Kunst kann das! Schulentwicklungsprozesse basierend auf einem künstlerisch-kulturellen Bildungsmodell
Abstract
Der Beitrag setzt sich mit den Lernchancen durch Künste auseinander, problematisiert die Brisanz der Pädagogisierung von Künsten im System Schule und zeigt am Beispiel der Peter Gläsel-Schule und der Umsetzung des „PRRITTI-Bildungsmodells", wie man mit künstlerischer Bildungspraxis im Epizentrum der Absicht kultureller Schulentwicklung, der Veränderung von Schule, ankommen kann: Durch die Gestaltung von Lernen als interessen- und handlungsorientierte, kunstanaloge Bildungspraxis, welche das Element des Künstlerischen mit dem Element des Partizipativen in einem ganzheitlichen Sinn verbindet.
Wie weit hat Kunst Schule verändert?
Meine Wahrnehmung kultureller Schulentwicklung in Deutschland in den vergangenen zehn Jahren ist, dass sich etliche Schulen auf den Weg gemacht haben, in einem sehr viel breiter angelegten Rahmen Schüler*innen künstlerisch-ästhetische Erfahrungen zu ermöglichen und sich als Schule stärker mit kulturellen Einrichtungen zu vernetzen. Schulen sind selbst Orte künstlerischen Handelns und die Kunst hat sich zu einem profilbildenden Element der Schule als solches entwickelt. Letzteres auch oft verbunden mit einem öffentlichkeitswirksamen Marketing für die Schule. Das sind – ohne Zweifel – wünschenswerte Entwicklungen.
Ich stelle aber auch fest, dass den Akteuren in diesem Feld die Entwicklungen nicht weit genug gehen oder klar gesagt wird, dass man trotz hohen Aufwands zu selten im Epizentrum der Absicht kultureller Schulentwicklung, der Veränderung von Schule als solcher, angekommen ist. Dabei soll kulturelle Schulentwicklung auf individueller Ebene als Entwicklung der Persönlichkeit der Schüler*innen etwas bewirken, tatsächlich schulische Rahmenbedingungen verändern und die Identität von Schulen beeinflussen (vgl. Braun 2013).
Man schmückt sich gern auf Schulveranstaltungen mit künstlerischen Darbietungen, aber einen Rückhalt für die Veränderungsprozesse in Kollegien, echtes Verständnis der Möglichkeiten künstlerischer Prozesse und das Willkommen-Heißen des Potenzials, die Schule von innen her mit ernsthafter Beteiligung von Jugendlichen zu verändern, sodass eine kulturelle Atmosphäre spürbar und Bestandteil der Schul-DNA wird, gibt es zu wenig.
Da hilft auch die Berufung auf UN-Konventionen und das nordrhein-westfälische Schulgesetz nicht, auch wenn dieses den klaren Appell an das System Schule richtet: „Schülerinnen und Schüler werden befähigt, verantwortlich am sozialen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, beruflichen, kulturellen und politischen Leben teilzunehmen und ihr eigenes Leben zu gestalten [Herv. d. Autor].“ (Schulgesetz NRW § 2, Abs. 4)
„Jeder junge Mensch [hat] ohne Rücksicht auf seine wirtschaftliche Lage und Herkunft und sein Geschlecht ein Recht auf schulische Bildung, Erziehung und individuelle Förderung [Herv. d. Autor]“ (ebd. § 1, Abs. 1). Dies ist eine Forderung an Schule und bedeutet, dass Schüler*innen individuell gefördert werden müssen. Selbst bei diesem Thema, bei dem es noch gar nicht um Schulentwicklung geht, hat die Umsetzung nur im Ansatz begonnen.
Woran liegt das?
Es gibt ein in Schule weit verbreitetes Überforderungsgefühl angesichts der Wahrnehmung, doch schon ständig wechselnden Ansprüchen ausgeliefert zu sein. Das wird als „Schulentwicklung von außen“ interpretiert, die keine Zeit und keine Kraft für Veränderung übrig und keine Aussicht auf Anerkennung gelungener Veränderung erwarten lässt. Es gibt ein latentes Misstrauen, ob sich Veränderung lohnt.
