile spezielle Trainingsprogramme für Heranwachsende aller Altersgruppen und eine entsprechende Fachliteratur, die unterschiedliche methodische Ansätze vorstellen, um mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen Achtsamkeitsübungen durchzuführen. Neben allgemeinen Anleitungen zur Achtsamkeit (Brosche/Kasten 2003; Andersen 2020) gehören dazu u.a. Übungen zur Förderung von Empathie im Miteinander (Juul/Hoeg 2012), zum Erlernen gewaltfreier und wertschätzender Kommunikation (Kirchgessner/Schöllmann 2014; Wölfel 2020), Übungen in verschiedenen Yogapraktiken für Kinder und Jugendliche (Drosowsky 1996; Hamborg 2005; Karven 2005) und im Meditieren (Hoppe 1996; Fontana 1999) sowie Übungen in der ganzheitlichen Selbstwahrnehmung (Bohnet 2021). Zu den wichtigsten Praktiken dieser verschiedenen Ansätze zählen u.a. das achtsame Wahrnehmen (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken), achtsames Bewegen (Gehen, Sitzen, Atmen), achtsames Körpergewahren (Bodyscan), Unterbrechen des Gedankenstromes, Wahrnehmen und Regulieren von Gefühlen, achtsames Kommunizieren, achtsamer Umgang mit kulturellen Gütern und mit der Natur. Derartige Übungen lassen sich in den schulischen Tagesablauf integrieren, können aber auch situationsabhängig nach akutem Bedarf praktiziert werden. Was momentan noch aussteht, ist die Entwicklung fachspezifischer Übungen zur Entwicklung einer achtsamen Lebenshaltung bspw. im Deutsch-, Musik- und Kunstunterricht. Im dritten Kapitel dieses Textes werden dazu erste methodische Konzepte und exemplarische Übungen im Kontext der ästhetischen Bildung vorgestellt.
Abb. 2
Abb. 2) Achtsamkeit im Praxiskontext von Schulpädagogik (Valtl 2018:17)

In diesen verschiedenen „pädagogischen Ansätzen zeigt sich, dass Achtsamkeit im Praxiskontext – anders als in der empirischen Forschung, die darum bemüht ist, den Faktor Achtsamkeit zu isolieren – gerade nicht isoliert vorkommt, sondern immer eingebettet ist in größere Zusammenhänge und verknüpft ist mit angrenzenden Themen und flankierenden Lernzielen. Dazu zählen neben dem fundamental wichtigen sozial-emotionalen Lernen (SEL) vor allem die Bereiche von Gesundheitserziehung, politischer Bildung und ethischer Bildung sowie, auf der mehr organisationalen Ebene, die Themen Klassenführung/Classroom Management und Schulentwicklung. Dieser komplexe Praxiskontext, in den Achtsamkeit als Kernelement eingewoben ist, ist in Abb. 2 im Überblick dargestellt. Achtsamkeit geht, bildungswissenschaftlich gesehen, aufgrund dieser vielfältigen Bezüge weit über die Vermittlung einzelner achtsamkeitsbasierter Kompetenzen hinaus und ist für die Schulpädagogik ein alle Unterrichtsfächer umfassendes Querschnittsthema und Unterrichtsprinzip.“ (Valtl 2018:17)

Im Kontext der Bildungswissenschaften gibt es verschiedene Bemühungen, die Praktiken und Effekte achtsamer Selbstkonzepte und daraus resultierender empathischer Handlungen in einem übergreifenden Modell zusammenzufassen. Insbesondere Jasper Juul bezieht sich in seiner „Schule der Empathie“, die im Wesentlichen auf achtsamkeitspädagogischen Grundsätzen und Übungen basiert, auf das Pentagramm des dänischen Philosophen Jes Bertelsen (Juul/Hoeg 20212:32). Dieses geht von fünf angeborenen Zugänge aus, die Menschen nach innen und nach außen aufbauen, um mit sich selbst und mit ihrer Umwelt in Kontakt gehen zu können. Entsprechend trainieren Achtsamkeitsübungen diese fünf verschiedenen „Tore zur Empathie“: den Körper, die Atmung, das Herz (Gefühle), die Kreativität und das Bewusstsein (Abb. 3).

