Kulturelle Bildung und die Vielfalt der Kulturbegriffe
Abstract
Die Vielfalt an Verständnisweisen von „Kulturelle Bildung“ hängt auch mit der Vielfalt an Kulturbegriffen zusammen, die in Theorie und Praxis verwendet werden. Der Beitrag gibt einen Überblick über unterschiedliche Verständnisweisen von „Kultur“ in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen wie Kulturphilosophie, Kultursoziologie, Ethnologie oder Politik- und Rechtswissenschaft. Er skizziert die Vielfalt der Kulturbegriffe in ihrer historischen Entwicklung und in ihrer Ambivalenz und prüft sie im Hinblick auf ihre Relevanz für die Kulturpädagogik.
„Kulturelle Bildung“ ist seit Jahren ein eingeführter Begriff in der Praxis, der Politik und in der Wissenschaft. Allerdings hat seine Popularität nicht dazu geführt, dass es eine Einigung darüber gibt, was darunter genau zu verstehen ist. Eine oft genutzte Definition stammt von Karl Ermert (2009), der Kulturelle Bildung als spezifischen Teil von Allgemeinbildung betrachtet (s. u.). Allerdings bleibt das Problem, dass beide Begriffe, „Kultur“ und „Bildung“ mehrdeutig sind. So kann „Kultur“ in einem weiten Verständnis die gesamte Lebensweise erfassen, man versteht aber auch sehr viel enger nur den Bereich der traditionellen Künste darunter. Beides ist im Kontext kultureller Bildungsarbeit relevant. Im Folgenden wird die Vielfalt möglicher Verständnisweisen von „Kultur“ in ihrer historischen Entwicklung und in ihrer Ambivalenz zumindest skizziert und im Hinblick auf ihre Relevanz für die Kulturelle Bildung geprüft.
Der Begriff der „Kultur“ in der Vielfalt seiner Verwendungsweisen
Es dürfte kaum einen Text über den Begriff der Kultur geben, der nicht anspricht, dass dieser Begriff bei allen möglichen Gelegenheiten, in den unterschiedlichsten Gesellschaftsbereichen und für die unterschiedlichsten Zwecke verwendet wird. Der Begriff der „Kultur“ wird sowohl als wissenschaftliche Kategorie, und dies inzwischen in fast allen Disziplinen, als auch als vielseitig verwendetes Wort in der Alltagskommunikation und in den Medien benutzt. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob eine befriedigende definitorische Festlegung überhaupt möglich ist.
In der Alltagskommunikation braucht man eine solche definitorische Festlegung in der Regel nicht, mögliche Missverständnisse können kommunikativ ausgehandelt werden. In der wissenschaftlichen Verwendung ist allerdings eine Klärung des Begriffs unvermeidlich. Allerdings stellt sich hier das Problem, dass die unterschiedlichen wissenschaftlichen Verwendungsweisen dieses Begriffs nicht erwarten lassen, dass es eine einzige einheitliche, kohärente und von allen akzeptierte Theorie gibt, die all diese Verwendungsweisen auch erfasst. Damit ist bereits eine erste Erkenntnis gewonnen: Es ist bei dem Auftauchen des Kulturbegriffs in einem bestimmten disziplinären Kontext darauf zu achten, vor welchem fachlichen Hintergrund dieser Begriff genutzt wird.
Speziell im Kontext der Kulturellen Bildung ist dieser Hinweis von hoher Relevanz, denn Kulturelle Bildung ist sowohl in der Theorie als auch in der Praxis ein sehr heterogenes Feld. Mit Kultureller Bildung befassen sich unterschiedlichste Disziplinen wie etwa Erziehungswissenschaft, Soziologie, Kulturwissenschaften, Politikwissenschaften, Psychologie etc. Und auch in der Praxis finden sich die unterschiedlichsten Praxisformen, Handlungsorte und Professionalitäten aufgrund unterschiedlicher Studienrichtungen und Ausbildungen, wobei damit zu rechnen ist, dass die betreffenden Fachkräfte die in ihrer Ausbildung gelernte Terminologie weiterverwenden. Dies ist ein wesentlicher Grund dafür, sich mit den unterschiedlichsten Vorstellungen von Kultur zu befassen.
Vereinfacht wird diese Situation auch nicht dadurch, dass man sich auf die Begriffsgeschichte von „Kultur“ bezieht. Dies ist zwar notwendig und wird in den meisten Darstellungen auch getan, doch führt eine solche Darstellung gerade nicht zu einem gemeinsamen Verständnis von „Kultur“, sondern zeigt vielmehr das Zustandekommen der heutigen Vielfalt (siehe etwa Fisch 1992). So ist es richtig, auf Cicero und seine Unterscheidung von cultura animi und cultura agri hinzuweisen, die eine Analogie zwischen der Pflege des Ackers (Landwirtschaft) und der Pflege des Geistes (Philosophie) herstellt, doch spielt der Kulturbegriff in der Folgezeit bis zum Ende des 18. Jahrhunderts keine entscheidende Rolle im geistigen Leben. Immerhin kann man aus diesem Hinweis einen später zu thematisierenden Zusammenhang verstehen: Die beiden Begriffe „Kultur“ und „Kolonie“ gehen beide auf das lateinische Wort colere zurück.
Moses Mendelssohn sprach Jahrhunderte später in seiner Antwort auf die Frage: „Was ist Aufklärung?“, die insbesondere durch die oft zitierte Antwort von Immanuel Kant berühmt geworden ist („Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“), davon, dass „Kultur“, „Bildung“ und „Aufklärung“ zu den „Neuankömmlingen in der deutschen Sprache“ gehörten (Mendelssohn 1784, 193). Es trägt dabei nicht unbedingt zur Klärung der Begrifflichkeiten bei, dass noch lange Jahre nach der Jahrhundertwende 1800 „Bildung“ und „Kultur“ synonym verwendet wurden. Auch der Kulturjournalist Thomas Steinfeld (in Althans/Audehm 2019, 15) spricht in einer aktuellen Publikation zur Kulturellen Bildung noch davon, dass es sich bei dem Begriff der Kulturellen Bildung um einen Pleonasmus, also eine unnötige Verdoppelung handele. An dieser Stelle führt die Aussage von Adorno weiter, der sinngemäß davon sprach, dass Kultur die objektive Seite von Bildung und Bildung die subjektive Seite von Kultur sei. Bildung und Kultur hängen also aufs engste zusammen, sind aber keinesfalls identisch.
