Kulturelle Teilhabe durch Musik? Musikprojekte der transkulturellen Kinder- und Jugendbildung für Roma im Spannungsfeld von Empowerment und Othering
Abstract
Teilhabe ist in aller Munde und wird in gesellschaftspolitischen als auch in wissenschaftlichen Diskursen mit großen Hoffnungen verbunden. Kulturelle Teilhabe wird insbesondere dort als förderlich gepriesen, wo sogenannte benachteiligte Zielgruppen in den Blick genommen werden: Die Künste sollen als ästhetisches Medium zur gesellschaftlichen Integration, zur Teilhabe aller am kulturellen Leben in der Bundesrepublik beitragen.
Dem Diskurs ist jedoch inhärent, dass Projekte angestoßen werden, in deren Verlauf sich das Ziel kultureller Teilhabe in sein Gegenteil verkehren kann. Inwieweit kulturelle Ausgrenzung folglich die zweite Seite der Medaille ist und sich eine inkludierende Exklusion vollzieht, untersucht der Artikel exemplarisch anhand transkultureller Musikprojekte, die explizit für Kinder und Jugendliche der ethnischen Gruppe der Roma konzipiert wurden. Es kann festgestellt werden, dass der Diskurs zwischen Strategien des Empowerments und exotisierendem Othering oszilliert – und damit eine hochpolitische Tragweite gewinnt.
Vorbemerkung
Der nachfolgende Artikel untersucht die politische Dimension der Kunst nicht als ein „Medium der Agitation“, wie es im Eingangstext zur Tagung „Auftrag Kunst. Die politische Dimension der Kulturellen Bildung.“ heißt, sondern analysiert, wo Kulturelle Bildung als Deckmantel fungiert und somit keine oder wenig gesellschaftliche Beteiligung im Sinne einer politischen Teilhabe erreicht wird. Projekte Kultureller Bildung können so eine hochpolitische Tragweite gewinnen, die, so werde ich aufzeigen, unbedingt transparent dargelegt und benannt werden muss.
Ich möchte mit einer Frage beginnen, die mich selbst in meiner Forschung stets begleitet hat, seitdem sie Rainer Treptow vor vielen Jahren seinem Publikum stellte (vgl. Treptow 2010: 43): Wann sind Sie das letzte Mal von einem Konzert, von einer Musikaufführung oder vom Hören eines Musikstücks so berührt und/oder geprägt worden, dass damit eine verändernde Wirkung einherging? Bezogen auf den Kontext meines Forschungsfeldes möchte ich noch spezifizieren: Wann haben Sie zuletzt gelesen oder gehört, dass Musik im Stande sei, ein gesellschaftspolitisches Ziel, nämlich Teilhabe, zu erzielen? Und schließlich noch, quasi sich daraus ergebend, die zentrale Fragestellung und das zentrale Ergebnis meiner Forschungsarbeit: Wie gestalten sich ganz konkret und real diese Teilhabeprozesse und warum können sie auch genau das Gegenteil bewirken, quasi als zweite Seite der Medaille von Teilhabe und zwar in Form einer, wie ich es nenne, inkludierenden Exklusion (Stoffers 2015: 109)?
Im Folgenden gehe ich zunächst auf die Prämissen und Forschungsfragen ein, die meine Arbeit geleitet haben. Im Anschluss untersuche ich drei Beispiele transkultureller Musikprojekte sowie deren künstlerische und pädagogische Bausteine, die eine Teilhabe der teilnehmenden Kinder und Jugendlichen ermöglichen sollten. Schließlich leite ich daraus ein Spannungsfeld und auftretende Phänomene ab, die ein konstitutives Dilemma des Diskurses um kulturelle Teilhabe sind. Wie mit diesem Dilemma umgegangen werden kann, wird im letzten Teil des Artikels diskutiert.