Abb. 3
Abb. 3) Tore zur Empathie nach Jes Bertelsen (Jensen u.a. o.J.)

In diesem methodischen Schema mit seinen gut nachvollziehbaren Innenbezügen, die man als persönliche Lern- und Entwicklungseffekte bezeichnen kann, sind auch die Außenbezüge und damit die sozialen Wirkungen achtsamkeitsbasierter Pädagogik zu erkennen. Denn über die genannten fünf Tore ist jede*r Einzelne mit anderen Menschen verbunden und tritt mit ihnen in Kontakt. Die achtsame Arbeit am eigenen „Innen“, also an der bewussten Selbstbeziehung, stellt somit die Basis für eine behutsame Weltbeziehung dar. Dies unterstreicht noch einmal die eingangs erwähnte soziale Dimension einer Pädagogik der Achtsamkeit, die verschiedene Potentiale für eine Änderung der bestehenden Strukturen des gesellschaftlichen Zusammenlebens besitzt. Im Folgenden ist zu klären, welche besonderen Beitrag die Kunstpädagogik im Kontext der schulischen Achtsamkeitsbewegung leisten kann.

3) Kann ästhetische Gestaltung Achtsamkeit fördern?

> Die Bildungspotentiale künstlerischer Tätigkeiten neu bewerten

Es ist ein wesentliches Defizit heutiger allgemeiner und fachlicher Bildungskonzepte, dass sie lediglich einen Beitrag zur ganzheitlichen Persönlichkeitsentwicklung leisten, aber tatsächlich über keinen übergreifenden integralen und keinen spezifischen ganzheitlichen Bildungsansatz verfügen (Penzel 2011). Dadurch steht zumeist die Fachlichkeit im Fokus des Lehrens und Lernens und weniger die allseitige individuelle Entwicklung. Die Wissenskonzepte heutiger Schule beruhen im Wesentlichen immer noch auf der Idee einer Ausdifferenzierung unterschiedlicher Fächer und treiben folglich die Aufspaltung der Persönlichkeitseinheit in diverse Splitterkompetenzen voran. Dieses fach- oder domänenspezifische Lernen geht an der Lebenseinheit sowohl von Schüler*innen als auch von Lehrkräften vollständig vorbei. Mit dieser institutionell verankerten Abspaltung der Kompetenzen und des Wissens von der allumfassenden Lebenserfahrung wird jene strukturell bedingte psychische und soziale Dissoziation heutiger Menschen von ihrer komplexen Umwelt auch im Bildungsprozess vorangetrieben. Mit Dissoziation wird in der Psychologie das Auseinanderfallen von Wahrnehmung, Empfindung, Körpergefühl und Motorik, Erinnerung, Wissen und kognitiven Operationen bezeichnet. Um es kurz zusammenzufassen: Aufgrund der historisch gewachsenen Organisationsstruktur (Fachdifferenzierung, 45-Minutentakt, Frontalunterricht, Sitzzwang, emotionaler und körperlicher Disziplinierung, Leistungsdruck etc.) gehört das aktuelle Schulsystem zu den fundamental krankmachenden Bedingungen der Gegenwartsgesellschaft. Eine echte Alternative bieten hier vor allem Bildungskonzepte, die versuchen, die dissoziativen, also ab- und aufspaltenden Praktiken zugunsten einer ganzheitlichen Persönlichkeitsentwicklung zu überwinden (Girg 2007; Michaelis 2012; für die Kunstpädagogik: Penzel 2019 b).

Da eine achtsamkeitsbasierte Bildung einen zentralen Beitrag zur ganzheitlichen Entwicklungsförderung leitestet, müssen die einzelnen Fächer mit ihren spezifischen Didaktiken zukünftig stärker reflektieren, wie achtsamkeitsedukative und fachspezifische Inhalte und Methoden miteinander verknüpft werden können. Die Kunstpädagogik verfügt über ein breites Repertoire an Gestaltungs- und Rezeptionspraktiken, mit denen indirekt der achtsame Umgang mit sich selbst, mit anderen Menschen sowie der natürlichen und sozialen Umwelt gefördert wird. Es gilt, diese Ansätze mit ihren konkreten Übungen hinsichtlich ihres Beitrages zur achtsamkeitsorientierten und ganzheitlichen Persönlichkeitsentwicklung zu reflektieren und neu zu bewerten.