Der Hinweis auf Autoren der deutschen Aufklärung erinnert zudem daran, dass es eine spezifisch deutsche Tradition im Umgang mit den beiden genannten Begriffen gibt, die sich in dieser Form nicht in anderen Sprachen und Nationen findet. So gehört zu der unseligen Geschichte der Semantik des Kulturbegriffs, dass dieser sich normativ und nationalistisch auf die vermeintlich hohe deutsche geistige Kultur bezog, die man von der oberflächlichen französischen und englischen Zivilisation nicht bloß unterschied, sondern mit der man sogar das Gefühl der Überlegenheit (politisch, ökonomisch, militärisch, kulturell) legitimierte (siehe etwa Bollenbeck 1994). Diese Haltung findet sich noch in dem Streit zwischen Thomas und Heinrich Mann, wenn etwa Thomas Mann seinen frankophilen Bruder als bloßen „Zivilisationsliteraten“ beschimpfte.
Mit diesem Hinweis wird ein auch heute zu berücksichtigendes Problem deutlich, dass nämlich Begriffe und insbesondere der Kulturbegriff keineswegs politisch harmlos sind, sondern dass sie als Kampf-Instrumente in kontroversen Auseinandersetzungen dienen können, die nicht immer auf der bloß sprachlichen Ebene verbleiben. Es geht also auch um den Aspekt von Macht und Gewalt, der mit der Verwendung von Begriffen und speziell mit der Verwendung des Kulturbegriffs verbunden ist.
Eine wichtige Verbindung zwischen den beiden Begriffen „Bildung“ und „Kultur“ ist auch darin zu sehen, dass sie Prozesse der Entwicklung und Verbesserung beschreiben („Perfectibilität“ nannte man dies im 18. Jahrhundert). Dies kommt in dem pädagogischen Ziel der Kultivierung zum Ausdruck, das im 18. Jahrhundert, etwa in der pädagogischen Theorie von Immanuel Kant, eine zentrale Rolle spielte. Es zeigt sich an Kants Stufenfolge des Erziehungsprozesses: Disziplinierung, Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung (siehe Kant 1982, 706f.).
Der „kultivierte Mensch“ war ein Bildungsziel des 19. Jahrhunderts, allerdings wurde dies bloß für eine kleine Gruppe der Bevölkerung angestrebt, für die eigens höhere Bildungsanstalten eingerichtet wurden. Dies ist im Zusammenhang mit der Entwicklung des Bürgertums zu sehen (siehe etwa Nipperdey 1990). Die positive Konnotation des Kulturbegriffs hielt sich bis tief ins 20. Jahrhundert. Der Kulturphilosoph Ernst Cassirer ging lange Zeit wie viele seiner Zeitgenossen davon aus, dass „Kultur“ mit einer positiven Entwicklung verbunden ist. In seiner Philosophie der symbolischen Formen (Sprache, Wissenschaft, Künste, Religion, Politik, Ökonomie, Technik, Mythos; die Summe dieser symbolischen Formen nennt Cassirer „Kultur“; siehe Cassirer 1990) hat er eine Systematik der verschiedenen Weltzugangsweisen des Menschen vorgelegt. In seiner posthum erschienenen Schrift über den „Mythus des 20. Jahrhunderts“ (Cassirer 1949) beschrieb er den Nationalsozialismus als unheilige Allianz zweier symbolischer Formen, der modernsten Technik und archaischer Mythen und er musste zur Kenntnis nehmen, dass der Mensch auch auf sehr inhumane Weise mit der Welt und mit sich selbst umgehen kann. Der Soziologe Hans Peter Thurn brachte dies in seinem Buch mit dem Titel „Kulturbegründer und Weltzerstörer. Der Mensch im Zwiespalt seiner Möglichkeiten“ (1990) überzeugend zum Ausdruck. Angesichts der Klimakatastrophe und des von jedem wahrnehmbaren Zerstörungspotenzials der heutigen Technik dürfte die Ambivalenz einer so verstandenen Kultur unmittelbar einsichtig sein.
Zur Ambivalenz des Kulturbegriffs
Diese Ambivalenz, die oft genug mit Macht und Gewalt verbunden ist, findet sich nicht bloß in dem philosophischen Kulturkonzept von Cassirer, sondern es ist zu fragen, inwieweit dieser Aspekt auch in anderen theoretischen Annäherungen an Kultur zu finden ist.
Die grundsätzlich immanente Ambivalenz von Kultur und infolgedessen auch von Kulturbegriffen findet sich auch in anderer Hinsicht. So kann man im weitesten Verständnis von „Kultur“ die Fähigkeit und die Praxis des Menschen sehen, seine Umwelt nach eigenen Interessen und Bedürfnisse zu gestalten (dies ist der philosophisch-anthropologische Kulturbegriff; siehe etwa Konersmann 2012). Dieser Gestaltungsprozess hat zum Ziel, eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber Unwägbarkeiten der natürlichen Umwelt zu gewinnen. In dieser Hinsicht bedeutet kulturelle Entwicklung einen Gewinn an Freiheit. Kultur wird jedoch in den meisten definitorischen Zugängen als etwas verstanden, das mit der Gemeinschaftlichkeit, mit der sozialen Gruppe von Menschen und der Möglichkeit und Bedingung ihres Zusammenlebens zu tun hat. Dies bedeutet jedoch, dass es Regeln gibt, die Kommunikation und Kooperation ermöglichen. Regeln sind jedoch zugleich Einschränkungen einer als umfassend verstandenen individuellen Freiheit. Auch dies bedeutet also „Kultur“, dass nämlich der Gewinn von Freiheit gleichzeitig das Respektieren von Regeln, also die Einschränkung von Freiheit bedeutet. Im Hinblick auf die Gemeinschaft ist dabei auch zu berücksichtigen, dass die Möglichkeit, Freiheit zu genießen sowie die Notwendigkeit, sich Regeln zu beugen, unterschiedlich in der sozialen Gruppe verteilt sind. Auch in dieser Hinsicht ist also zu prüfen, inwieweit Theorieangebote in der Lage sind, diese immanente Ambivalenz und Widersprüchlichkeit zu thematisieren und zu erfassen.