Prämissen und Forschungsfragen oder: Verwunderung und Versprechen
Der Ausgangspunkt meiner Arbeit lag in der Verwunderung über die vielfältigen Wirkungsbehauptungen, mit denen ganz allgemein die Künste als ästhetisches Medium zur gesellschaftlichen Integration, zur Teilhabe aller am kulturellen Leben in der Bundesrepublik aufgerufen werden (vgl- z.B. Deutscher Bundestag 2007: 379). Es scheint, als ob diese Hoffnungen nicht abgenommen haben, sondern immer noch und nicht viel kritischer als vor circa fünf bis sechs Jahren zirkulieren, als die Rede vom „Hype um Kulturelle Bildung“ die Runde machte (vgl. z.B. Becker 2013). Eine hohe Wirkkraft wird der Musik zugeschrieben und dies insbesondere bei sogenannten benachteiligten Zielgruppen. Bundesweit bekannte Beispiele der vergangenen Jahre sind etwa das Education-Projekt „Rhythm is it“ der Berliner Philharmoniker, das Modellprogramm „Jeki – Jedem Kind ein Instrument“ der Kulturstiftung des Bundes oder die inzwischen zweite Förderperiode des vom Bundesministerium für Wissenschaft und Bildung (BMBF) geförderten Programms „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“, z.B. mit „MusikLeben2“ vom Verband deutscher Musikschulen (Förderperiode 2018-2022).
Geradezu beschworen wurden und werden die Potentiale, die als ‚Versprechungen des Ästhetischen‘ einen Toposcharakter besitzen und immer wieder neu in gesellschaftlichen Krisenlagen als Innovation gepriesen werden; von Yvonne Ehrenspeck bereits 1998 als anhaltendes modernes und wirkmächtiges Bildungsprojekt seit Ende des 18. Jahrhunderts analysiert (Ehrenspeck 1998). Im 20. Jahrhundert zeigt sich dies im sozialpolitischen Slogan ‚Kultur für alle‘ des im Juni 2018 verstorbenen Kulturpolitikers Hilmar Hoffmann. Als kulturpolitische Steuerung sollte und soll nach wie vor die Demokratisierung der Künste angestrebt werden; freilich bis heute trotz verbesserter Rahmenbedingungen unerfüllt. Kunst und Kultur, hier: Musik, werden „als Kitt“, als „Schmiermittel der Integration“ (Terkessidis 2010: 181), nach wie vor proklamiert – und damit auch legitimiert.
Allerdings ist – entgegen der Beschwörungen und Behauptungen – das Feld der Forschung Kultureller Bildung zwar inzwischen durchaus breit angewachsen (vgl. die Rubrik Forschung und Forschung in progress unter www.kubi-online.de sowie die Buchpublikationen, die im Nachgang von Tagungen des „Netzwerks Forschung Kulturelle Bildung“ herausgegeben wurden, vgl. www.forschung-kulturelle-bildung.de), aber empirisch ist es weder erschöpfend erforscht noch sind eindeutige Nachweise für Wirkungen erbracht (vgl. Rittelmeyer 2012; Reinwand 2013; Winner et al. 2013). Zum anderen ist es ebenso unklar wie vieldeutig, was überhaupt und ganz konkret mit kultureller Teilhabe gemeint ist (vgl. z.B. Lehmann-Wermser/Jessel-Campos 2013).
Der Containerbegriff Kultur ist dabei die wichtigste Differenzlinie. Insbesondere zwei Varianten werden in den untersuchten transkulturellen Musikprojekten in eins gesetzt und nicht differenziert: Es handelt sich dabei einerseits um die enge Begriffsdeutung von Kultur im Sinne der Künste und ihrer Praxen sowie um Kultur als ethnisch-holistische Variante. Kultur wird damit immer noch häufig zum Marker einer vermeintlich in sich geschlossenen, kohärenten und klar abgrenzbaren Entität. Die unscharfe Verwendung hat Auswirkungen auf die konkrete Teilhabe der Teilnehmenden wie auch auf den Diskurs: Deshalb ist zu fragen: Wie gestalten sich die diskursiven und künstlerisch-pädagogischen Prozesse und Praktiken? Ist die Aushandlungsplattform Kultur Ausdruck einer gewählten, stolzen Selbstbehauptung oder ist sie von homogenisierenden, essentialisierenden oder kulturalisierenden Stereotypen und Zuschreibungen geprägt?
Das binäre Ordnungsschema Eigen und Fremd scheint dabei nach wie vor das wichtigste Orientierungsmuster, auch wenn seit der dekonstruktivistischen Wende in den Kulturwissenschaften diese Binarität als überholt gilt (vgl. Ashcroft et al. 1995; Schiffauer 2004). Zu fragen ist, inwieweit durch diesen schillernden Bedeutungszuwachs des Kulturbegriffs nicht gerade im vermeintlich unpolitischen Kulturbereich Aushandlungen von Differenzsetzungen, Abgrenzungen und Distinktionen stattfinden. Meine Untersuchung fragt deshalb danach, ob die beispielhaft untersuchten transkulturellen Musikprojekte mitverantwortlich sind für strukturelle Ausschlüsse und reproduzierte Benachteiligungen.