Im Folgenden werden exemplarische Gestaltungsübungen vorgestellt, die drei grundlegende Potentiale des Kunstunterrichts für eine achtsamkeitsorientierte Bildung zeigen:

  • die achtsame Grundeinstellung im Lernprozess
  • der achtsame Umgang mit sich selbst
  • der achtsame Umgang mit der Welt (mit anderen Lebewesen und Dingen)

Der hier gewählte methodische Ansatz ist als Ermutigung zu verstehen, eine neue Sichtweise auf fachspezifische Anforderungen zu entwickeln, um die kunstpädagogische Fachdidaktik unter einer stärker allgemeinbildenden und ganzheitlichen Perspektive zu reformieren. (Eine umfangreiche Sammlung von erprobten Gestaltungsübungen in den drei genannten Bereichen finden sich in der Webressource Penzel 2021.)

a) Die achtsame Grundeinstellung im Lernprozess

Die folgenden Übungen besitzen keinen eigenen künstlerischen Wert und zielen daher auch nicht auf einen persönlichen Ausdruck. Sie dienen vorrangig der Einstimmung auf kreative Arbeitsprozesse oder sie fördern die emotionale und körperliche Selbstregulation sowie die Konzentrationsfähigkeit. Diese Übungen mit diversen Gestaltungswerkzeugen können nicht nur im Kunstunterricht, sondern ebenso in den anderen Fächern als achtsamkeitsfördernde Praktiken durchgeführt werden. Oftmals fällt es Kindern und Jugendlichen einfacher, im Kontakt mit Stift oder Zeichenkreide und mit den durch diese Werkzeuge bedingten Handlungen in einen Zustand der Konzentration oder Entspannung zu gelangen als in einer Meditations- oder Yogaübung. Es erscheint als pädagogischer Vorteil, dass beim ästhetischen Gestalten der Übergang zur inneren Sammlung über einfache, rhythmische oder wiederholbare Tätigkeiten erfolgt und nicht bereits im Üben die innere Ruhe erfordert, die als Ergebnis erreicht werden soll. Gestaltung, insbesondere die dabei verwendeten Materialien und Werkzeuge und die im Arbeitsprozess entstehenden Formen sind als methodische Elemente zu verstehen, die die Lernenden in eine achtsame, konzentrierte Einstellung versetzen, indem sie die Wahrnehmungsfähigkeiten und die körperliche Präsenz aktivieren. Der ästhetische Weg zur Achtsamkeit verknüpft methodisch

  • Gestaltung >>> Form, Material, Werkzeuge >>> Achtsamkeit/Konzentration

Beidhändiges Zeichnen und Schreiben: Im Kontext der Bauhaus-Pädagogik wurde solche Einstimmungsübungen gezielt eingesetzt und achtsamkeitsorientiert verändert. So hat der Bauhauslehrer Johannes Itten, der u.a. verschiedene Meditationsformen, Yoga und Atemtechnik praktizierte, Zeichenübungen entwickelt, die den Prozess der inneren Sammlung, der Konzentration und Zentrierung des Bewusstseins im Körper unterstützen. Das von ihm mit Studierenden durchgeführte beidhändige Zeichen aktiviert beide Gehirnhälften und fördert damit die Synchronisation von rational-logischem und emotional-intuitivem Bewusstsein als Ausgangspunkt kreativer Prozesse. Diese Übung kann auch in Situationen durchgeführt werden, in denen es Kindern und Jugendlichen an Aufmerksamkeit, Konzentration und Handlungsenergie fehlt. Diese Übung kann durch beidhändiges Schreiben variiert werden.