Ein weiteres ist zu berücksichtigen: Die Vielfalt an Verwendungsweisen des Kulturbegriffs legt nahe, von einer Vielzahl und Vielfalt an Kulturtheorien auszugehen. So könnte man dazu neigen, Kulturbegriffe und -theorien nach den Kategorien „wahr“ oder „falsch“ zu ordnen und zu bewerten. Man muss allerdings sehen, dass Theorien nie das Ganze ihres Untersuchungsgegenstandes erfassen können, sondern immer Ziele, Zwecke und Perspektiven der jeweiligen Theorienbildung zu berücksichtigen sind.
Im Hinblick auf Kulturelle Bildung lässt sich nun fragen, welche Theorienbildungen – und dies zudem in welcher der notwendig zu berücksichtigenden Bezugsdisziplinen – relevant sind. Möglicherweise drängt sich hier als erste Intuition eine pädagogische Zielrichtung auf. Das „Wörterbuch der Pädagogik“ (Böhm 1994, 411 f.) skizziert in diesem Sinn die Begriffsgeschichte von „Kultur“ von Cicero über Pufendorf und Herder bis zur philosophischen Anthropologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Gehlen): Der Mensch wird als Mängelwesen verstanden, „uneingefasst in eine spezifische Umwelt, ohne spezifisch ausgeprägte Handlungsorgane und angewiesen auf Arbeit und Tradition bringt die gesellschaftl. Zusammenarbeit (Solidarität) hervor, erhebt sich zu objektiver Erkenntnis und Weltoffenheit (Scheler), denkt in die Zukunft und macht Entwürfe, gestaltet die Welt und fragt nach einem transzendenten Sinn. Erziehung und Bildung stehen in diesem menschl.-geschichtl. K.-Zusammenhang, führen den Menschen in die (objektive) K. ein und verhelfen ihm so zu einer eigenen (subjektiven) K.“ (ebd.)
Diese Begriffserläuterung verwendet einen kulturgeschichtlichen, philosophisch-anthropologischen und einen ethnologischen Zugang, wobei Bildung in der subjektiven Aneignung eines Teils der objektiven Kultur – im Sinne von Adornos Begriffsbestimmung – besteht.
Zur politischen Dimension des Kulturbegriffs
Dass sich die Geschichte der Kultur und der Kulturtheorien nicht nur als Erfolgsgeschichte, sondern auch als Geschichte einer durchaus problematischen Ambivalenz schreiben lässt, kann man an dem Werk wichtiger Theoretiker*innen bzw. an Ansätzen zeigen, die in keiner Darstellung von Kulturtheorien fehlen. So gehört Herder zu denen, auf die sich Moses Mendelssohn am Ende des 18. Jahrhunderts mit seiner Aussage über die „Neuankömmlinge in der deutschen Sprache“ bezieht. Man würdigt heute in der Konzeption von Herder, dass er die Vielfalt von Kulturen, verstanden als Lebensweise, respektiert. Kritisiert wird jedoch, dass er diese Kulturen als homogen und voneinander abgrenzbar versteht („Kugelmodell“) und letztlich nicht von der Gleichwertigkeit dieser Kulturen überzeugt ist.
In der kritischen postkolonialen Auseinandersetzung mit dem westlichen Denken und seinen Leitbegriffen gehören Herder und vor allen Dingen sein Zeitgenosse Immanuel Kant zu denjenigen, bei denen man Eurozentrismus und Rassismus nachweisen will (siehe Castro Varela/Dhawan 2020 oder Kerner 2012; zur Meta-Kritik siehe Fuchs 2024). Dies betrifft auch diejenigen, die man zu den wissenschaftlichen Begründern eines weiten Kulturbegriffs zählt, nämlich die Ethnologen, die 100 Jahre nach Herder und Kant gegen Ende des 19. Jahrhunderts wirkten (Lewis Henry Morgan, Edward B. Tylor sowie später Forscher*innen wie Lucien Levy-Bruhl, Franz Boas, Ruth Benedict und viele andere; siehe Haller 2005). Positiv wird hervorgehoben, dass sich ihr Kulturbegriff von einer Begrenzung auf die sogenannte Hochkultur, also die großen Leistungen vor allen Dingen in den Künsten, aber auch in der Philosophie und den Wissenschaften löst und sie vielmehr einen ganzheitlichen Kulturbegriff vertreten, der sich auf die gesamte Lebensweise der erforschten Völker und Gruppierungen bezieht. Kritisch ist jedoch zu sehen, dass eine so verstandene Ethnologie (in früheren Zeiten Völkerkunde genannt, im englischsprachigen Bereich wird von Sozial- oder Kultur-Anthropologie gesprochen) im Dienste der Kolonialmächte stand, die Wissen über die Menschen in den eroberten Kolonien benötigten, um ihre ökonomischen und politischen Zwecke besser verfolgen zu können. Auch waren Beschreibungen und Bewertungen nicht frei von Eurozentrismus und z. T. Rassismus.