Daraus ergeben sich folgende Fragestellungen: Erstens, was ist kulturelle Teilhabe konkret, aus welchen ästhetisch-künstlerischen und pädagogischen Bausteinen wird sie gestaltet und ausgehandelt, wie wird sie konzipiert, begründet und in Anträgen um Förderung argumentativ dargelegt? Wie wird kulturelle Teilhabe schließlich umgesetzt, z.B. auf der Bühne oder im Konzertsaal, wie zeigt sich kulturelle Teilhabe also prozessual und performativ? Zweitens: Welche Strategien und Prozesse können kulturelle Teilhabe ermöglichen und befördern und welche können kulturelle Teilhabe stattdessen schmälern, behindern oder sogar verhindern?
Der empirische Zugang: Transkulturelle Musikprojekte im Spannungsfeld
Um diese Fragen aus einer interdisziplinären Forschungsperspektive, d.h. musiksoziologisch, musikethnologisch und bildungswissenschaftlich empirisch untersuchen zu können, wurden drei Musikprojekte der transkulturellen Kinder- und Jugendbildung ausgewählt, die sich 1. Musik als künstlerischer Ausdrucksweise bedienten, die 2. auf transkulturelle Kontexte und dabei speziell auf Roma-Kinder und -Jugendliche ausgerichtet waren und die 3. in ihrer Konzeption einen Bildungsauftrag zur Teilhabe und Chancengerechtigkeit verfolgten.
Da die ethnische Dimension eine der Zugangsperspektiven auf die Projekte war, wurde Transkulturalität als Konzept zur Beschreibung von Austauschprozessen und Interaktionen zwischen verschiedenen sogenannten Kulturen herangezogen. In kritischer Auseinandersetzung mit dem von Wolfgang Welsch vorgelegten Konzept der Transkulturalität (vgl. Welsch 1997) und einem seiner stärksten Kritiker aus einer musikethnologischen Perspektive, Julio Mendívil (Mendívil 2012), habe ich vier Charakteristika herausgearbeitet, die Transkulturalität gegenüber anderen Konzepten wie Multi- oder Interkulturalität für die Untersuchung ertragreich erscheinen lassen: Transkulturalität richtet den Blick auf 1. Gemeinsamkeiten und ist eine Sowohl-als-auch-Perspektive, umfasst 2. Prozesse, die alle Akteure in den Blick nehmen, nicht nur einzelne Gruppen, es entsteht 3. in diesem Prozess etwas Neues – wobei gleichzeitig beachtet werden muss – und das im starken Gegensatz zum Welsch’en evolutionistisch und positivistischen Konzept – dass sich ebenfalls 4. Zuschreibungen, Ausgrenzungen und konflikthafte Momente beschreiben lassen, die ebenfalls benannt werden müssen.
Für meine Untersuchung wurden drei Projekte über mehrere Jahre untersucht. Es folgt hier nur eine sehr knappe Skizzierung zur Einordnung der Praxisprojekte – ausführlich analysiert wird das reichhaltige Material in der Publikation der Dissertation (voraussichtlich Herbst 2019); einen Einblick zu einzelnen Aspekten findet sich in dem Artikel Stoffers 2017.
Das erste Projekt ist ein Kooperationsprojekt mit dem Titel „Heimat re-invented“, das im Rahmen der MusikTriennale der Kölner Philharmonie mit einer Jugendkunstschule und drei Förderschulen sowie einem Roma-Schulprojekt gestartet wurde. Das Roma-Schulprojekt hat es sich zur Aufgabe gemacht hat, bislang nicht beschulte Roma-Kinder auf den Übergang in Regelschulen vorzubereiten. Zwei Aufführungen bildeten den Abschluss des viermonatigen Projekts.
Bei dem Philharmonischen Verein der Sinti und Roma in Frankfurt am Main handelt es sich um ein Telefonorchester, dass sich für einige Konzerte pro Jahr zusammenfindet, da die Musiker und Musikerinnen ansonsten in anderen Orchestern spielen. Alle Teilnehmenden sind Roma und Sinti und das erklärte Ziel des Orchesters ist es, die Mehrheitsbevölkerung über ihre Kultur aufzuklären. Ein besonderes Anliegen ist die Förderung des Nachwuchses, weshalb die Konzeption des Orchesters sowie ein Schulkonzert im Rahmen der Roma und Sinti Musik- und Kulturtage untersucht wurden.