Es gibt systemische Beharrungskräfte. Von Schule haben alle eine klare Vorstellung. Und weil Schule immer schon so war, sieht man die Identität von Schule in dem, was sie ist, und nicht in dem, was sie (auch noch) sein könnte.
Obwohl gesetzlich gefordert, stecken partizipative Prozesse in Schulen oft noch in den Kinderschuhen, weil Partizipation nicht als Verantwortungspartnerschaft und Lerngelegenheit verstanden wird, sondern als begrenztes Übungsfeld für Demokratie in Gestalt von Klassenräten und Schülerparlamenten. Darin liegt für Schüler*innen die Unsicherheit, ob gefasste Beschlüsse auch tatsächlich umgesetzt werden. Nicht zuletzt besteht das Problem, dass dort ja auch nichts Grundsätzliches, nichts Struktur- und Identitätsveränderndes beschlossen wird, sondern Oberflächliches, wie Anschaffungen oder Pausengestaltung.
Mit Blick auf Kulturelle Bildung ist ebenso manches ungeklärt. Welche Funktion haben die künstlerischen Projekte und die Künste insgesamt in den Schulen vor Ort bezogen auf die Schulentwicklung? Welches Kunstverständnis wird eigentlich zugrunde gelegt? Wie weit darf Kunst überhaupt etwas verändern und welches Bewusstsein darf Kunst bilden?
Und es gibt in der schulischen Praxis klare Widersprüche zu dem, was Kunst im Kern ausmacht. Das System Schule hält immer noch eine vermutete Normalität und einen Konformitätsdruck (vgl. Steins 2012: 2f.) aufrecht. Wo ist da Platz für Individualität, Besonderheit, Kreativität, Innovation, die für Kunst als Gestaltungsprozess immanent sind?
Kunst wird oft in Schule[n] verzweckt. Sie muss zu etwas führen und zu etwas gut sein. Man schaut auf das Resultat, auf das Vorzeigbare, und macht ihren Wert an dem fest, was man sieht, was nicht zwingend das ist, was in den Künstler*innen wirkt. Kann ich Persönlichkeitsentwicklung sehen, kann ich sie gar benoten?
Schule unterliegt dem Risiko der ständigen Pädagogisierung von Kunst, weil sie Kunst als eine Facette von Bildung neben vielen anderen Bildungsinhalten betrachtet, die eben auch eine gewisse Form der Vergleichbarkeit von Resultaten (individuell und im Ergebnis) erzielen soll und sich selbst dafür rechtfertigen muss, dass sie anderen Inhalten gleichwertig ist.
Royston Maldoom lehnt dies im Blick auf die Kunstform, die er im Tanz entwickelt hat, den „Community Dance“, ab. Kunst ist kein Erziehungsmittel und geht auch nicht im Resultat auf, obwohl dies am Ende entsteht. Sie ist vielmehr ein Prozess der Auseinandersetzung mit sich selbst, mit anderen, mit der Musik, der Rolle als Tänzer*in, der Selbst- und Fremdwahrnehmung, dem Umfeld und der Gesellschaft, und damit so vielschichtig, dass sie nicht auf einen Nenner zu bringen ist. Sie ist Kunst. Sie wirkt in sich und durch sich und ist dennoch nicht bedeutungslos: „We believe in the value of the art in bringing about individual transformation and community change.“ (Maldoom 2011)
Man mag diese Zustandsbeschreibung teilen oder auch nicht, aber weil es um Kunst geht, werden solche Widersprüche zwischen dem Wesen der Kunst und ihrer Reglementierung, Normierung und Verzweckung im Schulsystem offensichtlich. Kunst, wenn sie Kunst ist und nicht Pädagogik, wird diesen Zustand immer kritisieren müssen. Denn dieser Zustand widerspricht dem Wesen der Kunst.
Ist das Kunst oder ist es harmlos?
Kunst ist nicht harmlos. Sie ist auch nicht Beiwerk. Sie ist kein Fach oder eine Arbeitsgemeinschaft oder ein Projekt. Kunst ist eine fundamentale Lebensäußerung. Sie ist kulturelle Aneignungs- und Interpretationstechnik, die Macher*innen und Betrachter*innen gleichermaßen zu verändern sucht.