Insgesamt ist es immer wieder das Neue bzw. Fremde, das zur Diskussion über „Kultur“ anregt. Das gilt dies für die Zeit der europäischen Expansion rund um 1500, als man einen – aus europäischer Perspektive – neuen Kontinent mit einer andersartigen Natur, mit hoch entwickelten Kulturen und von Menschen besiedelt fand, was alles dem bisherigen Wissensstand widersprach. Gewalt, Ausbeutung und Machtausübung verbunden mit Zerstörung und Völkermord war die eine Seite, Neugierde, sorgsame Ethnographie des Neuen und eine sich intensivierende Debatte darüber, was Menschsein bedeutet, war die andere Seite dieses Prozesses (siehe Fuchs 2025).
Ein weiterer Aspekt der Diskussion über „Kultur“ zeigt sich in den angesprochenen historischen Etappen: „Kultur“ kommt oft genug dann ins Spiel, wenn es um die geistige Bewältigung von gesellschaftlichen Krisenerscheinungen geht. Der Begriff der „Krise“ muss dabei in seiner ursprünglichen Bedeutung verstanden werden, nämlich als Zeit, in der Entscheidendes geschieht (siehe den Artikel „Krise“ von Reinhard Koselleck in Brunner u. a. 1982, Bd. 3). Insgesamt ist ein Ansatz plausibel, der davon ausgeht, dass Begriffe neu entstehen bzw. eine gewisse Konjunktur dann erleben, wenn Entwicklungen zu verstehen sind, die man mit dem bislang vorhandenen Begriffsapparat nicht mehr bewältigen kann. Dies gilt offensichtlich für die Zeit der Spätaufklärung, als sich eine bürgerliche und kapitalistische Gesellschaftsordnung herauskristallisierte und sich gegen eine feudalistisch-ständische Ordnung durchsetzen musste. Es gilt für die Zeit der Jahrhundertwende 1900, in der sich mit Max und Alfred Weber, Georg Simmel, Émile Durkheim und Anderen die Soziologie geradezu als Kultursoziologie konstituierte. Es gilt auch für die Zeit gegen Ende des 20. Jahrhunderts, als sich der Kulturdiskurs in den Gesellschaftswissenschaften intensivierte, als „Kulturwissenschaften“ Anerkennung in der Wissenschaftslandschaft suchten und fanden und als schließlich von einem cultural turn gesprochen wurde, der immer mehr Wissenschaften erfasste und dem eine wachsende Zahl weiterer „turns“ folgten (siehe etwa Bachmann-Medick 2006). Auch diese letzte Konjunktur der Kulturdiskussion ist zeitlich und ursächlich mit gesellschaftlichen Krisen verbunden, so wie sie aktuell in Politik, Wissenschaften und im Alltag erlebt und diskutiert werden.
Allerdings wird auch die Pluralisierung der Kulturdiskurse als Krisenerscheinung gesehen. So ist es zwar unstrittig, dass die zahlreichen und in ihrer Anzahl noch anwachsenden „studies“ relevante Formen gesellschaftlicher Diskriminierung thematisieren, dass jedoch ihre zunehmende Ausdifferenzierung und Pluralisierung verbunden mit dem Bemühen um eine institutionelle Etablierung und gegenseitige Abgrenzung es erschwert, auf gesellschaftliche Missstände einzuwirken (siehe etwa Reckwitz 2018). So können Debatten über kulturelle Entwicklungen die Wahrnehmung und Diskussion ökonomischer und politischer Schieflagen verdrängen. Dies geschah nicht nur in der Geschichte der Soziologie seit den 1980er Jahren (Stichwort Lebensstilsoziologie), es geschah auch in der Geschichte der Erziehungswissenschaft und der Kulturellen Bildung. Denn in der Phase einer ersten Kulturpädagogik in der Zeit der Weimarer Republik (in Deutschland) machten sich Vertreter der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik (im Anschluss an Wilhelm Dilthey) für eine Kulturpädagogik stark, die den angehenden Gymnasiallehrern eine konservativ interpretierte deutsche „Leitkultur“ vermitteln sollte und die man als Konkurrenzunternehmen zu einer damals ebenfalls prominent vertretenen Sozialpädagogik verstehen kann (zur historischen Entwicklung der Kulturpädagogik siehe Zirfas in Fuchs/Braun 2017 sowie Fuchs 2013). Auch bei der Konjunktur der Kulturellen Bildung in den drei letzten Jahrzehnten lässt sich fragen, ob neben dem Anliegen der Entwicklung der Persönlichkeit nicht auch andere Interessen bei der gewachsenen öffentlichen Unterstützung dieses pädagogischen Ansatzes eine Rolle spielten (siehe etwa Fuchs 2014).
Bei aller Notwendigkeit, die Debatten über Kultur auch unter einer kritischen Perspektive zu betrachten, darf nicht vergessen werden, dass Kultur zum einen auf der materiell-gegenständlichen Seite, die offensichtlich in den letzten Jahren an Anerkennung gewonnen hat (siehe etwa Samida 2014), auch als notwendiges Ringen des Menschen um die Gestaltung einer menschenwürdigen Existenz verstanden werden muss. Zum anderen erfasst der Kulturbegriff auch (und für viele Autor*innen überwiegend) die geistige und intellektuelle Seite menschlicher Existenz, ganz so, wie es Ralf Konersmann (2003, 26) für die Kulturphilosophie beschreibt: diese sei nämlich „die verstehende Auseinandersetzung mit der endlichen, von Menschen gemachten Welt – und das ist die Kultur (ebd.).“ Es geht darum, dass der Mensch handelnd in die Welt eingreift, um diese zu seiner Welt zu machen und sich zugleich selbst in diesem Prozess gestaltet. Damit wird die Beschäftigung mit der Kultur (als Menschenwerk) zur komplementären Ergänzung von Anthropologie (als Lehre vom Menschen selbst): Kulturphilosophie und Anthropologie sind zwei Seiten derselben Medaille. Die tätige Auseinandersetzung mit der Welt, dieser Prozess der Selbst- und Weltgestaltung will verstanden werden und ist offenbar eine Mitgift der Anthropogenese, nämlich des menschlichen Bedarfs an Deutung und Sinngebung.