Als drittes Beispiel wurde die Initiative Zukunftsmusik, eine Musikschule für Sinti- und Roma-Kinder und -Jugendliche in Berlin untersucht. Dieses Kooperationsprojekt der Werkstatt der Kulturen mit dem Landesverband Deutscher Sinti und Roma Berlin-Brandenburg e.V. hatte eine Laufzeit von sechs Jahren – die Musikschule gibt es heute nicht mehr.
Einige der Akteure und Akteurinnen, vor allem in Frankfurt am Main und Berlin sind Sinti und Roma. Durch die vorgenommene Fokussierung auf die als ethnisch konstruierte Zielgruppe können Zuschreibungen wie im Brennglas in den Blick genommen werden, um sie anschließend zu dekonstruieren. Meine Rolle als Gadje, d.h. als Nicht-Romni und Forscherin musste deshalb umso bewusster und behutsamer die eigene Position mit ihren Voraussetzungen reflektieren und kommunikativ ausgehandelt werden.
Aus der Untersuchung der Projekte lassen sich folgende vergleichbare Phänomene zutage fördern: Musik wird als soziale Praxis begriffen, sodass danach gefragt werden konnte, welche Funktion für die Teilhabe zum Beispiel das in den Projekten verwendete musikalische Repertoire hat. Ich habe dieses in allen Projekten analysiert, um zu sehen, wo sich die verantwortlichen Erwachsenen der Projekte musikalisch verorten und in welchen Szenen sie wahrgenommen werden wollen. So unterschiedlich und Genredurchlässig das Repertoire in den einzelnen Projekten auch war, so konnte ich vor allem in Köln feststellen, dass die Kinder und Jugendlichen einen wesentlich größeren musikalischen Radius in ihrer Lebenswelt hatten als die Dozentinnen und Dozenten zum einen annahmen und zum anderen auf der Bühne zeigen wollten. Ein Beispiel: Die Schülerinnen und Schüler der Roma-Projektschule sollten sich ausschließlich mit traditionellen Roma-Liedern auf der Bühne zeigen und zwar als sichtbare, selbstbewusste kulturelle Präsentation. Andere musikalische Vorlieben wurden ihnen auf der Bühne nicht zugestanden.
Sichtbarkeit
Das erste Phänomen bezeichne ich deshalb als Sichtbarkeit. Bausteine der Teilhabe sind z.B. Fragen der Repräsentation im Sinne eines Empowerments und in der pädagogischen Orientierung auf die Kompetenzen der beteiligten Kinder und Jugendlichen: Die Schülerinnen und Schüler kannten die Lieder und konnten sie sehr gut präsentieren. Auch das Orchester in Frankfurt am Main kann angeführt werden, weil es ausschließlich Repertoire spielt, das in irgendeiner Form in der, wie es in der Selbstbeschreibung heißt, Kultur der Sinti und Roma verwurzelt ist (z.B. in Kompositionen von Liszt, Brahms, Verdi, Sarasate und Bartok) oder von ihr inspiriert wurde und wird (z.B. in der Verarbeitung des Topoi von Faszination und Verachtung wie bspw. in der Oper Carmen (Bizet) sowie in speziell für das Orchester geschriebenen zeitgenössischen Werken, die dann uraufgeführt werden).
Auch die sichtbare Verortung durch die Kooperation mit verschiedenen Partnerinnen und Partnern, die sich in unterschiedlichen Feldern jeweils als Kompetenzen verstehen, und damit Aufmerksamkeit in der öffentlichen Wahrnehmung und in verschiedenen Feldern bekommen, lässt sich eine stolze Selbstbehauptung und Repräsentation der eigenen Kultur beschreiben, die mittels dieser Sichtbarkeit einen (selbstverständlichen) Platz einfordert. Dieser Platz ist je nach Kontext unterschiedlich angesiedelt, z.B. als Platz auf Bühnen der öffentlich geförderten Hochkultur wie im Konzert- und institutionalisierten Musikschulbetrieb und als Platz im Sinne von Wissen, Anerkennung und Wertschätzung innerhalb der europäischen Musikgeschichte, wie auch ganz allgemein als Platz in der Gesellschaft. Dadurch arbeiten alle Projekte mehr oder weniger ausgeprägt mit einem aufklärenden Bildungsanspruch, der alle Projekte in den Status eines Vorbildes und Modells hebt – als Signal nach innen an die eigene Community wie auch nach außen an die Mehrheitsbevölkerung. Diese Perspektive der Sichtbarkeit verweist in Richtung einer empowernden, weil (be-)stärkenden Handlungsmacht für kulturelle Teilhabe.