Auch wenn der Kunstbegriff der Moderne unscharf geworden ist und Kunst im Kunstbetrieb oder in den formalen Kunstinstitutionen im Blick auf Konsument*innen oder Abonnent*innen inzwischen als „Produkt“ oder „Ware“ verstanden wird, ist – wenn es tatsächlich um Kunst geht – die Frage zu stellen, welchen Grad der Veränderung wird der Kunst in unserer Gesellschaft und – im Falle Kultureller Bildung – in unseren Schulen zugetraut, aber mehr noch erlaubt.
Wenn wir nämlich davon ausgehen, dass der Kunst eine verändernde Kraft innewohnt, die Schule weiterentwickeln soll, dann stellen sich aus dieser Absicht heraus für das System Schule brisante Fragen:
- Darf die Kunst frei wirken oder wird sie gezähmt?
- Darf sie Unangepasstheit und Individualität fördern oder setzt man in Schule weiter auf Konformität?
- Wird die Kunst für eine Profilbildung verzweckt oder ist sie autonom?
- Bekommt die Kunst tatsächlich den Stellenwert in Schule, der der Kunst immanent ist, wenn sie Kunst ist und als solche individuell und gesellschaftlich wirkt?
Was ist Kunst?
Dies ist meines Erachtens eine Frage, die sich jede Institution, die in/mit/durch Kunst wirken möchte, stellen sollte.
Ich möchte an den philosophischen Kunstbegriff Theodor W. Adornos erinnern. Adorno beschreibt in der „Ästhetischen Theorie“ die Kunst als Freiheit (Adorno 1996: 33f.). Sie ist „gesellschaftliche Antithesis zur Gesellschaft“ (ebd.: 19) und „Statthalter einer besseren Praxis“ (ebd.: 26). Sie ist weder Ideologie noch Ware. Durch die Autonomie der Kunst im Sinne einer ästhetischen Gestaltung wirkt in der Kunst ein herrschaftsfreies Prinzip der Erfahrung. Sie ist einzig verbliebenes Subjekt des Widerstands (vgl. Seibel 2014).
Die Kunst hatte für Adorno eine Dialektik, die darin bestand, das Gesellschaftliche, das alles – auch das der Schüler*innen, ihr komplettes Umfeld und ihr Erfahrungswissen einschließt – zum Ausdruck bringt und gleichzeitig rückwirkt auf das gesellschaftliche Umfeld, in dem man sich bewegt. Der soziale Gehalt der Kunst besteht darin, dass Gesellschaft auf die Struktur des künstlerischen Werks einwirkt, damit Kunstwerke verstanden werden können (vgl. Adorno 1996: 272). Andersherum wirken die Kunstwerke auf die Gesellschaft als „immanente Bewegung gegen die Gesellschaft“ (ebd.: 336).
Das bedeutet, dass Kunst beschreibt, aufdeckt, kritisiert, rückwirkt. Und es bedeutet vor allem, dass es einen Anspruch der Kunst gibt, der aus der Kunst selbst entsteht.
Die Frage, die sich jetzt stellt, ist, ob es dann überhaupt gelingen kann, den Anspruch der Kunst basierend auf einem Kunstverständnis wie dem Adornos in Schule umzusetzen.
Kunstanaloges Lernen
Als wir 2015 eine Grundschule in Detmold eröffneten, haben wir dies auf der Grundlage eines künstlerisch-kulturellen Bildungsmodells getan: dem sogenannten PRRITTI©-Bildungsmodell (vgl. Köhler/Wolf 2017). Wir haben es selbst entwickelt. Es stellt eine Besonderheit dar.
Das PRRITTI©-Bildungsmodell geht, wie die Kunst, von der Zweckfreiheit einer Erfahrung aus. Das nennen wir Praxis (erster Buchstabe von PRRITTI). Diese Praxis, wodurch auch immer ausgelöst – durch eine Beobachtung, einen Impuls, einen Gedanken, ein Tun – kann zum Ankerpunkt des Lernens werden – oder auch nicht. Nicht alles, was wir erleben, hat Relevanz. Aber was wir erleben, kann Relevanz bekommen.
Wie ein künstlerischer Prozess an unserer Schule aussieht, werde ich noch erläutern, hier geht es eher darum, an einem unscheinbaren Beispiel aufzuzeigen, dass für uns alles die Qualität in sich trägt, zum Ausgangspunkt einer Aneignung, einer Gestaltung, eines Prozesses zu werden.