Ordnungsversuche und Typologien
Die wachsende Zahl von Kulturbegrifflichkeiten und die zunehmende Berücksichtigung kultureller Aspekte in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen hat sicherlich mit der auch von Konersmann angesprochenen Aufgabe zu tun, dass der Mensch verstehen und deuten will, was sein Leben ausmacht. Es geht um die Frage der (Suche nach) Sinnhaftigkeit und Bedeutung. Diese Frage stellt sich zum einen für menschliches Leben schlechthin, so wie sie etwa in der Philosophie oder in den Religionen aufgegriffen wird, sie stellt sich allerdings auch konkret in Abhängigkeit von den jeweiligen sozialen, politischen und ökonomischen Umständen. Hegel formulierte einmal, dass Philosophie die Aufgabe habe, ihre Zeit in Begriffe zu fassen (vgl. Hegel 1972/1821, 12). Das bedeutet, Philosophie (auch) als Zeitdiagnose zu verstehen. In diesen Kontext sind auch die unterschiedlichen Kulturtheorien einzuordnen. Aufgrund der kaum noch zu überschauenden Vielfalt solcher Bemühungen sind diejenigen, die diese Vielfalt beschreiben wollen, geradezu gezwungen, Ordnungsvorstellungen und Typologien zu entwickeln, die die Komplexität reduzieren sollen. Ein prominenter Vorschlag stammt von Andreas Reckwitz (2000), der folgende Unterscheidungen trifft:
- ein normativer Kulturbegriff (von Cicero bis Alfred Weber),
- ein totalitätsorientierter Kulturbegriff (von Herder bis zur aktuellen Ethnologie),
- ein differenztheoretischer Kulturbegriff, der Kultur in einem unterscheidbaren Subsystem verortet (von Friedrich Schiller bis Talcott Parsons),
- ein bedeutungs-, symbol- und wissensorientierter Kulturbegriff (von Cassirer über den amerikanischen Pragmatismus bis heute). Reckwitz hält heute nur den letztgenannten für relevant.
Ich selbst habe folgende Typologie vorgeschlagen (Fuchs 2008):
- ein ethnologischer Kulturbegriff: Kultur als Lebensweise. Dieser Begriff erfasst die Totalität der Lebensweise bestimmter Gruppen.
- ein normativer Kulturbegriff: Dieser Begriff erfasst die Entwicklung und „Veredelung“ des Menschen.
- ein soziologischer Kulturbegriff: Dieser Begriff erfasst das Subsystem Kultur mit den Kulturmächten Kunst, Religion, Sprache, Wissenschaften und hat die Aufgabe der Selbstbeobachtung und Deutung der Gesellschaft unter dem Aspekt des Sinns.
- ein enger Kulturbegriff, der „Kultur“ auf Künste einengt. Dieser Begriff kommt etwa dort zur Anwendung, wo eine „Hochkultur“ von einer Alltags- oder populären Kultur unterschieden wird.
Man kann Kulturtheorien auch danach unterscheiden, nach welcher wissenschaftlichen Methode sie vorgehen (empirisch-analytisch, hermeneutische, phänomenologisch etc.). Es gibt Kulturtheorien, die sich auf wissenschaftliche oder philosophische Systeme beziehen wie etwa psychoanalytische, phänomenologische, kritisch-rationale etc. Kulturtheorien. Eine Pluralisierung von Kulturtheorien gibt es nicht bloß im Hinblick darauf, dass nunmehr Kulturdiskurse im Rahmen eines Cultural Turns in den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen stattfinden, sondern in jeder dieser Disziplinen ist auch mit einer Pluralisierung von Theorieansätzen zu rechnen.
Ein Beispiel für eine disziplinäre Pluralisierung bietet etwa die Soziologie. Der Kultursoziologe Stefan Moebius hat eine Reihe von Schriften vorgelegt, in denen die Pluralität soziologischer Kulturtheorien dargestellt wird (etwa Moebius 2010). Seine Vorstellung einer Ordnung in der Vielzahl unterschiedlicher Theorien in seinem Arbeitsfeld zeigt sich an den Überschriften der verschiedenen Abschnitte etwa in Moebius/Quadflieg 2011. Die beiden Herausgeber weisen auf Folgendes hin: „Wie eine ganze Reihe von Publikationen der vergangenen Jahre gezeigt hat, lässt sich das heterogene Feld der Kulturtheorien gleichwohl historisch eingrenzen und in bestimmten Hinsichten auch systematisch kartieren“ (ebd, 17) (vgl. auch Reckwitz 2000; Bachmann-Medick 2009; Moebius 2009).
Oft werden in entsprechenden Überblicksdarstellungen Kulturtheorien anhand prominenter Vertreter*innen – und dies meist in einer historischen Abfolge – vorgestellt. Andere Autoren thematisieren Kernbegriffe wie etwa Interkultur, Symbol, Fremdheit, Diskurs oder Kritik (siehe etwa Nünning 2013). All dies ist auch im Hinblick auf das kulturpädagogische Interesse des vorliegenden Textes relevant, da sich die Pädagogik sowohl mit den angesprochenen Begriffen befasst als auch erziehungswissenschaftliche Konzeptionen auf der Basis der auch in Kulturtheorien genutzten philosophischen, soziologischen, psychologischen etc. Theorien entwickelt werden (siehe etwa Wulf/Zirfas 2013). Dies gilt in zunehmendem Maße für die Kulturpädagogik (siehe kubi-online.de, wo zu jedem der genannten Stichworte einschlägige Artikel zu finden sind).