Abb. 4 links
Abb. 4) links: beidhändiges Zeichen: Der Schmetterling – begonnen wird in der Mitte mit einer synchronen Abwärtsbewegung beider Hände, danach werden nach beiden Seiten in flüssiger Bewegung Formen gespiegelt. © Joachim Penzel
Abb. 4 rechts
Abb. 4) rechts: beidhändiges Schreiben: Beginnend an der gedachten Mittelachse wird das selbe Wort gespiegelt geschrieben. Die Fehler zeigen, wie schwierig es ist, seitenrichtig und spiegelverkehrt zu denken dabei und beide Hände zu koordinieren. © Joachim Penzel

b) Der achtsame Umgang mit sich selbst

Gestaltungsarbeiten sind grundsätzlich eine der wichtigsten Formen, mit denen Menschen in einen körperlichen, emotionalen und geistigen Selbstkontakt kommen, das heißt in dem sie sich in ihrer ganzheitlichen Persönlichkeitsdisposition bewusst wahrnehmen und erleben können (Penzel 2019 b). Ästhetische Gestaltung ist gleichermaßen Selbsterforschung und Arbeit am Selbst. Während Künstler*innen diesen Aspekt oft zum direkten Gegenstand ihrer schöpferischen Arbeit erheben, wird er in der Kunstpädagogik eher als Effekt und nicht so sehr als Ziel des Gestaltens betrachtet. In der Kunsttherapie dagegen wird die Gestaltungstätigkeit vor allem als Anlass zum unmittelbaren Erleben von Selbstwirksamkeit und Selbstachtsamkeit genutzt, denn im künstlerischen Prozess ist es möglich, sich selbst in den eigenen Empfindungen und Bedürfnissen differenziert zu erfahren und zu steuern. Im Kontext einer achtsamkeitsorientierten Bildung könnten derartige ästhetisch initiierte Selbstwahrnehmungen und die Selbstregulierung als strukturelle Bausteine im täglichen Unterrichtsablauf genutzt werden. Kunstpädagogik und Kunsttherapie bieten hierfür ein breites Repertoire an Übungen, die die Wahrnehmung der eigenen Gefühle und Bedürfnisse, der eigenen Kraft und Fantasiefähigkeit unterstützen. Derartige Selbsterfahrungsübungen tragen wesentlich zur Entwicklung eines achtsamen Umgangs mit der eigenen Persönlichkeit bei.

Abb. 5
Abb. 5) Symbolische Selbstbildnisse: Selbst Flagge zeigen – Symbolische Fahnen für die eigene Identität entwickeln © Joachim Penzel

Symbolisches Bildnis: Achtsamkeitsübungen bringen Menschen in einen intensiven Kontakt zu sich selbst. Selbstachtsamkeit hat folglich etwas mit Selbsterkenntnis und Selbstwertschätzung zu tun. Diese werden traditionell in der bildenden Kunst im Medium des symbolischen Selbstbildnisses umgesetzt. Da für viele Jugendliche im Pubertätsalter der Zugang zur eigenen Leiblichkeit mit negativen Empfindungen besetzt ist, sollte pädagogisch eher ein Zugang zur Identität über Interessen, Werte und Wünsche erfolgen, denen ein symbolischer Ausdruck verliehen wird. Flaggen mit Emblemen zu entwerfen oder Piktogramme für die eigene Persönlichkeit zu entwickeln sind typische Gestaltungsaufgaben für die oberen Sekundarstufen, in denen Jugendliche ein positives Verhältnis zur eigenen Persönlichkeit entwickeln können. Man bedenke: In der Analytischen Psychologie hat bereits C.G. Jung seine Klient*innen aufgefordert, Mandalas zu gestalten, in denen die eigenen Ressourcen, Neigungen und Ängste einen symbolischen Ausdruck finden (Jung 1995). Achtsamkeitspädagogisch sind diese originär kunstpädagogischen und kunsttherapeutischen Übungen insofern relevant, weil sie dazu beitragen, sogenannte „innere Werte“ als Teil der Individualität bewusst wahrzunehmen und in der Folge wertzuschätzen.

c) Der achtsame Umgang mit der Welt (mit anderen Lebewesen und Dingen)

Ein wichtigstes Ziel der Achtsamkeitspädagogik ist es, Heranwachsende für einen behutsamen und wertschätzenden Umgang mit anderen Menschen, mit anderen Lebewesen und Dingen zu sensibilisieren. Dazu bedarf es nicht nur einer offenen Haltung allem Fremden gegenüber, sondern vor allem der Fähigkeit einer vorurteilsfreien, uneingeschränkten Wahrnehmung von allem außerhalb der eigenen individuellen Existenz. In Kunstpädagogik und Kunsttherapie wurde verschiedene Übungen entwickelt, die eine bewusste Wahrnehmung und in der Folge einen behutsamen und demutsvollen Umgang mit anderen Menschen, Wesen und Dingen unterstützen.