Ein Alltagsbeispiel: Jeden Tag putzt man sich (hoffentlich!) die Zähne. Ich tue dies mit einer elektrischen Zahnbürste. Zähneputzen mag man unbedacht tun und dabei an etwas völlig anderes oder auch an nichts denken. Es kann aber auch sein, dass man sich plötzlich fragt, wie wohl der Motor aussieht, der so klein und wasserdicht in den Schaft der Zahnbürste eingebaut ist? Oder: Woher weiß die Zahnbürste eigentlich, wie viel Zeit sie gebürstet hat, bis sie mir ein Signal gibt? Oder: Wie ist dies technisch gelöst, dass bei zu viel Druck meiner Hand gegen die Zähne oder das Zahnfleisch ein rotes Licht leuchtet? Es muss nicht sein, dass Sie sich diese Fragen stellen. Aber stellen sich diese Fragen, bietet sich die Chance, etwas zu lernen.
Löst die Praxis etwas aus, wirkt etwas nach, sind wir in Korrespondenz mit dem Erlebten, nennen wir dies Resonanz (zweiter Buchstabe von PRRITTI). Dies markiert ein Bewusstwerden, dass etwas anders ist als vorher, weil ich auf etwas aufmerksam geworden bin, es bewusst wahrnehme. Nehme ich dies wiederum zum Anlass, mir weitergehende Gedanken zu machen, ist meine Neugierde geweckt.
Will ich wirklich wissen, was für Sensoren in meiner Zahnbürste verbaut sind, starte ich dadurch eine Reflexion (dritter Buchstabe von PRRITTI) darüber, was ich wissen will, wie ich vielleicht schon weiter vorgehen kann, und priorisiere, was für mich interessant ist. Damit stehe ich nun an der Schwelle zur Information, die auf echtes Interesse stößt, weil mich etwas bewegt, sich eine Wissenslücke auftut. Bis hierher ist der Wahrnehmungs-, Wirkungs- und Reflexionsprozess offen, nicht verzweckt, nicht ergebnisorientiert, nicht festgelegt, in die eine oder andere Richtung zu gehen, sondern es bestehen immer noch alle Möglichkeiten, die sich aus einer Praxis ergeben können, auch die, sich nicht mit ihr zu beschäftigen. Die Praxis schließt die Komplexität der Welterfahrung ein, weil sich alles zum Gegenstand der Erforschung und der Vertiefung eignet. Die Komplexität des Daseins ist damit im Blick, aus der heraus ich auf jedes Detail fokussieren kann.
Erst jetzt kommt die Information (vierter Buchstabe von PRRITTI), die auf Neugierde stößt. In den meisten Bildungszusammenhängen steht die Information am Anfang. Das macht aber keinen Sinn, weil sich unverbundene Information nicht mit Vorhandenem in meinem Gehirn so verbindet, dass aus Erfahrung und Information Erkenntnis und nachhaltiges Wissen werden. Eine Information zu bekommen, die ich nicht brauche, ist sinnlos. Eine Information zu haben, die ein Interesse stillt, eine Frage in eine Antwort auflöst, einen Hintergrund beleuchtet, mit dem ich mich beschäftige, ist sinnvoll und bleibt auch zukünftig abrufbar.
Die Information wirkt wie ein Scharnier zwischen dem zweckoffenen und dem zweckverbundenen Raum, weil ich nun mit der Information mein Wissen, mich selbst, meine Umstände, vielleicht nach Größe des Gegenstands, mit dem ich mich beschäftige, auch die Gesellschaft transformieren kann. Das heißt, ich bin in der Lage, den Zugewinn an Erkenntnis wahrzunehmen und anzuwenden. Diesen Zustand nennen wir Transformation (fünfter Buchstabe von PRRITTI).