Interessant ist nunmehr ein Blick in Kulturdebatten in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen. Man kann feststellen, dass „Kultur“ zu einem Forschungsgegenstand der verschiedenen Disziplinen wie etwa Philosophie, Soziologie, Psychologie, Geographie, Ethnologie, aber auch der Ökonomie, der Rechtswissenschaft und der Politikwissenschaft geworden ist. In vielen dieser Disziplinen haben sich in diesem Zusammenhang Spezialdisziplinen wie etwa Kulturpolitik, Kulturwissenschaften, Kultursoziologie, Kulturphilosophie, Kulturökonomie etc. gebildet, die in ihren jeweiligen Fachorganisationen und an entsprechenden Hochschulinstituten eine eigene Vertretung und Repräsentanz erstritten haben (für die Soziologie siehe etwa Moebius/Albrecht 2014). Die unterschiedlichen Disziplinen gehen oft von einem unterschiedlichen Verständnis von „Kultur“ aus.
Ich will kurz einige Hinweise zu Kulturdiskussionen in unterschiedlichen Disziplinen geben.
Kulturphilosophie: Kulturphilosophie wurde oben in einer engen Verbindung mit Anthropologie gesehen. Beide Disziplinen haben es damit zu tun, dass der Mensch seine Umgebung entsprechend seinen Bedürfnissen gestaltet und deutet. Inzwischen hat man erkannt, dass sich die Gestaltungsfähigkeit auch zum Nachteil des Menschen auswirken kann, wenn er nämlich seine technischen Möglichkeiten destruktiv nutzt. Daher ist die oben von Konersmann genannte Aufgabe der Kulturphilosophie, kritisch gesellschaftliche Ereignisse zu reflektieren und der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten, heute wichtiger denn je. Als ein Beispiel für eine in den letzten Jahrzehnten immer häufiger rezipierte Kulturphilosophie kann die „Philosophie der symbolischen Formen“ von Ernst Cassirer (1990) gelten. Es geht darin um eine Analyse der Welt- und Selbstverhältnisse, wobei Cassirer in seiner grundlegenden Studie in den 1920er Jahren zunächst einmal Sprache, Religion und Mythos sowie Erkenntnis analysierte, später fügte er Technik, die Künste, Politik und Ökonomie hinzu. Das „Handbuch Kulturphilosophie“ (Konersmann 2012) unterscheidet zunächst unter der Rubrik „Klassische Positionen“ eine Vorgeschichte (von Cicero über Rousseau und Herder bis zu Hegel und Nietzsche), eine Gründungsphase von Simmel über Dewey, Cassirer, Heidegger, Wittgenstein, Gramsci bis zu Benjamin) und „Aktualisierungen“ seit 1945 von der philosophischen Anthropologie über die Kritische Theorie, Levy-Strauss, Blumenberg, Foucault bis zu Rorty). In einem weiteren Teil greift er Themen wie Geschichte, Gesellschaft, Moral, Natur, Religion, Technik etc. auf und bearbeitet in einem letzten Abschnitt zentrale Begriffe (Entfremdung, Erinnerung, Fremdheit, Geist, Kontingenz etc.).
Bereits diese ausschnitthafte Wiedergabe zentraler Inhalte einer aktuellen Veröffentlichung zur Kulturphilosophie zeigt die Vielseitigkeit sowohl in Bezug auf Autor*innen und ihre disziplinäre Herkunft, aber auch die Vielfalt gesellschaftlich relevanter aktueller Problemlagen. Kulturphilosophie, so scheint es, nimmt die von Hegel gestellte Aufgabe, ihre Zeit in Begriffe zu fassen, ernst.
Auf die Kultursoziologie bin ich bereits mehrfach eingegangen. Die bereits bei Max Weber und seinen Zeitgenossen zu findende schwerpunktmäßige Behandlung kultureller Fragen ist auch heute noch aktuell. Aktuelle soziologische Entwürfe beschreiben die Erlebnisgesellschaft in den 1990er Jahren, thematisieren aktuell Resonanz und Beschleunigung, setzen sich mit Prozessen der Pluralisierung, Globalisierung und Individualisierung auseinander und entdecken nach einigen Jahren der Abstinenz wieder das Problem der sozialen Ungleichheit. Der Kultursoziologe Pierre Bourdieu war lange Jahre der weltweit meist zitierte und bedeutendste Soziologe mit seinem Ansatz, ökonomische, politische und kulturelle Dimensionen miteinander zu einer kohärenten Theorie zu verknüpfen. In der späteren Lebensstilsoziologie trat die ästhetisch-kulturelle Dimension der Lebensführung in den Vordergrund. Eine genuin kultursoziologische Frage ist zudem das Problem des Wertewandels und eine entsprechend veränderte Auffassung von Lebensführung. Ein Grundproblem der Soziologie und auch der Kultursoziologie besteht darin – und hierauf weisen Autoren aus dem Bereich der postkolonialen Theorien zu Recht hin –, dass man lange Zeit eine Art Arbeitsteilung vollzogen hat, derzufolge sich die Soziologie mit den „entwickelten“ Ländern und die Ethnologie mit Ländern des Globalen Südens zu befassen hatte. Diese Trennung wurde inzwischen nach und nach aufgehoben.
Auch in kulturpädagogischer Hinsicht sind soziologische Studien über den kulturellen Wandel interessant. Nach wie vor wird die seinerzeitige Studie des Stadtsoziologen Albrecht Göschel (1991) zitiert, der auf der Basis empirischer Untersuchungen festgestellt hat, dass sich das Kulturverständnis in Deutschland im Zehnjahresabstand verändert hat – mit entsprechenden Folgen für eine veränderte Konzeption von Kulturpolitik. Auch in der aktuellen Analyse der modernen Gesellschaft von Andreas Reckwitz (2018), der den Trend zur Aufwertung des Individuellen und Besonderen als charakteristisches Merkmal der heutigen (westlichen) Gesellschaft hervorhebt, spielt Kultur eine zentrale Rolle. Er spricht von einer „Kulturmaschine“ und von „Kulturkapitalismus“ und setzt damit die Studien zur Ästhetisierung der Gesellschaft und einer entsprechenden Veränderung wichtiger Subjektivitätsformen (Reckwitz 2006) fort.