Gleichzeitig geht mit der Sichtbarkeit eine zuschreibende Besonderung einher (vgl. Feuser 1989, Mecheril 2015), die Begründungsargumentationen mit normativen Zuschreibungen und Exotisierungen Vorschub leistet. So können durch die sichtbar gemachten Repräsentationen des Eigenen mitunter starke dichotome Strukturen mit essentialisierenden Elementen entstehen. Insofern kann die Kategorie Sichtbarkeit unter dieser Perspektive ebenfalls in Richtung eines Otherings wirken.
Kompetenzorientierung
Ein zweites Phänomen aller Projekte ist das der Kompetenzorientierung. Damit wird auf den pädagogisch-künstlerischen Ansatz der Projekte verwiesen, der die Kompetenzen und nicht die Defizite der Kinder und Jugendlichen in den Fokus rückt. Im Sinne eines Empowerments war ein elementarer Bestandteil aller Projekte das professionelle Setting. Dadurch konnten Erfolgserlebnisse auf öffentlichen Bühnen und in einem von professionellen Strukturen begleiteten Rahmen (Technik, Ausstattung, aber auch Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Wertschätzung und Anspruch) umgesetzt werden (vgl. z.B. Brink 2010). Die Arbeitsweise aller unterrichtenden Dozentinnen und Dozenten orientierte sich an den von den teilnehmenden Kindern und Jugendlichen mit in das Projekt eingebrachten Fähigkeiten auf künstlerischer, sprachlicher und sozialer Ebene. Dies gilt in gleicher Weise für das jeweilige Selbstbild der Projekte (Broschüren, Homepages etc.), das bestärkend und selbstbewusst die Kompetenzen in den Mittelpunkt rückte.
Gleichwohl wird bei der von mit vorgenommenen Analyse verschiedener Materialsorten – z.B. der teilnehmenden Beobachtung von Probenprozessen in Abgleich mit Interviews beteiligter Dozierenden, wiederum in Abgleich mit beispielsweise Urteilsbegründungen für einen zuerkannten Preis –, deutlich, dass es die Defizite sind, die die Grundlage bildeten für die Auswahl der teilnehmenden Schülerinnen und Schüler. Daran knüpft sich auch die Offenlegung struktureller Exklusionen: Wo (explizit) darauf hingewiesen wird, dass Exklusion stattfindet, wird gleichzeitig (und ungewollt) diese Zuschreibung reproduziert.
Ein Beispiel der Berliner Musikschule veranschaulicht dies sehr deutlich: In einer projekteigenen Broschüre wird der Schriftsteller Günter Grass als Fürsprecher des Projektes wie folgt zitiert:
„Vielleicht […] noch ein Hinweis auf die besonders ausgeprägte und von aller Welt belobigte Musikalität der Sinti und Roma. Ihren Kindern den Zugang zu unseren weitberühmten Musikhochschulen zu öffnen gäbe […] die Möglichkeit, als Förderer ins Konzertprogramm zu kommen: mit Zukunftsmusik.“ Grass (2000: 95).
Es findet eine klare Grenzziehung statt – mit dem Ziel, Verschiedenheit und die Kompetenzen der Sinti und Roma positiv darzustellen. Grass verbleibt in einer multikulturellen Sichtweise, die eine sehr starre, eine abgrenzende Struktur zeichnet. Es bleibt eine eindeutige Wir/Die-Dichotomie bestehen, die bestimmte Vorurteile (hier die positiven Vorurteile einer besonderen Musikalität) fortschreibt und damit dennoch die Markierung als Andere. Angemessener wäre m.E. eine transkulturelle Beschreibung, die die Gemeinsamkeiten dieser Musikschule mit herkömmlichen Musikschulen hervorhebt, bspw. dass es hier wie da um professionelle Ausbildungssettings und eine Kompetenzweitergabe geht, dass also der Bildungswille der Eltern im Vordergrund steht, den Kindern eine musikalische Alphabetisierung angedeihen lassen zu wollen. Auch könnte man den Prozess deutlich machen, in dem sich alle Teilnehmenden eines Konzerts, einer Musikschule o.ä. befinden – unabhängig davon, ob sie Sinti, Roma oder Gadje sind. Schließlich wäre die Reflexion über das eigene Tun bzw. die eigene Position ebenso interessant wie wichtig, nämlich als Bestandteil in der Benennung konflikthafter Momente; z.B. dass die Musikschule erst deshalb gegründet wurde, weil Sinti- und Roma-Kinder und -Jugendliche mit ihren aus familiärer und meist oraler Weitergabe mitgebrachten Kompetenzen in herkömmlichen Musikschulen keinen Platz fanden, da sie meistens keine Noten lesen konnten und einen anderen Unterrichtsstil gewohnt waren.