Der daraus gewonnene Fortschritt kann in andere Zusammenhänge getragen werden. Weiß ich – um auf das Beispiel zurückzukommen –, wie in meiner elektrischen Zahnbürste Sensoren funktionieren und wofür sie eingesetzt werden, kann ich ihre Verwendung in anderen Zusammenhängen entdecken. Mit diesem Wissen kann ich zum Beispiel experimentieren oder etwas unter der Verwendung von Sensortechnik bauen, weil ich den Sinn der Verwendung verstanden habe. Das nennen wir Transfer (sechster Buchstabe von PRRITTI), also die Anwendung gewonnener Erkenntnis in anderen Zusammenhängen als der Ursprungserfahrung. Dies hat auch mit der Entdeckung des Prinzips einer Sache zu tun, der Wahrnehmung, dass hinter einem Phänomen zum Beispiel eine Gesetzmäßigkeit steckt.
Aus dieser Erkenntnis können dann völlig neue Dinge entstehen, auch neue Fragen. Ich kann feststellen, was sich am Ende des Prozesses verändert hat und dies als Neuigkeit festhalten (nachher – vorher = Unterschied). Ich kann sogar am Ende etwas in den Händen halten, was ich geschaffen habe und was es vorher nicht gab: einen Text, ein Produkt etc. Dieser letzte Schritt heißt Innovation (siebter und letzter Buchstabe von PRRITTI). Es bedeutet, dass eine – bleiben wir beim Zähneputzen – gewöhnliche Alltagssituation eine ganze Kette der Beschäftigung mit einer Sache ausgelöst hat, die mich gedanklich, handwerklich, künstlerisch – was auch immer – an einen anderen Ort geführt hat. Ich bin im Neuland angekommen.
Dieses Modell ist analog zu einem künstlerischen Prozess gestaltet, bei dem die Künstler*in einen Auslöser für die Beschäftigung mit einem Thema erhält, räsoniert, reflektiert und den Entschluss fasst, sich auf den Sachverhalt künstlerisch einzulassen.
Dazu wird es notwendig, sich über die Möglichkeiten, Techniken, Materialien und Medien des künstlerischen Handelns klar zu werden und auf der Grundlage dessen ein Kunstwerk zu kreieren. Damit transformiert sich eine Aufmerksamkeit in eine Handlung, Bewegung, Darstellung, die wiederum – bewusst oder unbewusst – etwas in anderen Bereichen, in Menschen, in neuen Zusammenhängen anzustoßen vermag, etwas bewegt und auch bei anderen transformiert. Die Übertragbarkeit in andere Zusammenhänge kann ein Akt der Rezeption der Kunst sein, ein Akt der Wiederholung an anderer Stelle, in einer anderen Zeit (wir hören und spielen heute immer noch Mozart), an einen anderen Ort (Fußgängerzone statt Konzertsaal). Es kann sein, dass Kunst etwas vollkommen Neues auslöst, ins Spiel bringt, herausfordert und durch ihre eigene Kreativität innovativ wird und Innovation anstößt.
Nun kommt vermutlich kaum ein*e Künstler*in auf die Idee, den Ablauf eines künstlerischen Prozesses in seine Bestandteile zu zerlegen, zu systematisieren und sich im Schaffensprozess gleichzeitig selbst von einer Meta-Ebene aus zu betrachten. Künstler*innen halten Bewegung des Schaffens eher aufrecht, als in ständigen Selbstreflexionsschleifen zu verharren. Dennoch ist der beschriebene Prozess das, was substanziell das künstlerische Schaffen antreibt und ermöglicht.
Da wir als Peter Gläsel Stiftung Lernen als kunstanalogen Prozess interpretieren und ihn schon deshalb nicht als Akt der Reproduktion von Wissen, sondern als Akt des Entdeckens und Kreierens verstehen, ist es wichtig, beim Lernen eben auch die Bewegung aufrechtzuerhalten. Das bedeutet, dass, wenn Schule Lernen als aktiven, selbst gesteuerten Prozess ermöglichen will, die Struktur und die Organisation von Schule dieser Bewegung nicht entgegenstehen darf, sondern sie befördern muss.
Das hat Konsequenzen, denn dann müssen Schüler*innen selbst viel mehr Einfluss auf die Abläufe und Inhalte nehmen können, als das hinlänglich der Fall ist.
In unserer Schule haben wir dies so gelöst:
- Es gibt keine Taktung, weil Zeit wichtig ist, sich überhaupt einlassen und in eine Sache vertiefen zu können.
- Es gibt keine Fächer, sondern Angebote, die genügend Impulse einbringen, die den Wissensdurst entstehen lassen und in denen ständig Bezüge zum Lernplan hergestellt werden.