Dialogisches Zeichnen: „Wir leben in einer Kultur, in der körperliche Nähe sehr schnell hergestellt wird. Allerdings fühlt man sich dabei nicht immer wohl, oft sogar überwältigt. Physische und emotionale Nähe benötigen eine sichere Situation und einen geschützten Raum. Es gehört zum Lernen ab der Kindheit, bei der Begegnung mit anderen ein Gespür zu entwickeln, was einem selbst guttut, wo die eigenen Grenzen liegen, wann diese verletzt werden – und ebenso gilt es zu bemerken, wieviel Nähe anderen angenehm ist und ab welchem Punkt das Unwohlsein einer Person im Kontakt beginnt. Das dialogische Zeichnen ist eine in der Kunsttherapie entwickelte Methode, um Kontakterfahrungen bewusst zu erleben und zu steuern. Beide Partner*innen sitzen sich gegenüber an einem Tisch und beginnen sich zeichnend auf einem Blatt A1-Papier aufeinander zuzubewegen. Dabei sollten sich die Linien nicht kreuzen oder berühren. Bei aller Nähe gilt es einen Abstand einzuhalten, um die Grenze der anderen Person nicht zu verletzten. Im Blatt werden solche Grenzziehungen und -öffnungen zeichnend ausgehandelt.“ (Kiep 2019:264)

Abb. 6
Abb. 6) Dialogisches Zeichnen: Annäherung der zeichnenden Partner*innen mit der Zeichenkreide

 

Abb. 6
Dialogisches Zeichnen: dabei Aushandeln von Räumen und Grenzen. © Detlef Kiep

Ausblick: Achtsamkeit als Basis einer neuen Lebenskultur

Die hier diskutierten drei Beispiele aus dem Kunstunterricht verdeutlichen das enorme Potential ästhetischer Gestaltung für eine Förderung eines achtsamen Selbst- und Weltverhältnisses Heranwachsender. Künftig ist stärker zu prüfen, inwieweit fachspezifische Kompetenzen (bspw. des Kunstunterrichts) über ihren reinen Fachbezug hinausreichend einen zentralen Beitrag zur ganzheitlichen Persönlichkeitsförderung, insbesondere zur Achtsamkeitsausbildung leisten können. In dieser Weise ließe sich nicht nur die schulische Lern- und Lebenskultur, sondern weiterreichend das gesellschaftliche Zusammenleben positiv beeinflussen.