Zuschreibungen
Das dritte Phänomen beschreibt Zuschreibungen in Form von Stereotypen, Essentialisierungen sowie die Indienstnahme von Stereotypen im Sinne einer Selbst-Essentialisierung. In allen drei Projekten spielten Zuschreibungen auf allen Ebenen und an verschiedene Adressatinnen und Adressaten gerichtet immer wieder eine Rolle: Zuschreibungen von außen aber auch von innen, an einzelne Szenen und an das Projekt als Ganzes, an die teilnehmenden Kinder und Jugendlichen sowie an die künstlerischen wie pädagogischen Dozentinnen und Dozenten und das Leitungsteam.
Beispielsweise stellte die Musikdozentin in Köln, eine Romni, die Roma-Kultur den Gadje-Schülerinnen und -Schülern als fremd und anders dar. Zu den traditionellen Liedern, die die Kinder und Jugendlichen sangen – und zwar aufgrund eines probentechnischen Missverständnisses nur die Roma, nicht alle Schülerinnen und Schüler des Projekts – wurde von der Kostümbildnerin traditionell anmutende Kleidung entworfen. Dies unterstrich das Verständnis von Kultur als ethnische Konstruktion. Als Resultat präsentierten sich die Roma-Kinder und -Jugendlichen als einzige Gruppe ethnisch markiert, im Gegensatz zu allen anderen Schülerinnen und Schülern, die sich stärker an der Repräsentation jugendkultureller Zeichen orientieren konnten. Unterstützt wurde dies durch die unscharfe Verwendung des Begriffs Kultur: So fasste die Musikdozentin Kultur im ethnischen Verständnis auf, andere Dozenten verstanden Kultur jedoch im Sinne von Kunstsparten. Daraus ergab sich, dass nur die Roma-Schülerinnen und -Schüler der Teilnehmenden als ethnisch markiert präsentiert wurden, andere hingegen ethnisch unsichtbar verblieben. Durch diese verschiedenen Bausteine (Auswahl der Repertoires und der teilnehmenden Schülerinnen und Schüler, Kostümdesign, künstlerisch-pädagogische Arbeitsweise der Dozierenden) ergab sich eine pädagogisch-künstlerische Form des Otherings. Es lässt sich mit dem Proverb Aristoteles’ zusammenfassen: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.
Musik als Mittel zum Zweck?
Das vierte herausgearbeitete Phänomen schließlich verweist auf Aushandlungsprozesse zwischen künstlerischen und pädagogischen Zielsetzungen und Legitimationen. Es kann gezeigt werden, dass Musik als Mittel zum Zweck und für Legitimationen außerhalb des künstlerischen Selbstzwecks, wie z.B. der Stärkung der Persönlichkeitsentwicklung, begriffen wird. Auch kann offen gelegt werden, dass diese Gegenüberstellung teilweise ein künstlich aufgebauter Gegensatz ist. Im Kontext dieses Artikels möchte ich auf dieses Phänomen nicht näher eingehen, allerdings kann festgestellt werden, dass ein Projekt, so meine Analyse, gleichzeitig als sozial inkludierend und gleichzeitig als kulturell exkludierend – wie in Köln geschehen – bezeichnet werden kann.
Spannungsfeld von Empowerment und Othering
Die vier ambivalenten und durchaus widersprüchlich zueinander stehenden Phänomene sind Erklärungsbausteine für das umfassende Spannungsfeld von Empowerment und Othering. Die angestrebte kulturelle Teilhabe lässt sich auch als Strategie des Empowerments beschreiben. Gleichzeitig wird in den Settings eine bestimmte Gruppe, die Roma, pädagogisch-künstlerisch als die Anderen stereotypisiert und reproduziert – allerdings nicht in einer gleichberechtigten, sondern in einer hegemonialen Eigen-Fremd-Perspektive: Die Roma verbleiben vor der Folie derjenigen als Andere, die als vermeintliche Norm unsichtbar und als die Nicht-Anderen konstruiert sind die Nicht-Roma; hier folge ich Gayatri Chakravorty Spivak und der postkolonialen Theorie (vgl. Spivak 2008).