- Es gibt keine „One-fits-all“-Vermittlung von Inhalten, keine Konformitäts- und Normalitätserwartungen, sondern die Entscheidung von Schüler*innen, wann sie diesen Inhalt lernen. Lernen findet in unterschiedlichen Zusammenhängen, Vertiefungsebenen, Inhaltlichen Ausrichtungen und unterschiedlichsten Arbeitsformen zur selben Zeit statt. Durch den Angebotscharakter kann jede*r die Art des Lernens wählen, die für sie*ihn passt und im Moment die höchste Plausibilität hat.
- Es gibt keine Lehrer*innen, sondern Lernbegleiter*innen in einem multiprofessionellen Team. Der Schwerpunkt dieser Begleitung liegt auf der Unterstützung individueller (Lern-)Bedürfnisse der Schüler*innen, aber vor allem auf der Etablierung sehr guter persönlicher Beziehungen. Diese bewirken Sicherheit, Selbstständigkeit, Dialogfähigkeit, gegenseitige Beratung und Wertschätzung sowie das wichtige Gefühl sozialer Zugehörigkeit.
- Alle Lernbegleiter*innen sind gleichberechtigt. Es gehören auch Künstler*innen zum Team, die mit ihrer Profession eine besondere Qualität in die Entwicklung künstlerischer Prozesse bringen können. Was im „MUSE“-Modellprojekt der Yehudi Menuhin Stiftung in 2000er Jahren umgesetzt wurde, hat hier eine Permanenz innerhalb der Schule und des Teams bekommen.
- Durch die Vermeidung des Vergleichens, Benotens und Bestrafens sowie die Tatsache, dass es weder Tests noch Hausaufgaben gibt, gibt es eine angstfreie Beschäftigung mit den curricularen Inhalten, die auch wir natürlich vermitteln müssen.
Ich lasse es dabei bewenden. Es gäbe noch viele Dinge, welche die von der Mehrheit der Schulen abweichende Gestaltung des Schulalltags beschreiben würden.
Dies so zu organisieren, ist übrigens nicht eine Frage von Ressourcen, sondern eine Frage der Haltung. Dies beschreibt die Perspektive, die Schule dann einnimmt, wenn sie das Lernen selbst und die Bedürfnisse der Schüler*innen zum Ausgangspunkt der Organisation der Schule machen. Die Regelungen der Abläufe obliegen immer der Schule, solange sie sich an das Schulgesetz und die Bildungspläne hält.
Schule als künstlerisch-kulturelles Lerngebilde
Ich möchte aber gern an einem Beispiel aus dem künstlerischen Bereich der Schule aufzeigen, dass die Peter Gläsel Schule (siehe www.pgschule.net) der Kunst folgt und nicht die Kunst der Schule.
Im Angebot Religion und Verantwortung haben sich die Schüler*innen der Peter Gläsel Schule mit den Zielen für nachhaltige Entwicklung der UNESCO beschäftigt. Besonders interessiert hat sie die Frage globaler Umweltveränderungen im Kontext verantwortlichen Konsums (vgl. Schreiber/Siege 2016: 277). Sie sind auf die Plastikvermüllung der Meere aufmerksam geworden. Dieses Problem hat sie tief berührt. Sie haben sich daraufhin ausführlich über Müllproblematiken in verschiedenen Medien informiert (Bücher, Videos, Gespräche mit Erwachsenen, Besuch beim Recyclinghof). Sie haben Müllsammelaktionen organisiert, sind in lokale Märkte gegangen und haben sich mit dem Einkauf von verpackungsfreien Lebensmitteln beschäftigt. Sie haben einen Garten besucht und eine Fläche begutachtet, um selbst etwas anzubauen. Sie haben Klimabotschafter*innen von Plant-for-the-Planet eingeladen, die sie über den Klimawandel informiert haben.
Über den Zeitraum mehrerer Monate haben sie sich regelmäßig mit dem Thema auseinandergesetzt. Immer mit dem Blick auf eigenes umweltbewusstes Handeln vor Ort, aber auch mit dem Wunsch, ihr Wissen weiterzugeben und andere insbesondere für die Müllproblematik zu sensibilisieren. So entstand auch die Idee eines Theaterstücks.