Die Ethnologie spielt auch in kulturtheoretischer Hinsicht eine zentrale Rolle. Nicht nur, dass die ersten Ethnologen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Übergang zu einem weiten Kulturbegriff (Kultur als Lebensweise) vollzogen haben, Ethnologen (vor allem Claude Levy-Strauss) spielten auch – mit ihrer kritischen Haltung gegenüber jeder Form des Universalismus – bei der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowie in der Gründungsphase der UNESCO eine wichtige Rolle. Ethnologen weisen immer wieder auf die Pluralität von Kulturen hin, so wie sie in mehreren Konventionen und Vereinbarungen im Rahmen der UNESCO im Mittelpunkt steht, etwa in der Konvention zur kulturellen Vielfalt (DUK 2007). Es wird allerdings auch oft Kritik an einer zu einseitigen Betonung der Vielfalt und Differenz geübt. So waren es ebenfalls Ethnologen, die darauf hingewiesen haben, dass es bei aller Unterschiedlichkeit auch Universalien – und diese sogar in einer höheren zweistelligen Zahl – gibt, die in allen Kulturen der Welt zu finden sind (siehe Antweiler 2009). In der Ethnologie musste man sich zudem schon sehr früh mit einem Thema befassen, das heute für alle Einwanderungsgesellschaften relevant ist: dass nämlich die Vielfalt von Kulturen nicht nur weltweit zwischen verschiedenen Ländern, sondern auch in derselben Gesellschaft erlebt werden kann. Das bedeutet eine verstärkte Auseinandersetzung mit den Themen Vielfalt, Differenz, Fremdheit, Interkulturalität, Integration, Teilhabe und Transkulturalität. Diese Themen sind verbunden mit Fragen der Abgrenzung und Identität, mit Rassismus und Diskriminierung. (Für eine ethnologisch orientierte Einführung in die Kulturtheorie siehe etwa Därmann 2011)
All diese Themen stehen auch in der großen Anzahl an „studies“ im Mittelpunkt. So werden in Moebius 2012 bereits 14 verschiedene „studies“ vorgestellt, u. a. Cultural, Media, Gender, Queer Postcolonial, Governmentaly, Disability, Surveillance, Visual, Space, Performative, Sound, Cultural Memory und Science Studies, wobei sich diese Liste in den Jahren nach der Veröffentlichung noch vergrößert hat.
Diese Ansätze gehen auf die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelten cultural studies im englischsprachigen Raum zurück. Im Bereich der heute relevanter werdenden postkolonialen Studien spielte zunächst die Situation im britischen Commonwealth, nämlich das Verhältnis zwischen ehemaligen Kolonien und der Kolonialmacht, eine Rolle dabei, etwa die Frage des literarischen Kanons, der in den verschiedenen Bildungssystemen zugrunde gelegt wird. Es ist daher nicht verwunderlich, dass es vor allem Literaturwissenschaftler*innen waren, die zu den Gründungspersonen der postkolonialen Studien gehören (Edward Said, Homi Bhabha, Gayatri Spivak). Inzwischen hat sich dieses Diskursfeld sehr stark ausdifferenziert, sodass es sogar innerhalb dieses Feldes zu deutlichen Kontroversen gekommen ist, etwa zwischen den postkolonialen und dekolonialen Studien, wobei sich letztere vor allem im lateinamerikanischen Kontext finden (siehe Kastner 2022). Gerade im deutschsprachigen postkolonialen Bereich steht die Kritik an der Moderne, ihrem Eurozentrismus und Logozentrismus im Vordergrund. Konstruktive Alternativen zu westlichem Denken, dem man (pauschal) eine Orientierung an einer bloß instrumentellen (und letztlich menschenfeindlichen) Vernunft unterstellt, bieten sowohl von den Forschungsmethoden als auch von dem Ziel her, Praxis zu verändern und eine alternative Praxis zu ermöglichen, eher Wissenschaftler*innen aus dem indigenen Bereich (siehe Denzin 2008 sowie Fuchs 2025).
Kultur ist inzwischen auch Thema der Politik-und Rechtswissenschaft. In der ersten Phase des 19. Jahrhunderts ist nicht nur wie oben beschrieben eine synonyme Verwendung der beiden Begriffe „Bildung“ und „Kultur“ festzustellen: Auch Bildungs- und Kulturpolitik hat man nicht voneinander unterschieden. Ein explizit als Kulturpolitik verstandenes Feld gab es in Deutschland in der Weimarer Republik in den 1920er Jahre, das Wolfgang Reinhard (1999, 388) beschreibt wie folgt: „Kulturpolitik als Machtpolitik gehört zwar zur politischen Kultur eines Gemeinwesens, stellt aber nur einen engen Ausschnitt daraus dar, nämlich die bewusste Kontrolle und Instrumentalisierung bestimmter kultureller Felder durch und für die Staatsmacht. (…) Heute betrifft Kulturpolitik die fünf Felder Religion, Kunst, Medien, Bildung und Wissenschaft, Freizeit und Sport.“ (ebd.)
Heute spricht man von drei Säulen der Kulturpolitik, nämlich Künstlerförderung, Erhaltung des kulturellen Erbes und Kulturelle Bildung. In der Geschichte praktizierte man Kulturpolitik – wenngleich noch nicht unter diesem Label – etwa dann, wenn es um Fragen der Zensur und der Verfolgung missliebiger Künstler*innen und Wissenschaftler*innen ging. Dies spielt aktuell immer noch, möglicherweise sogar eine bedeutsamer werdende Rolle (siehe Bernecker/Grätz 2020)
Der Bereich der Kulturpolitik gilt international als Ausübung von „soft power“. Es gibt eine internationale Kulturpolitik, für die zunächst einmal die UNESCO verantwortlich ist. Allerdings muss man feststellen, dass aufgrund der ökonomischen Relevanz der Kulturwirtschaft dieses Feld schon längst das Interesse der Wirtschaftspolitik gefunden hat. So gibt es einen immer wieder aufflackernden Streit – etwa im Rahmen von Verhandlungen über Vereinbarungen im Bereich des Welthandels – darüber, ob Aktivitäten und Produkte aus dem Bereich von Kultur und Medien ausschließlich in ihrer ökonomischen Bedeutung zu betrachten seien und damit den in der Ökonomie üblichen marktwirtschaftlichen Prinzipien unterworfen sind.