Ein achtsames Selbst- und Weltverhältnis Heranwachsender und Erwachsener stellt die Grundlage für ein nachhaltiges, ökologisches Leben dar, denn durch Achtsamkeitspraktiken lernen die Menschen aller Altersgruppen, mit ihren eigenen körperlichen, emotionalen und mentalen Ressourcen zu haushalten. Ausgehend von der Frage „Bin ich ausbalanciert?“ lässt sich im eigenen Körper, im eigenen Gefühlserleben und im eigenen Denken Klimawandel beobachten, denn die Überhitzung des menschlichen Nervensystems durch Dauerüberreizung entspricht dem global heating unseres Planeten auf der Eben der individuellen Existenz. Nachhaltigkeit beginnt tatsächlich mit der Selbstsorge und der Übernahme von Verantwortung für die persönliche Lebensführung. In der Konsequenz kann man die Bewusstseinsentwicklung des einzelnen Menschen als Ausgangspunkt für die Entwicklung des kollektiven Miteinanders betrachtet (Wilber 2001: Teil 2), denn eine Person, die achtsam zu leben versucht, wird automatisch darum bemüht sein, sich möglichst vieler destruktiver Handlungen (bspw. exzessive Handy- und Computernutzung, übermäßiger Konsum, materialistische Selbstbereicherung, Umweltzerstörung durch egoistische Handlungen etc.) zu enthalten. Die Erhöhung der Widerstandsfähigkeit gegen krankmachende Lebensbedingungen, seien sie ökonomisch, politisch oder digital-kommunikativ bedingt, bedeutet folglich, diese Existenzumstände zurückzuweisen und mit persönlichem achtsamen Handeln (bspw. gewaltfreier Kommunikation, nachhaltigem Konsum etc.) am Aufbau alternativer Formen des kollektiven Zusammenlebens mitzuwirken. In der Konsequenz folgt daraus, dass eine Pädagogik der Achtsamkeit sich gegen die in Schule und Gesellschaft geteilten Werte des Leistungswettbewerbs, des Egoismus und Materialismus, des gewissenlosen Ressourcenverbrauchs, der forcierten Digitalisierung und Ökonomisierung richtet. Seit den 1960er und -70er Jahren erhält Bildung damit wieder eine starke emanzipatorische Bedeutung. Die Bildungswissenschaften und die Fachdidaktiken und in der Folge die Lehrkräfte in den Schulen werden u.a. durch die Achtsamkeitspädagogik mit der Herausforderung konfrontiert, dass sie educative Konzepte entwickeln und praktizieren könnten, die auf eine Änderung der bestehenden sozialen Verhältnisse hinwirken, indem sie eine ganzheitliche Entwicklung des einzelnen Menschen fördern. Damit steht letztlich auch die Legitimität des aktuellen staatlichen Schulsystems, das vorrangig für die produktive und konsumtive Teilhabe am neoliberalen Wirtschaftsleben qualifiziert, zur Diskussion.

Verwendete Literatur

  • Achtsamkeit (mindfulness): https://de.wikipedia.org/wiki/Achtsamkeit_(mindfulness) (letzter Aufruf: 11.06.2021).
  • Andersen, Alexandra (2020): Achtsamkeit im Unterricht. Konzentration, Entspannung und Wahrnehmung trainieren. Kopiervorlagen und Audiomaterial. Berlin.
  • BDK (2020/2008): Bildungsstandards im Fach Kunst für den mittleren Schulabschluss. In: https://static.bdk-online.info/bis2020/2008/11/BildungsstandardsBDK.pdf (letzter Aufruf: 11.06.2021).
  • Berthold-Andrae, Hildegard/Bühler, Ernst/Jünemann, Margrit (Hrsg.) (2015): Formzeichnen. Die Entwicklung des Formsinns in der Erziehung. Stuttgart.
  • Bohnet, Kati (2021): Die Reise des Schmetterlings. Stressregulation für Kinder. Berlin/Georgsmarienhütte.
  • Born-Kaulbach, Christian/Cammenga, Tido/Welter, Joachim (Hrsg): (2016): Wundersame Wandlungen zur Selbstwirksamkeit. Neue lösungsfokussierte Strategien der Begleitung von Kindern, Jugendlichen und Familien am Beispiel der Jugendhilfe. Dortmund.
  • Brosche, Heidemarie/Kasten, Jeanett (2003): Mehr Gelassenheit und Achtsamkeit im Schullalltag. So können wir es packen. Berlin.
  • Drosowsky, Petra (1996): Kinder entspannen mit Yoga. Kleine Übungen für Kindergarten und Grundschule. Mühlheim an der Ruhr.
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Anmerkungen

Vertiefende Einblicke in die Überlegungen des Autors zu Theorie und Methodik einer ganzheitliche Kunstpädagogik (mit einer dezidiert ökologischen Ausrichtung) finden sich hier: Integrale Kunstpädagogik. Die Fachplattform für eine ganzheitliche ästhetische Bildung (www.integrale-kunstpaedagogik.de).

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Joachim Penzel (2021): Kunstunterricht als ästhetische Achtsamkeitspraxis. Anregungen für eine ganzheitliche Persönlichkeitsbildung. In: KULTURELLE BILDUNG ONLINE: https://kubi-online.de/index.php/artikel/kunstunterricht-aesthetische-achtsamkeitspraxis-anregungen-ganzheitliche (letzter Zugriff am 16.07.2024).

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