Damit startete ein ebenfalls mehrmonatiger Prozess der Entwicklung einer Geschichte, einer Dramaturgie, einer Komposition, dem Texten von Liedern, der Einbindung von Film, des Entwurfs von Kostümen, der Produktionsplanung in einem lokalen Theater, dem Sommertheater Detmold, der Bewerbung des Stücks, der Anfertigung von Tickets, des Produktionsmanagements und der Aufführung selbst.
Keine noch so verrückte Idee wurde abgeschmettert, sondern im Blick auf ihre Machbarkeit und Implementierung in das Gesamtkonzept überprüft. (Es haben sechs Mülltonnen mitgespielt und es ist eine Rakete auf der Bühne gelandet!) Da kooperative und partizipative, jahrgangsübergreifende Lernformen Standard an unserer Schule sind, gab es auch immer eine Wechselwirkung und einen Dialog zwischen den Ideen und Interessen aller Beteiligten. Es wurden Voraussetzungen und Grenzen gemeinsam festgelegt. Das bedeutet auch, sich von Ideen zu verabschieden – allerdings informiert und bewusst.
Im Stück haben alle Schüler*innen und alle Erwachsene des Teams mitgewirkt. Nicht alle haben dabei eine Bühnenrolle gewählt. Andere waren mit einem Platz im Orchester, welches das Stück musikalisch begleitet hat, sehr zufrieden, andere hinter den Kulissen oder beim Kulissenbau.
Dreieinhalb Wochen vor der Aufführung, am 17. Juni 2018, haben alle anderen schulischen Aktivitäten geruht und es wurde fast überwiegend an dem Stück gearbeitet. Diese Vorbereitung hatte für die Schüler*innen einen hohen Grad der Verbindlichkeit.
In der gesamten Zeit sind alle Möglichkeiten genutzt worden, um von der Produktion des Theaterstücks auf curriculare Inhalte Bezug zu nehmen: Mathematische Berechnungen beim Kulissenbau, Schreiben von Texten für das Stück, Präsentation von Inhalten und Ideen, Medienarbeit bei der Erstellung von Trickfilmen auf iPads, um wenige Dinge zu nennen.
Darüber hinaus schlossen sich über die Erfahrung des Stücks weitere Lernprozesse an und alle Beteiligten entwickelten sich persönlich weiter. Nicht zuletzt hat auch der Erfolg der Aufführung mit dem Titel „Was ist los im Zauberwald?“ (Peter Gläsel Schule 2018) vor 350 Zuschauer*innen Spuren hinterlassen und bei Eltern und Gästen ein Verständnis für die Müllproblematik bewirkt – und teilweise auch eine veränderte Praxis des Einkaufens und Konsumierens nach sich gezogen, so wie es sich die Kinder ursprünglich gewünscht hatten. In der Schule bleibt das Gefühl von gestärkter Gemeinschaft durch die gemeinsame Bewältigung einer Herausforderung.
Partizipation und Kunst
Es ist erstaunlich für mich, dass in Deutschland immer noch viel über die Köpfe von Kindern hinweg entschieden, geregelt, geplant und gestaltet wird, selbst wenn es um etwas geht, was ihnen eigentlich viel Spaß macht: das Lernen. Dabei ist es gesetzliche Pflicht, Kinder umfassend zu beteiligen. Es ist sogar ihr Recht.
Es mag sein, dass wir als Erwachsene schwer glauben können, dass Kinder und Jugendliche gern lernen, denn sofort werden Erlebnisse mit gelangweilten, motivationsarmen Schüler*innen wach. Aus Sicht meiner Erfahrung geschieht Letzteres, wenn Kinder und Jugendliche nicht wirklich die Verantwortung für ihr Lernen und ihre sozialen Prozesse tragen. Auf Schulbücher und Arbeitsblätter verengte Inhalte und eine soziale Struktur der Interaktion, die durch Hierarchie gekennzeichnet ist, entbindet sie von der Zuständigkeit für den Prozess, der als Lernen ein Prozess des Schaffens und Aneignens ist. In einer Konsumentenhaltung ist es leicht, sich passiv zu verhalten, in einem gegenseitigen Gestaltungsprozess geht dies eher nicht. Deshalb muss aus meiner Sicht kulturelle Schulentwicklung, wenn sie spürbar verändern soll, das Element des Künstlerischen mit dem Element des Partizipativen in einem ganzheitlichen Sinn verbinden. Denn es gibt sowohl sehr autoritäre Kunst, wie es auch (wie oben geschildert) wirkungslose oder oberflächliche Beteiligung gibt.