In der Tat hat sich die Kulturwirtschaft zu einem bedeutenden Wirtschaftszweig entwickelt. In den 1990er Jahren thematisierte man vor allem in Europa, wo es im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten eine nennenswerte öffentliche Kulturförderung gab, die „volkswirtschaftliche Bedeutung von Kultur“. Heute diskutiert man im Rahmen der Globalisierung der Wirtschaft die Frage nach der notwendigen interkulturellen Kompetenz und man versucht, Anschluss an Kulturdebatten in anderen Disziplinen zu finden. So beschreibt ein „Lehrbuch Kultur“ (Treichel/Mayer 2011) aus dem Bereich des internationalen und Kultur-Managements sein Anliegen wie folgt:
„Dieses Buch ist ein Lehrbuch zur Kultur. Das Buch handelt von Kultur und Kulturen – gleichzeitig ist es Produkt verschiedener Kulturen und trägt sicherlich kulturelle Prägungen in der einen oder anderen Richtung. Es zeigt Perspektiven zur Kultur aus unterschiedlichen fachlichen Richtungen und zeitlichen Epochen auf, stellt Positionen dar und verweist auf ihre Potenziale. Das Lehrbuch hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Thema Kultur aus unterschiedlichen Blickrichtungen zu beleuchten und die verschiedenen Ansätze zur und Verstehensweisen von Kultur für Einsteiger verständlich und übersichtlich darzustellen (ebd., 15).“
Zur Relevanz von Kulturtheorien für die Kulturpädagogik
Der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Klafki (1994) hat bereits vor Jahrzehnten das Konzept „epochaltypischer Schlüsselprobleme“ vorgestellt, auf die die Pädagogik in Theorie und Praxis eingehen müsse. Zu diesen Schlüsselproblemen zählte Wolfgang Klafki schon in den 1980er Jahren Frieden, Umwelt, Technikfolgen, Verteilungsgerechtigkeit und vieles mehr. Es ist offensichtlich, dass diese Aufzählung keineswegs an Relevanz verloren hat. Vielmehr sind sich viele Menschen, die in Theorie und Praxis mit Pädagogik befasst sind, darin einig, dass insbesondere die Probleme der Umweltzerstörung und des Klimawandels, der wachsenden sozialen Ungleichheit sowohl im selben Land als auch zwischen den Ländern des Globalen Nordens und des Globalen Südens und nicht zuletzt die Digitalisierung an Bedeutung und Relevanz erheblich gewonnen haben. Auch im Bereich der Kulturpädagogik gibt es sich intensivierende Debatten darüber, inwieweit Kulturelle Bildung auf diese epochaltypischen Schlüsselprobleme eingehen kann. Es gibt Kooperationen zwischen der Kulturpädagogik und der Bildung für eine nachhaltige Entwicklung (BNE) und es gibt – nicht nur im Bereich der Medienpädagogik, sondern auch in Bezug auf neue künstlerische Praktiken und die Relevanz der Medien im Alltag – Diskussionen darüber, was Kulturpädagogik in postdigitalen Zeiten zu bedeuten hat. Man setzt sich mit der „Kultur der Digitalisierung“ (Stalder 2016) auseinander und diskutiert, wie man kulturpädagogisch mit der „bezifferten Welt“ (Crouch 2017) umgehen kann.
Es gibt keinen Zweifel, dass es sich bei diesen Prozessen um einen gravierenden kulturellen und gesellschaftlichen Wandel handelt, der nicht nur eine Herausforderung für die Theorienbildung im Bereich der Kultur ist, sondern der auch die (kultur-)pädagogische Arbeit herausfordert. Es tauchen hierbei all die oben genannten Ambivalenzen des Kulturbegriffs im pädagogischen Feld auf: Es ist daher die Entscheidung zu treffen, ob man affirmativ oder kritisch mit diesem kulturellen Wandel umgehen will, es stellt sich die Frage nach der Zielorientierung und den zugrunde liegenden Interessen in Theorie und Praxis. Man muss sich entsprechend der Kritik aus dem Bereich der postkolonialen Theorien mit Fragen des Eurozentrismus und Rassismus und insgesamt mit dem Problem der Diskriminierung auseinandersetzen. Es stellt sich weiterhin die Frage, inwieweit die aktuell gewordenen kritischen Sozialtheorien nunmehr verstärkt auch in der Kulturpädagogik rezipiert werden und die auch dort zu findende Konzentration auf die ästhetische Dimension unter Vernachlässigung sozialer, ökonomischer und politischer Aspekte in den Hintergrund rücken.
Von besonderer Bedeutung ist gerade in pädagogischen Kontexten die Frage nach dem Subjekt, speziell die Frage danach, inwieweit man von einer „digitalen Subjektivität“ sprechen kann. Hierbei spielt auch eine Rolle, dass ein Subjektbegriff, der sich auf die Gestaltungsfähigkeit des Einzelnen bezieht, aufgrund des Einflusses poststrukturalistischer Theoriekonzeptionen fragwürdig geworden ist. „Kultur“ und „Bildung“ sind heute nicht mehr „Neuankömmlinge in der deutschen Sprache“, so wie es noch Moses Mendelssohn formuliert hat, aber nach wie vor gilt der bereits damals festgestellte Zusammenhang, dass nämlich Bildung und Kultur – in unserem Kontext: Kulturelle Bildung und Kulturtheorie – zwei Seiten derselben Medaille sind.