Die untersuchten Projekte oszillieren folglich zwischen Strategien des Empowerments und exotisierenden Othering-Prozessen, die gleichzeitig ablaufen. Diese Ambivalenzen und komplexen Verstrickungen lassen ein Dilemma entstehen, das ein konstitutives Element der untersuchten Projekte darstellt. Dem Diskurs um kulturelle Teilhabe ist folglich inhärent, dass sich Prozesse der inkludierenden Exklusion vollziehen: Das Ziel der kulturellen Teilhabe verkehrt sich in sein Gegenteil.
Was heißt das nun für die Praxis Kultureller Bildung hinsichtlich ihrer politischen Dimension?
Im Feld der Kulturellen Bildung ist eine kritische Beobachtung und Dekonstruktion kultureller Differenzsetzungen äußerst notwendig, weil bislang im Teilhabediskurs nur der Blick auf eine Seite der Medaille gelenkt wird: auf die Hoffnungen und Versprechungen. Der Blick auf die zweite Seite der Medaille fehlt häufig. Und dies ist zugleich die politische Tragweite: Denn diese „Doppeldeutigkeit des Feldes“ (Treptow 2010: 42), die implizit das Feld durchzieht, aber selten bis gar nicht explizit verhandelt wird, muss transparent gemacht werden. Die Untersuchung konnte zeigen, dass Projekte Kultureller Bildung bei einer detaillierten Analyse eine „raffinierte Form potentieller Exklusion“ (Vogt 2013: 487) darstellen können, gerade weil es sich bei diesen nur um ein „Minimum an Teilhabe“ (ebd., Hervorhebung im Original) handelt. Kulturelle Bildung ist als „Miterzeugerin“ struktureller Ausgrenzungen zu benennen (vgl. Sturzenhecker 2014). Kulturprojekte sollten folglich nicht als Deckmantel für Verfehlungen in anderen gesellschaftlichen Bereichen herhalten oder sich nicht selbst als solche stilisieren. Kulturelle Projekte sollten also nicht mit Erwartungen und Hoffnungen überfrachtet werden und gleich die Welt retten wollen.
Kulturelle Bildung wird nach wie vor als eine Art Allheilmittel für soziale Benachteiligungen und Probleme gehandelt. Eine Kulturalisierung sozialer Probleme kann aber auch bewirken, dass bestimmte Gruppen stigmatisiert und exkludiert bleiben, weil nicht die strukturellen Probleme in den Blick geraten. Dann heißt es im Umkehrschluss: Es ist ja die Kultur dafür verantwortlich, wenn diese Gruppen nicht aus der Exklusionsfalle herauskommen. Deshalb muss der Blick auf Ausgrenzungsprozesse und Strukturen gelenkt werden. Auch und gerade die Musik, die sich gern als besonders unpolitisch ausgibt, kann somit als Plattform für zentrale gesellschaftliche Aushandlungsprozesse der Differenzsetzung von Eigen und Fremd begriffen werden (vgl. z.B. Josties 2010).
Um nun mit diesen strukturellen Ambivalenzen umzugehen, bedarf es einer reflexiven inklusiven Perspektive, wie sie vom Soziologen Clemens Dannenbeck und der Integrations- und Inklusionspädagogin Carmen Dorrance gefordert wird:
„Eine reflexive inklusive Perspektive heißt vor allem, sich der Dynamik der sozialen [und kulturellen] und gesellschaftlichen Konstruktionsprozesse von Differenz(en) zu stellen. Anerkennung von Vielfalt ist die eine Seite der Medaille, die Dekonstruktion von Differenzsetzungen ist deren Kehrseite. Denn Heterogenität ist nicht einfach da, sondern wird durch praktisches Handeln, durch Unterscheidung, Differenzierung und Kategorisierung immer auch erst hergestellt. Letzteres erfolgt über die machtvolle Durchsetzung von Lesarten, die es erforderlich macht, sich der Analyse der Machtprozesse, die den Kampf um die Bedeutung von bestimmten Differenz(en) (und deren Wechselwirkung) maßgeblich bestimmen, zu stellen.“ (Dannenbeck/Dorrance 2009: 6).
Es ist notwendig, den Blick auf die Strukturen zu richten und zu erkennen, wann kulturelle Teilhabe anstelle gesellschaftlicher Mitgestaltung, z.B. in Form von politischer Teilhabe, und quasi in Alibifunktion, angerufen wird. Mit Blick auf intersektionale Perspektiven wäre es auch interessant, auf andere Dimensionen von Diversität wie z.B. Alter, Gender und Behinderung zu schauen.