Das erfordert also eine weit größere Veränderung und Weiterentwicklung von Schule, als dies bislang geschieht. Aber gerade der Kunst können wir zutrauen, dass sie Zugänge zu Gestaltungs- und Veränderungsprozessen ebnet und Bewusstsein für relevante Themen erzeugt.
Immer wieder haben wir als Stiftung komplett partizipative Kunstprojekte in Schulen durchgeführt. Mehrfach in der Laborschule in Bielefeld. Auf dem für zwei Projekte eingerichteten YouTube-Kanal „#wiral“ gibt es Beispiele zum Thema Selbstbild oder der Flüchtlingsthematik – große gesellschaftliche Themen –, die im schulischen Kontext tiefe Wirkung gezeigt haben. Es ging vor allem darum, auf YouTube Kommentare auszulösen, die dann für das Tanzstück als Bausteine genutzt wurden. Es ging auch darum, selbst zu erfahren, welche teilweise problematische, rassistische Reaktionen ein Thema hervorruft. Dies hat Jugendlichen gezeigt, wie viel Aggression in sozialen Medien geäußert wird.
Es brauchte drei Wochen von der Idee bis zur Tanz-Performance. In Nachgesprächen hielten dies alle Beteiligten für gut investierte Zeit, bedenkt man die Dichte der Erfahrung und die Kompetenzentwicklung für die einzelnen Schüler*innen sowie für das Schülerkollektiv.
Was verändert Schule eigentlich?
Greta Thunberg, die schwedische Schülerin, die im Jahr 2019 in aller Munde ist, hat als Umweltaktivistin in Katowice eine bemerkenswerte Rede gehalten und einen Satz gesagt, der auch für das Thema Schule seine Anwendung finden könnte: „If the solutions within the system are so impossible to find, maybe we should change the system.“ (Thunberg 2018)
Am Ende sind die Menschen in Schule gefragt, wie sie sich ihr Zusammenleben und Zusammenwirken vorstellen. Dies als gegenseitigen Gestaltungsprozess zu begreifen und voneinander und miteinander zu lernen, ist nachhaltiger, als nur bedacht zu sein, Kindern und Jugendlichen etwas beizubringen.
Aber Ängste vor Veränderung und die Sorge, dass gravierende Veränderungen der Struktur von Schule nicht erlaubt sein könnten, tragen leider oft dazu bei, dass ganzheitliche, tiefgehende und tatsächlich persönlichkeits- und schulentwickelnde Lernerfahrungen nicht gemacht werden. Dies ist aber kein rein systemisches Problem, sondern auch eine Frage der persönlichen Einschätzung von Umständen und Möglichkeiten durch die Lehrer*innen. Es ist eine Frage der Haltung.
Kunst und kunstanaloges Lernen, das habe ich hoffentlich zeigen können, bringen in Schule eine ganz andere Dimension der Beschäftigung mit sich, mit Inhalten, mit Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten und Veränderungschancen, als dies vermutlich durch andere Zugänge überhaupt möglich wäre. Aber auch das geht meines Erachtens nur dann, wenn wir die Kunst nicht instrumentalisieren oder in ihren Möglichkeiten und Wirkungen beschneiden und der Kunst „Schonräume“ einrichten (Braun 2013), bei denen sich vor allem die Schule vor der Kunst schont. Und dies erfordert eine andere Lernlogik, die möglicherweise auch durch andere pädagogische Ansätze als dem PRRITTIÓ-Bildungsmodell zu erreichen ist. Dennoch ist unser Ansatz wirkungsvoll und schafft gelingende Voraussetzungen dafür, dass Entwicklungen auf individueller und systemischer Ebene ideal zusammenwirken und eine Kultur schaffen, in der Schule sich permanent weiterentwickelt, Kinder in erster Linie Kinder sein können und Kunst weiter Kunst ist – und nicht harmlos!