Problematisch ist, und damit möchte ich den Bogen zum Beginn des Artikels schließen, dass die Kulturelle Bildung nur allzu gern grundlegende Transformationen und operationalisierbare Merkmale und Kompetenzen für die Persönlichkeitsentwicklung verspricht. Zu Fragen wäre im Übrigen auch, wer einen Bildungsprozess definiert: ich als Forscherin, die Pädagoginnen und Pädagogen oder das zu bildende Subjekt selbst? Ein letztes Beispiel dazu aus meiner Forschung: Ein Roma-Schüler des Kölner Projekts wurde aufgrund seines störenden Verhaltens vom Tanzdozenten aus den Proben geworfen; zunächst sehr zum Unverständnis der projektbegleitenden Lehrerin sowie der Schulsozialpädagogin. Später tanzte der Schüler wieder mit und initiierte nach der Aufführung des Stückes sogar die Zugabe. Die Schulsozialpädagogin reflektierte, dass dieser Knall durch den Rauswurf sehr notwendig gewesen sei – für den Schüler, der dadurch gemerkt habe, dass er eigentlich mitmachen möchte und deshalb sein Verhalten änderte – ist das ein Bildungsprozess? –, aber auch für die beteiligten Pädagoginnen, für die diese pädagogische Handhabung des Dozenten eine Grenze überschritt – auch hier: ein Bildungsprozess?
Zu fragen wäre in diesem Kontext natürlich auch, wozu Persönlichkeitsentwicklung dienen soll: Werden Subjekte damit gesellschaftsfähig gemacht, dienen Emanzipation und Empowerment neoliberalen Aktivierungsstrategien (vgl. das Dossier auf www.kubi-online.de)?
„Die Legitimationskrise der Bildung ist insbesondere eine Krise ihrer Teilhabemöglichkeiten“, schreiben Ingrid Miethe und Anja Tervooren in dem 2017 erschienenen Tagungsband „Bildung und Teilhabe. Zwischen Inklusionsforderung und Exklusionsdrohung“. Eine Möglichkeit, die verschiedenen darin verstrickten Strategien transparent zu machen, zeigt die sich selbst so bezeichnende Behindertenpädagogin Mai-Anh Boger mit ihrem sogenannten Trilemma der Inklusion auf: Es gäbe zwar keinen Weg, dass sich Inklusion als Empowerment, Inklusion als Normalisierung und Inklusion als Dekonstruktion miteinander verbinden ließen, aber es komme in erster Linie auf die Zielsetzung an, wann welche Strategie eingesetzt werden solle. Damit könne schließlich auch eine (Re-)Politisierung des Inklusionsbegriffs umgesetzt werden, so Boger (2017).
In diesem Sinne plädiere ich dafür, die empowernden Bausteine und Strategien in Projekten Kultureller Bildung weiterhin zu stärken, zu benennen und zu fördern. Gleichwohl müssen wir ganz gezielt und selbstkritisch hinterfragen, welche Versprechungen es tatsächlich braucht (auch in Förderanträgen!), welche wir halten können und an welcher Stelle es eigentlich nicht einer kulturellen, sondern einer politischen Teilhabe bedarf. Denn inwiefern Kulturelle Bildung neben kultureller Teilhabe auch soziale und politische Teilhabe bewirken kann, kann schwer abgemessen werden (vgl. Maedler 2008: 111; Dannenbeck/Dorrance 2009: 7; Mörsch 2012: 148). Wichtig erscheint, was Maedler bereits vor über zehn Jahren schrieb, dass nämlich Einrichtungen, die „ein Mehr an kultureller Teilhabe anstreben, sich auch anwaltlich auf verschiedenen Ebenen für die Bereitstellung entsprechender Ressourcen einsetzen.“ (Maedler 2008: 111). Denn wenn nicht auch politische Teilhabe gefordert und erkämpft wird, dann sind kulturelle Projekte nicht viel mehr als die schillernde Ausnahme, Leuchtturmprojekte, die keine strukturellen Änderungen bewirken, sondern die zur „Beruhigung und Dekoration“ (Mörsch 2012: 148) im sozialen Legitimationsdiskurs eine Rolle spielen. So wären Verweise und gezielte Forderungen nach Reformen bspw. im Bildungssystem und auch im Asylsystem zu benennen, um in diesem sich selbst häufig zu wichtig nehmenden Feld der Kulturellen Bildung das Maß der Dinge immer wieder zu finden: Selbstbewusst, aber bitte auch selbstkritisch.